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amara5

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Insgesamt 118 Bewertungen
Bewertung vom 14.06.2023
Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)
Boyle, T. C.

Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)


sehr gut

Apokalypse am Himmel
In seinem 19. Roman „Blue Skies“ verwebt der berühmte Bestseller-Autor T. C. Boyle düster-schwarzhumorig ein turbulentes Familiendrama mit der allgegenwärtigen, drastischen Klimakrise. Dabei spielen unterhaltsam wiederkehrende tierische Motive, sowie das (nicht)mögliche Anpassungsvermögen der Menschen an die sich verändernden äußeren Umständen eine große, satirische Rolle.

Im Mittelpunkt des rasanten Geschehens steht exemplarisch die amerikanische Familie Cullen: die Eltern Frank und Ottilie mit den erwachsenen Kindern Cat und Cooper. Aus abwechselnd erzählerischen Perspektiven schildert Boyle gewohnt ironisch und plastisch die persönlichen Erlebnisse der Protagonisten, aber auch, wie die Klimakrise immer weiter bedrohlich in ihr Leben dringt. Cat ist Social-Media-Influencerin, trinkt zu viel, lebt in einem Beach House auf Stelzen in Florida und träumt von großer Berühmtheit mit vielen Likes, während ihr Verlobter Todd viel auf Geschäftsreise als Bacardi-Manager ist. Um ihr Instagram-Konto zu pushen, schafft sie sich gedankenlos die Phyton-Schlange Willie an, die für viel verhängnisvollen Trubel sorgen wird. Bruder Cooper ist scheinbar ernster Wissenschaftler und studiert ausführlich das Insektensterben und die Auswirkungen des Klimas auf die Tier- und Pflanzenwelt. Ein Zeckenbiss hat ihm den halben Arm gekostet. Mutter Ottilie schwitzt unter der Hitze Kaliforniens und forscht an einer alternativen Eiweißzufuhr mit Heuschrecken, während Cat in Florida immer öfter durch Wassermassen zu ihrem Haus waten muss.

Nach und nach nimmt die dystopisch-groteske und sehr unterhaltsame Handlung samt Boyles zynisch-bitterkomischen Sarkasmus immer weiter Fahrt auf – packend und teils extrem fließen Schicksalsschläge der Familie in unterschiedlichste (teils naiv-oberflächliche) Blickwinkel auf die Klimaapokalypse und Katastrophen aller Art. Neben Starkstürmen, Hochwasser, Waldbränden, Killerinsekten und Artensterben spricht Boyle noch viele weitere Themen wie Mutterschaft, Konsum, Alkoholsucht, Tierhandel oder körperliche Behinderung an, die aber in der Fülle und Lakonie hier und da etwas untergehen. Bewegend und mitreißend ist ihm dagegen die Mutter-Tochter-Beziehung und seine eindringliche Warnung zur Klimakrise gelungen – bei den atmosphärisch dichten und drastischen Schilderungen bleibt einem als Leser oft das Lachen im Halse stecken, denn zu aktuell und brisant sind die Auswirkungen schon jetzt. Und auch wenn es Boyle hier und da in seinem apokalyptischen Roman auf die Spitze treibt, hinterlässt er ein latent ungutes Gefühl – denn soweit entfernt sind wir von diesen Katastrophen nicht mehr. Gekonnt lässt Boyle auch im Hintergrund erzählerisch Nachrichten zur Klimakrise einfließen, doch erst als die Auswirkungen greifbar und direkt betreffen, versuchen seine Hauptakteure hilflos-überfordert zu denken. Doch gibt es noch Hoffnung?

„Blue Skies“ ist zwar nicht Boyles bester Roman, aber sehr tragikomisch-ergreifend und scharf gesellschaftskritisch konstruiert sowie präzise recherchiert und (leider) am erschreckenden Puls der Zeit. Und während Ella Fitzgerald im gleichnamigen Lied eher vom positiven Leben und schönem Wetter singt, zeichnet T. C. Boyle ein desaströses Bild einer Katastrophe am Himmel.

Bewertung vom 29.04.2023
Das vorläufige Ende der Zeit
Mayer, Berni

Das vorläufige Ende der Zeit


gut

Risse in der Zeit

In seinem neuen Roman „Das vorläufige Ende der Zeit“ beleuchtet der Autor und Journalist Berni Mayer die Zeit aus mehreren Perspektiven von Menschen, die die Zeit gerne zurückdrehen möchten und mit ihr hadern. Schuld, Schmerz, Traumata und tragische Erlebnisse hindern Artur und Mi-Ra daran, glücklich im Jetzt zu leben – und so lassen sie sich auf dem verlassenen jüdischen Friedhof Słubice zusammen mit dem eigensinnigen Kosmologen Horatio auf eine fantastische Séance ein, die sie mit halluzinogenen Pilzen und einem seltenen Zeitriss zurück in die Vergangenheit wirft.

Die junge Archäologin und Journalistin Mi-Ra kämpft mit innerer Unruhe und Zerrissenheit – sie ist alleinerziehende Mutter und versucht, ihre Traumata aus der Kindheit zu verarbeiten und mit frechen Sprüchen taff zu wirken. Einst aus Korea eingewandert, verlässt der Vater die Familie, um in seine Heimat zurückzukehren und lässt Mi-Ra mit Mutter, Bruder und Verletzungen von seinen Prügelattacken zurück. Und auch mit ihrem Ex-Freund und Vater ihres Sohnes verbindet sie etwas Toxisches. Der Friedhofswärter Artur hingegen muss den tragischen Verlust seiner krebskranken Tochter Mila und das Ende seiner Ehe verkraften. Und während die Beiden sich etwas näherkommen, sendet sie der mysteriöse Verleger Horatio Beeltz nicht nur auf bewegende Trips in die Vergangenheit, sondern stellt ihnen auch die philosophische Frage, welche vergangenen Ereignisse sie tatsächlich ändern wollen und können.

Mit einer modern-flotten, flüssigen Sprache und einigen Bezügen zu musikalischen Titeln ist Bernie Mayer ein unterhaltsamer, guter Roman gelungen, der dennoch stellenweise sein Potenzial nicht vollkommen ausgeschöpft hat. Während Arturs Geschichte des tiefen Verlusts tiefgründig und sehr berührend ausgearbeitet ist, bleiben Mi-Ra und Horatio etwas blass gezeichnet. Dafür besticht Letzterer durch wissenschaftlich sehr interessante Ausführungen über das Wesen der Zeit und wie die Menschen dieses nicht akzeptieren oder verstehen. Lakonischer Humor trifft dabei auf sehr ernste Themen sowie moralische Fragen des Lebens und besonders die Szenerie dieses geschichtsträchtigen Friedhofs ist sehr schön und dicht beschrieben. Manche Dialoge wirken etwas stelzig, während andere vor allem durch Mi-Ras Kommentare eine pfiffige Ironie ausstrahlen.

Insgesamt ein melancholisch-nachdenklicher Roman mit Ansätzen aus der Philosophie und Wissenschaft, der trotz Zeitreise- und Paralleldimensionen gut verständlich bleibt und solide unterhält – und der trotzdem etwas an der Oberfläche bleibt.

3,5 Sterne

Bewertung vom 27.04.2023
Going Zero
Mccarten, Anthony

Going Zero


ausgezeichnet

Myriaden von Kreisen

Der neuseeländische Schriftsteller und Drehbuchautor Anthony McCarten hat mit seinem neuen, filmreifen Politthriller „Going Zero“ eine höchst spannend-rasante und packend konstruierte Geschichte mit sehr aktuellen Themen verstrickt – KI, Datenschutz, der gläserne Bürger und mächtige, machthungrige Konzerne.

In einem groß angelegten Betatest-Projekt der Tech-Firma WorldShare von Milliardär Cy Baxter versuchen zehn Zero-Kandidaten 30 Tage lang vom Daten-Radar unterzutauchen, um nicht aufgespürt zu werden – als Preisgeld winken 30 Millionen steuerfreie Dollar. Aber auch bei Cy Baxter geht es um sehr viel: Schnappt er mit seiner Fusionszentrale und Top-Suchtruppen alle Zeros, geht er einen milliardenschweren Deal zur digitalen Überwachung mit der US-Regierung sowie dem CIA ein. Mit seiner Firma besitzt er bereits unzählige persönliche Daten von Menschen weltweit.

Auch abwechselnden Perspektiven beleuchtet McCarten dieses fulminante und wendungsreiche Katz-und-Maus-Verfolgungsspiel – dabei sind manche Versuche der Zeros, der Überwachung zu entkommen sehr grotesk-humorvoll, während sich Zero-Kandidat und Bibliothekarin Kaitlyn Day als äußerst raffiniert und sehr gut vorbereitet entpuppt. Mit Kniff und Tricks entgeht sie den Zugriffen der Baxter-Gruppe, versteckt sich unter anderen in Wäldern und Stück für Stück wird ihre eigene Geschichte und Mission dahinter aufgerollt. Cy Baxter hat sie immens unterschätzt, doch er ist bereit, mit gefährlichen und unlauteren Mitteln zu kämpfen.

„So ein Menschenleben – alles, was jemand tut, was er kauft, zieht seine Kreise, Myriaden von Kreisen ... “ (S. 150)

Mit erschreckend realitätsnahen Fakten zur technologischen KI-Überwachung wie Social Media, Kameras, Telefondaten, Krankenakten, Fotos, Kontobewegungen, persönliche Biografien sowie Geschmacksvorlieben etc. und einem unglaublich szenischen Gespür für Details, Stimmungen und Schauplätze hat Anthony McCarten einen soghaft-temporeichen und mitreißenden Thriller entworfen, der kaum aus der Hand zu legen ist. Der twistreiche und gesellschaftskritische Plot ruft nach einer schnellen Verfilmung und einen oberen Rang auf der Bestseller-Liste – und öffnet mit bester Unterhaltung verblüffend die Augen, wie Tag für Tag im Internet Myriaden an Daten von uns allen gesammelt werden.

Bewertung vom 16.04.2023
Lebendige Nacht
Kimmig, Sophia

Lebendige Nacht


sehr gut

Von Bilchen und Eulen

Mit viel Liebe zu skurrilen und lehrreichen Details entführt die Wildbiologin Sophia Kimmig in ihrem Sachbuch „Lebendige Nacht“ sehr unterhaltsam in die aufregende, tierische Dunkelwelt. Aufgeteilt in zehn Kapiteln kommen dabei vor allem feinfühlig-genaue Beschreibungen der nachtaktiven Tiere wie Bilche, Eulen, Fledermäuse, Waschbären und Nachtfalter vor, die Autorin mahnt aber zudem mit präzisen Erläuterungen die Lichtverschmutzung und zunehmende Lebensraumverdrängung an und bietet einen Diskurs in die Ambivalenz zwischen Licht und Dunkel.

Dass die dunkle Parallelwelt soviel an Kuriositäten zu bieten hat, ist verblüffend – Haselmäuse, die ihre Schwänze als Schlafsack nutzen, Federschwanz-Spitzhörnchen, die sich jede Nacht zu einem Gewächs schleichen, das sie betrunken macht oder Tiefsee-Fische, die in der Dunkelheit kleine Taschenlampen haben. Sophia Kimmig ist ihre Leidenschaft an ihrem Beruf empathisch anzumerken – und so webt sie humorvolle Details mit ernsten Themen gekonnt zusammen und die Schilderungen der Nachtfalter-Gewände sowie dem nächtlichen Kulturgut hat feinsinnig-poetische Züge. Faszinierend sind die vielen wissenschaftlichen Fakten und Ausstattungen der Nachttiere, von dem sich die Menschen so einiges für die Technik abgeschaut haben – so haben die Nachtfalter einen so feinen Geruchssinn, dass sie als Vorlage für Sprengstoffdetektoren dienen und sogar aufregende Abwehrmechanismen gegen den unglaublichen Sonar der Fledermäuse entwickelt haben.

Abgerundet werden die anschaulich erzählten Kapitel mit Fun Facts, schönen Zeichnungen und Schwarz-Weiß-Fotos der Tiere – für mehr Bilder der Tiere ermuntert die Autorin ihre Leser zum Googeln. Sophia Kimmig ist eine begeisterte Entdeckerin der Dunkelwelt sowie fantasiereiche Erzählerin ihrer wissenschaftlichen Entdeckungen und Anekdoten. Die verschiedenen Tiere werden auf den rund 270 Seiten mit bewegendem Epilog verständlicherweise nur angerissen – aber wer nach den zahlreichen Informationen mehr Lust bekommt, ein Tier tiefer zu entdecken, hat bestimmt nach der Lektüre den Elan selbst in die Nacht zu wandern oder sich aus dem umfangreichen Anhang zu informieren.

Bewertung vom 12.04.2023
Der weiße Fels
Hope, Anna

Der weiße Fels


sehr gut

Ursprung des Lebens
Mit detaillierter Erzählfinesse spannt Anna Hope in ihrem neuen Roman „Der weiße Fels“ einen weiten zeitlichen Bogen in der Menschheit, in dem der mystische, heilige Fels Piedra Blanca in Mexiko das Zentrum bildet. Vier unterschiedliche Geschichten thematisieren persönliche Veränderungen, aber auch Verschleppung, Kolonialisierung und die Klimakatastrophe, während die Felsformation im Meer zur mythischen Projektionsfläche der verschiedenen Charaktere und Wünsche wird.

Kurz nach Beginn der Corona-Pandemie fährt eine Schriftstellerin mit ihrer kleinen Tochter und Noch-Ehemann in einer Gruppe zu dem Ort, an dem ihr vor einigen Jahren eine Zeremonie zur Fruchtbarkeit verholfen hat. Nun will sie dort ein Opfer ablegen, doch ihre Gedanken kreisen rund um persönliche und globale Krisen sowie um kulturelle Aneignung. In der anderen Geschichte sucht Musikstar Jim Morrison im felsennahen Fischerort San Blas 1969 nach Erholung und Abgeschiedenheit – Drogen und Alkohol zerstören ihn und wie in einem Fiebertraum irrt er high umher, kann aber seine inneren Dämonen nicht abschütteln. In den bewegenden und packenden Kapiteln über zwei gewaltvoll verschleppte Mädchen des indigen Yoeme-Stamms im Jahre 1907 und über einen spanischen Leutnant im Jahre 1775 geht Anna Hope weit in der Zeitschiene zurück, spickt aber jede Geschichte mit sehr viel Genauigkeit und erzählerische Tiefe. Während sie bei den Yoeme sehr mythisch wird, schildert sie das Leben und Zweifeln des Leutnant mit vielen zeithistorischen Details aus der Eroberungsgeschichte.

Jeder der Protagonisten schaut hoffnungsvoll oder mit innerem Schmerz auf den weißen Felsen und sieht etwas anderes in ihm – und so sehen die Fels-Zeichnungen zwischen den Kapiteln auch immer verschieden aus, bevor in der Mitte der Fels selbst zu Wort kommt und die Geschichten in anderer Reihenfolge weitergehen. Für die Wixárika ist dieser Ort der Ursprung des Lebens und Anna Hope zeichnet in ihrem klugen, feinfühlig-tiefsinnigen Roman viele Facetten des Menschseins über 250 Jahre auf. Dabei ist ihr nicht jeder der vier Erzählstränge gleich gut gelungen, aber ihr dichtes Einfühlungsvermögen und literarisches Talent bleiben ohne Zweifel sichtbar. Mit sprachlicher Wucht zeigt die Autorin auf brisante Themen der menschlichen Grausamkeit unserer und der vergangenen Zeit – und der unverrückbare, weiße Fels war stets Zeuge und Zufluchtsort im Echo der Zeit.

Bewertung vom 28.03.2023
Wasserzeiten
Bilkau, Kristine

Wasserzeiten


sehr gut

Das magische Dritte
Kristine Bilkau geht in ihren feinfühligen, klugen und teils sehr persönliche Essays „Wasserzeiten“ ihrer eigenen Schwimmbiografie, aber auch ihrer Liebe zum Wasser nach. Dabei verwebt sie präzise komponiert verschiedenste literarische Querverweise ein, die schön akzentuiert in persönliche Erfahrungsmomente und versiert recherchierte Fakten über das Schwimmen ineinanderfließen.

Am Anfang und am Ende der Reflexionen steht dabei das Gedicht „The Third Thing“ von D. H. Lawrence im Vordergrund – dieser schreibt lyrisch über das unergründliche, geheimnisvolle Dritte, das sich im H²O verbirgt und die Menschen glücklich macht. Nicht nur das Dopamin und Seratonin, das beim Eistauchen oder langem Schwimmen ausgeschüttet wird, auch das Einssein mit diesem Element und den Menschen, die sich darin begeben, beschreibt Bilkau sehr feinsinnig und mit wunderschönen Sprachbildern – immer auf der Suche nach diesem geheimnisvollen dritten Element, das sich nicht richtig greifen lässt und dabei tiefsinnige Interpretationen mit Spielraum für eigene Gedanken zulässt.

Bewegend-berührende Momente in ihrem Leben wie die Angst beim Muttersein, das fehlende Vertrauen in den eigenen Körper oder der verstorbene Vater, ein Seemann, der ihr das Schwimmen beigebracht hat, fügen sich in informative Fakten über die Kulturgeschichte des Schwimmens. Feminismus, Gesundheit, Sozialgefüge und die Bedeutung eines glitzerndes Pools in Literatur und Film sind Themen dieses Essays, der untergliedert in kurzen Kapiteln nie das Menschsein an sich aus den Augen verliert. Auch verbindet Bilkau assoziativ, was der Schreibprozess und das Schwimmen für sie gemeinsam haben.

Kristine Bilkau schreibt unverwechselbar elegant, empathisch und weise – federleicht und unterhaltsam verknüpft sie eigene Schwimmerfahrungen, Sehnsuchtsbadeorte oder Badeoutfits im Schwimmband und im Meer mit der großen Geschichte des Schwimmens und spannenden literarischen Einblicken. Ein schmales, aber sehr gelungenes Buch!

Bewertung vom 21.03.2023
Wovon wir leben
Birnbacher, Birgit

Wovon wir leben


ausgezeichnet

Einatmen, ausatmen
Die Bachmannpreisträgerin und studierte Soziologin Birgit Birnbacher zeichnet in ihrem neuen Roman „Wovon wir leben“ ein feinfühliges und detailliertes Bild einer jungen Frau in der Sinnkrise – und lässt dabei präzise und realistisch noch existenzielle Fragen des (nicht) arbeitenden Menschen miteinfließen.

Julia heißt die empathische Ich-Erzählerin des Romans und sie leidet an schwerem Asthma – nach einem traumatischen Erlebnis an ihrem alten Arbeitsplatz als Krankenschwester, das ihr auch ihre Stelle kosten wird, verschlechtert sich ihr Atemvolumen und sie muss nicht nur neu lernen, tief ein- und auszuatmen, sondern auch ohne Arbeit zu leben. Physisch und psychisch angeschlagen kehrt sie zurück zu ihren Eltern ins erdrückende Dorfleben von Innergebirg – doch ihre Mutter hat Reißaus genommen und lebt jetzt bei den Zitronen in Italien, ihr Vater, ein herrischer, hypochondrischer Grantler, zwingt sie mit emotionaler Erpressung dazu, für ihn da zu sein, während Julias geistig behinderter Bruder in einem Heim gepflegt wird.

Julia wird auf den Städter Oskar treffen, der sich nach einem Herzinfarkt erholt und dem ein bedingungsloses Grundeinkommen derzeit das Leben ohne Arbeit erleichtert. Gemeinsam erholen sie sich einen Sommer lang, kommen sich näher, beobachten das bornierte Dorfleben im Wirtshaus, in dem die arbeitslos gewordenen Männer trinken und spielen, und reflektieren ihr bisheriges (Arbeits-)Leben.

Mit einer klaren, sehr starken und ausdrucksstarken Sprache widmet sich Birgit Birnbacher dem Sinn von Arbeit und der unterschätzten Anerkennung von weiblicher Care-Arbeit bis zur Erschöpfung – aber auch weitergegebenen Rollenbildern, Verpflichtungen und Erwartungen, die zu erdrücken drohen. Dabei webt sie in ihrer Geschichte subtil soziologische Studien zur Arbeit ein, auf die sie sich am Ende des Buches bezieht. Auch bildgewaltige Metaphern aus der Tierwelt spielen eine übertragene Rolle – wie ein arbeitswütiger, exotischer Vogel, eine schreiende Ziege sowie ein verendetes Arbeitspferd.

Äußerst sensibel und klug schaut Birnbacher auf das Zerbrechliche im Menschenleben und obwohl der Roman sehr schmal ist, steckt zwischen den Zeilen noch so viel mehr Weisheit zum Entdecken. Ein wunderbarer und literarisch geglückter Dorf- und Gesellschaftsroman über den Sinn und Wandel von Arbeit, Fürsorge sowie einem gelungenen, freien Leben.

Bewertung vom 04.03.2023
Siegfried
Baum, Antonia

Siegfried


sehr gut

Dieser Spiegel-Blick

Der Autorin und Journalistin Antonia Baum gelingt mit „Siegfried“ ein brillantes Psychogramm einer jungen Frau und Mutter, die nervlich zusammenbricht, sich neu orientieren muss und mit alten, übertragenen Erwartungen und emotionaler Erpressung in der Kindheit aufräumen muss.

Die namenlose Ich-Erzählerin ist Radiomoderatorin in Berlin und leidet bei ihrem Roman unter einer Schreibblockade – aber nicht nur das zwingt sie psychisch in eine Überforderung und in Angstzustände; auch der Streit mit ihrem Partner Alex und übertriebene Sorgen um Siegfried lasten schwer auf ihr. Siegfried – ihr Stiefvater, der immer alles dominant und nonchalant zusammenhält, weiß wo es lang geht, erfolgreich ist und ihr einen festen Halt im Leben bietet. Und der im Kontrast zu ihrer eher schwachen Mutter steht, die Siegfried alles Recht machen will. Alex dagegen ist ein Tagträumer, Barkeeper und künstlerisch interessiert, etwas verpeilt, aber ein guter Vater der gemeinsamen Tochter Johnny. Eines Morgens findet sich die Protagonistin im Wartezimmer einer Psychiatrie wieder – sie erwartet Hilfe, einen Ruhepol von den Verpflichtungen und der gedanklichen Raserei sowie den täglichen zwanghaften To-Do-Listen und resümiert schmerzvoll und sprunghaft über ihre Vergangenheit.

„Ich gewöhnte mir ein Lachen an, das klang, als würde ich rufen oder irgendwo dagegentrommeln. Diese Härte, die ich mir zulegte, bedingte aber auch eine permanente Angekotztheit. Es war, als versuchte ich, mich an einer glatten Wand festzuhalten – nicht hinunterzufallen, mir aber auch nicht helfen zu lassen.“ S. 94

Bei ihren assoziativen und nicht chronologischen Erinnerungen taucht sie tief ein in ihre Beziehungen, auch in die ihrer Kindheit, die sie viel bei Siegfrieds strenger Mutter Hilde verbracht hat – der Alltag dort war geprägt von Kälte, Zwängen, Regeln und sehr verurteilenden, durchdringenden Blicken von Hilde, die sich nicht nur in den Spiegeln ihrer Wohnung verankern, sondern über Generationen hinweg für Härte sorgen.

Diese subtil gewaltvollen Erfahrungen spiegeln sich nun in den Reflexionen der Erzählerin wider, die Antonia Baum brillant und sehr feinfühlig-scharfsinnig in sich aneinanderreihenden, soghaften Schachtelsätzen bringt. Schmerzvoll, ehrlich und sehr klug zeichnet sie ein Bild, wie Kriegstraumata auf nachfolgende Generationen übertragen werden, aber auch, wie sich eine verletzende Erziehung in das kindliche Seelenleben einprägt.

Der Roman ist keine leichte Kost, dafür aber psychologisch messerscharf ausgeleuchtet und voller Tiefgründigkeit – kleinste Beobachtungen an sich und an ihrer Außenwelt fließen präzise komponiert in die Gedanken der Protagonistin ein, die sich Stück und Stück ein Bild ihres Familienlebens zusammensetzt, das immer geprägt war von Hildes strengen Blicken und Handlungsanweisungen sowie einer permanenten Sprachlosigkeit und einem tiefgreifenden Traumata. Ein sehr intensiver, faszinierender und einfühlsamer Roman über Herkunft, Prägung, Elternschaft und Gewalt, der stilistisch mit wunderbaren Sprachbildern sowie inhaltlich bewegend-eindringlich überzeugt.

Bewertung vom 23.02.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


sehr gut

Dschinn der Steppe
Die deutsch-polnische Schriftstellerin Autorin Sabrina Janesch verwebt in ihrem packendem Roman „Sibir“ zwei Geschichten des Erwachsenwerdens in sehr unterschiedlichen Zeiten sowie Ländern und beleuchtet dabei bewegend die Geschichte der „Russlanddeutschen“.

Als Leila bemerkt, dass ihrem Vater die Erinnerungen an Früher durch seine Demenzerkrankung langsam verlorengehen und er stattdessen verwirrte Stimmen aus der Vergangenheit wahrnimmt, beschließt sie, seine außergewöhnliche Geschichte des Zwangsaussiedelns und Wiederankommens in Deutschland niederzuschreiben. Josef Ambacher ist ein sogenannter Russlanddeutscher: Ende des Zweiten Weltkrieges wurde er als 10-jähriger von der Roten Armee mit seiner Familie und vielen weiteren Zivilgefangenen aus Galizien nach Kasachstan zwangsumgesiedelt. Schon alleine die weite Anfahrt im Zugwaggon haben viele nicht überlebt – auch sein kleiner Bruder Jakob. Doch was die Menschen verschiedenster Kulturen gemeinsam in dieser Siedlung Nowa Karlowka in der irrsinnig weiten, rauen Steppe erleben, um zu überleben, ist erzählerisch atemberaubend und menschlich dramatisch.

Sabrina Janesch verknüpft das Heranwachsen von Josef in Kasachstan mit den Erlebnissen von seiner Tochter Leila im jeweils gleichen Alter, stellt die Steppe in Bezug auf eine Randsiedlung in Mühlheide, Niedersachsen. Als Josef mit Ende des Eisernen Vorhangs in Deutschland die vielen ankommenden Spätaussiedler in seiner Heimat sieht, wird er frontal mit seiner eigenen Vergangenheit und Ängsten konfrontiert. Denn er hat gelernt, über sein Leben in Kasachstan zu schweigen – nur Tochter Leila kann von seinen bewegenden, abenteuerreichen und teils tragischen Geschichten, den Dschinn der Steppe, nicht genug bekommen.

Aus abwechselnden Perspektiven entwirft Janesch in einer beeindruckenden, poetischen und bildhaften Sprache ein tiefgreifendes Bild über Heimat, Identität, Vertreibung, familiären Verstrickungen, unterschiedlichen Kulturen, Freundschaft und Mut. Besonders die eindringlichen Schilderungen aus Kasachstan sind sehr dicht, plastisch und soghaft – faszinierend komponiert Janesch das harte Leben in der kasachischen Steppe mit wilden Tieren, Mythen, kulturellen Traditionen und Wetterphänomenen. Leilas Kindheit in den 1990er-Jahren ist geprägt von ihrer Freundschaft zu Arnold, mit dem sie viel Zeit draußen verbringt und alles teilen kann und doch empfindet sie ihr Heranwachsen als hart und ausgegrenzt. Mit assoziativen Schlaglichtern zieht Janesch Anknüpfungspunkte aus Kasachstan zu Leilas Leben in Norddeutschland, was nicht immer ganz rund erscheint, da beide Lebensumstände nicht wirklich zu vergleichen sind.

„Sibir“ glänzt vor allem durch eine sprachliche Wucht und Versiertheit – Bilder der unendlichen Steppe tauchen beim Lesen auf und gleichzeitig lenkt Janesch präzise recherchiert den Blick auf ein Stück wichtige deutsch-russische Geschichte und autofiktional auf ihre eigene Familiengeschichte. Über Jahrzehnte hinweg rollt sie feinfühlig auf, wie verdrängte Kriegstraumata auf die nächste Generation weitergegeben werden und welchen Überlebenswillen Menschen auch in der härtesten Umgebung und Ausgrenzung entwickeln. Ein tiefsinniger, kraftvoller und sehr sinnlicher Roman mit einem berührenden Ende und der dazu einlädt, sich noch tiefer mit der Zeitgeschichte und Entwurzelungstraumata zu beschäftigen.

Bewertung vom 12.02.2023
Salomés Zorn
Bekono, Simone Atangana

Salomés Zorn


sehr gut

Ein zweites Ich
In ihrem kraftvollen und zornigen Debütroman „Salomés Zorn“ schildert die niederländische Autorin und Lyrikerin Simone Atangana Bekono eindrücklich, was Rassismus und Mobbing mit einem jungen Menschen anrichtet.

Die Teenagerin Salomé Henriette Constance Atabong lebt zusammen mit ihrer Familie in einem niederländischen provinziellen Dorf – ihr Vater stammt aus Kamerun und weiß, was es bedeutet, wegen der Hautfarbe von täglichen Anfeindungen betroffen zu sein. Er installiert in der Garage einen Punchingball und sein Mantra an seine Töchter lautet: Arbeitet hart, beklagt euch nicht und schlagt ein Loch in den Feind. Auf dem Gymnasium ist Salomé schlau, besonders die Literatur und das Lesen haben es ihr angetan, aber Freunde findet sie kaum. Im Gegenteil: Das Schulleben ist geprägt von Mobbing, verletzenden Kraftausdrücken und herabsetzenden Handlungen. Als sie eines Tages zwei Jungs aus der Schule beim Nachhauseweg verfolgen, befolgt Salomé den Ratschlag ihres Vaters und lässt ihrer aufgetauten Wut freien Lauf. Die Gewalttat bringt sie in eine Jugendstrafanstalt, in der sie sechs Monate lang lernen soll, ihre Gefühle auszudrücken und sich zu rehabilitieren.

Der Kernpunkt des eindringlichen und bewegenden Romans liegt in diesem Aufenthalt im sogenannten Donut, der kreisförmigen Jugendstrafanstalt. Salomé wird dem Betreuer und Therapeuten Frits zugeordnet, der vorher in der fragwürdigen TV-Show „Hello Jungle“ teilgenommen hat – in diesem Format werden indigene Völker in Afrika bloßgestellt. Aus der Ich-Perspektive erzählt Salomé von anderen Insassinnen, vom Alltag in der Anstalt, aber vor allem von ihren Albträumen und ihrem mäandernden Zusammenfinden der Erinnerungen. Faszinierend, lyrisch und packend setzt Simone Atangana Bekono diese Erinnerungen mosaikartig und künstlerisch abstrakt zusammen, lässt Salomé in einer Art sogartigem Monolog von ihrer Kindheit, ihrer Familie samt den Ratschlägen der intellektuellen Tante Céleste, aber auch von ihrem prägenden Besuch in Kamerun, dem Entstehen eines Geflüchtetenheims und damit einhergehenden Anfeindungen in ihrem Dorf und den darauffolgenden inneren und äußeren Veränderungen in ihrer Seele reflektieren.

„Meine Gedanken sind alt. Sie wiederholen sich in merkwürdigen Formationen, wie die Vögel, die über den Donut fliegen, wie Erinnerungen, die sich mir aufdrängen.“ S. 111

In Salomés Gedanken mischen sich beim Aufbrechen ihres Seelenlebens mythische Geschichten, griechische Tragödien, Furien und Charaktere der vielen anspruchsvollen Romane, die sie in der Haft liest, bis sie ergreifend zum Kern ihrer Gewalttat vordringt. Besonders die Schilderung der Tat beweist pointiert das lyrische Talent der Autorin, aber auch der Rest des Romans lebt von der sprachlichen Wucht und Akzentuierung – Kernaussagen werden wie ein roter Faden wiederholt und zusammengesetzt, was einem einprägendem Klagelied und einer Katharsis gleicht. Salomés tiefgründige und philosophische Gedanken auf der Suche nach dem ausschlaggebenden Zeitfenster, in dem sie einen Weg eingeschlagen hat, der sie von dem ihrem zweiten Ich, der anderen Salomé, der alles im Leben offensteht und gelingt, entfernt hat, mögen zwar stellenweise etwas verwirrend aufgefangen sein, ergeben am Ende aber ein klug-beklemmendes Gesamtkunstwerk und prägen sich beim Lesen so tief ein, dass sie sich nicht so schnell abschütteln lassen.