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MrsCatastropy
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Köln

Bewertungen

Insgesamt 46 Bewertungen
Bewertung vom 08.12.2021
Gojnormativität
Coffey, Judith;Laumann, Vivien

Gojnormativität


ausgezeichnet

Jüdische Unsichtbarkeit und die Relevanz von Bündnissen

Antisemitismus ist gerade in linken Kreisen ein schwieriges Thema. Man ist ja reflektiert und positioniert sich gegen Ausgrenzungen, aber in der Aufzählung von Seximus, Rassismus und Homophobie, die nicht gedultet werden, wird er häufig nicht exmplizit genannt. Er wird oft übersehen, fälschlicherweise mit Rassismus gleichgesetzt, in linker Kapitalismuskritik kolportiert bis offen vertreten und nicht zuletzt der Nahostkonflikt bietet mehr als genug Zündstoff für innerlinke Debatten.

Jüdinnen_Juden halten sich auch deshalb häufig aus linkem Aktivismus heraus, obwohl, so Judith Coffey und Vivien Laumann, intersektionale Bündnisse dringend nötig sind – um das Verständnis für Antisemitismus zu verbessern und gegenwärtige Jüdinnen_Judenfeindschaft zu bekämpfen. Dafür fehlt jedoch bisher noch ein Begriff, der die nichtjüdische Notm benennt. Analog zum Begriff der Heteronormativität entwickeln die Autornnen daher den Begriff der Gojnormativität, um die Unsichtbarmachung von jüdischem Leben benennbar zu machen (Goj ist der jiddische Begriff für einen nichtjüdischen Menschen). Damit analysieren sie den Umgang mit Jüdinnen_Juden in linken Kreisen und das Problem, dass sich linkes Engagement oft auf Erinnerungsarbeit konzentriert und aktuellen Antisemitismus ausblendet.

Als Person, die in der sogenannten antideutschen Antifa sozialisiert wurde, d.h. den Teilen der autonomen Linken, die einen starken Fokus auf Antisemitismus setzt, diesen kritisiert, eine konsequente Aufarbeitung der deutschen Schuld fordert, Israel als Schutzraum betrachtet und Antisemitismus und Rassismus als unterschiedliche Diskriminierungsformen begreift, fand ich besonders die Auseinandersetzung mit innerlinken Streits spannend. Denn die Autorinnen benennen die wichtige antideutsche Arbeit bezüglich Antisemitismus und kritisieren Pauschalisierungen antideutscher Kreise als rechts oder uninteressiert an Intersektionalität (denn leider gibt es manche Kreise, bei denen die Kritik an Antisemitismus in Rassismus o.ä. umschlägt). Andererseits halten die Autorinnen aber auch eine pauschale Kritik an Identitätspolitik für problematisch, da sie die Benennung als weiß, christlich, jüdisch etc. als notwendig erachten, um daraus politische Forderungen abzuleiten. Aus dieser Perspektive hinterfragen sie gerade auch die scheinbare Neutralität mancher Antideutscher, die sich in Opposition zu fixen Identitätskategorien sehen, aber dann in einem identitären Philosemitismus, der ebenso eine falsche Vorstellung von jüdischer Identität hat, mitunter selbst Identitätspolitik auf Kosten von (lebenden) Jüdinnen_Juden betreiben. Auch auf Ungleichheit, dass die Definitionshoheit über Erinnerungspolitik und Aufarbeitung sehr stark bei Gojs liegt, weisen sie hin.

Das Buch versteht sich als solidarisch-kritisch und liefert neben den benannten Leerstellen auch Denkanstöße und Verweise auf vergangene Bündnisse, um aus der gelieferten Zustandsbeschreibung herauszukommen und Jüdinnen_Juden sowie Antisemitismus in linker Praxis aktiv mitzudenken. Den Begriff Gojnormativität finde ich nicht nur subjektiv großartig, sondern denke, dass er gerade für jene, die Identitätspolitik als aktivistisches Mittel begreifen, eine Möglichkeit sein kann, eigene Ignoranz zu erkennen. Dass der Begriff so spät und von zwei Jüdinnen vorgeschlagen wird, sagt bereits einiges aus über den Stellenwert von Antisemitismus in linkem Aktivismus. Denn wer „Pass the mic“ ruft, sollte sich auch selbst fragen, wer eigentlich gefahrlos vor Ort sein kann, um das Mikro anzunehmen – und wer nicht.

Bewertung vom 06.09.2021
Für einen Umweltschutz der 99%
Probst, Milo

Für einen Umweltschutz der 99%


ausgezeichnet

Eine Flugschrift, die Mut macht


In "Für einen Umweltschutz der 99%" begibt sich Milo Probst, der zzt.über die Klimabewegung forscht, auf Spurensuche. Wir begleiten ihn auf anarchistische Kämpfe und Arbeitskämpfe der letzten hundertfünfzig Jahre, , bei denen Umweltschutz bereits Thema war. Wir lernen einiges über verschiedene historische Motivationen des Umweltschutzes, vergessene, vor allem marginalisierte Perspektiven bspw. von Frauen oder Indigenen und sehen zu, wie das Buch langsam ein Puzzle aus unterschiedlichen Kämpfen, Aktivist*innen, Theoretiker*innen zusammensetzt und sich dafür stark macht, dieses historische Wissen mit der Gegenwart zu verbinden und nutzbar zu machen.

Ziel ist, die verschiedenen Elemente, Kämpfe und theoretischen Begründungen, eines Umweltschutzes aus anarchistischer Perspektive zusammenzubringen, aber so, dass er auch Menschen außerhalb der schon aktiven Klimabewegung erreicht und international, intersektional, feministisch, antikapitalistisch ausgerichtet ist. Dabei geht es nicht um die unkritische Übernahme von Theorien, sondern das Wiederaufdecken vergessener Kämpfe und das Ausloten, was davon für heute ein Wiederentdecken lohnt und was weiterzudenken ist, welche Potentiale darin liegen und welche Makel - etwa bezüglich Geschlechtergerechtigkeit - zu überwinden sind.

Trotz des ernsten Themas gelingt es Milo Probst mit dieser Flugschrift, Mut zu machen, zur Beschäftigung mit teils vergessenen Anarchist*innen, teils vergessenen linken Umweltprojekten anzuregen und dabei immer wieder darauf hinzuweisen, dass linke Selbstreflexion das A und O ist, dass alternative Lebensentwürfe nicht per se ökologischer sind, sondern Umweltschutz immer aktiv mitgedacht werden muss, und dass Umweltschutz ohne fundamentale Systemkritik und die Perspektive Marginalisierter nichts mehr ist.
Ich habe mich über viele Namensnennungen gefreut, viel gelernt, meine to-read-Liste erweitert und kann das Buch nur empfehlen. Es macht dem Begriff der Flugschrift alle Ehre.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.08.2021
Ein erhabenes Königreich
Gyasi, Yaa

Ein erhabenes Königreich


gut

Ein Roman, der große Themen verhandelt, dabei aber etwas überladen ist

Hätte mich die Inhaltsangabe und die Autorin nicht schon angesprochen, spätestens das wunderschöne Cover hätte vermutlich auch in der Buchhandlung meine Aufmerksamkeit absolut auf sich gelenkt.

"Heimkehren" habe ich noch nicht gelesen, und so war "Ein Erhabenes Königreich" mein erster Roman von Gyasi.

Auch einige Tage nach Beedigung des Buchs fällt es mir schwer, meine Eindrücke in Worte zu fassen. Selten stand ich einem Buch so ambivalent gegenüber. Die Themen sind ernst, und es sind viele schwere Erfahrungen, mit denen die Protagonistin konfrontiert ist: Ein Vater, der die Familie verlassen hat, ein drogenabhängiger Bruder, eine depressive Mutter und mittendrin Gifty, die gerade in Neurowissenschaften promoviert - nicht zuletzt als eine Art Katharsis und im Versuch zu verstehen, warum sich die Leben ihres Bruders und ihrer Mutter entwickelt haben, wie sie es taten und ob und wie man hätte Einfluss darauf nehmen können.

Psychische Erkrankungen, dysfunktionale Familie, Rassismus, gesellschaftlicher Aufstieg, Ankommenwollen, Glauben, Wissenschaft - alles riesige Themen, die in diesem dann doch recht schmalen Buch verhandelt werden. Gyasi hat offensichtlich sehr ausführlich recherchiert und gerade die Passagen, in denen versucht wird, das Verhältnis von Glauben und Wissenschaft auszuloten, fand ich sehr spannend und klug, lehrreich und zum Nachdenken anregend. An anderer Stelle hatte ich dann aber das Gefühl, nicht mitgenommen zu werden, weil so viele Themen angerissen werden, die dann nicht weiter vertieft werden. Auch die fragmentarische, sprunghafte Art, sich durch Giftys Erinnerungen zu graben, hat mich hier nicht ganz abgeholt, auch wenn ich diese Sprunghaftigkeit normalerweise mag.

Über große Teile des Buchs blieb ich sehr distanziert der Protagonistin gegenüber, was sehr gut gewollt sein kann. Mir persönlich erschwerte es aber auch den Zugang zum Buch, was schade ist, denn die Themen und die Handlung finde ich eigentlich wirklich interessant. Außerdem war ich - ohne spoilern zu wollen - etwas enttäuscht von einem für mich nicht ganz authentischen Ende, das ich im Vergleich zum Rest des Buchs relativ schwach fand.

Was das Verhältnis von Religion und Wissenschaft angeht und die Frage danach, ob eins das andere ersetzen kann: Wen diese Fragen interessieren, die oder der sollte dieses Buch dringend lesen, denn diese Auseinandersetzung empfand ich wirklich als ausnehmend gut. Trotzdem bleibt für mich das Gefühl, dass versucht wurde, zu viele Themen in zu wenig Seiten unterzubringen und dadurch notwendigerweise Fäden zu verlieren, nicht genug Zeit für diese aufzuwenden und deshalb vergebe ich 3-3,5 Sterne. Ich möchte aber nach diesem Roman auf jeden Fall "Heimkehren" lesen, um herauszufinden ob das einfach die Art der Autorin ist, zu schreiben (und damit einfach nicht so ganz mein Stil) und kann trotz meiner Kritik gut nachvollziehen, warum sie als Autorin gerade viel Aufmerksamkeit erfährt.

Bewertung vom 24.07.2021
Weiße Nacht
Suah, Bae

Weiße Nacht


ausgezeichnet

Ein magisch-realistischer Strudel aus Ereignissen und Zeitebenen, in den man unweigerlich hineingerissen wird

"Weisse Nacht" von Bae Suah ist ein dünnes Büchlein mit gerade einmal 160 Seiten. Wir begleiten die mittzwanzigjärige Protagonistin Ayami, die nach der Schließung des Hörspieltheaters ihren Job verloren hat. Sie weiß nicht vie über ihre Wurzeln, ist auf der Suche, ist gleichzeitig nahbar und schwer greifbar. Gemeinsam mit dem ehemaligen Direktor des Theaters spricht sie über ihre Zukunft, nimmt Deutschunterricht bei einer mysteriösen Lehrerin, stößt auf einen Dichter.

Schnell werden Grenzen zwischen der realen Welt und anderen Welten durchbrochen, springt der Roman zwischen verschiedenen Zeiteben, macht Andeutungen, schafft scheinbare Klarheit, reißt uns dann wieder aus dieser Sicherheit heraus, spielt mit den Grenzen zwischen Realität und allem anderen - Traum, Übersinnlichem - und so passiert auf diesen wenigen Seiten ziemlich viel. In dem Sinn ist auch das Cover sehr passend, da es ebenso verwirrend wie hypnotisch ist und damit ziemlich genau das ankündigt, was die Leser*innen im Buch erwartet.

Stellenweise war ich etwas verloren, musste mich durch scheinbar zusammenhanglose Passagen wühlen, fragte mich wohin die Geschichte führt, um dann einige Seiten später festzustellen, dass genau diese oder jene Plotentwicklung sich schon lange angedeutet hatte. "Weisse Nacht" ist daher nicht nur wegen des sprunghaften Aufbaus herausfordernd, sondern auch, weil es immer wieder scheinbare Gewissheiten dekonstruiert und dabei so klug aufgebaut ist, dass es uns gleichzeitig im Unwissen lässt und die angedeutete Auflösung vorbereitet.

Trotz oder gerade wegen der Ambivalenzen, die ich während des Lesens durchgemacht habe, wurde ich eingesogen und wollte einfach nur weiterlesen.

Wer surreale Bücher mag, wer von Murakami nicht frustriert ist und Han Kangs "Vegetarierin" etwas abgewinnein konnte und wer keine klaren Auflösungen oder Stringenz in Büchern suht, wird mit diesem Buch garantiert viel Lesefreude haben - mir hat es sehr gefallen und ich mag diese Mischung aus Magie und Realismus, die in vielen japanischen und koreanischen Büchern transportiert wird.
Wer lieber klar strukturierte Plots mit eindeutiger Auflösung mag, rauft sich eventuell die Haare.

Bewertung vom 15.07.2021
Riot, don't diet!
Lechner, Elisabeth

Riot, don't diet!


gut

Es gibt viele Körper, die nicht der Norm entsprechen, sogar auf die allermeisten trifft dies zu. Und auch in feministischen Kämpfen werden Körper, je weiter sie von der Norm weg sind, umso häufiger auch unsichtbarer.
Das Buch möchte einen Überblick geben über körperbezogene Diskriminierungsformen und Wege, diese zu bekämpfen. In weiten Teilen ist es akribisch recherchiert und macht wichtige Punkte, weshalb ich es als Einstieg in das Thema empfehlen würde.
Jedoch hätte das Buch noch stärker ins Detail gehen können. So wird bspw. die Diskriminierung alter Körper relativ oberflächlich verhandelt, ohne dass ein Hinweis auf die gesundheitliche Diskriminierung oder das Thema Altersarmut stattfindet. Es ist wichtig, zu zeigen, dass Feminismus intersektional sein muss, mir wurde aber nicht genug herausgestellt, was die Autorin damit meint. Ich weiß, dass das ein sehr komplexes Thema ist, hätte mir aber hier einen stärkeren Verweis gewünscht. Denn so wichtig es ist, dass wir weißen Feminist*innen uns aktiv reflektieren, so wichtig finde ich es, die Hauptlast nicht nur auf individueller Ebene bei schon diskriminierten Personen zu suchen, sondern gerade auch auf struktureller, institutioneller Ebene und bei jenen Personen, die auch von der Unterdrückung weiblich markierter Körper profitieren.
Deshalb hätte ich mir noch einen Punkt gewünscht, der klare Forderungen an Institutionen stellt. Auch, wenn die kapitalistische Verwertung feministischer Kämpfe kritisiert wurde, fand ich teilweise die Lösungsvorschläge nicht immer konsequent.

Zuletzt habe ich eine konkrete inhaltliche Kritik, die ich vor allem wichtig finde, da das Buch sehr faktengespickt als Einstiegslektüre gedacht ist. Ich finde es bei solchen Büchern wichtig, dass sie auch Menschen außerhalb der Bubble erreichen können, indem sie das Potential haben, auf einer leichter verständlichen, weil auch für Nichtbetroffene zugänglichen Ebene zu argumentieren. Allerdings wurde bspw. davon gesprochen, dass Darwins "rassistische" Evolutionstheorien dafür verantwortlich seien, dass weibliche Körper historisch als unbehaart wahrgenommen wurden. Doch Darwins Theorien waren nicht rassistisch und sind bis heute im Kern weiter gültig, der Sozialdarwinismus kommt nicht von ihm selbst und wie gesellschaftlich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen umgegangen wird, ist nicht die Schuld der Wissenschaftler*innen, solang ihre Theorien dieses Denken nicht voraussetzen.

An anderer Stelle wurde betont, dass Dicksein allein nicht über Kranksein entscheidet und man sich auf Studien nicht verlassen könne, da sie diätindustriefinanziert seien. Es stimmt, dass Dicksein per se nicht krank machen muss, aber es ist ein Risikofaktor und dieses Argument wird jede*r Gegner*in nennen - warum also nicht direkt entkräften, indem man statt gegen Strohmänner dieses Risiko offen anspricht, aber mit einem "Na und?" beantwortet? Gerade die unterschiedliche gesellschaftliche Herangehensweise an Übergewicht und Alkohol zeigt ja, wie willkürlich bestimmte Risiken gesellschaftlich sanktioniert werden. Man könnte vielmehr die Frage stellen, warum es für die Wertigkeit des Menschen in unserer Gesellschaft eine Rolle spielt, wie "gesund" er ist, und ob wir nicht auf eine Gesellschaft hinarbeiten sollten, in der das schlichtweg egal ist. Was die finanzierten Studien angeht: Wie gut sie sind, entscheidet die transparent darzulegende Methodik, nicht, wer sie finanziert hat. Deshalb spielt eine solche Argumentation unbeabsichtigt Wissenschaftsfeindlichkeit in die Hände. Und auch, wenn diese drei Beispiele wirklich die Minderheit in diesem Buch darstellen, sind es wunde Punkte, mit denen die wichtige inhaltliche Kritik schnell abgewatscht werden kann. Deshalb hätte ich mir hier mehr Differenzierung gewünscht und die Dekonstruktion gerade der Argumente, die auf den ersten Blick valide scheinen, aber eben fettfeindlich sind.

Bewertung vom 14.07.2021
Grand Union
Smith, Zadie

Grand Union


gut

Skurrile Kurzgeschichten, die das aktuelle Weltgeschehen kommentieren


Dieser Sammelband umfasst 19 Kurzgeschichten, mit denen Zadie Smith sich Themen wie Rassismus, Sexismus, Erwachsenwerden, Alter, Populismus und gegenwärtige politische Ereignisse vornimmt.

Mich haben diese 19 Kurzgeschichten aber leider oft nicht abgeholt, nur ein oder zwei blieben wirklich hängen. Dabei sind die Themen wirklich bunt, abenteuerlich, komisch und skurril, werden Grenzen ausgelotet und die Leser*innen mit offenen Fragen zurückgelassen. Thematisch fand ich die zweite Hälfte des Buchs sehr viel stärker und konnte mich dort besser auf die Geschichten einlassen als zu Beginn.

Teilweise hatte ich das Gefühl, zentrale Verweise oder Ebenen der Geschichten nicht genau erfassen zu können - ob das an meinem Alter liegt, popkulturellen Wissenslücken oder ob das Buch einfach generell sehr sparsam ist mit konkreteren Hintergründen, kann ich deshalb nicht genau sagen. Aber auch dort, wo ich die Verweise nachvollziehen konnte, war mein Verständnis bei vielenGeschichten eher rudimentär. Klar ist es ein Stilmittel von Kurzgeschichten, die Leser*innen relativ ohne Einstieg ins Geschehen zu werfen und das gefällt mir auch, aber wenn dann doch so viel Kontext fehlt, wird es bei fast 20 Geschichten irgendwann anstrengend. Deshalb schweiften meine Gedanken irgendwann auch ab und blieben oft nur kurz beim Buch. Viele Geschichten enthielten gute Gedanken oder interessante Ideen, zwei mochte ich wirklich gern, aber insgesamt war es wohl nicht ganz das richtige für mich. Vielleicht spielt für mich und mein Leseerlebnis auch eine Rolle, dass die meisten Geschichten wenig neue Aussagen enthielten,man das meiste davon "schon mal irgendwo gelesen" hat.

Da ich aber einige Ideen. Beobachtungen und Gedanken trotzdem spannend und zutreffend fand und auch die Sprache an einigen Stellen sehr angenehm, kann ich mir vorstellen, dass der Kurzgeschichtenband als Neueinstieg ins Thema oder für ein oder zwei Kurzgeschichten "zwischendurch" sehr gut geeignet ist, ebenso für alle, die ungewöhnliche Themen und sehr offen gestaltete Kurzgeschichten mögen. Und auf jeden Fall hat er mich motiviert, mich mehr mit Zadie Smiths Romanen auseinanderzusetzen.

Bewertung vom 14.07.2021
Femina erecta
Kjaerstad, Jan

Femina erecta


ausgezeichnet

Wir schreiben die ferne Zukunft, in der China zum ökologisch und sozial orientierten Weltmittelpunkt aufgestiegen ist. Ein Team aus Forscherinnen möchte die nicht unerhebliche Rolle Norwegens bei diesem Aufstieg dokumentieren, genauer gesagt die Rolle der Familie Bohre.

Aus einer Mischung aus Fiktion und Realismus, die in der Zukunft offenbar einer weit verbreiteten und tiefsinnigen Methode entspricht, entwerfen diese Forscherinnen ein Familienepos, das sich vom 19. bis 21. Jahrhundert erstreckt und insbesondere die in diese Familie Bohre verstrickten Frauen und ihre Leistungen betrachtet - eine Schauspielerin, eine Ministerin, eine Pilgerin, eine Wissenschaftlerin, eine Journalistin...

Damit sind wir bereits nach wenigen Sätzen in einer großartigen Schachtelkonstruktion angelangt, die es Kjærstad zudem erlaubt, scharfe Sozialkritik zu üben, denn die Kritik wird ja aus einer fernen und reflektierteren Zukunft geäußert.

Im Zentrum steht Rita Bohre, geboren Ende des 19. Jahrhunderts, Forscherin, Ratgeberin, eine Frau mit dem Ziel, Emanzipation voranzutreiben. Um sie und ihre Mutter, Schwiegertochter, Enkelinnen und Nichten wird eine Geschichte gespannt, die auch die norwegische Geschichte in einer Mischung aus Fiktion und Wahrheit greift - wie stark die jeweiligen Anteile sind, kann ich mit meinen rudimentären Norwegen-Kenntnissen leider nicht genau sagen.

Ich brauchte eine Weile, um in das Buch hineinzukommen und würde empfehlen, dass man sich dafür entsprechend Zeit nimmt, denn sonst läuft man Gefahr, Namen durcheinanderzubringen. Ist man einmal in der Handlung drin, ist es nämlich ein absolut lesenswertes, sprachlich tolles und beeindruckend komponiertes Buch.

Bewertung vom 23.06.2021
Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen
Farmehri, Ava

Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen


ausgezeichnet

EIne sprachgewaltige Abrechnung mit gesellschaftlichen Zumutungen

Ava Farmehris "Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen", erschienen im Oktober 2020 bei Edition Nautilus, ist sprachgewaltig, inhaltlich nicht leicht zu ertragen und voller Andeutungen, Symbole und Metaphern. Das beginnt schon beim Titel, der Dantes Göttlicher Komödie entlehnt ist.

Erzählerin ist die zwanzigjährige Sheyda Porroya, die im Todestrakt eines iranischen Gefängnisses auf ihre Hinrichtung wartet und ihre Lebensgeschichte rekapituliert. Von Anfang an ist dabei klar: Eine verlässliche Erzählerin ist sie nicht. Stetig vermischt sie scheinbar reale Ereignisse mit phantastischen, sodass man sich unweigerlich fragt, wie viele der geschilderten Dinge denn stimmen.

Wie der Titel vermuten lässt, handelt es sich thematisch um kein leichtes Buch. Es geht um die Frage nach Freiheit, Schuld und Selbstermächtigung in einem unmenschlichen Regime, um Religion und Familie, das Anpassen an Konventionen, das Scheitern daran und die Flucht davor - gerade als Frau im Iran. Immer wieder tritt der Tod in unterschiedlicher Gestalt in Sheydas Leben, und trotz ihrer scheinbar ausweglosen Situation ist sie widerständig. Immer wieder werden die Grenzen der Freiheit und individuelle Verständnisse von Freiheit und Schuld verhandelt und hinterfragt.

Die Leser*innen werden herausgefordert, nicht zuletzt durch den Charakter Sheydas, die eigentlich wahnsinnig unsympathische Verhaltensweisen an den Tag legt, aber trotzdem menschlich und sympathisch erscheint. Klare Kritik am Regime wechselt sich mit Vogelmetaphern ab, Sexualität wird offen thematisiert. Schnell wird deutlich, warum dieses Buch unter Pseudonym erschienen ist. Die eindrückliche Sprache, die vielen Bezüge zu altiranischen Mythen, zu Literatur und ungewöhnliche Vergleiche machen den Roman auch sprachlich zu einem herausragenden Buch.

Das Werk steht - sehr verdient - u.a. auf der Shortlist des Internationalen Literaturpreises und ist absolut lesenswert.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.06.2021
Die Methode AfD
Bauer, Katja;Fiedler, Maria

Die Methode AfD


ausgezeichnet

Ob es uns gefällt oder nicht - die Alternative für Deutschland wird nicht so schnell verschwinden. Seit einer Legislaturperiode sitzt sie im Bundestag, in einigen Landtagsparlamenten bereits in der zweiten Periode. Es ist also an der Zeit, ein erstes, systematisches Resümee zu ziehen, und genau diesem Unterfangen widmen sich Katja Bauer und Maria Fiedler im vorliegenden Buch. Wie hat sich die AfD seit ihrer Gründung 2013 verändert? Welche einschneidenden Situationen führten zur Radikalisierung und welche Elemente des Radikalen waren schon bei der Gründung mehr oder weniger angelegt? Wer sind die Führungsfiguren, die die AfD nachhaltig prägen, welche Strategien wendet die Partei an und wie ist sie mit der intellektuellen Rechten um Götz Kubitschek und der Identitären Bewegung vernetzt? All diese Fragen beantworten die Autorinnen und belegen diese anhand der Parteiprogramme, Aussagen der Parteifunktionär*innen und Einschätzungen von Expert*innen. Dadurch ist das Buch nicht nur eine lesenswerte systematische Auseinandersetzung mit der bewegten Geschichte der doch noch sehr jungen Partei, sondern es zeigt gerade auch die Kontinuitäten und Strategien, die die AfD anwendet. Außerdem suchen die Autorinnen eine Antwort auf die Frage, wie man der AfD begegnen soll, denn: Die AfD hat sich im Bundestag nicht gemäßigt, sondern das Klima dort nachhaltig verändert. So nehmen die Autorinnen auch die anderen Parteien in den Blick, analysieren deren Umgang mit der AfD, Fehler, Schlüsse, die aus diesen gezogen wurden und plädieren dafür, dass gerade die "bürgerlichen" Parteien wie SPD, CDU und FDP sich inhaltlich klar gegen die AfD positionieren. Das Entsetzen, das eintritt, wenn die Partei mal wieder etwas problematisches kommuniziert hat, müsse durchbrochen werden. Wie viel Einfluss die AfD also künftig haben wird, sei nicht zuletzt abhängig von den anderen Parteien. Gerade im Superwahljahr 2021 und nachdem die AfD nun vom Verfassungsschutz bundesweit beobachtet wird, bildet dieses Buch eine sehr informative und gut recherchierte Grundlage, um sich mit der Partei auseinanderzusetzen und zu verstehen, warum man sie eben gerade nicht unterschätzen sollte und wie strategisch viele ihrer Funktionär*innen agieren. Definitiv ein Lesetipp!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.