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Aischa

Bewertungen

Insgesamt 551 Bewertungen
Bewertung vom 18.10.2024
Gratulieren müsst ihr mir nicht
Polansky, Lilli

Gratulieren müsst ihr mir nicht


sehr gut

Lilli Polanskys autofiktionaler Debütroman ist eine schonungslose und bewegende Auseinandersetzung mit den Krankheiten, die ihr Leben grundlegend verändert haben. Protagonistin Lilli, zugleich Alter Ego der Autorin, muss bereits mit Anfang Zwanzig ein Herzschrittmacher eingesetzt werden, sie wird nur durch eine Notoperation vor dem Tod aufgrund einer Darmblutung gerettet, und schließlich leidet auch ihre Psyche unter der extremen Belastung, die all diese Erfahrungen mit sich bringen. Die darauffolgende Depression wird ebenso offen thematisiert wie die unfassbaren körperlichen Schmerzen.

Polansky gelingt es, diese existenziellen Themen auf eine Weise zu erzählen, die mich tief berührt hat. Ihre Erzählweise ist brutal ehrlich und unverblümt in der Darstellung der körperlichen und seelischen Qualen. (Empfindsame Leser*innen seien gewarnt, es fließt mehr Blut als in manchem Splattermovie!) Dabei bleibt sie jedoch nicht in der Schwere gefangen: Mit einem überraschenden und wohldosierten Humor schafft sie es immer wieder, Leichtigkeit auch in düsterste Momente zu bringen. Diese Balance zwischen tiefem Schmerz und humorvollen Einschüben ist eine der großen Stärken des Romans und hebt ihn aus der Masse an Krankheits- und Bewältigungsliteratur hervor.

Außerdem punktet Polansky mit scharfer Kritik am Gesundheitssystem, die durch ihre eigenen Erfahrungen deutlich an Authentizität gewinnen. Sie zeigt die Schwächen und Mängel bei Diagnostik und Behandlung auf, mit denen viele Betroffene zusätzlich zu ihren Krankheiten zu kämpfen haben, und lässt damit Raum für eine größere gesellschaftliche Debatte.

Ein Schwachpunkt des Romans sind allerdings die ausführlichen Rückblicke auf Lillis Kindheit, vor allem ihre Erlebnisse im Kindergarten und in der Schule, die stellenweise etwas langatmig wirken.

Trotzdem ist „Gratulieren müsst ihr mir nicht“ ein starkes und eindrucksvolles Debüt, das nicht nur die persönlichen Krisen der Protagonistin beleuchtet, sondern auch anderen Betroffenen Trost und Verständnis bieten kann. Polanskys Debütroman ist ein mutiges Werk, das zeigt, wie es gelingen kann, selbst zwischen dunkelsten Momenten einen Funken Hoffnung und Humor zu finden.

Bewertung vom 16.10.2024
Tanjas Schlonz der Woche
Rösner, Tanja

Tanjas Schlonz der Woche


sehr gut

Tanja Rösner moderiert mit ihrem Kollegen Tobi Kämmerer die hr3 Morningshow, in der sie regelmäßig selbst kreierte Frühstücksgerichte vorstellt. Mit "Tanjas Schlonz der Woche" sind nun erstmals 25 Rezepte in Buchform erschienen. Mit einem Augenzwinkern präsentiert Rösner ihr Konzept des "Schlonz", kreative Rezepte, die ohne großen Aufwand einen süßen Start in den Tag ermöglichen.
Das Besondere an diesem Buch ist die Vielfalt an süßen Frühstücksideen, die allesamt schnell gemacht sind, aber dennoch raffiniert wirken. Man hat die Wahl zwischen "Ready to go-Schlonz", der morgens in wenigen Minuten schnell frisch zubereitet ist, und dem "Overnight-Schlonz", der schon am Vorabend gemacht und morgens nur noch aus dem Kühlschrank geholt wird. Für Morgenmuffel wie mich, denen eigentlich jeder Handgriff einer zu viel ist, ist dies die perfekte Lösung! Von Pumpkin Porridge, Karotten Overnight Oats über Mango-Chia-Pudding bis hin zu Smoothie oder Shake – hier kommt jede Naschkatze auf ihre Kosten.
Der humorvolle und bodenständige Schreibstil der Autorin verleiht dem Buch eine persönliche Note, und man hat beim Lesen das Gefühl, als würde man eine Freundin um ihre besten Frühstückstipps bitten. Ein kleiner Kritikpunkt ist, dass das Buch ausschließlich süße Rezepte enthält. Wer nach herzhaften Frühstücksideen sucht, wird hier nicht fündig. Doch für Fans süßer Speisen ist "Tanjas Schlonz der Woche" eine wahre Fundgrube an Inspiration und Genuss.
Auch die Ausstattung hat mich überzeugt: Jedes Rezept ist mit einem ganzseitigen Farbfoto illustriert, die Speisen sind hübsch und eher rustikal angerichtet, nicht übertrieben gestylt. Das Format (knapp DIN A5) ergibt ein handliches, kleines, aber feines Büchlein.
Insgesamt ist es eine tolle Wahl für alle, die morgens gerne süß in den Tag starten und nach einfachen, aber köstlichen Frühstücksrezepten suchen.

Bewertung vom 30.08.2024
Maifliegenzeit
Jügler, Matthias

Maifliegenzeit


weniger gut

Matthias Jügler setzt sich auch in seinem neuesten Roman mit den Spätfolgen der DDR auf unsere heutige Gesellschaft auseinander. Und da ich der Meinung bin, dass wir auch Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten leider weit davon entfernt sind, uns als Bevölkerung wirklich zusammengehörig zu fühlen, nutze ich gerne auch diese literarische Gelegenheit, die sich mir (als Wessie) bietet, um mehr über das Leben in der DDR zu erfahren.

Das Thema des Romans ist keine leichte Kost. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein Mann, dessen Kind nach der Geburt für tot erklärt wurde, offenbar aber in Wirklichkeit ohne Wissen der Eltern zur Adoption frei gegeben wurde. Jügler überzeugt in der Darstellung des Vaters, der eine Achterbahnfahrt der Gefühle durchlebt. Er verliert nicht nur seinen Sohn, sondern auch seine Ehefrau, weil er nicht wie diese an einen vorgetäuschten Säuglingstod glaubt. Später macht er sich dennoch - erfolglos - auf die Suche nach seinem Kind und gibt auf, bis der Sohn als erwachsener Mann plötzlich anruft. All dies ist berührend, eindringlich und glaubhaft.

Zwei Dinge stören mich jedoch enorm: Zum einen ist dies, dass sich der Autor in seinem Nachwort knapp und eindeutig positioniert, er stellt vorgetäuschte Kindstode zum Zweck der Zwangsadoption als Fakt dar, obwohl dies bis dato trotz wissenschaftlicher Forschung in keinem Fall erwiesen ist. Damit schadet er in meinen Augen diesem wichtigen Thema leider. Und zum anderen - und dies wiegt noch deutlich mehr - umfassen knapp die Hälfte des ohnehin schmalen Büchleins detaillierte Abhandlungen übers Angeln. Sicherlich gekonntes Nature Writing, aber weder hat es mich unterhalten, noch konnte ich den Sinn hierbei bzw. den Bezug zum eigentlichen Thema der Geschichte herstellen.

Bewertung vom 30.08.2024
Lonely Planet Kinderreiseführer Komm mit nach Barcelona (Lonely Planet Kids)
Lonely Planet Verlag

Lonely Planet Kinderreiseführer Komm mit nach Barcelona (Lonely Planet Kids)


ausgezeichnet

Als großer Barcelona-Fan habe ich die wunderschöne katalanische Hauptstadt bereits mehrfach bereist und kenne die meisten der gängigen Sehenswürdigkeiten gut.

Umso mehr konnte mich der Lonely Planet Reiseführer für Kinder begeistern. Denn hier bin ich auf viele interessante Ecken und Geschichten der spanischen Metropole gestoßen, die mir bis dato unbekannt waren und die ich während meines nächsten Aufenthalt in Barcelona erkunden möchte.

Die Comicfiguren Amelia und Marco nehmen die Leser*innen auf 16 höchst vielseitige Touren mit, egal ob das Herz für Sport oder Kunst schlägt, man auf Straßenfeste gehen oder Parks besuchen möchte, typische Leckereien sucht und sich gerne gruselt - hier ist Abwechslung garantiert. Schon das erste Durchblättern macht großen Spaß, denn Autorin Moira Butterfield hat zahlreiche Funfacts recherchiert. Etwa dass die in der "Carrer dels Corders" ansässigen Seilmacher einerseits von vielen gemieden wurden, da sie die Henkersschlaufen für Hinrichtungen herstellen mussten. Andererseits wurden sie oft heimlich von Verwandten der zum Tode Verurteilten bestochen, um ein extra dünnes Seil zu fertigen. Denn wenn das Seil bei der Vollstreckung riss, wurde der Verurteilte begnadigt.

Das Buch ist eine tolle Mischung aus Top-Sehenswürdigkeiten (z.B. das Olympiastadion), weniger Bekanntem (die Kletterstange Cucaña auf der plaça Nova) und interessanten Hintergrundinfos (der jüngste Teilnehmer der Olympiade 1992 war erst 11 Jahre alt).

Wirklich gelungen ist auch das moderne, witzige und übersichtliche Layout, das durch viele liebevolle und kindgerechte Details auffällt.

Fazit: Ein sehr schöner Reiseführer nicht nur für Kinder, sondern für alle, die Lust haben, Barcelona sowohl anhand der gängigen Sehenswürdigkeiten auch abseits davon zu erkunden. Ich werde ihn meiner erwachsenen Tochter schenken, die seit ein paar Jahren dort lebt.

Bewertung vom 28.08.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


gut

Der zweite Roman von Julia Phillips spielt in einer wunderschön anmutenden, abgelegenen Umgebung, auf den San-Juan-Inseln vor der Küste des US-Bundesstaates Washington. Ein Bär taucht vor dem Haus der Familie auf und bringt das Leben der jungen Frauen gehörig durcheinander. Schnell wird klar, dass der Fokus der Geschichte auf der komplizierten, ungesunden Beziehung der beiden liegt, die seit Jahren ihre todkranke Mutter pflegen und dabei auch noch die finanzielle Belastung stemmen müssen.

Ich habe mich sehr schwer mit dem Buch getan, weit über die Hälfte zieht es sich sehr schleppend dahin und ich konnte über beide Protagonistinnen nur heftig den Kopf schütteln. Über die eine, weil sie letztlich nur auf den Tod der Mutter wartet und darauf hofft, im Anschluss daran mit dem Erlös durch den Verkauf des Hauses auf dem Festland ein neues, besseres Leben beginnen zu können. Und über die andere, weil sie wider jede Vernunft immer wieder den Kontakt zum Bären sucht und sich so einem wildlebenden Raubtier schutzlos ausliefert. Was ich Phillips jedoch zugute halte ist, dass sie mich lange gekonnt hinters Licht geführt hat: (ACHTUNG, SPOILER!) Erst spät habe ich gemerkt, dass eine der Schwestern eine unzuverlässige Erzählerin war. Das rasante Ende ist nicht schlecht, doch kann es nicht darüber hinwegtrösten, dass das Gesamtkonstrukt des Romans nicht funktioniert. Der Geschichte ist ein Zitat aus dem Grimmschen Märchen "Schneeweißchen und Rosenrot" vorangestellt, in dem ebenfalls ein Schwesternpaar Besuch von einem Bären bekommt. Nur hat der Bär im Märchen eine deutliche Symbolik, während mir diese hier im Roman verschlossen blieb. Wofür steht er, für animalische Sexualität, für eine Naturgewalt, für eine Herausforderung, die es zu meistern gilt? Letztlich passt alles nicht.

Und auch mit dem deutschen Titel bin ich nicht glücklich. "Cascadia" ist die englische Bezeichnung für die geografische Region Kaskadien im pazifischen Nordwesten Nordamerikas. Ein Ausdruck, der im Deutschen kaum geläufig ist. Um wie viel besser ist da der Originaltitel: Bear. Hier fällt mir die Doppeldeutigkeit auf, zum einen natürlich der Bär, zum anderen bedeutet das Verb "to bear" ertragen, und die Protagonistinnen müssen ja in der Tat einiges ertragen. Ich als Leserin auch, leider.

Bewertung vom 28.08.2024
Seit er sein Leben mit einem Tier teilt
Kirchhoff, Bodo

Seit er sein Leben mit einem Tier teilt


weniger gut

Kirchhoffs jüngster Roman lässt mich sehr ambivalent zurück. Einerseits ist da die fraglos beeindruckende sprachliche Brillanz des Romanciers. Seine atmosphärischen Beschreibungen der hochsommerlichen Hitze am See, die sich letztlich in einem Gewitter entlädt, das biblische Ausmaße annimmt, das ist durchaus großes Kino. Diese Naturbeschreibungen sind zweifelsohne stark und dicht, und man spürt förmlich die aufgeladene Luft, die über der Landschaft liegt. Doch hier beginnt auch das Problem: Kirchhoff zieht eine sehr plakative Verbindung zwischen den Naturereignissen und den inneren Zuständen seines Protagonisten Schongauer, einem alten, zurückgezogen lebenden Mann, der nach dem Tod seiner Frau mit seinem Hund in Isolation lebt.

Diese Parallelen wirken mitunter zu erzwungen, besonders deutlich in der Szene, in der während eines tobenden Gewitters plötzlich eine sexuelle Begegnung zwischen Schongauer und einer deutlich jüngeren Journalistin stattfindet. Diese Symbolik, die zu stark aufgeladen wirkt, könnte man als Holzhammer-Methode bezeichnen – es fehlt an subtilen Nuancen, und das überdeutliche Ineinandergreifen von äußeren und inneren Ereignissen wirkt manchmal schlicht übertrieben.

In Bezug auf die Handlung bleibt vieles unbefriedigend: Die Motivation der Journalistin, ausgerechnet Schongauer interviewen zu wollen, bleibt nebulös, ebenso wie ihr sexuelles Interesse an ihm. Immer wieder hatte ich den Eindruck, dass es sich weniger um eine nachvollziehbare Entwicklung der Figuren handelt, sondern eher um eine Projektion von Wünschen und Vorstellungen des Autors. Die biografischen Ähnlichkeiten zwischen Kirchhoff und seinem Protagonisten sind nicht zu übersehen, was den Verdacht aufkommen lässt, dass hier Altherrenfantasien eine literarische Bühne erhalten haben.

Die zweite weibliche Figur, eine junge und attraktive Reisebloggerin, die ebenfalls in Schongauers Leben tritt, trägt weiter zu dem Eindruck bei, dass die Darstellung der Frauenfiguren im Roman stereotyp und übermäßig idealisiert ist. Die Tatsache, dass sie sich auf Anhieb mit dem griesgrämigen Schongauer versteht, wirkt ebenso unglaubwürdig wie die plötzliche Ferndiagnose von Herzproblemen durch den Ehemann der Journalistin via Telefon.

Trotz der Vielzahl an literarischen und künstlerischen Anspielungen, die den Text durchziehen, vermag auch dieser intertextuelle Reichtum den Roman nicht zu retten. Kirchhoffs Interpretation der "Versuchung des Heiligen Antonius" als ewige Bedrohung des Mannes durch das Weibliche erscheint dabei einseitig und misogyn.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Kirchhoff sprachlich zwar brilliert und eine dichte Atmosphäre zu schaffen weiß, jedoch inhaltlich nicht überzeugt.Kirchhoff hat einmal erklärt, es gehe ihm beim Schreiben „stets um eine Versöhnung von Sexualität und Sprache“. Nun, für mich ist diese Versöhnung hier leider nicht gelungen, stattdessen bleibt der Eindruck eines larmoyanten alten Mannes, der im Grunde die weibliche Psyche nicht versteht und sie daher auf klischeehafte Muster reduziert.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.08.2024
Arctic Mirage
Kokkonen, Terhi

Arctic Mirage


ausgezeichnet

Das Romandebüt der finnischen Musikerin Terhi Kokkonen beginnt mit einem Paukenschlag: Protagonistin Karo bringt ihren Ehemann Risto um. Dies wird im Prolog knapp und praktisch emotionslos erzählt, bevor die eigentliche Geschichte einige Tage zuvor einsetzt. Aber diese Vorwegnahme des Endes nimmt der Story keineswegs die Spannung, im Gegenteil

Das Paar wurde auf der Heimfahrt vom Erholungsurlaub in Lappland in einen Unfall verwickelt und ist dadurch gezwungen, noch einige Tage in dem abgeschiedenen Ressort zu verweilen. Zunächst scheint alles in Ordnung, die beiden sind wohlsituiert und könnten sich eine kurze Verlängerung der Auszeit in jeder Hinsicht leisten. Doch bald kippt die scheinbare Idylle, die Autorin webt geschickt ein Netz aus Verdachtsmomenten und Ungereimtheiten, das mich als Leserin zunehmend verunsichert hat. Mal war ich mir sicher, dass Karo psychische Probleme hat und sich Dinge nur einbildet, dann wieder verdächtigte ich ihren Mann, sie aufs Geschickteste zu manipulieren.

Kokkonen erzeugt eine äußerst beklemmende Grundstimmung, das Set ist voller eigenartiger Figuren, die gefangen in Abhängigkeiten sind oder zumindest scheinen: Der verwitwete und depressive ältere Hotelarzt hat sich der Geschäftsführerin (und somit seiner Vorgesetzten) regelmäßig zum Schäferstündchen zur Verfügung zu stellen und nimmt dies nur noch als lästige Pflicht wahr. Als er jedoch Karos gebrochene Nase richten darf, verspürt er ob dieser (fragwürdigen) Machtausübung sexuelle Erregung. Die junge Rezeptionistin wird gezwungen, sich während der Arbeit mit einer "original samischen" Tracht zu verkostümieren und rächt sich durch offenkundig zur Schau gestelltes Desinteresse an den Wünschen der Gäste.

Mich hat die Atmosphäre des Romans immer wieder an den Film "Anatomie eines Falls" von Justine Triet erinnert - und ich kann, trotz der eiskalten Winterlandschaften, in der sie spielen - beide nur wärmstens empfehlen.

Bewertung vom 23.08.2024
Die Löwin von Jerusalem
Laurin, Ruben

Die Löwin von Jerusalem


sehr gut

"Die Löwin von Jerusalem" von Ruben Laurin ist ein Roman, der sich geschickt jeder Genre-Zuordnung entzieht und dabei eine fesselnde Lektüre bietet. Von der ersten bis zur letzten Seite hat mich die Geschichte um Bathseba und König David vollkommen in ihren Bann gezogen. Laurin versteht es geschickt, Elemente aus verschiedenen literarischen Welten zu vereinen: Eine Prise Fantasie, historische Anklänge an biblische Figuren, eine packende Erzählweise voller Spannung und eine berührende Liebesgeschichte. Dieser Roman ist ein wahres Feuerwerk an Erzählkunst.

Gleich der Prolog sticht heraus und baut auf eine höchst ungewöhnliche Weise Spannung auf. Die Erzählperspektive aus Sicht eines mythischen Wesens ist nicht nur originell, sondern auch unglaublich fesselnd. Obwohl ich normalerweise kein großer Fan von Fantasy-Elementen bin, passen sie hier perfekt und tragen maßgeblich zur dichten Atmosphäre des Romans bei.

Besonders bemerkenswert finde ich Laurins Umgang mit den biblischen Figuren. Während er sich einerseits an die dort geschilderten Charaktere und Ereignisse anlehnt, nimmt er sich andererseits die Freiheit, Unbekanntes hinzuzufügen und Bekanntes abzuändern. Dies verleiht dem Werk eine erfrischende Eigenständigkeit und macht weit mehr daraus als nur eine einfache Nacherzählung einer biblischen Geschichte. Stattdessen präsentiert Laurin eine eigenständige, fantasievolle Story mit abweichendem Plot und komplexen Charakteren, die dem Leser eine völlig neue Perspektive auf altbekannte Figuren eröffnet.

Die historische Karte Israels, das Personenverzeichnis, die Zeittafel und das Glossar werten das Buch angenehm auf. Laurins Sprache ist ebenfalls ein großes Plus. Sie wirkt authentisch und trägt entscheidend dazu bei, dass man sich als Leser*in in die antike Szenerie versetzt fühlt. Nur selten empfand ich die Sprache als etwas zu vulgär, was jedoch den Gesamteindruck kaum trübt.

Ein kleiner Wermutstropfen ist die Darstellung von Bathsebas Ehemann Uriel, der leider recht eindimensional und ausschließlich negativ gezeichnet wird. Hier hätte ich mir eine etwas vielschichtigere Charakterisierung gewünscht. Aber dieser Kritikpunkt verblasst angesichts der Fülle an spannenden, tragischen und auch humorvollen Momenten, die Laurin in seinem Roman entfaltet.

Insgesamt ist "Die Löwin von Jerusalem" ein herausragender Roman, der durch seine gelungene Mischung aus Spannung, Tragik und Witz beste Unterhaltung bietet. Ruben Laurin hat mit diesem Werk eine faszinierende und "ziemlich verrückte Liebesgeschichte aus uralten Zeiten" (Zitat des Autors) geschaffen, die man so schnell nicht vergisst und die ich gerne empfehle.

Bewertung vom 23.08.2024
Mit 50 Euro um die Welt
Schacht, Christopher

Mit 50 Euro um die Welt


weniger gut

"Mit 50 Euro um die Welt" von Christopher Schacht erzählt die faszinierende Geschichte eines jungen Mannes, der sich mit nur 50 Euro in der Tasche auf eine vierjährige Weltreise begibt. Auf den ersten Blick verspricht das Buch Abenteuer, kulturelle Entdeckungen und eine beeindruckende persönliche Entwicklung. Doch trotz des großen Potenzials bleibt die Erzählung in vielerlei Hinsicht enttäuschend.

Man muss anerkennen, dass Schacht bei Beginn seiner Reise erst 19 Jahre alt war, was den jugendlichen Enthusiasmus und die Naivität erklären mag, die in seinen Schilderungen oft durchscheinen. Dennoch erwartet man, dass eine so lange und intensive Reise, gespickt mit zahlreichen Begegnungen und Erlebnissen, zu einer gewissen Reife und einem tiefgründigeren Verständnis der Welt und ihrer Kulturen führt. Leider bleibt diese Entwicklung weitgehend aus. Schacht verfällt stattdessen in oberflächliche Betrachtungen und platte Küchenpsychologie, die schnell unangenehm auffallen. Besonders fragwürdig ist etwa sein Versuch, einen Zusammenhang zwischen der durchschnittlichen Penisgröße koreanischer Männer und der Architektur des Landes herzustellen. Solche Aussagen zeugen nicht nur von fehlender Sensibilität, sondern auch von einem beunruhigenden Mangel an Respekt gegenüber den Kulturen, die er angeblich zu entdecken sucht.

Dieser Mangel an Respekt zieht sich durch das gesamte Buch. Überheblich und herablassend beschreibt Schacht beispielsweise, wie Inder sich drängen und es nicht schaffen, in geordneten Schlangen zu stehen. Seine Bemerkung, sie könnten dies von deutschen Kindergartenkindern lernen, wirkt arrogant und zeugt von einem erschreckenden Mangel an interkulturellem Verständnis.

Auch bedient sich Schacht leider häufig stereotypischer und rassistischer Klischees. So beschreibt er beispielsweise, wie er einen Turban und eine Sonnenbrille trug, um weniger aufzufallen, und behauptet dabei, er habe ausgesehen "wie ein Taliban". An anderer Stelle nennt er indigene Völker abwertend "Wilde" – eine Ausdrucksweise, die in der heutigen Zeit völlig inakzeptabel ist.

Der missionarische Ton, der durch Schachts Bekehrung zum Christentum während seiner Reise in das Buch Einzug hält, mag für manche störend wirken, für mich ist dies jedoch weniger problematisch als die Oberflächlichkeit seiner Erzählung. Obwohl der Autor im Nachwort betont, dass ihn die Begegnungen mit Menschen besonders berührt hätten, spiegelt sich dies kaum in seinem Bericht wider. Statt tiefgründiger Einblicke in die besuchten Länder und deren Bewohner*innen erhält der Leser vor allem eine Fülle an Details über organisatorische und bürokratische Hürden.

Insgesamt war "Mit 50 Euro um die Welt" eine enttäuschende Lektüre für mich. Wer auf der Suche nach einem bereichernden und respektvollen Reisebericht ist, wird hier leider nicht fündig. Es gibt zahlreiche bessere Bücher, die dem Genre weitaus mehr gerecht werden.

Bewertung vom 19.08.2024
Als wir Schwäne waren
Karim Khani, Behzad

Als wir Schwäne waren


ausgezeichnet

Wenn man überhaupt etwas Kritisches zu Khanis zweitem Roman anmerken möchte, dann die Tatsache, dass er damit die selben Themen verhandelt wie bereits in seinem großartigen Debüt "Hund Wolf Schakal". Aber dies ist mehr als legitim, denn sowohl was er zu Migration, Identitätssuche oder Alltagrassismus zu sagen hat, noch wie er es diesmal zu Papier bringt, sucht seinesgleichen.

Die autobiografisch angelegte Story erzählt Reza, der mit seinen aus dem Iran geflohenen Eltern in einem Bochumer Hochhaussiedlung lebt, die von Armut und Gewalt geprägt ist und wo "Eigentumsdelikte eine Lebenseinstellung sind". Die Eltern, beide Akademiker, erstarren im Kulturschock, der Sohn fühlt sich alleingelassen, zerbricht und findet seine Einzelteile nicht und sucht seinen Weg schließlich in der Kriminalität, weiß aber, dass er nicht wirklich vorwärts kommt. Denn er trug "Schuhe mit schrägen Sohlen, in denen es immer bergauf ging und nie aufwärts."

Der Autor findet messerscharfe Bilder, die klar machen, wie fremd sich ein Land anfühlen kann, in dem zuerst die Hunde und dann die Herrchen begrüßt werden. Er zeigt auf, wie machtlos Eltern zusehen müssen, wie die Kinder auf die schiefe Bahn geraten. Penibel seziert und interpretiert er das Gefühlschaos des Heranwachsenden, der vor allem eines will: Freundschaft und Anerkennung. Und dabei so oft Ablehnung und Feindschaft begegnet.

Khani hält unserer Gesellschaft den Spiegel vor, völlig ohne anklagenden Unterton. Wir sollen uns nur erkennen, das genügt.

Ich bin von dieser kraftvollen literarischen Stimme begeistert und freue mich daher sehr, dass Khani sein Alter Ego gegen Ende des Romans erklären lässt: "Ich werde immer auf Deutsch schreiben."