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wortwandeln

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Insgesamt 34 Bewertungen
Bewertung vom 31.03.2022
Eine Frage der Chemie
Garmus, Bonnie

Eine Frage der Chemie


ausgezeichnet

1961 in Commons, Kalifornien. Die 30jährige alleinerziehende Elizabeth Zott steht wie jeden Morgen früh auf, um ihrer 5jährigen Tochter Madeline eine nahrhafte Lunchbox samt guten Ratschlägen zu packen. "Kraftstoff fürs Gehirn", steht auf einem Zettel, und "Treib in der Pause Sport, aber lass die Jungs nicht automatisch gewinnen" oder "Du bildest dir das nicht nur ein, die meisten Menschen sind einfach scheußlich." Keine Sorge, das Kind kommt damit klar. Es hat nicht nur bereits den gesamten Dickens durch, sondern auch Schwierigkeiten in der Vorschule, weil es in der Bibliothek nach Nabokov und Mailer verlangt und im Morgenkreis gefragt hat, wie man in Nashville Kämpferin für die Bürgerrechte werden könne. Das Mädchen bleibt nicht die einzige Figur, deren Glaubwürdigkeit man leicht stirnkräuselnd anzweifelt und sie zugleich tief ins Herz schließt.
Als Mama Zott wenig später, die Hände in die Hüften gestemmt, eloquent, schlagfertig, wunderschön anzusehen und irgendwie an Mrs Maisel erinnernd, den Produktionsleiter der örtlichen TV-Studios zusammenstaucht, weil dessen Tochter regelmäßig Madelines Frühstück beschlagnahmt, kann dieser nur noch blöde stammeln. Es genügt, um die widerstrebende, aber leider arbeitslose Elizabeth als Star der neuen Vorabendshow "Essen um sechs" zu verpflichten, wo sie den Hausfrauen der Nation hochwertiges Kochen beibringen soll.
Doch Elizabeth ist Chemikerin, Kochen ist Chemie, und Chemie ist Veränderung. Eine Hausfrau ist niemals nur eine Hausfrau, und deshalb kommt alles ganz anders...

Was so leichtfüßig und klischeehaft beginnt, dass ich das Buch fast aus der Hand gelegt hätte, setzt an dieser Stelle zur Tauchfahrt an und führt uns tief in Elizabeths komplexe und berührende Vergangenheit, bis 230 Seiten später die Rahmenhandlung wieder einsetzt. Dazwischen die Geschichte einer großen Liebe und tragischer Missverständnisse, von Behauptung und Verzweiflung, Eigensinn und Einsamkeit und bevölkert mit Figuren, die man am Ende nur sehr ungern verlässt.
Sich auf Bonnie Garmus' Erstling einzulassen bedeutete für mich ein Wechselbad der Gefühle und die Schwierigkeit der literarischen Einordnung. Ein feministischer Roman? Sicher, es geht um Selbstermächtigung und Emanzipation trotz aller nur denkbaren und schrecklichen Widerstände. Mitreißend und ergreifend, aber auch oft plakativ. Es gibt die Guten und die Bösen, nur ein Charakter macht tatsächlich eine Wandlung durch. Und dann kommt auch noch ein Hund vor, der nicht nur ziemlich erwachsen denkt und handelt, sondern seinem Frauchen zwecks Namensfindung für das Neugeborene auch noch den aufgeschlagenen Proust auf den Nachttisch legt. (Und den man natürlich trotzdem und sofort nicht mehr missen möchte, weil es doch alles tragisch genug ist.) Also doch eher ein Unterhaltungsroman? Auf jeden Fall, aber so abtun lässt es sich auch nicht. Die Autorin verknüpft Tragik und thematische Tiefe mit so trostspendenden wie liebenswerten Charakteren, kluge Sätze mit komödiantischen Elementen und einem Schreibstil voller Dialogwitz- temporeich, elegant und geschmeidig übersetzt - der einen nur so durch die Seiten fliegen lässt. Ein nahrhafter Leckerbissen und trotzdem leicht verdaulich.

8 von 9 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.03.2022
Wie schön wir waren
Mbue, Imbolo

Wie schön wir waren


ausgezeichnet

"Wie schön wir waren" von Imbolo Mbue, aus dem Englischen von Maria Hummitzsch, erschienen @kiwi_verlag

In Kosawa sterben die Kinder. Eins nach dem anderen fällt der Öl-Pipeline zum Opfer, deren Lecks das Trinkwasser vergiften und die Böden unfruchtbar machen. Doch regelmäßig kommen Vertreter des US-amerikanischen Pexton-Konzerns in das kleine Dorf im kamerunischen Regenwald, um die zunehmend panischen Bewohner mit Worthülsen abzuspeisen. Symbolischerweise ist es der Dorfnarr, der schließlich zum Widerstand trommelt. Kurzerhand werden die Abgesandten samt korruptem Bürgermeister in dessen Haus festgesetzt. Als eine der Geiseln stirbt, reagieren Konzern und Staat mit brutaler Polizeigewalt. Eine Tragödie ungeahnten Ausmaßes bricht über das Dorf herein...

Fiktiv? Mitnichten. Steht man in der kamerunischen Küstenstadt Kribi abends am Atlantikstrand, kann man draußen auf dem Meer die Lichter eines einwandigen Tankers sehen. Hier endet die mehr als 1000 km lange Pipeline, die von den Ölfeldern des Tschad quer durch den kamerunischen Regenwald, den Lebensraum der Pygmäen und parallel zu den großen Flüssen des Landes verläuft.
Der multinationale Konzern ist in der Realität etwas komplexer strukturiert und besteht aus ExxonMobile, ChevronTexaco und Petronas. Noch kann man auf der Webseite der Weltbank, die sich aufgrund der umstrittenen ökologischen und sozialen Bilanz inzwischen aus der Finanzierung zurückgezogen hat, all die Versprechen nachlesen, nach denen die Einnahmen in Infrastruktur, Gesundheit, Bildung etc. fließen sollte. Stattdessen Korruption in großem Stil, Raubbau an der Natur und Zerstörung von Lebensraum und Anbauflächen.

In Imbolo Mbues grandios epischem Roman tauchen wir tief in die Lebenswelt einer Dorfgemeinschaft ein, die verzweifelt, mutig und mit anrührender Hoffnung gegen ihre Auslöschung kämpft. Die mehrere Jahrzehnte umspannende Handlung wird aus der Sicht mehrerer Dorfbewohner, u.a. der "Kinder" geschildert, die im wirklichen Leben weder eine Stimme erhalten noch Gehör finden. Beispielhaft erleben wir in aller Konsequenz mit, was es bedeutet, auf der falschen Seite der Pipeline zu leben.
Mit der Hauptfigur der scheuen kleinen Thula, die sich in den USA zur kompromisslosen Kämpferin radikalisiert, entwickelt Imbolo Mbue in schmerzvoller, aber glaubhafter Konsequenz eine beeindruckende literarische Heldin.

Die detaillierten kulturellen Einblicke, die man nebenbei erhält, sind ein wahrer Schatz. Es geht auch um Freundschaft und Familiendrama, um Rollenbilder und Identität, Riten und Tradition, um Liebe und ganz und gar private Geschichten. Und es ist nicht zuletzt ein Buch, das die starken afrikanischen Frauen ins Licht rückt, die meist unbeachtet die Geschicke ihrer Gemeinschaften lenken.
Doch was mein Leserinnenherz höher schlagen ließ, weil ich selbst in Kamerun unterwegs war und solche Dörfer sah, mögen andere als langatmig empfinden, dessen bin ich mir bewusst. Der Roman weist durchaus Längen auf, da dieselben Geschehnisse oft von mehreren Protagonistinnen erzählt werden, ohne wirklich neue Perspektiven zu eröffnen. Die Lektüre braucht in jeder Hinsicht einen langen Atem. Auch, was den Umgang mit der eigenen Empörung angeht, die nur selten eine Pause erhält. Und vielleicht ist das auch gut so.
Große Empfehlung!!

Bewertung vom 01.03.2022
Vertrauen
Mishani, Dror

Vertrauen


sehr gut

REZENSION - „Vertrauen“ von Dror Mishani, ins Deutsche übertragen von Markus Lemke, erschienen @diogenes

Ein ausgesetztes Frühgeborenes und ein Hotelgast, der ohne Bezahlung verschwindet. Ein geistig verwirrter Mann, der seine Mutter anzuzünden versucht und ein Dreijähriger, der im Auto von seinen Eltern vergessen wird und wenig später an Dehydrierung stirbt. War es das, weshalb er Polizist geworden war? „Ein Detektiv , der es mit trauergebeugten Eltern, versehrten Kindern und kleinen, traurigen Fällen zu tun hat, deren Aufklärung der Welt nur weiteres Leid beschert.“ (S.22)
Oberinspektor Avi Avraham kämpft nicht nur mit der Trauer um seine geachtete Kollegin und Vorgesetzte Ilana Liss, die ihm in ihren letzten Lebenswochen jeden Kontakt versagte, sondern auch mit einer schweren Sinnkrise. Nicht, dass er sich zu gut wäre für das gewöhnliche Verbrechen. „Aber er wollte endlich das tun, wovon er geträumt hatte, als er zur Polizei gegangen war […] : Leben retten und Grausamkeit, Gewalt und das Böse bekämpfen.“ ( S.19) Auf dem Weg in das schäbige Hotel, dessen Gast so spurlos verschwunden war, träumt er von Anrufen aus Langley und seinem Lieblingsdetektiv Jules Maigret. Doch dann stimmt etwas nicht in diesem Hotel, das seine Anzeige plötzlich zurückzieht, da zwei Verwandte des Gastes aufgetaucht seien, die Rechnung bezahlt und die Sachen abgeholt hätten. Bald spürt er die Tochter des Gastes auf, die behauptet, ihr Vater hätte für den Mossad gearbeitet. Avis Interesse ist geweckt…
Parallel dazu ermittelt seine Kollegin Esthi Wahabe im Fall des ausgesetzten Säuglings. Die Frau, die die Tasche vor dem Krankenhaus abstellte, ist schnell als Liora Talias identifiziert. Doch diese verstrickt sich in einem schwer durchdringbaren Zick-Zack-Kurs aus Täuschung, Lügen und Widerruf. Wen will sie schützen und weshalb? In Paris laufen schließlich beide Fälle nicht nur geografisch zusammen…

Obwohl Avi Avraham bereits zum vierten Mal ermittelt, war dies meine erste Begegnung mit dem israelischen Kommissar, der mir vielleicht aus diesen Gründen zumindest in der ersten Romanhälfte etwas blass gezeichnet schien. Auch der aus dem gesellschaftlichen Umfeld gelöste Fokus auf Vernehmungen,Tatorte und Indizien hat mich zunächst wenig für den Roman und die Schreibweise Dror Mishanis eingenommen. Ich gestehe, dass ich seit dem Tod Batya Gurs, deren Inspector-Ochajon-Romane ich vor allem für ihre unnachahmliche Israel-Sicht geliebt habe, mit Krimis aus dieser Gegend nicht mehr viel am Hut hatte. Doch je mehr sich die Informationen verdichten, sich ein Puzzleteil ans nächste fügt - und hier haben die Lesenden den Ermittelnden nichts voraus - zeigt sich die Verstrickung von Tätern und Opfern in der komplizierten israelischen Realität, verbunden mit charakterlichen Verwerfungen und psychischer Versehrtheit, die besonders im Fall des ausgesetzten Babys tief unter die Haut gehen.
Der Autor versteht es meisterlich, fast schon gelassen, Spannung und eine Atmosphäre von Bedrohlichkeit aufzubauen, derer man erst gewahr wird, wenn man sich ihr nicht mehr entziehen kann.
Und ganz am Ende des Romans offenbart sich neben Dror Mishanis dramaturgischer Größe nicht nur der kleinste gemeinsame Nenner all dessen, sondern zugleich ein Hoffnungsschimmer. Das Baby, das trotz allem ein Leben vor sich hat, erhält von den Schwestern den Namen Emunah - Vertrauen.
Lesenswert!

Bewertung vom 17.02.2022
Mrs Potts' Mordclub und der tote Nachbar / Mord ist Potts' Hobby Bd.1
Thorogood, Robert

Mrs Potts' Mordclub und der tote Nachbar / Mord ist Potts' Hobby Bd.1


sehr gut

Englische Mordclubs schießen derzeit aus dem Boden wie Pilze im Spätsommerregen. Literarische, versteht sich, und zum Glück sind auch ein paar wunderbare dabei. Ganz neu im Bunde der Hobbyermittler, auf die man sich regelmäßig freuen kann: Mrs Judith Potts, exzentrische 77jährige Kreuzworträtselautorin und Besitzerin eines Herrenhauses mit Themse-Zugang im idyllischen Marlow. Beim täglichen Nacktschwimmen im Fluss wird sie (Ohren)-Zeugin des Mordes an ihrem Nachbarn.
Als die Polizei ihr nicht glaubt, stellt sie eigene Nachforschungen an und entdeckt des Nachbars Leiche in seinem Garten. Doch eine Frau allein macht noch keinen Club. In der zupackenden Hundesitterin Suzie Harris und der bis dato von Putz- und Backneurosen erfüllten Pfarrersgattin Becks Starling, auf die Mrs Potts während ihrer Recherchen stößt, findet sie zwei so originelle wie unersetzliche Sidekicks.
Das staatsdienende Gegenüber erscheint in Gestalt der sympathischen und etwas überforderten DS Tanika Malik, die in Ermangelung eines richtigen Inspectors mit den Ermittlungen betraut wird und sich nur kurz gegen das pfiffige Trio stemmt. Und das ist auch gut so, denn es bleibt nicht bei dem einen Mord und vereinte Kräfte und sämtliche verfügbaren grauen Zellen sind gefragt, bis die Geschichte nach einigen Kurven in ein spannendes und rasantes Finale mündet.
Ich habe die Geschichte von der ersten Zeile an genossen, obwohl (oder weil?) Robert Thorogood hier auf bewährte Erzählstrukturen, das genreübliche kauzig-sympathische Personal und das so beliebte "typisch englische" Setting zurückgreift. Doch die Geschichte selbst ist überraschend und intelligent konstruiert, die Charaktere alles andere als flachgezeichnet. Am Ende hat jede der drei Frauen eine angemessene Entwicklung durchgemacht, und es wird weit mehr gelüftet als das Mord-Geheimnis. Insgesamt geht es ziemlich turbulent und abenteuerlich unrealistisch zu. Wer etwas anderes erwartet, sollte nicht zu diesem Genre greifen. Mit Mrs Marple, Poirot oder anderen Klassikern haben die Mordclubs von heute nicht mehr viel gemein, was der Lesefreude aber nicht abträglich ist.
Vorfreude auf Teil 2!

Bewertung vom 06.11.2021
Die Übersetzerin (eBook, ePUB)
Lecoat, Jenny

Die Übersetzerin (eBook, ePUB)


sehr gut

Wüsste man nicht, dass dies eine durch und durch wahre Geschichte ist, würde man sie kopfschüttelnd als zu unrealistisch ablehnen. So ging es mir jedenfalls, bevor ich nach den ersten Kapiteln zu recherchieren begann und überrascht feststellte, dass nicht einmal die Namen der Hauptfiguren verfremdet wurden. Sämtliche Akteure gab es wirklich. Was sie erlebten, ist verbürgt und nimmt einem den Atem.
Als alternative comedian ist Jenny Lecoat in Großbritannien eigentlich besser bekannt. Als Kind der Kanalinsel Jersey hat die Fernsehautorin Anfang des Jahres ihren Debütroman "Hedy's War" vorgelegt, der im September dank der Übertragung von Anke Kreutzer unter dem Titel "Die Übersetzerin" auch auf Deutsch erschien.
Der ist alles andere als komisch und beleuchtet ein Kapitel, das selbst im Vereinigten Königreich als wenig bekannt gilt: Die Besetzung der Kanalinseln durch die Deutschen im 2. Weltkrieg.
Hierhin flüchtet die Jüdin Hedwig Bercu 1938 aus Wien und kommt bei ihrem guten Freund Anton Weber unter, der auf Jersey als Bäcker arbeitet. Als die Deutschen 1940 die Insel besetzen, müssen sich alle Juden registrieren lassen, wobei die örtlichen Behörden eine diensteifrige Rolle und den Deutschen in die Hände spielen. Trotz heller Haare, guter Geschichte und ungeklärtem Status bekommt Hedy "zur Sicherheit" ein rotes J in den Pass gestempelt. Doch die Besatzungsmacht braucht dringend Übersetzer und drückt deshalb ein Auge zu, als Hedy - gleichermaßen von Selbstverachtung wie Überlebenswillen erfüllt - für die Stelle vorspricht.
Während auf der Insel alles Lebensnotwendige knapp wird, verliebt sich ausgerechnet einer der Offiziere in die junge Frau, die die Gefühle schließlich erwidert. Ihre heimliche Liebe erhellt das Dunkel, aber auch für Hedy kommt der Tag des Untertauchens. Ihr Überleben hängt nun allein von Kurt und der Insulanerin Dorothea ab, die wegen der Heirat mit Anton unter den Einheimischen als "Jerrybag" verschrien ist...

Dies ist eine der Geschichten, die vermutlich nicht in den Kanon der Weltliteratur eingehen, vielleicht aber in den der Lieblingsbücher. Geschichten, die man in einem Rutsch liest und die beeindrucken, weil sie authentisch und persönlich sind. Jenny Lecoat hat viel Herzblut und Recherchearbeit in diesen Roman gesteckt, hat die Inselbewohner und ihr Erinnerungsarchiv befragt und auf diese Weise so viel mehr als die historischen Fakten zwischen die Zeilen gebannt, fernab von Schwarzweißmalerei und einseitigen Schuldzuweisungen.
Die Autorin erzählt direkt, packend und chronologisch, einer raffinierten Dramaturgie bedarf es nicht. Die Protagonisten sind vielschichtig und glaubwürdig, obwohl Jenny Lecoat hier viel fiktionalisieren musste. Die Dialoge geraten mitunter etwas holprig, doch darüber kann man leicht hinweglesen, während man dem Ende entgegenfiebert. Die wahre Geschichte endete erste vor kurzem: Dorothea Weber, geborene Le Brocq, wurde in Yad Vashem zur Gerechten unter den Völkern ernannt.

Bewertung vom 06.11.2021
Das Haus auf dem Wasser (eBook, ePUB)
Elon, Emuna

Das Haus auf dem Wasser (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

"Vater. Fragten ihn die anderen Kinder nach seinem Vater, erfand er Antworten für sie, die sich später als seine ersten Geschichten herausstellen sollten."
Der berühmte israelische Schriftsteller Joel Blum ist auf Lesereise in Amsterdam. Jene Stadt, in der er geboren und aus der er vertrieben wurde und die niemals zu besuchen er seiner Mutter Sonia einst schwören musste. Diese ist mittlerweile verstorben, er selbst bereits Großvater. Was können die Geister der Vergangenheit ihm noch anhaben? Doch im Jüdischen Museum macht Joel eine erschütternde Entdeckung. In Dauerschleife laufende historische Aufnahmen zeigen eine jüdische Hochzeit. Unter den Gästen erkennt er seine Mutter und den Vater, den er nur von Fotografien kennt, sowie seine ältere Schwester Nettie. Im Arm der Mutter liegt ein blondes Baby, das ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist - ihm jedoch kein bisschen ähnelt. Bei seiner Rückkehr nach Israel gesteht Nettie ihm (nicht uns Lesenden) das Geheimnis seiner Herkunft.
Drei Wochen später kehrt Joel nach Amsterdam zurück, quartiert sich gegenüber dem einstigen Elternhaus in einem kleinen Hotel ein und schreibt den Roman seines Lebens...

Emuna Elon ist mit "Das Haus auf dem Wasser" - Deutsch von Barbara Linner @aufbauverlag - nach meinem Empfinden ein großer Wurf und eine Art von Holocaustliteratur gelungen, wie ich sie noch nicht gelesen habe. Sprachschön und literarisch anspruchsvoll, die Figuren psychologisch tief ausgeleuchtet, das historische Geschehen sorgsam recherchiert. Hinzu kommt eine Komposition, die in ihrer Idee - Roman im Roman - nicht neu, doch außergewöhnlich konsequent ausgearbeitet ist, um die zentrale Botschaft zu transportieren: die Vergangenheit ist nicht vergangen. Die historische Zeitebene und Joels Gegenwart wechseln in immer kürzeren Sequenzen, um schließlich innerhalb eines Satzes ineinander zu fließen. So geraten Sonia und ihre Kinder im Amsterdam des Jahres 1940 in einen Eisregen, aus dem sich Joel am Ende des Satzes in die benachbarte Kneipe rettet, in der Sonia einst aushalf, um sich und die Kinder trotz des Arbeitsverbots für Juden am Leben zu halten.

Nicht nur stilistisch greifen Vergangenheit und Gegenwart ineinander. Während Joel die Lücken zwischen den in Archiven recherchierten Informationen mit Fiktivem überbrückt, erleben wir seine Verwandlung. Uralte Erinnerungen von dunklen Räumen, kalten, ratternden Böden, einer tiefen Verlassenheit neben der scheinbar teilnahmslosen Mutter tauchen an die Oberfläche und ergeben plötzlich Sinn, ebenso wie die Tatsache, dass seine Mutter in Israel jeden Kontakt mit anderen holländischen Juden mied. In Amsterdam ereilen Joel Schübe von Paranoia, als würde er all das Verdrängte im Zeitraffer nacherleben.
"Er weiß, dass es unlogisch ist, doch er ist sich sicher, dass ihn von allen Seiten hasserfüllte Augen anstarren. Dass alle auf ihn deuten, sich ihn gegenseitig zeigen und einander in Holländisch zurufen: Da ist ein Jude, da ist ein Jude, vernichtet den Juden, vernichtet ihn! "
Mehr und mehr verliert Joel - überorganisiert und stets auf emotionale Distanz bedacht - die Übersicht, zugleich aber auch den Panzer, der sein Herz umschließt als ein unfreiwillig übernommenes Erbe.
Obgleich man als Lesende/r sehr früh ahnt, worauf sie hinausläuft, folgt man Joels Suche atemlos bis zur letzten Zeile. Ein Buch, das berührt, erschüttert, so viele kluge Sätze birgt und gleichzeitig eine bislang wenig beleuchtete Geschichte erzählt - die der versteckten jüdischen Kinder, die aufgrund ihrer veränderten Identität auch im seltenen Fall der Rückkehr ihrer Eltern nicht zu diesen zurückfanden. Unbedingte Leseempfehlung!

Bewertung vom 30.09.2021
The Stranger Times Bd.1
McDonnell, C. K.

The Stranger Times Bd.1


ausgezeichnet

Selten so gut amüsiert ! Absolute Leseempfehlung!

Hannah Willis ist nach übler Trennung gezwungen, ihre Brötchen selbst zu verdienen. Verzweifelt genug, sich bei der "Stranger Times" zu bewerben, dem Käseblatt für alles Paranormale, trifft sie just in dem Augenblick in der verfallenen alten Kirche ein, die als Redaktion dient, als sich einer der Reporter wie jeden Montag vom Dach zu stürzen droht. Im Inneren eine entnervte Büroleiterin samt aufmüpfig-hochbegabter Praktikantin. Und Vincent Banecroft, ein einst genialer Redaktionsleiter, der nach glorreichen Zeiten an der Fleetstreet mehr der Whiskeyflasche auf den Grund geht als den Hinweisen seiner schon mal als "Irre, Bekloppte und Verrückte" bezeichneten Informanten und außerdem zu Wutausbrüchen neigt. Wortgefechte, Gläser und sogar Kugeln zerfetzen die abgestandene Luft im Haus der "Alten Seelen".
Doch bevor Hannah realisiert, in welchen falschen Film sie hier geraten ist, taucht in der Stadt die erste Leiche mit unerklärlichen Verletzungen auf. Aus dem Wahnsinn wird Wahrheit. Schnell ist klar, hier sind uralte Kräfte und Kreaturen am Werk. Als es dann auch noch einen der Ihren trifft, muss sich das Team zusammenreißen und echten Investigativjournalismus betreiben...

"The Stranger Times" von C.K. McDonnell, heute erschienen @eichbornverlag, wird mit Sicherheit viele Leser finden - der Roman ist ein Mix aus Fantasy und Cosy Crime bzw. eine Parodie all dessen und sprüht nur so vor Dialogwitz, Situationskomik und liebenswert-schrägen Charakteren. Und das vom Prolog bis zur letzten Zeile des (lustig-morbiden) Nachworts.
Kein Wunder, der Autor ist ein erfolgreicher irischer Stand-up-Comedian, der sein Genre mehr als beherrscht und bereits als Autor der Dublin-Trilogy berühmt wurde, von der er mehr als 200.000 Exemplare verkauft hat.
Dank der spritzigen, kongenialen Übersetzung durch André Mumot geht auch im Deutschen keine der treffsicheren Pointen verloren. (Vielen Dank für dieses Lesevergnügen, und das mit dem Eimer tut mir echt leid!!)
Auch das Cover samt rabenschwarzem Buchschnitt ist ein echter Zugreifer. Zwischen den Kapiteln der genial-absurd geplotteten Story finden sich als zusätzliches Lachmuskelfutter Lesehäppchen aus der "Stranger Times", die erst am Ende ihrer eigentlichen Geheimmission gewahr wird.
Das furiose Finale wartet mit genau dem Cliffhanger auf, den ich mir heimlich erhofft hatte. Und nun - Vorfreude auf Teil 2!

Bewertung vom 18.09.2021
Russische Botschaften
Musharbash, Yassin

Russische Botschaften


sehr gut

Gerade als die junge Journalistin Merle Schwalb ins Investigativressort des „Globus“ wechselt, schlägt neben ihr ein junger Mann aufs Neuköllner Straßenpflaster. Balkonsturz, sofort tot. Laut Polizeibericht jedoch liegt er schwerverletzt im Krankenhaus, Merles Instinkte sind geweckt. Schnell findet sie heraus, dass es sich um den (sehr wohl toten) Russen Anatoli Nowikow handelt. Und ebenso schnell taucht in den Händen eines befreundeten Reporters der „Norddeutschen Zeitung“ eine dubiose Gehaltsliste des russischen Geheimdienstes (?) mit deutschen Zuträgern auf, darunter die Namen der beiden Chefredakteure. Journalisten beider Zeitungen bilden ein geheimes Rechercheteam und folgen den Spuren.
Yassin Musharbashs Hauptstadtthriller „Russische Botschaften“ @kiwi_verlag, mit dem er uns als Insider ins Milieu des Investigativjournalismus führt, lässt einem nicht unbedingt den Atem stocken. Doch er ist durchweg straff, spannend und kenntnisreich erzählt, hat einige überraschende Wendungen parat und besticht vor allem durch seine Authentizität. Dafür sorgen nicht nur die atmosphärischen Beschreibungen von Redaktionskonferenzen und kleinteiliger Recherchearbeit, sondern auch realistische und leicht nachzulesende Beispiele für das Romanthema:
Es geht um die vom russischen Präsidenten mehr oder weniger offen ausgeschriebene Zersetzung der westlichen Demokratien durch Geheimdienste wie auch (einfluss)reiche Privatpersonen und deren Seilschaften, die sich dadurch Ansehen im Kreml erhoffen. Die Methoden dieser Player sind mittlerweile kein Geheimnis mehr. Mit gezielter Desinformation und Propaganda durch gekaufte Journalisten, Blogger, Influencer, Politiker wie auch cyberkriminelle Machenschaften wie Trollfabriken, Kreml-Bots oder Fake-Accounts in den sozialen Medien werden Wahlen beeinflusst, Existenzen zerstört, Verbrechen vertuscht oder erfunden.
Das bekommt auch unser Journalistenteam zu spüren, das den Angriffen der Gegenseite bald schutzlos ausgeliefert ist, was sie selbst und ihr Ringen um ehrliche, belastbare Informationen in ernste Gefahr und vor allem in Zeitnot bringt…Apropos Figurenensemble - dieses ist recht groß geraten, so dass ihm die Feinzeichnung der Charaktere, zu denen man durchweg auf Distanz bleibt, letztlich zum Opfer fällt. Selbst die toughe Merle, die sich in der Männerdomäne Redaktion immer stärker durchzusetzen weiß, wirkt am Anfang genauso kühl wie am Ende. Dieses ist übrigens offen. Damit muss man leben oder auf eine Fortsetzung hoffen. Leseempfehlung!

Bewertung vom 30.07.2021
Wild Card
Thompson, Tade

Wild Card


sehr gut

Nach seiner Flucht vor 15 Jahren kehrt der Ich-Erzähler Weston Kogi aus London in sein westafrikanisches Heimatland Alcacia zurück, denn seine Tante ist gestorben. Nicht nur das Klima schlägt ihm heiß und feindlich entgegen. Ihn nervt dieses Land, in das man sich schon am Flughafen seinen Weg freikaufen muss, der Überlebenskampf in den staubigen Straßen, das Elend, die allgegenwärtige Gewalt. Er will schnell wieder weg, und ich als Lesende wollte das unbedingt auch.
Schon zu Beginn des Romans stürzt Tade Thompson sein Publikum so eloquent wie brachial aus der Komfortzone. Doch der subtile Humor, der dann während der Beerdigung anklingt, hat mich bleiben und neugierig werden lassen.

Dort trifft Weston, der sich in London als Wachmann durchschlägt, auf seinen einstigen Highschool-Widersacher Church, dem er weismacht, er arbeite als Detective bei der Metropolitan Police. Dumm gelaufen, denn noch bevor er Rückflug sagen kann, findet er sich zwischen den Fronten zweier Guerillatruppen wieder, die ihn beauftragen, den Mord an einem Konsenspolitiker aufzuklären bzw der jeweils anderen Seite in die Schuhe zu schieben.
Die Wild Card ist damit zugestellt, eine Flucht unmöglich, das Honorar berauschend hoch. Und außerdem ist da noch seine schöne Ex-Freundin Nana...

Was dann folgt, ist spannend, vielschichtig, authentisch und wendungsreich erzählt, doch nichts für Zartbesaitete. Obwohl Thompson klug reflektiert, tief schürft und Themen wie das koloniale Erbe, Rassismus und Korruption behandelt, lassen brutales Kidnapping, bluttriefende Morde, unverblümte Gewaltschilderungen einen nur schwer Atem holen.
Dafür wiederum sorgen geistreiche Dialoge und der selbstironische Erzählton unseres sympathischen Antihelden. Der muss einiges ertragen, bevor die alten Überlebensinstinkte in ihm erwachen und er recht clever beginnt, die Fäden in die Hand zu nehmen. Wird es ihm gelingen, den Fall aufzuklären und seine Peiniger gegeneinander auszuspielen? Und wer wird er selbst am Ende sein?
Dieses lässt Raum für eine Fortsetzung, doch ob ich ein zweites Ticket nach Alcacia löse, ist noch unklar.
(Rezensionsexemplar)