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Benutzername: 
mapefue
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Kirchbichl

Bewertungen

Insgesamt 167 Bewertungen
Bewertung vom 21.05.2023
Ich verliebe mich so leicht
Le Tellier, Hervé

Ich verliebe mich so leicht


schlecht

Von Hervé Le Telliers Die Anomalie war ich begeistert, deshalb habe ich mir dieses Büchlein gekauft.
Die 113 Seiten, zum Lesen sind es weit weniger und dieses ist schnell erledigt. Und schnell weglegen werde ich es ebenfalls, auf dass ich es nicht mehr finde. Aus den Augen, aus dem Sinn - vergessen. Schade.

Das Original ist bereits 2007 erschienen, rowolth wollte einfach nur mit dem Namen Le Telliers Kasse machen.

Der Held - alter geiler Bock, benimmt sich wie ein liebestoller Pennäler, und absichtlich verwende ich ein zu vermeidendes Adjektiv, un-interessant. Leider Zeitverschwendung.

Wieder mal etwas von Giullaume Musso lesen.

Bewertung vom 17.05.2023
Die Inkommensurablen
Edelbauer, Raphaela

Die Inkommensurablen


ausgezeichnet

Nicht messbar, nicht vergleichbar; unwägbar (s. DUDEN), soviel muss zunächst als Worterklärung genügen.

Dystopisch und finster geht es in Edelbauers neuem Roman, ,,Die Inkommensurablen", zu.
Der spielt in der Vergangenheit und ist vordergründig ein reiner historischer Roman geworden. In der Nacht vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs irrlichtert ein ungleiches Trio schlaflos durch ein kriegsbegeistertes Wien. „Der Krieg ist der Grund für die Begeisterung, die Begeisterung ist der Grund des Krieges.“ (S. 130)
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs sitzt der 17-jährige Knecht Hans Ranftler im Zug von Tirol nach Wien. Nicht um sich zur k. k. Armee einziehen zu lassen wie andere junge Männer. Sondern um von einer Psychoanalytikerin seine besondere Fähigkeit behandeln zu lassen: Er kann voraussehen, was Menschen sagen werden. Bereits die Ankunft am Südbahnhof haut Hans um: Es zischt, wurlt, glänzt golden. Die pferdelose Tram? "Ein Münchhausenzug, der sich am eigenen Zopf in Richtung Stadt zog.“
Hans findet schnell Anschluss. Auf den Treppen vor der Ordination der Psychoanalytikerin Helene Cheresch lernt er erst Klara und dann Adam kennen. Beide haben natürlich das gemeine Bewusstsein übersteigende Begabungen. Klara eine junge Suffragette, Sozialdemokratin und Studentin der Mathematik, „vollkommen schön“- wie Hans empfindet, die als eine der ersten Frauen vor ihrem Rigorosum an der Universität Wien steht; nicht nur als speziell talentierte Träumerin die „Lieblingspatientin“ der lesbischen Analytikerin. Der junge und schmächtige Adam Graf von Jesenky mit dem Einberufungsbefehl in der Tasche. Beiden schlägt morgen die Stunde. Die Zeit drängt, es entsteht roadmoviehafte Handlung zwischen Prachtpalais, queeren Halbweltlokalen und Universität an.
Grandiose Szenen und starke Dialoge prägen den Roman. Die Leidenschaft Adams, von Kindheit an von väterlicher Härte zum Militär gedrillt, gehört der Musik Arnold Schönbergs. Zusammen mit Gleichgesinnten probt er nicht nur die Kompositionen der Moderne, deren Noten man in der Stadt kaum erhält.
Großartig wie bei einem Abendessen im Palais von Adams Familie Nationalismus, Kriegsidealisierung und Antisemitismus der versammelten, gerade noch den Kaiser beraten habenden Aristokratie aufeinander kracht, während Hans mit der Abfolge der Menügänge nicht mehr Schritt halten kann. „Er (Hans) hatte mit den feinsten Menschen der Stadt gegessen und sich in einem marmorierten Bad in einen mandelgrünen Anzug gekleidet, der jetzt – vom Abstieg in die Kanalisation – von den Beinen aufwärts besudelt war. Er hatte vorgestern noch den Stall des Viehs ausgemistet und würde in wenigen Stunden eine Analyse beginne. Es schien alles gar nicht real“ (S. 275).

„Wenn es eine Erkenntnis gäbe, dann müsste es die Mathematik sein (Kant)“ (S 307). Was darauf folgt sind elfeinhalb Seiten des Rigorosums der Doktorandin Klara, die einen staunen und mit den Ohren schlackern lassen, bis sie von kriegslüsternen Vandalen unterbrochen wird.

Die 33-jährige Niederösterreicherin, die in Wien lebt, hat in den letzten fünf Jahren eine erstaunliche Karriere hingelegt. Ihr Prosadebüt ,,Entdecker. Eine Poetik“ erhielt 2018 den Rauriser Literaturpreis. Ebenfalls 2O18 gab es für die Newcomerin, die in Wien sowohl Philosophie als auch an der Universität für Sprachkunst studierte, bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt den Publikumspreis.

Ihr Debütroman ,,Das flüssige Land" kommt auf die Bühne, 2O19 erschienen, landete er sowohl auf der Shortlist des Deutschen als auch des Österreichischen Buchpreises. Mit ,,Die lnkommensurablen" erscheint ihr dritter Roman binnen vier Jahren. 2021erschien Edelbauers zweites Buch, ,,Dave".
Als Raphaela Edelbauer 2022 den mit 3.000 Euro dotierten Thomas-Jorda-Preis erhielt, der an niederösterreichische Autorinnen und Autoren verliehen wird, hieß es in der Begründung: Man habe ,,eine der spannendsten und interessantesten Schriftstellerinnen, nicht nur innerhalb Österreichs, sondern international" ausgezeichnet.

Edelbauer beherrscht die große Kunst des Fabulierens und unterfüttert ihre Plots mit allem, was Wissenschaftsdiskurse so hergeben. Ob Philosophie, Psychologie oder Naturwissenschaften - die Literatin legt ihre Romane in der Metaebene fächerübergreifend an. Danach schichtet sie das alles zu komplexen, aber ebenso fantastischen wie absurden Storys. „Dass etwas aus der echten Welt geträumt wird ist ganz normal. Wenn aber etwas aus dem Traum ins Wache dringt – das meine Lieber ist Perversion“ (S. 197).

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Bewertung vom 10.05.2023
Zwischen Welten
Zeh, Juli;Urban, Simon

Zwischen Welten


ausgezeichnet

„Zwischen Welten“ handelt von Stefan „Stevie“ „Steffy“ und Theresa „Tessa“. Stefan ist 46 und Single. Er wohnt in einer so puristisch wie teuer eingerichteten Wohnung in Hamburg (mit bulthaup-Küche!), Kulturchef einer renommierten Wochenzeitung mit dem Sch…Titel DER BOTE, fragt sich nur welche BOTschaft der BOTE überbringt. Theresa ist 43, seit zwölf Jahren mit Basti verheiratet und Mutter zweier Kinder. Sie führt einen Bio-Bauernhof in Schütte in der brandenburgischen Provinz.

Während des Studiums haben Stefan und Theresa zusammen in einer WG in Münster gewohnt – wie Bruder und Schwester. Asexualität, dafür redeten beide gerne und viel. Als Theresa ihr Studium abbrach, um nach dem Tod ihres Vaters den Hof zu übernehmen, haben sich die beiden aus den Augen verloren. Jetzt nach zwanzig Jahren laufen sie sich in Hamburg zufällig wieder über den Weg. Das Wiedersehen endet in einem Desaster. Nomen ist omen. Der Briefroman kann beginnen. Natürlich modern - per E-Mail und WhatsApp.

Stefan und Theresa beschreiben ihre jeweiligen Lebenswelten. Und diese Welten trennen Welten, mit starker Zuspitzung, die unter die Haut geht, sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Während Theresa frühmorgens aufsteht, um 200 Kühe zu melken, sitzt Kulturjournalist Stefan im ICE, um zu einer Kunstvernissage zu fahren, seinen Caffè Latte mit Hafermilch schlürfend. Theresa in der anderen Welt, die sich Tag für Tag Hände und Gummistiefel dreckig macht, nie mit ihrer Familie für ein paar Tage in Urlaub fahren kann und trotz dieser Schufterei keine Chance hat, mit ihrem Hof finanziell je auf einen grünen Zweig zu kommen.

Theresa und Stefan brennen sämtliche aktuellen Themen unter den Nägeln: Von Klima- und Landwirtschaftspolitik über die (Un-)Abhängigkeit der Presse, Rassismus, Corona-Maßnahmen und den Ukraine-Krieg bis hin zum Gendern in der Sprache kommt alles vor.

Stefan entpuppt sich als „kastrierter Bettvorleger“, ein echtes Weichei, karrieregeil und als Mann ohne Partizipien. Ein theoretisierender Blender, auf den menschlich kein Verlass ist.
Ganz anders Theresa, die als Antwort auf die Tragödien in ihrer nächsten Umgebung, auf die politischen Verwerfungen der deutschen Landwirtschaftspolitik und den Umgang mit den Menschen während der Bodenreform in der alten DDR. Sie kennt nur eine Antwort und die gibt sie, eine Powerfrau, die mit offenem Visier kämpft.

Ein hochaktueller Roman darüber, wie polarisiert unsere Gesellschaft ist und wie politische Streitthemen Beziehungen zerfressen können.

Gendern ja, aber richtig - sprich vernünftig: Keine Sternchen, keine Unterstriche, beim Zeus – kein Binnen-I, kein Gender-Gap, kein Bindestrich, dann doch ausgeschrieben. Viel besser: Bei der ersten maskulinen Personenbezeichnung im Text eine Fußnote einfügen, in der zum Beispiel steht: „Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird im Text das generische Maskulinum verwendet. Gemeint sind jedoch immer alle Geschlechter.“

Bewertung vom 02.05.2023
Bildrauschen / David Bronski Bd.4
Aichner, Bernhard

Bildrauschen / David Bronski Bd.4


weniger gut

Im vierten Teil der Thriller-Reihe um Fotograf Bronski verknüpft Aichner die erfolgreiche Agatha-Christie-Dramaturgie mit der gehypten Influencerszene.

Bronski ist zurück. Bronski zum Vierten. Wo Bronski da Leichen. Erste Leiche weiblich, jung und schön. Doch Leiche ist futsch. Bronski soll Auszeit in Tiroler Bergen genießen, kann aber nicht. Berghütte brennt ab. Alles verbrennt außer Bronski. „Sorgen Sie dafür, dass das Feuer nicht ausgeht bis wir (Polizei…) da sind.“ Hahaha. Willkommen im Kabarett.
Bronski wird Yeti. Bronski watet im tiefen Schnee zu Ausweichquartier/Luxuschalet und trifft fünf Influencer. Alle schwer mordverdächtig.

Bronski als Dedektiv, verübt eine Interviewserie mit den fünf Social-Media-affinen Mordverdächtigen, gemeinsam nach dem Mörder oder der Mörderin zu suchen. Live im Netz.

Es bleibt einem die Spucke weg, haarsträubend, Dialoge und Plot ruckelt wie wenn ein Hubschrauber Motoraussetzer hätte.

Bronski in der Klapse, gute Besserung.

Bewertung vom 28.04.2023
Zur See
Hansen, Dörte

Zur See


ausgezeichnet

Oh mein Gott! Es war nicht zu erwarten, dass Dörte Hansen einen Schönwetterroman schreibt, das konnte ich nach „Mittagsstunde“ und „Altes Land“ nicht erwarten. Entstanden ist ein Nordseeinselsturmroman.
Von jeder Nordseeinsel etwas und eine schonungslose, oder besser gesagt eine vernichtend offene Charakterstudie der Insulaner (die fast alle vom Tourismus leben). Die Mundwinkel nach oben ziehen geht überhaupt nicht, könnte je jemand sehen, dass es etwas zu lachen geht. Dann schon lieben in stumpfen Fatalismus verfallen, der kann offen zur Schau gestellt werden. Die Insulaner suhlen sich in ihrer schicksalhaften, dumpfen Ausweglosigkeit.

Bereits zu Beginn wird uns die Familie Sander vorgestellt. Ryckmer, einst Seefahrer, degradiert zum „Fährenkapitän“ friert aus Scham und säuft dafür, wird von seiner Mutter Hanne an der Mole abgeholt. Beide schweigen, still wie eine glatte See.
Sukzessive stellt uns Hansen den Rest der Familie und die restlichen Insulaner vor. Vom Leben gezeichnet sind alle, liebes- und kommunikationsunfähig. Schwester Eske, Inselaltenpflegerin, dröhnt sich mit Heavy Metall zu, vom Scheitel bis zur Sohle mit Tattoos bestochen und leidend an unvollendete Liebe zu Freya. Der jüngste, barfüßige Bruder Henrik, verwertet künstlerisch den angeschwemmten Schrott. Vater Jens, weder Vater noch Ehemann, für 20 Jahre in einem Deich-Häuschen „Vogelkönig“. Kehrt zu seiner Frau zurück, na wie schon, kommentarlos und kommunikationsunfähig. Dialoge in Seltenheitsform.
Inselpastor Matthias Lehmann, mit sich und seinem Gott nicht im Reinen, von seiner Frau Katrin verlassen, wobei fraglich, ob die Insel oder ihren Mann.

Das Paradoxe am Norden ist, dass die See für die Insulaner bedrohlich und tödlich ist, für die Inselbesucher aber eine enorme Anziehungskraft besitzen. Und sie spielen mit, Kinderzimmer werden vermietet, sich den Gästen anbiedern, dann abzocken, zum Abschied mit der einen Hand winken, währen die andere geballt in der Hosentasche.

Hansens Anspielungen haben Format: Ein junger Pottwal wird angeschwemmt. Wenn schon die Inselmänner nicht mehr auf einem Walschiff fahren oder zumindest nicht beim Walfang ersaufen, dann kommt der Wal auf die Insel.

„Und alle wissen, dass die See nicht gut oder böse, sondern beides, eine unberechenbare Mutter, die man liebt und fürchtet. Die ihre Kinder wiegt und füttert und mit ihnen spielt und manchmal untertaucht und frisst“ (S. 157).

Dörte Hansen ist eine nicht teilnehmende Beobachterin – auktorial. Erzählt intensiv, greift das unbequeme Thema des sich verändernden Nordens auf.

Bewertung vom 22.04.2023
Böses Licht
Poznanski, Ursula

Böses Licht


ausgezeichnet

Entgegen allen Regieanweisungen taucht am Ende des Schauspiels von Shakespeares Richard III am Wiener Burgtheater ein Toter auf, ausgerechnet auf dem Thron, der für jemanden anderen reserviert war, allerdings ist dieser ein echter Toter neben all den anderen Scheintoten.

Mit „Böses Licht“ wird eine neue Thriller-Serie um die junge Ermittlerin Serafina „Fina“ Plank mit ihrem fünfköpfigen Team der Wiener „Mordgruppe“ fortgesetzt.

Dem Toten auf dem Thron folgen noch zwei weitere, während die noch lebenden Schauspieler und Theaterleute weiter nach Salzburg ziehen. Dort soll Dantos Tod während der Festspiele aufgeführt werden, zunächst aber die Proben. Die junge Wiener Kommissarin Fina Plank muss ebenfalls die Reise nach Salzburg antreten, mit ihrem Intimfeind Sonnenbrillenmann Oliver, doch diesmal spielt sie ihren Trumpf aus.
Verstörende Drohungen, hysterische Künstlerinnen und Künstler machen ihr zu schaffen - vor allem aber der Gedanke, dass hinter den Morden sich ein Geheimnis verbirgt.

Geschickt konstruiert, spannend geschrieben, nahe am Puls der Zeit. Die überzeugendsten Seiten sind die Einvernahme des Mordverdächtigen durch Kommissarin „Fina“ Plank.

„Zu viele Tote, als dass man an Zufall hätte glauben können“ (S. 229).

Bewertung vom 19.04.2023
Rosa in Grau
Scharbert, Simone

Rosa in Grau


ausgezeichnet

Um es vorwegzunehmen, eines der empathischsten Bücher je gelesen. Was heißt „empathische Bücher“? Nicht unbedingt der Plot zählt, sondern die literarische Umsetzung, und die ist sensationell, phänomenal. Die Geschichte hat eine ungeheure Kraft, die vom Leser Besitz ergreift, es wird ihm abwechselnd kalt und heiß, gefühlsüberwältigend, erschöpft, erreicht sein tiefstes Inneres, berührt emotional. Ja diese Gefühlsduselei muss sein.

Rosa in Grau wird aus der Perspektive einer jungen Mutter erzählt, die Anfang der 1950er-Jahre mit Schizophrenie in eine psychiatrische Klinik in Haar/Deutschland eingeliefert wird. Den Menschen, denen sie dort begegnet, müssen Jahrzehnte in psychiatrischen Anstalten verbringen, zeigen ihr unter oft schockierenden Bedingungen, wie Kunst zu einem Hoffnungsschimmer werden kann. Sprachlich prickelnd rückt Rosa in Grau Frauenstimmen in den Vordergrund und thematisiert Kontrollverlust, Grenzerfahrungen, Liebe, Freundschaft und Kunst.

In der Ich-Form erzählt die junge Mutter mit ihrem aufgewühlten Geist wie sie sich mit dem Alltag auseinandersetzt, mit seelenzerstörenden Erlebnissen in der psychiatrischen Anstalt. Der erste Teil spielt 1951 „Zu Hause“ mit ihrer Tochter Rosa. Kurze Szenen aus dem Alltag verdeutlichen, wie die Überlagerung vergangener traumatischer Ereignisse und aktueller Anforderungen an ihrer psychischen Gesundheit zehrt. In ihren schizophrenen Phasen ist sie unfähig, auf die Bedürfnisse ihres Kindes einzugehen.

Der zweite Teil spielt 1953 in der psychiatrischen Klinik Haar mit dem erschreckenden Leben in der Anstalt, dem Verlust der Würde und der Monotonie jedes tristen Tages. Jedoch bilden Freundschaft und Liebe Lichtblicke. Halluzinationen offenbaren Einblicke in ihre Vergangenheit und wie der gewalttätige Vorfall zu Hause mit ihrem zweiten Kind zu ihrer Einweisung führte.

Nach einem kurzen Zwischenspiel 1954 „Zu Hause“, 1956 wieder im Nervenkrankenhaus Haar. „Ich schließe den Mund, fest. Beiße auf das Taschentuch, beiße gegen die Zeit. Einmal mehr… Dass sie mir gleich die Elektroden auflegen, auf die Stirn. Sagt sie. Dass ich keine Angst haben müsse, dass das Gerät gut eingestellt sei…“ (S. 155).
Das Buch zieht mich mit seiner Spannung, Ungewissheit und Schönheit in seinen Bann, auf jeder Seite in seine tief empfundenen Themen.

Ohne direkt auf die Heil- und Pflegeanstalt/Nervenkrankenhaus Haar einzugehen, haben psychiatrischen Kliniken eine dunkle experimententhemmte menschenverachtende Vergangenheit und beginnend in den 1930er- bis 1970er-Jahre ein düsteres Kapitel der Medizingeschichte. Als die Ärzteschaft noch glaubte den Menschen mit einer Operation (Lobotomie) heilen zu können, oder um ihn vielmehr „ruhig zu stellen“.

Zwei Lesetipps: „Ein simpler Eingriff“ von Yael Inokai und „Nachts, wenn der Tiger kommt“ von Fiona McFarlane.

Bewertung vom 10.04.2023
Schiebung
Paretsky, Sara

Schiebung


ausgezeichnet

Beginnend nicht mit einer schnöden Inhaltsbeschreibung, sondern mir einer Hommage an meine Lieblingsdetektivin Victoria Iphigenia ‚Vic‘ „V.I.“ Warshawski. Sie ist Sara Paretskys politisches Statement-

Ihr Charakter ist gekennzeichnet von einem Überfluss an Empathie für alle Verfolgten, ungerecht behandelten und alle am Rande der Gesellschaft leidenden. Sie fürchtet weder Tod noch Teufel, taucht immer dort auf wo es weh tut, folgt ihrer inneren Überzeugung und besitzt ein ermittlungstechnisch hilfreiches und persönlich umfangreiches „Portfolio“: Sie lebt seit zwanzig Jahren allein, mit ihren zwei Hunden und dem nachbarschaftlichen „Guten Geist“ Mr. Contreras, einer Klinik mit Lotty und einem Frauenhaus im Rücken und dem besten Kunde ihrer Detektei, der ihr – wenn es sein muss – seinen Privatjet zur Verfügung stellt.
Im eiskalten Pigeon River an der kanadisch/amerikanischen Nordgrenze ist VIC ihren Verfolgern überlegen und hat selbst die Natur auf ihrer Seite.
Letztlich zerdrückt sie das heimtückische Ego ihres Ex wie einst R. Harmstorf in „Seewolf“ die rohe Kartoffel (naja am Set war sie weichgekocht).

Der deutsche Titel „Schiebung“ erschließt sich mir nicht restlos, vielleicht könnte die Übersetzerin Else Laudan aufklären oder der Ariane Verlag; eher trifft der englische Originaltitel „Shell Game“ – Hütchenspiel – bezeichnet einen Taschenspielertrick, bei dem ein Kügelchen schnell unter drei Schalen von einer zur anderen verschoben wird - den Plot besser.
Die legendäre „Schnüfflerin“ V.I. Warshawski zurück in ihrer home town Chicago, um dem Großneffen ihrer liebsten Freundin Lotty bei einem Mord-Tatort beizustehen. Unabhängig davon – möchte man meinen – bekommt VIC überraschend Besuch ihrer Nichte Harmony, die ihre Schwester Reno vermisst.

Eine komplexe, gefährliche Tour durch die ausbeuterischen Fassetten der typisch US-amerikanischen Zahltags-Kreditgeschäfte, mit russischen Auftragskillern, Spuren in den Nahen Osten mit begehrenswerten Artefakten aus archäologischen Ausgrabungen und einer bedenkenloser ICE, der Einwanderungsbehörde des US-Regierung.

Der Plot ist komplex und kompliziert, erforderlich ist konzentriertes und mitdenkendes Lesen. Trotz der über 500 Seiten lässt Paretsky mit 60 kleinteiligen Kapiteln wieder einen Pageturner entstehen.

Um es kurz zu sagen – Sara Paretszky on top again.

Bewertung vom 02.04.2023
Frau mit Messer
Byeong-mo, Gu

Frau mit Messer


gut

Hornclaw – Hornklaue, die FRAU MIT MESSER ist Mitte sechzig, erschöpft, müde ihres Lebens, ihr Körpers lässt sie langsam im Stich, und ihr Beruf, den sie seit fünfundvierzig Jahren ausübt setzt ihr zunehmend zu. Als Gründungsmitglied in der Schädlingsbekämpfung („disease control“ im englischen Original), tätig, beseitigte sie Insekten und Ungeziefer, die jedoch auf zwei Beinen standen, mit ihren zur Legende gewordenen Messerstichen.

Soll ich jetzt die Moralkeule herausholen und sie als Killerin diskreditieren, oder mich mit der Analyse eines Unternehmens beschäftigen, oder noch weiter gehen und mich über die Koreanische Gesellschaft echauffieren, die älteren weiblichen Berufstätigen nicht den nötigen Respekt zollt.

Noch eine andere Erkenntnis bietet die Lektüre: Frauen werden in diesem Job chronisch unterschätzt! Na dann liebe Koreanerinnen, wehrt euch.

Bewertung vom 19.03.2023
In der Frittatensuppe feiert die Provinz ihre Triumphe
Bernhard, Thomas

In der Frittatensuppe feiert die Provinz ihre Triumphe


ausgezeichnet

Die Werke Thomas Bernhards lesen ist eine übliche Annäherung, einen außergewöhnlichen Zugang findet Bernhard-Fan Harald Schmidt. Als Herausgeber wusste er am Anfang nicht genau was denn seine eigentlichen Aufgaben seien. Sich Thomas Bernhard nicht über den klassischen Weg der Werkanalyse, sondern ihm im Wirtshaus und am Esstisch zu begegnen, seinen Spuren mit Hilfe des Gaumens zu folgen. So sammelte er für das Kompendium ,,In der Frittatensuppe feiert die Provinz ihre Triumphe“ (Brandstätter Verlag) Texte u. a. von David Schalko, Willi Winkler oder Katharina Seiser ein. Ihnen gemein ist, dass sie sich mit Bernhards (Nah-) Verhältnis zum Essen beschäftigen. Parallel dazu begibt sich Schmidt auf einen Roadtrip – gelegentlich mit Bernhards altem Fahrrad - zu dessen liebsten Wirts- und Kaffeehäusern und spricht mit Wegefährten wie Claus Peymann.

Eine durchaus kurzweilige kulinarische Spurensuche, die mit interessantem Bildmaterial aus dem Archiv und Reportagen Fotos ergänzt wird. Auch auf Rezepte von sechs Bernhard'schen Leibspeisen: Frittatensuppe*, Saure Wurst, Hausruckviertler Schweinsbraten mit Mehlknödel und Stöcklkraut, Leberbunkel mit Erdäpfeln und Sauerkraut, Kalbsgulasch mit Nockerln und Rehbraten oder Rehragout vom Gasthaus ,,Klinger", seinem Stammlokal in Oberösterreich, wurde nicht vergessen.

Ob an Brandteigkrapfen** gewürgt wird oder es um den Fettgehalt der Frittatensuppe geht, Thomas Bernhard ließ die Menschen in fast all seinen Werken ausgiebig speisen und offenbarte dabei zerfleischende Zustände. Er selbst war ein regelmäßiger Besucher von Wirtshäusern und den Wiener Kaffeehäusern.

„Aber wie Bernhard so eine Banalität wie das tägliche Essen den Figuren zuschreibt und sie damit charakterisiert, das ist genial“, Zitat von Claus Peymann. Danke Peymann.

Aber eines sollte klar sein, warum der Brandstätter Verlag Harald Schmidt als Herausgeber engagiert hat, ist er doch ein wirtschaftliches Unternehmen, Deckungsbeitrag – Break-Even-Point und EBIT – eh logisch, da verkauft sich ein HS besser als ein No-Name. Host mi?

* Frittatensuppe, österreichisch, Pfannkuchenstreifen- oder Eierkuchensuppe in vielen Teilen Deutschlands, Fädlesuppe, schwäbisch und badisch.
** Brandteigkrapfen, österreichisch/bayrisch, auch Windbeutel.

Harald Schmidt, geboren 1957 in Neu-Ulm, aufgewachsen in Nürtingen (wie Hölderlin und Härtling). Hilfsorganist und Zivildienst in dortiger St. Johannes-Gemeinde, Staatl. Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, drei Jahre als Schauspieler in Augsburg. Dann Düsseldorfer Kom(m)ödchen und alle Sender außer RTL. Diverse Late-Night-Shows. Alle Preise gewonnen, gefeuert, jetzt Herausgeber.