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Circlestonesbooks.blog
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Lesebegeisterte Literaturbloggerin, https://www.circlestonesbooks.blog/

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Insgesamt 411 Bewertungen
Bewertung vom 20.06.2023
Wiedersehen in Howards End
Forster, E. M.

Wiedersehen in Howards End


ausgezeichnet

Ein moderner Klassiker - zeitlos lesenswert

„Aber willst du mich denn nicht eben mal kurz zu diesem Howards-Haus lassen, damit ich dir die ganzen Unannehmlichkeiten erspare? Ich werde mich auch wirklich nicht einmischen, aber ich weiß doch nun mal so genau, worauf ihr Schlegels Wert legt, daß mir schon ein kurzer Blick genügen wird.“ (Zitat Seite 14)

Inhalt
Die Schwestern Margaret und Helen Schlegel aus London lernen während einer Deutschlandreise die Familie Wilcox kennen, die ebenfalls in England lebt. Trotz der unterschiedlichen Lebensweisen und Ansichten entwickeln sich zwischen der jungen Margaret und der älteren Ruth Wilcox Vertrauen und Freundschaft. Als sich Helen einige Monate später bei einem Besuch in Howards End, einem kleinen Landhaus der Familie Wilcox, spontan in Paul Wilcox verliebt, den jüngsten Sohn, führt dies zu einigen Missverständnissen und Unstimmigkeiten, und die Beziehung zwischen den beiden Familien scheint beendet. Doch dann kreuzen sich die Wege der Schwestern Schlegel und der Familie Wilcox wieder. Die Familie Wilcox hat in London eine Stadtwohnung gemietet, die zufällig genau gegenüber dem Wohnsitz der Schlegels liegt. Als Ruth nach kurzer Krankheit stirbt, hinterlässt sie Howards End, das ihr gehört, überraschend Margaret, und damit nehmen weitere Ereignisse und Konflikte ihren Lauf.

Thema und Genre
Dieser 1910 erschienene Roman, heute ein moderner Klassiker, verbindet bewusst die traditionelle englische Erzählweise des 19. Jahrhunderts, mit der damals neuen, auf die Bewusstseinsströme der unterschiedlichen Figuren basierende Erzählform des frühen 20. Jahrhunderts.

Charaktere
Margaret und Helen, sind moderne, eigenständige, durch ererbtes Vermögen auch finanziell unabhängige junge Frauen. Sie bewegen sich in Künstler- und Diskussionskreisen, engagieren sich für Frauenrechte und ihre Ansichten sind sehr fortschrittlich. Auch die Familie Wilcox ist sehr vermögend, doch ihr Reichtum beruht auf der erfolgreichen Geschäftstätigkeit von Henry Wilcox, Ruths Ehemann. Hier geht es um Gewinn, Ertrag und kompromissloses Handeln, Werte wie Kultur und Gefühle hält Henry für entbehrlich. Diesen beiden Familien der Oberschicht stellt der Autor den jungen Leonard Bast gegenüber, ein kleiner Angestellter mit einem Einkommen knapp über der Armutsgrenze. Bemüht, sich durch Literatur und Kunst weiterzubilden, lebt er in steter Sorge vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und damit drohender Armut.

Erzählform und Sprache
Bereits im ersten Satz „Man kann eigentlich ebensogut auch gleich mit Helens Briefen an ihre Schwester beginnen.“ (Zitat Seite 5), zeigt sich der auktoriale Erzähler, der sich mit eigenen Gedanken in die Handlung einmischt und der seine Figuren auch manchmal vor der Meinung der Lesenden in Schutz nimmt. Die Handlung verläuft chronologisch, ereignislose Zeiträume werden mit einer kurzen Bemerkung übersprungen. Spannung erhält die Geschichte zunächst durch das Verhalten und die Ansichten der sehr unterschiedlichen Figuren, wobei der Spannungsbogen stetig anwächst. Schilderungen von Natur, Landschaft und Wetter in allen Schattierungen ergänzen oft die Gefühlswelt der Figuren, begleiten mit ihrer Symbolik die Ereignisse, und zeigen andererseits ein lebhaftes Bild Englands am Beginn des 20. Jahrhunderts.

Fazit
Diese Rezension fasst meine persönliche Meinung und Eindrücke zusammen, denn zu zeitlos erfolgreichen Romanen wie diesem gibt es eine Fülle von Abhandlungen und Rezensionen von versierten, literaturwissenschaftlich ausgebildeten Menschen. Für mich war dieser moderne Klassiker ein entspanntes, angenehmes und durch die Themenvielfalt auch sehr interessantes Lesevergnügen.

Bewertung vom 17.06.2023
Perwanas Abend
Ali, Bachtyar

Perwanas Abend


ausgezeichnet

Poetisch, magisch und zutiefst beklemmend, realistisch

„Ich wollte zu einer Realität vordringen, in der Gott und die Schmetterlinge sich versöhnlich und friedfertig begegnen. In der sie sich verstehen und achten.“ (Zitat Seite 266)

Inhalt
Klein-Khandan wächst in einer Zeit der kriegerischen Auseinandersetzungen und der religiösen Fanatiker auf, die streng über die genaue Befolgung der Sitten und Vorschriften wachen. Immer mehr Frauen und Männer verlassen die Heimat und vor allem junge Menschen gehen fort, auf der Suche nach einem Leben in Freiheit und Liebe. Klein-Khandans Kindheit ist abrupt zu Ende, als auch ihre Schwester Perwana verschwindet. Klein-Khandan wird in eine strenge Religionsschule, das Haus der Reue, gebracht, um hinter hohen Mauern und verschlossenen Toren für das Vergehen ihrer Schwester Buße zu tun. Noch ist sie zu jung, um alle Zusammenhänge zu verstehen, aber einige Jahre später will sie die Geschichte ihrer Schwester Perwana erzählen, damit diese nicht vergessen wird. Zuerst jedoch muss sie die Wahrheit finden, um die Ereignisse niederschreiben zu können.

Thema und Genre
In diesem kurdisch-irakischen Roman geht es um religiösen Fanatismus, Politik und die Suche von jungen Menschen nach einem freien Leben nach ihren eigenen Wünschen.

Charaktere
Klein-Khandan will die Geschichte aufschreiben, weil ein Buch etwas für die Ewigkeit schafft, während ihre Freundin Fatana eine begeisterte Geschichtenerzählerin ist. „Wenn du ein Ereignis spontan erzählst, kannst du es nach deinem Geschmack gestalten, ohne Spuren zu hinterlassen.“ (Zitat Seite 265) Die Mädchen lernen einander im Haus der Reue kennen, unterstützen einander und beide geben niemals auf.

Erzählform und Sprache
Die Ich-Erzählerinnen der Geschichte sind Klein-Khandan, die jüngere Schwester von Perwana, und Midiya, die Schwester von Fatana, die viele Eindrücke und Erlebnisse in ihren Heften festhält. So entsteht aus anfangs unterschiedlichen Erzählsträngen mit unterschiedlichen Figuren, Episoden, Ereignissen, langsam eine dicht gewebte Geschichte, deren Teile sich schließlich zu einem Ganzen vereinen. Kann man menschliche Grausamkeit und tiefes Unrecht in einer poetischen und manchmal magischen Sprache erzählen? Bachtyar Ali kann das, in einer eindrücklichen Mischung zwischen der bildintensiven Farbigkeit von orientalischen Märchen und den beklemmend realistischen Schilderungen der allgegenwärtigen Unterdrückung und Verfolgung von Menschen, besonders von Mädchen und Frauen, die einfach nur ein freies Leben führen wollen. Schmetterlinge als Symbol für Liebe, Freiheit, Hoffnung, aber auch gefährdete Zartheit, wirbeln durch die gesamte Geschichte.

Fazit
Diese Geschichte von Perwana, drei Freunden, Klein-Khandan und ihre Freundinnen wird in einer poetischen Sprache geschrieben, die reich an Bildern und Symbolik ist, und gleichzeitig von brisanter, realistischer Dringlichkeit. Den Übersetzenden ist es gelungen, den Zauber dieser Erzähl- und Ausdrucksform auch in die deutsche Sprache zu übertragen.

Bewertung vom 04.06.2023
Das Café ohne Namen
Seethaler, Robert

Das Café ohne Namen


ausgezeichnet

Menschen im Café am Karmelitermarkt

„Die Donau hat es schließlich auch schon gegeben, bevor jemand sie Donau genannt hat. Dann bleibt dein Café eben ohne Namen und das ist richtig so.“ (Zitat Seite 25)

Inhalt
Robert Simon ist einunddreißig Jahre alt und arbeitet seit sechs Jahren als Gelegenheitsarbeiter auf dem Wiener Karmelitermarkt. Doch heute ist sein letzter Tag. Immer wieder war er an dem alten Marktcafé vorbeigegangen, das schon länger leer stand, jetzt ist er der neue Pächter. Schon am Tag der Eröffnung füllt dich das Café rasch mit Gästen. Es sind Leute aus dem Viertel, Schichtarbeiter, Angestellte in Hemdsärmeln, die Mädchen aus der Schottenauer Garnfabrik und die Händler vom Markt. Eines Tages bringt der Fleischermeister Berg die arbeitslose Hilfsnäherin Mila in das Café. Mila braucht dringend Arbeit und Simon kann Hilfe brauchen, das Café läuft gut. Es ist ein Treffpunkt der Menschen aus dem Viertel, mit ihren Sorgen, Geschichten aus einem gelebten Leben und mit ihren Träumen. „Simon musste lächeln, wenn er an all die verlorenen Seelen, dachte, die sich jeden Tag in seinem Café zusammenfanden.“ (Zitat Seite 71) So vergehen die Jahre, die Zukunft kommt mit neuen Bauten und einer U-Bahn in Wien an, und irgendwann, nach zehn Jahren, auch im Karmeliterviertel.

Thema und Genre
In diesem Roman geht es um das Leben der Menschen in einem typischen Wiener Grätzel. Es ist nicht die große Bühne, auf die wir in diesem Café blicken, und doch nehmen wir Lesenden durch die Gespräche, wenn die Politik und die Neuigkeiten im Café diskutiert werden, auch an der Entwicklung Wiens als aufstrebende, moderne Großstadt teil. Themen sind Einsamkeit, Alter, Verlust, aber auch Freundschaft, Liebe und die Suche nach Geborgenheit und dem kleinen Glück.

Charaktere
Robert Seethaler nimmt seine Figuren direkt aus dem Leben und berichtet einfühlsam über ihre unterschiedlichen Geschichten.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte wird fortlaufend in einzelnen Episoden erzählt, Kapitel, in denen wechselweise eine oder mehrere der Figuren im Mittelpunkt stehen. Wir nehmen Teil an den Veränderungen in ihrem Leben, denn sie alle verändern sich in diesen zehn Jahren, bemerkt, oder beinahe unbemerkt. Der Schriftsteller ist ein leiser, poetischer Erzähler, sein Blick auf die Dinge des Lebens ist genau beobachtend, er achtet auf die Nuancen des menschlichen Verhaltens und der Gefühle. Mit derselben Genauigkeit schildert er auch eindrücklich das Viertel um den Karmelitermarkt, die Tagesabläufe im Café im Wechsel der Jahreszeiten.

Fazit
Eine wunderbar leise und eindrückliche Geschichte, in deren Mittelpunkt ein Café in einem typischen Wiener Viertel in der Leopoldstadt steht, und die Menschen, für die es Zuflucht und Heimat ist.

Bewertung vom 31.05.2023
Die Glasschwestern
Hauser, Franziska

Die Glasschwestern


sehr gut

Ein komplexer Generationenroman

„Das Schicksal hat ihnen gleichzeitig denselben Schlag erteilt und gesagt: Seht zu, wie ihr klarkommt, wenn ihr einander nicht helfen könnt.“ (Zitat Seite 9)

Inhalt
Dunja und Saphie, neununddreißig Jahre alt, sind Zwillingsschwestern, doch ihr Leben verläuft in unterschiedlichen Bahnen. Dunja war früh Mutter geworden und lebt in der Großstadt, der Sohn studiert bereits, die Tochter bereitet sich auf das Abitur vor, vom Vater ihrer Kinder hat sie sich vor kurzer Zeit endgültig getrennt. Ursprünglich war es Saphie, die möglichst schnell aus dem kleinen Dorf, ehemals DDR, in die Stadt ziehen wollte, doch sie bleibt und leitet gemeinsam mit ihrem Mann ein Hotel. Dann kommt dieser Wintermorgen, Dunjas Ex-Mann stürzt vom Dach und ist tot. Am selben Morgen kippt Saphies Mann tot vom Hometrainer. Nach der Beerdigung bleibt Dunja in Saphies Hotel, entdeckt das Dorf ihrer Kindheit neu. Die Schwestern kommen einander wieder näher, beide sind auf der Suche nach Antworten, wie es nun weitergehen soll. Durch Reporter stoßen sie auf ein Familiengeheimnis, das alle im Dorf schon längst zu kennen schienen, nur Dunja und Saphie nicht. Kann diese Aufarbeitung der Vergangenheit den beiden Frauen helfen, die jeweils für sie selbst passende Zukunft zu finden?

Thema und Genre
In diesem Generationen- und Familienroman geht es um Familienstrukturen und Familienbeziehungen, um ein Familiengeheimnis, Dorfleben, Verlust, Trauer und Neubeginn.

Charaktere
Nach zwanzig Jahren steht Dunja wieder am Beginn eines Lebens, in dem sie im Mittelpunkt steht, das ihr allein gehören wird, denn ihre Kinder wollen eigene Wege gehen, ihr eigenes Leben führen. Sie will nicht mehr Deutsch als Fremdsprache unterrichten, doch was will sie stattdessen? Bisher war es Saphie, die immer die Kontrolle hatte, nach vorne geschaut hat, den Blick auf die Zukunft gerichtet. Doch plötzlich fühlt sie sich in ihrem Dorf fremd.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte wird chronologisch erzählt, wie auch der Übergang der Natur vom Winter in den Frühling und weiter im Jahreslauf. Die kurzen Kapitel tragen jeweils einen Kalenderspruch als Überschrift und berichten abwechselnd, oder auch gleichzeitig, über die das Leben der Hauptfiguren. Handlungsbogen und Spannung ergeben sich nicht aus den Ereignissen, sondern vor allem aus den persönlichen Konflikten und Problemen der einzelnen Figuren, ihren Gedanken, ihrem Verhalten und ihren Entscheidungen. Wiederkehrende Symbole oder auch Metapher, deren Deutung uns Lesenden überlassen bleibt, verdichten die Schilderung der Gefühlswelten, in denen sich die Figuren bewegen. Die Erzählsprache ist angenehm und einfach zu lesen.

Fazit
Dieser Roman lässt mich etwas ratlos zurück. Bis etwa zur Hälfte war es für mich eine überraschende, witzige, ungewöhnliche Geschichte mit vielen aus dem Leben gegriffenen Themen wie Alltagsprobleme von Ehefrauen, Müttern mit Kindern auf dem Weg in die Selbstständigkeit, Spannungen und Geheimnisse innerhalb von Familiengefügen, alle diese Komponenten gekonnt verknüpft. Doch dann flacht die Handlung ab, die Befindlichkeiten der beiden so unterschiedlichen Frauen stehen im Mittelpunkt und damit Selbstzweifel und sich wiederholende Fragen, wobei die Sichtweisen zwischen Dunja und Saphie auch öfter die Seiten wechseln, einander widerspiegeln. Eine komplexe, spannende Grundidee, mit Längen in der Umsetzung.

Bewertung vom 26.05.2023
Die Abtrünnigen
Gurnah, Abdulrazak

Die Abtrünnigen


ausgezeichnet

Ein beeindruckendes Leseerlebnis

„Es ist eine Geschichte darüber, dass eine Geschichte viele Geschichten enthält und dass sie nicht nur uns gehören, sondern Teil der zufälligen Strömungen unserer Zeit sind. Und es ist eine Geschichte darüber, wie wir uns in Geschichten hineinverstricken und für alle Zeit darin gefangen bleiben.“ (Zitat Seite 182)

Inhalt
Ende des 19. Jahrhunderts findet in einer kleinen ostafrikanischen Stadt der Krämer Hassanali eines Tages im Morgengrauen einen stark geschwächten Mann. Martin Pearce ist Engländer und als er später zurückkommt, um sich für seine Rettung zu bedanken, verliebt er sich in Rehana, Hassanalis Schwester. Eine Liebe, die nicht nur ein Skandal, sondern auch streng verboten ist. Mitte des 20. Jahrhunderts verliebt sich der junge Amin in Jamila, einige Jahre älter als er, eine geschiedene Frau, die auf Grund ihrer Unabhängigkeit und ihrer angeblich zweifelhaften Herkunft im Mittelpunkt von Gerüchten steht. Auch diese Liebe wäre ein Skandal, käme sie an die Öffentlichkeit. Amins Eltern bedrängen ihn wegen der drohenden Schande und der gesellschaftliche Ächtung, die er über die Familie bringen würde. Rashid, Amins jüngerer Bruder, will der Enge der Heimat entfliehen und plant zu dieser Zeit bereits seine Reise nach London, wo er bereits an einer Universität aufgenommen wurde. Trotz der Ablehung und Ausgrenzung, mit der man ihm begegnet, bleibt er nach dem Abschluss seines Studiums in England. Doch die Geschichte von Amin und Jamila beschäftigt ihn auch noch viele Jahre später, und er beginnt mit Nachforschungen.

Thema und Genre
Dieser außergewöhnlich facettenreiche Roman spielt in Ostafrika und England, und ist sowohl ein Familienroman, als auch ein Generationenroman. Themen sind Kolonialismus, Unterdrückung, Ausgrenzung, gesellschaftliche Traditionen, Politik, Heimat und Fremde, Liebe und Trennung.

Charaktere
Es sind unterschiedliche Charaktere und ebenso unterschiedlich ist ihre Art, mit äußeren Zwängen und dem Druck gesellschaftlicher Regeln und Wertvorstellungen umzugehen, und trotz aller Widerstände ihren Platz im Leben zu suchen.

Handlung
Die Handlung wird in neun Abschnitten erzählt, wobei jeweils eine Person im Mittelpunkt steht, die dem jeweiligen Abschnitt den Titel gibt und wo es vor allem um die jeweilige persönliche Lebenssituation, die Vergangenheit, Erfahrungen und Konflikte geht. Der Autor nimmt sich Zeit und schildert nicht nur die Ereignisse und das Leben der einzelnen Protagonisten, sondern auch das Umfeld, das Alltagsleben der Menschen, die politische Situation dieses Teiles von Ostafrika unter den Engländern, und später während der Umstürze, nachdem Sansabar Ende 1963 unabhängig geworden war. Es ist Rashid, der die Geschichte erzählt, doch er präzisiert: „Es gibt, wie Sie sehen, ein Ich in dieser Geschichte, aber es ist keine Geschichte über mich. Es ist eine Geschichte über uns alle, über Farida und Amin, über unsere Eltern und über Jamila.“ (Zitat Seite 182). So folgen wir fasziniert und gespannt einem Zeitrahmen etwa einhundert Jahren, pendeln zwischen Afrika und England und sind keine einzige Minute gelangweilt.

Fazit
Abdulrazak Gurnah ist ein leiser, aber eindrücklicher Erzähler, er klagt nicht an, sondern beleuchtet alle Graubereiche der Geschichte und der Menschen, und dies alles in einer wunderbar zu lesenden Erzählsprache.

Bewertung vom 16.05.2023
Die Mutter
Deledda, Grazia

Die Mutter


ausgezeichnet

Eine wiederentdeckte Perle - sprachlich und auch optisch

„Alles sprach zu ihm: der Wind draußen, der ihn an die lange Einsamkeit seiner Jugend erinnerte, und drinnen die traurige Gestalt der Mutter, das Knarren seiner Schritte, sein eigener Schatten.“ (Zitat Seite 49)

Inhalt
Viele Jahre lang hat sie als Dienstmagd gearbeitet, sich nie etwas gegönnt, nur für ihren Sohn Paulo und dessen Ausbildung zum Priester gelebt. Vor sieben Jahren war Paulo dann als neuer Pfarrer in die kleine Gemeinde Aar auf Sardinien gekommen und seine Mutter mit ihm. Seit sieben Jahren lebt sie hier nun glücklich und zufrieden mit Paulo, sorgt für ihn. Doch nun könnten alle ihre Opfer umsonst gewesen sein, denn Paulo hat sich in die junge Witwe Agnes verliebt, ist dabei, sein Gelübde als katholischer Priester zu brechen und sich auch dem Einfluss seiner Mutter zu entziehen. Agnes ist allein, reich und unabhängig und will Paulo überreden, mit ihr zusammen heimlich das Dorf zu verlassen und irgendwo als Mann und Frau zu leben. Noch kam nur seine Mutter hinter sein Geheimnis, doch es ist eine sehr kleine Dorfgemeinschaft und so muss Paulo sich rasch entscheiden.

Thema und Genre
La Madre wurde 1920 veröffentlicht und handelt von dem Leben in einem abgeschiedenen, kleinen Dorf auf Sardinien, von den Menschen und ihren Problemen. Im Mittelpunkt jedoch steht der schwere Gewissenskonflikt eines jungen Priesters zwischen Liebe und Zölibat.

Charaktere
Die beiden Hauptfiguren sind die Mutter, die für ihren Sohn lebt, fürsorglich bis zur emotionalen Umklammerung, durch ihn wird sie als Mutter des Pfarrers endlich in diesem Dorf anerkannt. Paulo will aus genau dieser Enge des Dorflebens fliehen, fühlt sich jedoch seiner Mutter gegenüber wegen ihrer Opfer zur Dankbarkeit verpflichtet. Vor allem jedoch steht er vor einem möglichen Wendepunkt in seinem Leben, er muss sich zwischen der Frau, die er liebt, und seinem Priesteramt mit dem damit untrennbar verbundenen Zölibat entscheiden.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte wird auf nur 174 Seiten erzählt, doch es ist gerade diese Dichte, die diese Ereignisse von nur wenigen Tagen mit Intensität füllt. Die Schriftstellerin beschreibt lebhaft das Dorfleben der damaligen Zeit. Es sind die Menschen, über die sie schreibt, ihre Gedanken, Gefühlte, ihren tiefen Glauben, aber auch den ebenso präsenten Aberglauben. Daraus ergibt sich der tiefe Konflikt, den ihre Hauptfigur, der junge Priester Paulo, durchlebt. „Er litt, weil der natürliche Zweck des Lebens darin besteht, das Leben fortzusetzen, und er daran gehindert wurde; und diese Verhinderung verstärkte noch den Drang seines Bedürfnisses.“ (Zitat Seite 67)
Am Beginn des Buches steht ein Vorwort der Übersetzerin, am Buchende ein bibliophiler Rückblick mit Fotos auf die Ausgabe aus dem Jahr 1928, auf welcher diese Neuübersetzung basiert.

Fazit
Ralf Plenz hat in seinem Input-Verlag diese Neuübersetzung des alten Textes als Band 19 der „Perlen der Literatur“ des 19. und 20. Jahrhunderts wiederveröffentlicht. Eine sehr schön gestaltete und gebundene Neuausgabe, deren optisches und haptisches Vergnügen das Lesevergnügen der Sprache und der eindrücklichen Geschichte perfekt ergänzt.

Bewertung vom 16.05.2023
Mein Leben als Leser
Hornby, Nick

Mein Leben als Leser


ausgezeichnet

Lesevergnügen

„Es soll hier also darum gehen, wie, wann und warum man liest, und darum, was man liest – um die Art und Weise, wie im Idealfall ein Buch zum nächsten und übernächsten führt, eine papierene Fährte aus Themen und Sinnzusammenhängen.“ (Zitat Seite 13, 14)

Thema und Inhalt
In diesem Buch spricht Nick Hornby nicht nur über die Bücher, die er während eines Jahres gekauft hat und jene, die er gelesen hat. Diese müssen nicht immer identisch sein, gelesen wurde nur ein Teil davon, was Buchmenschen aus eigener Erfahrung nur zu gut kennen. Das Schöne ist, Nick Hornby hat deswegen kein schlechtes Gewissen und damit bestätigt er auch uns. Bei ihm, wie bei uns, besteht jedoch die Absicht, alle Bücher auch zu lesen. „Aber mit jedem Jahr, das verstreicht, und mit jeder Neuanschaffung aus einer Laune heraus, drücken unsere Bibliotheken mehr und besser aus, wer wir sind, ob wir die Bücher lesen oder nicht.“ (Zitat Seite 138, 139)
Doch es geht hier um weit mehr, als nur um Bücher, es ist gleichzeitig eine sehr persönliche Autobiografie, Nick Hornby als Schriftsteller, als Leser und im Familienalltag als Vater von kleinen Kindern.

Umsetzung
Die vierzehn Kapitel sind monatliche Kolumnen, die Nick Hornby für das Magazin „The Believer“ geschrieben hat. Jedes Kapitel beginnt mit zwei nebeneinander angeordneten Listen: „Gekaufte Bücher“ und „Gelesene Bücher“. Im Text schreibt er dann zu jedem gelesenen Buch seine persönlichen Eindrücke, argumentiert, warum man dieses Buch unbedingt lesen sollte, oder aber, warum er sich über dieses oder jenes Buch geärgert hat. Bücher, deren Lektüre er abgebrochen hat, vermerkt er zusätzlich in der Spalte „Gelesene Bücher“. Oft zieht er auch Gedankenbrücken von der aktuellen Lektüre zu Büchern, die er schon früher gelesen hat und wo einen Zusammenhang sieht. Er selbst bemerkt, wie er selbst durch das Schreiben der Kolumnen seine Lektüre genauer auswählt und keine Romane mehr zu lesen beginnt, wo er schon vorher weiß, dass er sie nur unter verächtlichem Schnauben lesen wird. Seine Sprache ist unterhaltsam, interessant, humorvoll und man folgt mit großem Vergnügen seinen Gedanken, Eindrücken, Erinnerungen und Erfahrungen als Leser. Am Buchende findet sich eine Bibliographie der gelesenen Bücher.

Fazit
„All die Bücher, die wir besitzen, gelesen und ungelesen, sind der bestmögliche Ausdruck unseres ureigensten Selbst, den wir zur Verfügung haben.“ (Zitat Seite 138). Besser kann man ein Leben als Leser oder Leserin nicht beschreiben, als Nick Hornby dies tut, und vergnügt schreibe ich nun einige der von ihm empfohlenen Titel auf meine Bücher-Einkaufsliste.

Bewertung vom 12.05.2023
1001 Bücher

1001 Bücher


ausgezeichnet

Packendes, unterhaltsames Lesevergnügen

„Dieses Buch handelt von 1001 Dingen, doch es ist erfüllt von dem atemlosen Drängen, das teilweise aus der quälenden Erkenntnis rührt, daß so viele andere Dinge noch hätten gesagt und so viele andere Romane noch hätten gelesen werden müssen.“ (Originalzitat Seit 10, Einleitung)

Thema und Inhalt
1001 BÜCHER ist eine abwechslungsreiche Reise durch die Literatur. Die unterschiedlichen Werke wurden von 157 internationalen Fachleuten aus den Bereichen Literaturwissenschaft und Journalismus, Schriftstellern und Schriftstellerinnen ausgewählt. Man entdeckt sicher Werke, die man bereits gelesen hat, aber auch zahlreiche andere, von denen man bisher noch nie gehört hat. Auch wenn der Schwerpunkt auf Literatur in englischer Sprache liegt, werden auch viele internationale Romane vorgestellt.

Gestaltung
Das Buch beginnt mit dem Vorwort von Peter Ackroyd, der Einleitung des Herausgebers Peter Boxall, der Auflistung der Mitarbeiter. Es folgt der Index der Buchtitel. Die einzelnen Beiträge sind in die Abschnitte „vor 1800“, „19. Jahrhundert“, „20. Jahrhundert“ und „21. Jahrhundert“ gegliedert. Daran schließen ein Index der Autoren und Werke an, der ausgezeichneten Autoren und Werke, gegliedert in die einzelnen Literaturpreise, sowie Bildnachweise. Jeder der 1001 Romane wird nach dem gleichen Schema besprochen: Titel, Autor oder Autorin, Lebensdaten, Erstausgabe, Verlag, Originaltitel. Dann folgt der eigentliche Beitrag, der nicht mehr als dreihundert Worte umfasst. Bedingt durch die vorgegebene Kürze wird auf Zusammenfassungen des Inhalts verzichtet, sondern es wird geschildert, was genau den jeweiligen Roman so unbedingt lesenswert macht. In jedem Beitrag finden sich auch ein oder mehrere Originalzitate aus dem besprochenen Buch. „Bei einer Diskussion über die Frage, was mit den einzelnen Beiträgen im besten Falle zu erreichen sei, traf einer der Autoren mit seiner Antwort für meine Begriffe den Nagel auf den Kopf: Er sagte, jeder Beitrag könne als eine Art „Mikroereignis“ gedacht werden, als eine komplette Leseerfahrung in Miniaturformat, die zugleich etwas von der Grenzenlosigkeit des Romans vermittle.“ (Originalzitat Seite 10) Zahlreiche Fotografien von Buchumschlägen und Autoren ergänzen die Texte.

Fazit
Das Stöbern in 1001 BÜCHER gleicht einem genussvollen, gemütlichen Spaziergang: man schlendert auf alten, bekannten Wegen, schwelgt in Erinnerungen, um dann mit dem nächsten Schritt auf Neues, Unerwartetes zu treffen, das man erforschen möchte. Perfekt für alle Lesebegeisterten und jene, die es noch werden wollen.

Bewertung vom 11.05.2023
Falsche Freunde / Ein Fall für Commissario Morello Bd.3
Schorlau, Wolfgang;Caiolo, Claudio

Falsche Freunde / Ein Fall für Commissario Morello Bd.3


ausgezeichnet

Spannung, Fakten und Fiktion und die magische Stadt Venedig

„Hören Sie, Commissario, die Vereinbarung mit dem Innenministerium besagt, dass Sie nach Sizilien versetzt werden, sobald Sie Salinis Mörder gefasst haben. Wenn Sie Ihre Arbeit hier erledigt haben, können Sie am nächsten Tag wieder zurück zu Ihrer Mafia.“ (Zitat Seite 42)

Inhalt
Venedig im Nebel ist nicht romantisch und mystisch, sondern einfach nur nass und kalt, denkt Commissario Antonio Morello und vermisst sein geliebtes Sizilien. „In Sizilien ist die Sonne wärmer, das Licht des Himmels klarer und von einem unerreichten seidenweichen Blau, der Geschmack des Salzes im Meer ist würziger als der der Lagunenbrühe.“ (Zitat Seite 147) Doch viel Zeit für diese Gedanken bleibt dem Commissario nicht, denn an diesem nassen, kalten Tag im Oktober 2022 wird in Venedig der Buchhalter Paolo Salini gefunden, tot auf einer Parkbank sitzend. Damit beginnen für den Commissario und sein Team Ermittlungen, die diesmal besonders brisant sind. Rasch führen die ersten Verdachtsmomente und Spuren den Commissario zu sehr vermögenden und seit Jahrhunderten einflussreichen Venezianer Familien und zu ihren Plänen, aus Venedig eine glitzernde, glamouröse Luxusdestination für Superreiche zu machen. Ebenso rasch versuchen seine Vorgesetzten, seine Ermittlungen in diesem Umfeld zu unterbinden, doch andererseits hat er das Versprechen, dass er zurück nach Sizilien versetzt wird, sobald er Salinis Mörder gefunden hat.

Thema und Genre
In diesem neuen Fall für Commissario Morello, den Sizilianer in Venedig, Band drei der Serie, geht es um Immobilien, Investments, Bestechung, Politik und die (teilweise leider schon realen) Pläne, ganz Venedig als Luxusdestination für sehr vermögende Menschen zu vermarkten.

Charaktere
Auch diesmal lässt sich Morello in seinen Ermittlungen nicht stoppen, den Freien Hund legt man nicht an die Leine, auch wenn sein Team wieder mal in eine andere Richtung zieht. Doch persönlich ist er nach wie vor durch den Verlust seiner Frau blockiert. Er vermisst Sizilien nicht nur als Heimat, sondern er will zurück, weil er endlich weiter nach dem Mafia-Boss suchen will, der seine Frau auf dem Gewissen hat.

Handlung und Schreibstil
Der Zeitraum der Ermittlungen umfasst acht Tage im Oktober, von Montag bis Montag, die letzten Ereignisse finden noch einige Tage danach statt. Dieser straffe Zeitrahmen sorgt für zusätzliche Spannung in dieser interessanten Geschichte, die zunächst eine Reihe von Rätseln für das Ermittlungsteam bereithält. Eine Szene zu Beginn des Buches zeigt uns Lesenden einige Details, wir wissen etwas mehr, als der Commissario, jedoch bleiben auch für uns mögliche Zusammenhänge viele Seiten hindurch reine Spekulationen mit Varianten von Möglichkeiten. Die Handlung nimmt sich aber auch Zeit für persönliche Momente und Konflikte der einzelnen Hauptfiguren und mit dem Commissario genießen wir die bunt geschilderte Vielfalt des alltäglichen Lebens in der auch bei Regen und Kälte magischen Stadt Venedig, eine Magie, die auch längst auf den Commissario gewirkt hat.
Die Gliederung der Handlung ist klar strukturiert. Die Überschrift trägt Tag und Zeitangabe, die einzelnen Abschnitte tragen dan den jeweiligen Ort der Handlung.

Fazit
Ein sizilianischer Commissario, unangepasst, eigensinnig, der zwar immer noch seine Heimat Sizilien vermisst, jedoch längst schon dem Zauber Venedigs erlegen ist und nun gegen alle Widerstände und Gefahren bereit ist, Venedig vor den bizarren Plänen von Immobilienfirmen und Investoren zu retten – ein realistischer Plot, eine stimmige Geschichte, packendes Lesevergnügen.

Bewertung vom 11.05.2023
Blaues Venedig - Venezia blu
Salomon, Wolfgang

Blaues Venedig - Venezia blu


ausgezeichnet

Sehnsuchtsort und viel neues Wissen

„Durch die Fensterhöhlen der oberen Stockwerke fällt das Sonnenlicht in fast schon kitschigem Strahl in die von Efeu zugewachsenen, im Halbdunkel liegenden Räume des unteren Stockwerks. Lord Byron, Mary und Percy Shelley würden sich hier wohlfühlen. Pure Gothic Romantic in salziger Seeluft.“ (Zitat Seite 68)

Thema und Inhalt
„Eine Reise in die Abgründe der Lagunenstadt“, so nennt der Autor dieses Buch und er führt uns tatsächlich auf verlassene Inseln, zu den mit ihnen verbundenen Orten und Geschichten, an mystische Orte und auf versteckte Plätze, wo man noch den venezianischen Alltag erleben kann. In insgesamt fünfzehn Kapiteln lernen wir vierzehn besondere Orte kennen. Kulinarische Tipps und Weinverschläge ergänzen diese besondere Entdeckungsreise.

Umsetzung
Wie schon der Titel sagt, steht dieser besondere Reiseführer auch unter dem Zeichen der Farbe Blau, Blau wie das Wasser, Lebensader Venedigs, Blau wie die Sehnsucht, Blau wie ins Blaue, somit ins Unbekannte, Blau aber auch als Farbe der Romantik. Auf Poveglia, der Insel degli fantasmi e misteri, begegnen wir dieser Farbe in einem besonderen Raum mit beinahe magischen Eindrücken. Zwei Jahre dauerten die Recherchen insgesamt und so führen uns die Besuche der unterschiedlichen, vom Tagestourismus unentdeckten Orte, Gebäude, Plätze und Inseln durch alle Jahreszeiten. Wir lernen interessante Menschen kennen, die dem Autor an diesen Orten begegnet sind. Jeden Artikel ergänzen entsprechende Schwarz-Weiß-Fotografien, erstellt von Wolfgang Salomon und dem ihn begleitenden Fotografen Helmut Petrin.

Fazit
Ein spannendes, interessantes, vielseitiges Lesevergnügen mit viel neuem Wissen. Egal, ob man Venedig schon oft besucht hat, oder noch nie, dieser besondere Reiseführer mit seinen Geschichten, die Bilder in unsere Gedanken malen und uns mit erinnerten Gerüchen umgeben, weckt sofort Sehnsucht.