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Hamburg

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Insgesamt 21 Bewertungen
Bewertung vom 27.10.2020
Männer in Kamelhaarmänteln
Heidenreich, Elke

Männer in Kamelhaarmänteln


ausgezeichnet

So emotional kann es also sein, alte Nachthemden zu kaufen.

Erwartet (und ehrlich gesagt auch erhofft) hatte ich mir ein kleines, feines Büchlein über die Mode mit Bezug zu bekleidungswissenschaftlichen Hintergründen. Das große Aaaah und Oooooh, Moooode.

Wie angenehm wurde ich doch überrascht, dass dieser hübscher Leseband eine ausgewählt bezaubernde Sammlung sehr persönlicher Geschichten von Elke Heidenreich enthält, in denen es die kleinen großen Momente ihres Lebens sind, die sie in Bezug setzt zu dem, was den Menschen kleidet.

Aufgeteilt nach Farben arbeitet sie in den Kapiteln einzelne Fragmente zu lebendigen Augenblicken ihres Lebens (oder dem anderer Personen) aus. Kann sich nicht jeder noch an das erhebende Gefühl im ersten Abendkleid erinnern oder an diesen Pullover des untreuen Ex, den man geliehen und nie zurückgegeben hat, weil man zumindest diesen einen kleinen Fetzen behalten wollte? Heidenreichs Geschichten gehen oft noch darüber hinaus, tanzen zu Coco Chancel, Ravel oder Gott, der Freundin, die an Marie Kondo verzweifelt und zurück in die eigene kleine Welt, in der Kamelhaarmäntel nur einer einzigen Person auf der ganze weiten Welt zu stehen vermögen.

Man kann sie sich geradezu vorstellen, wie sie ihre Erinnerungen hervorkramt wie zeitweilig vergessene kleine Schätze und in ihnen badet, ihnen nachspürt. Den Duft der Lederjacke eines vergangenen Geliebten wiederaufleben lässt oder das Gefühl des zarten Stoff des Lieblingskleides der Mutter in den Händen spürt. Die Geschichten sind sehr persönlich, aber der Ton sehr offen und lädt uns fremde Leser ganz selbstversändlich ein in dieses kleine Reich der Erinnerungen, das nicht unseres ist, aber für kurze Zeit dazu wird. Zauberhaft, wie Heidenreich es trotzdem schafft, den Leser mitfühlen zu lassen. Auf der einen Seite liest man sich in belustigtes Schnauben, die nächste nimmt uns mit in traurige, dunkle Stunden, da geht es auch schon weiter zu einer Geschichte, die uns nachdenklich macht und lange nachhallen wird.

DIe Vielfältigkeit der Geschichten sorgt für kurzweiliges, aber überhaupt nicht banales Lesevergügen. Ich gebe zu, alle Geschichten an zwei Abenden hintereinander verschlungen zu haben, doch bin ich fast traurig drum. Tastet euch ruhig nach und nach vor, wie in einer Schachtel kostbarer Pralinen, von denen man sich jede einzeln auf der Zunge zergehen lässt.

Nein, man muss absolut keine Ahnung von Mode haben, um Freude zwischen den Seiten zu finden, ja nicht einmal Interesse an ihr. Das ist es es, was dieses Buch ausmacht. Es gibt hier keine WIchtigtuerei, kein Palaver, keine Belehrungen. Es ist das Wohlwollen in der Erzählerstimme, das für mich den Wert dieses Buchs ausmacht - wobei natürlich die gewisse Scharfzüngigkeit nicht fehlen darf

Mode ist nicht wichtig, nicht weltbewegend, ja ja ja. Das ist alles richtig und so gerne verurteilen wir andere dafür, dass sie ein Gewese um ihre Kleidung machen, ihr Äußeres, ach, wie profan. Gerne zeigen wir uns als unbeeindruckt von modischen Neuheiten und finden darin unser standhaftes Selbst, das sich keinen Zwängen beugt.

Vielleicht müssen wir uns nahc dieser Lektüre selbst einmal an die Nase packen und mitnehmen, was man aus dieser Prosa mitnehmen kann.

Frau Heidenreich zeigt uns ganz nebenbei, worum es eigentlich in der Mode geht: Darum, sich wohlzufühlen, sich auszudrücken, einander zu begegnen und sich voneinander zu lösen, man selbst zu sein oder auch jemand anderes, wenn man das gerade möchte. Mode deckt alle Facetten des Lebens ab. Wir müssen nur zulassen, sie wahrzunehmen und für uns zu nutzen. Mode kann Freiheit sein, Revolte, ein Zugeständnis, sie kann eine Liebeserklärung ersetzen oder eine Erinnerung wachhalten, Rache bedeuten und Triumph. Eine Nebensächlichkeit, aber, und das nimmt man hier mit: eine schöne.