Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
amara5

Bewertungen

Insgesamt 123 Bewertungen
Bewertung vom 22.08.2023
Der Trost der Schönheit
Arnim, Gabriele von

Der Trost der Schönheit


sehr gut

Reisende im Leben
Die Bestseller-Autorin und Journalistin Gabriele von Arnim begibt sich in ihrem neuen essayistischen Roman „Der Trost der Schönheit“ auf eine poetisch-sinnliche, gedanklich verästelte Suche nach der Sicht auf Schönheit und Kunst im Leben. Dabei wandern ihre Assoziationen sprunghaft und auf facettenreichen Erzählsträngen – so wie die rote Koralle mit ihren vielen Zweigen auf dem Cover.

Aufgewachsen in einem unterkühlt-emotionslosen und privilegierten Elternhaus, musste sich Von Arnim ihren Zugang zu Gefühlen erst 'erarbeiten' – das Sehen, Sammeln und Erspüren von Schönem im Leben, während die Zeit davonfliegt und erschütternde Ereignisse wie der Ukraine-Krieg sowie Corona die äußere Weltwirklichkeit in Angst und Schrecken versetzen. Die feinfühlige Autorin erzählt philosophisch-persönlich Fragmente aus ihrem Leben und spickt sie mit weiterführenden Reflexionen sowie zahlreichen literarischen Zitaten. Dabei ist ihr die Liebe zur Sprache und Worten anzumerken – erschafft sie hier und da neue Wortschöpfungen und kreative Verbindungen.

Berührend, fragil und treffsicher schildert sie mit wenigen Worten ihre Erinnerungen aus der Kindheit, der ersten Ehe sowie innere Zweifel, die sie besonders in der Nacht heimsuchen. Aber sie zeigt auch tröstlich auf, wie wir Menschen trotz Krisen unsere eigene, schöne Wirklichkeit errichten können, um Trost zu spüren und uns verbunden zu fühlen.

Auch wenn die ein oder andere sprachliche Formulierung zu blumig geraten ist, nimmt das tiefgründige Sachbuch den Leser mit auf eine klug verzweigte, berührende und reflektierte Reise durch Von Arnims Leben und Gedanken, in der Spielraum für eigene Interpretation bleibt und die zudem aktuelles Zeitgeschehen aufgreift. Ein tröstliches, inspirierendes und bewegendes Essay, das immer wieder zum wiederholten Lesen und Nachdenken animiert.

Bewertung vom 08.08.2023
Zwischen den Sommern / Heimkehr-Trilogie Bd.2
Hennig von Lange, Alexa

Zwischen den Sommern / Heimkehr-Trilogie Bd.2


sehr gut

Zwischen den Zeiten

In ihrem zweiten Band der Heimkehr-Trilogie „Zwischen den Sommern“ erzählt Bestsellerautorin Alexa Henning von Lange empathisch und packend die generationsübergreifende Familiengeschichte um Klara Möbius/Erfurt weiter. Autobiografisch inspiriert von den über 130 vererbten Tonbandkassetten voller persönlich eingesprochener Zeitgeschichte der eigenen Großmutter, ist der Roman trotzdem fiktiv und führt diesmal dramatisch-bewegend in das Grauen des Nationalsozialismus und die Zeit des Zweiten Weltkrieges.

Klara leitet als junge Frau eine Frauenbildungsanstalt in Sandersleben – nachdem die Nationalsozialisten die Macht übernommen haben, hat nun auch sie die neuen Leitlinien des Regimes zu beachten, die mit strengen Besuchen kontrolliert werden, und ist hin- und hergerissen zwischen Anpassung, Verantwortung für die Mädchen und der Anstalt sowie innerer Abwehr. Frisch mit ihrer großen Liebe Gustav verheiratet, wird er bald an die Front versetzt und Klara bleibt wie viele andere Frauen alleine im Schrecken und der verzweifelten Hilflosigkeit während des Krieges zurück. Zudem belastet sie, dass sie das jüdische Mädchen Tolla, das sie zehn Jahre lang wie ihre eigene Tochter erzogen hat, aus Angst vor der drohenden Gefahr ins Ausland weiterbringen ließ und nun im Unklaren über ihren Verbleib ist. Die Zeitspanne von Klaras Erzählungen reichen von 1939 bis circa 1944 – daneben verwebt Von Lange eine aktuellere Perspektive, 60 Jahre später von Enkelin Isabell im Jahre 2000. Diese findet nach dem Tod von Klara die besprochenen Kassetten und entdeckt zusammen mit ihrer Mutter eine ganz andere Seite der strengen, verschlossenen Großmutter. Zusammen stellen sie sich Fragen über Klaras bewegte Vergangenheit, über die nie gesprochen wurde.

In einer flüssig-leichten Sprache und mit vielen gut recherchierten Details taucht Alexa Henning von Lange szenisch dicht und zugleich dynamisch in ein Stück tragische historische Zeitgeschichte. Sie erzählt berührend von zerrissenen Biografien und dem Weiterleben unter dem Hakenkreuz für die deutsche Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges und bietet viel Stoff zum Diskutieren: Wie haben sich die eigenen Vorfahren während dieser Zeit verhalten und über was wurde generationsübergreifend jahrzehntelang geschwiegen?

Die zwei Zeitebenen fließen abwechselnd-ruhig ineinander und bieten mit Isabell nochmal einen anderen spannenden Blickwinkel in der Gegenwart. Im Nachwort schreibt Von Lange, dass ihre wahre Großmutter, die ebenso als Lehrerin ein Frauenbildungsheim unter den Nationalsozialisten geleitet hat, in ihren Aufzeichnungen nie über Verantwortung und Schuld geredet hat. Von Lange habe deswegen das weggegebene jüdische Waisenmädchen Tolla als Stellvertreter für dieses eiserne Schweigen und den Verlust der Unschuld fiktiv an Klaras Seite gestellt – diese Verknüpfung ist weniger überzeugend gelungen und hinterlässt eher weitere offene Fragen im Kontext dieser Zeit.

So ist der zweite Teil der Trilogie, der sich unabhängig von Teil Eins lesen lässt, vor allem eine unterhaltsam-fesselnde Geschichte aus der persönlichen Perspektive einer privilegierten, innerlich zerrissenen deutschen Frau im Zweiten Weltkrieg zwischen Angst, Zweifel, Pflichtausübung und Weiterleben in grausamen Zeiten – und weniger ein tiefgründiger Roman, der die moralische Schuld des Einzelnen im Nationalsozialismus aufwirft. Aber Klaras (Arbeits-)Alltag ohne Ehemann sowie ihre zwiegespaltenen Emotionen unter dem NS-Regime hat Alexa Henning von Lange feinfühlig-detailliert aufgefangen.

Bewertung vom 03.08.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


sehr gut

Gespiegelte Versionen

In ihrem neuen packenden Roman „Die Einladung“ entführt die vielgefeierte, amerikanische Autorin Emma Cline anhand einer jungen, widersprüchlichen Escort-Frau auf eine vielschichtig-düstere Weise in die exklusive Welt der Reichen in den Hamptons.

Die 22-jährige Alex hat schon viele Scherben und unbeglichene Schulden in ihrer dunklen Vergangenheit zurückgelassen – weg von New York, versucht sie sich in den Hamptons über Wasser zu halten, nachdem sie aus ihrer WG geflogen ist. Alex ist es gewöhnt, ihren Körper an Männer zu verkaufen und eine Weile bei ihnen wohnen zu dürfen – so wie bei dem älteren Kunsthändler Simon, in dessen Haus in den Hamptons sie exquisiten Zugang zu Essen, Kleidung und anderen Reichen hatte. Der Preis dafür ist hoch für die junge Frau, die sich präzise darin versteht, das Gegenüber zu erkennen und sich in diejenige zu verwandeln, die der andere haben will, um eine bessere Version von sich selbst zu sein. All ihre Abläufe und das tägliche Zurechtmachen sind gut einstudiert, aber auf einer Party verliert Alex die Contenance und verärgert Simon. Er schickt sie per Zug zurück in die Stadt, doch am Bahnhof überlegt es sich Alex anders: Sie möchte die wenigen Tage bis Simons Labor-Day-Party in den Hamptons verbringen, um ihn dann wieder umzustimmen. Doch wo soll sie wohnen, essen und überleben ohne Geld – dicht gefolgt von täglichen SMS-Drohungen ihres um Geld betrogenen Ex-Freiers Dom?

Mit einer angespannten Atmosphäre und einer stechend scharf-kühlen Prosa, die mit wenigen treffenden Sätzen die Stimmung in Alex und im Außenherum beschwört, zieht Emma Cline ihre Leserschaft gleich zu Beginn sogartig in die bestechende Odyssee ihrer Hochstaplerin. Alex probiert im wahrsten Sinne des Wortes, „den Kopf über Wasser zu halten“ und dringt mit ausgeklügelten, spontanen Plänen für kurze Zeit in die Welt verschiedenster, reicher Menschen ein, die ihr eigentlich verschlossen ist. Und überall hinterlässt sie latente Spuren von Verwüstung und Verwirrung – ein Abbild, wie es um sie steht und doch bleibt die Protagonistin dabei gespenstisch leer und ungreifbar.

Wiederkehrende Motive des Schwimmens, des Meeres und der Poolanlagen spielen dabei eine tragende Rolle, die Cline in wunderschönen sowie melancholischen Stimmungen auffängt – und doch schwingt über allem die allgegenwärtige Bedrohung mit, wie es mit der verlorenen Außenseiterin Alex weitergeht.

Gesellschaftskritische Themen wie die Riesenkluft zwischen Arm und Reich, die scheinheilige Welt der Superreichen, aber auch die schwierige Rolle einer jungen Frau zwischen Anpassung, Austauschbarkeit und Selbstbestimmtheit sind tiefgründige Themen dieses mitreißenden Romanes. Aber an erster Stelle steht das brillant konstruierte Psychogramm einer Frau, die in verschiedene Rollen und Versionen schlüpft, um in einem kapitalistischen, von ungleichen Machtstrukturen geprägten System zu überleben – dabei gibt sie nie ihr Innerstes preis und spiegelt präzise, bewegend sowie aufrüttelnd die emotional unterkühlte, oberflächliche Gesellschaft ihr gegenüber.

Und auch wenn das zweideutige Ende vage im Nebel des Meeres verschwimmt – es wird nur konsequent weitergeführt, was die beklemmend-spannende Stimmung vorher vorgegeben hat. Ein beunruhigender, faszinierender und nuanciert-scharfsinnig komponierter Roman.

Bewertung vom 27.07.2023
Hotel Silence
Ólafsdóttir, Auður Ava

Hotel Silence


ausgezeichnet

Narben und Hoffnung

In ihrem neu ins Deutsche übersetzten Roman „Hotel Silence“ erzählt die renommierte isländische Autorin und Kunstwissenschaftlerin Auður Ava Ólafsdóttir ein feinfühlig-skurriles sowie modern-poetisches Märchen über einen suizidalen Mann, der in einem traumatisierten, ehemaligen Kriegsland neuen Lebensmut schöpft. Dabei spielen seelische und äußere, sichtbare und unsichtbare Narben eine bedeutende Rolle – so wie der Originaltitel „Ör“ (Narben) andeutet.

Jónas Ebeneser ist fast 50 und steckt in einer tiefen Lebenskrise – seine Mutter ist dement und lebt im Pflegeheim, seine Frau Gudrun hat ihn verlassen und dabei noch schnell verkündet, dass die gemeinsame Tochter gar nicht seine leibliche ist. Der sensible und auch praktisch veranlagte Protagonist beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen, ohne seine Leiche den Hinterbliebenen zuzumuten. Kurzerhand pickt er sich ein vom Krieg völlig zerstörtes Land heraus und bucht sich dort in einer Stadt am Meer im Hotel Silence ein. Vorher lässt er sich noch quer über seinem gebrochenen Herzen eine große Wasserlilie tätowieren und als spartanisches Gepäck nimmt er nur seinen Werkzeugkoffer samt Bohrmaschine mit. Während dieses erste Kapitel mit dem archaischen Titel „Fleisch“ trotz melancholisch-depressiver Grundstimmung sehr makaber-humorvoll geschrieben ist und bildhaft an Filmen von Aki Kaurismäki denken lässt, geht es im zweiten Hauptkapitel „Narben“ überwiegend ernsthafter zu.

Schon während der Fahrt ins Hotel Silence wird klar: das von der Autorin anonym gelassene Land ist vom Krieg nicht nur äußerlich schwer gezeichnet und zerstört. Schnell gewinnt Jónas das Vertrauen der zwei Geschwister Mai und Fifi, die das Hotel momentan betreiben, indem er handwerklich sehr geschickt repariert, was ihm aufgetragen wird. Dabei erzählen ihm die Menschen in der Stadt von den grausamen Gräueltaten und persönlichen Schicksalen – die meisten Männer sind ermordet worden und die verbliebenen Frauen seelisch verwundet. Die Wiederaufbauarbeiten im Außen heilen allmählich auch Jónas im Inneren und die Verbundenheit mit den Menschen wirkt wie ein Pflaster auf seinen Narben. Nach und nach erweckt auch Mais kleiner Sohn Adam wieder zum Leben, nachdem er aufgehört hat zu sprechen und in schwarz-roten Zeichnungen seinem Bild der Zerstörung freien Lauf lässt. Jónas erkennt: „In einem Land des Todes ist es weniger dringend, zu sterben.“ (S. 125)

Auður Ava Ólafsdóttir ist eine brillante Komponistin ihrer Erzählungen – mit knapp-pointierten Sätzen und vielen treffenden Zitaten aus der Literatur und Lyrik zeichnet sie ein dichtes, bewegendes und sehr menschliches Bild von Trauer, Schmerz sowie Zerstörung, das viel Platz für eigene Gedanken und die aufkeimende Hoffnung lässt. Dabei changiert sie in einer stilistisch faszinierenden Sprache gekonnt zwischen Ironie, schwarzem Humor und viel Tiefgründigkeit. Dass sie den Ort der Handlung nie namentlich benennt und metaphorisch einige Kriegsschauplätze in diesen verwebt, könnte in Zeiten des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine nicht aktueller sein. Auch ihre erzählerischen Bilder sind sehr eindringlich: das Wandmosaik, ein Postkarten-Ständer oder Plattenspieler, die den Krieg überlebt haben sowie Jónas' Selbsterforschung anhand alter Tagebücher und der neuen Sprache: „Wie viele Wörter braucht man, um zu überleben?“ (S. 183)

Ein wundervoller, tiefsinniger Roman zwischen Humor und Ernst, ausgezeichnet mit dem Preis des Nordischen Rates, der trotz fließend-leichter Unterhaltung existenzielle Fragen behandelt – und stark nach einer adäquaten Verfilmung ruft.

Bewertung vom 09.07.2023
Flüchtige Freunde
Caritj, Anna

Flüchtige Freunde


gut

Zwischen Wahn und Wirklichkeit

Die amerikanische Autorin Anna Caritj verwebt in ihrem atmosphärischen Debütroman „Flüchtige Freunde“ die mentale Entwicklung einer jungen, instabilen Frau mit einem mysteriösen Vermisstenfall an einem Campus.

Leda ist an ihrer Universität in einer Schwesternschaft – nach dem Tod ihrer Mutter, den sie noch nicht verarbeitet hat und als Trauma in sich verkapselt trägt, verspricht sie sich dort Halt und Zugehörigkeit. Nach einer exzessiven Partynacht an Halloween, bei denen viele junge Männer und Frauen jegliche Hemmungen verlieren, wacht Leda ohne Erinnerung und einer blutigen Lippe auf. Sie fragt sich, ob sie in dieser Nacht Sexualverkehr mit ihrem Schwarm Ian hatte und ob dieser einvernehmlich war. Und gleichzeitig verschwindet nach dieser Party ihre flüchtige Bekannte im Schwanenkostüm Charlotte und ist nicht auffindbar. Wurde sie vergewaltigt und umgebracht?

Während am College-Campus großflächige Suchaktionen, Diskussionen und gesellschaftspolitische Events zu Charlotte stattfinden, verstrickt sich Leda in ihren Projektionen auf Charlotte immer mehr in ein verwirrendes Gedankenkarussell und in ein fast schon wahnhaftes Verhalten. Sie sucht Charlottes Haus auf, nimmt sich dort eine Reihe privater Postkarten mit und macht sich obsessiv auf die Suche nach Charlottes letzten Tagen und Verbleib. Dabei sucht Ian immer wieder Kontakt zu ihr – kann sie ihm vertrauen und was genau ist in der Halloween-Nacht passiert?

Packend und bewegend dringt Anna Caritj dabei in einer Art des ewigen Monologs tief in die Gedanken und Seele der Protagonistin ein – auch wenn sich vieles dabei wiederholt, sind die Erinnerungsfetzen an ihre Mutter gemischt mit ihrer Unsicherheit in Sachen Sex, Verbundenheit und Liebe sehr greifbar. Dabei nutzt die Autorin treffsicher-schöne Metaphern aus der Astronomie oder Tierwelt und nimmt erzählerisch jedes Detail in der Umwelt wahr. Filmisch und dicht schildert sie zudem das Campusleben und die anderen Handlungsorte wie Charlottes Haus oder Farm, in der sie das rabiate Herdenverhalten der Ziegen ausführlich beobachtet. Darüber hinaus spricht Caritj durch Ledas verworrene Wahrnehmung einige gesellschaftspolitische Themen an, allen voran selbstbestimmte Sexualität und Vergewaltigung. Aber auch Familie, Freundschaft, Trauer, Unsicherheit in Bindungen und die Suche nach Zugehörigkeit spiegeln sich vage im Roman, während so manche Hauptfigur wie Ian sehr blass in der Charakterzeichnung bleibt.

Doch leider stolpert das vielversprechende Debüt am Ende über das eigene Konstrukt – Leda versucht ihr verdrängtes Trauma und den After-Party-Blackout mit Charlottes Verschwinden zu verknüpfen und aufzulösen. Das schafft sie auch, aber nachdem in unzähligen, treibenden Kapiteln voller Zerrissenheit, Bedrohungen und drehender Bewegung mit repetitiven Fragen ein großer Spannungsanstieg konstruiert wurde, fällt die Auflösung und Heilung des Traumas psychologisch sehr knapp und unglaubwürdig aus. Auch die anfänglichen Bezüge zur Leda-und-Zeus-Mythologie (Originaltitel) verlaufen sich gnadenlos im Sande.

Trotzdem bleibt Anna Caritj eine sprachlich talentierte Autorin, von der gespannt erwartet werden darf, was noch von ihr erscheinen wird!

Bewertung vom 14.06.2023
Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)
Boyle, T. C.

Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)


sehr gut

Apokalypse am Himmel
In seinem 19. Roman „Blue Skies“ verwebt der berühmte Bestseller-Autor T. C. Boyle düster-schwarzhumorig ein turbulentes Familiendrama mit der allgegenwärtigen, drastischen Klimakrise. Dabei spielen unterhaltsam wiederkehrende tierische Motive, sowie das (nicht)mögliche Anpassungsvermögen der Menschen an die sich verändernden äußeren Umständen eine große, satirische Rolle.

Im Mittelpunkt des rasanten Geschehens steht exemplarisch die amerikanische Familie Cullen: die Eltern Frank und Ottilie mit den erwachsenen Kindern Cat und Cooper. Aus abwechselnd erzählerischen Perspektiven schildert Boyle gewohnt ironisch und plastisch die persönlichen Erlebnisse der Protagonisten, aber auch, wie die Klimakrise immer weiter bedrohlich in ihr Leben dringt. Cat ist Social-Media-Influencerin, trinkt zu viel, lebt in einem Beach House auf Stelzen in Florida und träumt von großer Berühmtheit mit vielen Likes, während ihr Verlobter Todd viel auf Geschäftsreise als Bacardi-Manager ist. Um ihr Instagram-Konto zu pushen, schafft sie sich gedankenlos die Phyton-Schlange Willie an, die für viel verhängnisvollen Trubel sorgen wird. Bruder Cooper ist scheinbar ernster Wissenschaftler und studiert ausführlich das Insektensterben und die Auswirkungen des Klimas auf die Tier- und Pflanzenwelt. Ein Zeckenbiss hat ihm den halben Arm gekostet. Mutter Ottilie schwitzt unter der Hitze Kaliforniens und forscht an einer alternativen Eiweißzufuhr mit Heuschrecken, während Cat in Florida immer öfter durch Wassermassen zu ihrem Haus waten muss.

Nach und nach nimmt die dystopisch-groteske und sehr unterhaltsame Handlung samt Boyles zynisch-bitterkomischen Sarkasmus immer weiter Fahrt auf – packend und teils extrem fließen Schicksalsschläge der Familie in unterschiedlichste (teils naiv-oberflächliche) Blickwinkel auf die Klimaapokalypse und Katastrophen aller Art. Neben Starkstürmen, Hochwasser, Waldbränden, Killerinsekten und Artensterben spricht Boyle noch viele weitere Themen wie Mutterschaft, Konsum, Alkoholsucht, Tierhandel oder körperliche Behinderung an, die aber in der Fülle und Lakonie hier und da etwas untergehen. Bewegend und mitreißend ist ihm dagegen die Mutter-Tochter-Beziehung und seine eindringliche Warnung zur Klimakrise gelungen – bei den atmosphärisch dichten und drastischen Schilderungen bleibt einem als Leser oft das Lachen im Halse stecken, denn zu aktuell und brisant sind die Auswirkungen schon jetzt. Und auch wenn es Boyle hier und da in seinem apokalyptischen Roman auf die Spitze treibt, hinterlässt er ein latent ungutes Gefühl – denn soweit entfernt sind wir von diesen Katastrophen nicht mehr. Gekonnt lässt Boyle auch im Hintergrund erzählerisch Nachrichten zur Klimakrise einfließen, doch erst als die Auswirkungen greifbar und direkt betreffen, versuchen seine Hauptakteure hilflos-überfordert zu denken. Doch gibt es noch Hoffnung?

„Blue Skies“ ist zwar nicht Boyles bester Roman, aber sehr tragikomisch-ergreifend und scharf gesellschaftskritisch konstruiert sowie präzise recherchiert und (leider) am erschreckenden Puls der Zeit. Und während Ella Fitzgerald im gleichnamigen Lied eher vom positiven Leben und schönem Wetter singt, zeichnet T. C. Boyle ein desaströses Bild einer Katastrophe am Himmel.

Bewertung vom 29.04.2023
Das vorläufige Ende der Zeit
Mayer, Berni

Das vorläufige Ende der Zeit


gut

Risse in der Zeit

In seinem neuen Roman „Das vorläufige Ende der Zeit“ beleuchtet der Autor und Journalist Berni Mayer die Zeit aus mehreren Perspektiven von Menschen, die die Zeit gerne zurückdrehen möchten und mit ihr hadern. Schuld, Schmerz, Traumata und tragische Erlebnisse hindern Artur und Mi-Ra daran, glücklich im Jetzt zu leben – und so lassen sie sich auf dem verlassenen jüdischen Friedhof Słubice zusammen mit dem eigensinnigen Kosmologen Horatio auf eine fantastische Séance ein, die sie mit halluzinogenen Pilzen und einem seltenen Zeitriss zurück in die Vergangenheit wirft.

Die junge Archäologin und Journalistin Mi-Ra kämpft mit innerer Unruhe und Zerrissenheit – sie ist alleinerziehende Mutter und versucht, ihre Traumata aus der Kindheit zu verarbeiten und mit frechen Sprüchen taff zu wirken. Einst aus Korea eingewandert, verlässt der Vater die Familie, um in seine Heimat zurückzukehren und lässt Mi-Ra mit Mutter, Bruder und Verletzungen von seinen Prügelattacken zurück. Und auch mit ihrem Ex-Freund und Vater ihres Sohnes verbindet sie etwas Toxisches. Der Friedhofswärter Artur hingegen muss den tragischen Verlust seiner krebskranken Tochter Mila und das Ende seiner Ehe verkraften. Und während die Beiden sich etwas näherkommen, sendet sie der mysteriöse Verleger Horatio Beeltz nicht nur auf bewegende Trips in die Vergangenheit, sondern stellt ihnen auch die philosophische Frage, welche vergangenen Ereignisse sie tatsächlich ändern wollen und können.

Mit einer modern-flotten, flüssigen Sprache und einigen Bezügen zu musikalischen Titeln ist Bernie Mayer ein unterhaltsamer, guter Roman gelungen, der dennoch stellenweise sein Potenzial nicht vollkommen ausgeschöpft hat. Während Arturs Geschichte des tiefen Verlusts tiefgründig und sehr berührend ausgearbeitet ist, bleiben Mi-Ra und Horatio etwas blass gezeichnet. Dafür besticht Letzterer durch wissenschaftlich sehr interessante Ausführungen über das Wesen der Zeit und wie die Menschen dieses nicht akzeptieren oder verstehen. Lakonischer Humor trifft dabei auf sehr ernste Themen sowie moralische Fragen des Lebens und besonders die Szenerie dieses geschichtsträchtigen Friedhofs ist sehr schön und dicht beschrieben. Manche Dialoge wirken etwas stelzig, während andere vor allem durch Mi-Ras Kommentare eine pfiffige Ironie ausstrahlen.

Insgesamt ein melancholisch-nachdenklicher Roman mit Ansätzen aus der Philosophie und Wissenschaft, der trotz Zeitreise- und Paralleldimensionen gut verständlich bleibt und solide unterhält – und der trotzdem etwas an der Oberfläche bleibt.

3,5 Sterne

Bewertung vom 27.04.2023
Going Zero
Mccarten, Anthony

Going Zero


ausgezeichnet

Myriaden von Kreisen

Der neuseeländische Schriftsteller und Drehbuchautor Anthony McCarten hat mit seinem neuen, filmreifen Politthriller „Going Zero“ eine höchst spannend-rasante und packend konstruierte Geschichte mit sehr aktuellen Themen verstrickt – KI, Datenschutz, der gläserne Bürger und mächtige, machthungrige Konzerne.

In einem groß angelegten Betatest-Projekt der Tech-Firma WorldShare von Milliardär Cy Baxter versuchen zehn Zero-Kandidaten 30 Tage lang vom Daten-Radar unterzutauchen, um nicht aufgespürt zu werden – als Preisgeld winken 30 Millionen steuerfreie Dollar. Aber auch bei Cy Baxter geht es um sehr viel: Schnappt er mit seiner Fusionszentrale und Top-Suchtruppen alle Zeros, geht er einen milliardenschweren Deal zur digitalen Überwachung mit der US-Regierung sowie dem CIA ein. Mit seiner Firma besitzt er bereits unzählige persönliche Daten von Menschen weltweit.

Auch abwechselnden Perspektiven beleuchtet McCarten dieses fulminante und wendungsreiche Katz-und-Maus-Verfolgungsspiel – dabei sind manche Versuche der Zeros, der Überwachung zu entkommen sehr grotesk-humorvoll, während sich Zero-Kandidat und Bibliothekarin Kaitlyn Day als äußerst raffiniert und sehr gut vorbereitet entpuppt. Mit Kniff und Tricks entgeht sie den Zugriffen der Baxter-Gruppe, versteckt sich unter anderen in Wäldern und Stück für Stück wird ihre eigene Geschichte und Mission dahinter aufgerollt. Cy Baxter hat sie immens unterschätzt, doch er ist bereit, mit gefährlichen und unlauteren Mitteln zu kämpfen.

„So ein Menschenleben – alles, was jemand tut, was er kauft, zieht seine Kreise, Myriaden von Kreisen ... “ (S. 150)

Mit erschreckend realitätsnahen Fakten zur technologischen KI-Überwachung wie Social Media, Kameras, Telefondaten, Krankenakten, Fotos, Kontobewegungen, persönliche Biografien sowie Geschmacksvorlieben etc. und einem unglaublich szenischen Gespür für Details, Stimmungen und Schauplätze hat Anthony McCarten einen soghaft-temporeichen und mitreißenden Thriller entworfen, der kaum aus der Hand zu legen ist. Der twistreiche und gesellschaftskritische Plot ruft nach einer schnellen Verfilmung und einen oberen Rang auf der Bestseller-Liste – und öffnet mit bester Unterhaltung verblüffend die Augen, wie Tag für Tag im Internet Myriaden an Daten von uns allen gesammelt werden.

Bewertung vom 16.04.2023
Lebendige Nacht
Kimmig, Sophia

Lebendige Nacht


sehr gut

Von Bilchen und Eulen

Mit viel Liebe zu skurrilen und lehrreichen Details entführt die Wildbiologin Sophia Kimmig in ihrem Sachbuch „Lebendige Nacht“ sehr unterhaltsam in die aufregende, tierische Dunkelwelt. Aufgeteilt in zehn Kapiteln kommen dabei vor allem feinfühlig-genaue Beschreibungen der nachtaktiven Tiere wie Bilche, Eulen, Fledermäuse, Waschbären und Nachtfalter vor, die Autorin mahnt aber zudem mit präzisen Erläuterungen die Lichtverschmutzung und zunehmende Lebensraumverdrängung an und bietet einen Diskurs in die Ambivalenz zwischen Licht und Dunkel.

Dass die dunkle Parallelwelt soviel an Kuriositäten zu bieten hat, ist verblüffend – Haselmäuse, die ihre Schwänze als Schlafsack nutzen, Federschwanz-Spitzhörnchen, die sich jede Nacht zu einem Gewächs schleichen, das sie betrunken macht oder Tiefsee-Fische, die in der Dunkelheit kleine Taschenlampen haben. Sophia Kimmig ist ihre Leidenschaft an ihrem Beruf empathisch anzumerken – und so webt sie humorvolle Details mit ernsten Themen gekonnt zusammen und die Schilderungen der Nachtfalter-Gewände sowie dem nächtlichen Kulturgut hat feinsinnig-poetische Züge. Faszinierend sind die vielen wissenschaftlichen Fakten und Ausstattungen der Nachttiere, von dem sich die Menschen so einiges für die Technik abgeschaut haben – so haben die Nachtfalter einen so feinen Geruchssinn, dass sie als Vorlage für Sprengstoffdetektoren dienen und sogar aufregende Abwehrmechanismen gegen den unglaublichen Sonar der Fledermäuse entwickelt haben.

Abgerundet werden die anschaulich erzählten Kapitel mit Fun Facts, schönen Zeichnungen und Schwarz-Weiß-Fotos der Tiere – für mehr Bilder der Tiere ermuntert die Autorin ihre Leser zum Googeln. Sophia Kimmig ist eine begeisterte Entdeckerin der Dunkelwelt sowie fantasiereiche Erzählerin ihrer wissenschaftlichen Entdeckungen und Anekdoten. Die verschiedenen Tiere werden auf den rund 270 Seiten mit bewegendem Epilog verständlicherweise nur angerissen – aber wer nach den zahlreichen Informationen mehr Lust bekommt, ein Tier tiefer zu entdecken, hat bestimmt nach der Lektüre den Elan selbst in die Nacht zu wandern oder sich aus dem umfangreichen Anhang zu informieren.

Bewertung vom 12.04.2023
Der weiße Fels
Hope, Anna

Der weiße Fels


sehr gut

Ursprung des Lebens
Mit detaillierter Erzählfinesse spannt Anna Hope in ihrem neuen Roman „Der weiße Fels“ einen weiten zeitlichen Bogen in der Menschheit, in dem der mystische, heilige Fels Piedra Blanca in Mexiko das Zentrum bildet. Vier unterschiedliche Geschichten thematisieren persönliche Veränderungen, aber auch Verschleppung, Kolonialisierung und die Klimakatastrophe, während die Felsformation im Meer zur mythischen Projektionsfläche der verschiedenen Charaktere und Wünsche wird.

Kurz nach Beginn der Corona-Pandemie fährt eine Schriftstellerin mit ihrer kleinen Tochter und Noch-Ehemann in einer Gruppe zu dem Ort, an dem ihr vor einigen Jahren eine Zeremonie zur Fruchtbarkeit verholfen hat. Nun will sie dort ein Opfer ablegen, doch ihre Gedanken kreisen rund um persönliche und globale Krisen sowie um kulturelle Aneignung. In der anderen Geschichte sucht Musikstar Jim Morrison im felsennahen Fischerort San Blas 1969 nach Erholung und Abgeschiedenheit – Drogen und Alkohol zerstören ihn und wie in einem Fiebertraum irrt er high umher, kann aber seine inneren Dämonen nicht abschütteln. In den bewegenden und packenden Kapiteln über zwei gewaltvoll verschleppte Mädchen des indigen Yoeme-Stamms im Jahre 1907 und über einen spanischen Leutnant im Jahre 1775 geht Anna Hope weit in der Zeitschiene zurück, spickt aber jede Geschichte mit sehr viel Genauigkeit und erzählerische Tiefe. Während sie bei den Yoeme sehr mythisch wird, schildert sie das Leben und Zweifeln des Leutnant mit vielen zeithistorischen Details aus der Eroberungsgeschichte.

Jeder der Protagonisten schaut hoffnungsvoll oder mit innerem Schmerz auf den weißen Felsen und sieht etwas anderes in ihm – und so sehen die Fels-Zeichnungen zwischen den Kapiteln auch immer verschieden aus, bevor in der Mitte der Fels selbst zu Wort kommt und die Geschichten in anderer Reihenfolge weitergehen. Für die Wixárika ist dieser Ort der Ursprung des Lebens und Anna Hope zeichnet in ihrem klugen, feinfühlig-tiefsinnigen Roman viele Facetten des Menschseins über 250 Jahre auf. Dabei ist ihr nicht jeder der vier Erzählstränge gleich gut gelungen, aber ihr dichtes Einfühlungsvermögen und literarisches Talent bleiben ohne Zweifel sichtbar. Mit sprachlicher Wucht zeigt die Autorin auf brisante Themen der menschlichen Grausamkeit unserer und der vergangenen Zeit – und der unverrückbare, weiße Fels war stets Zeuge und Zufluchtsort im Echo der Zeit.