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Reiseweise

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Insgesamt 39 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2024
Das Philosophenschiff
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff


sehr gut

Erinnerungen einer alten Dame

Die Architektur-Professorin Anouk Perleman-Jacob, einhundert Jahre alt, beschließt, einem Schriftsteller ihre Lebensgeschichte zu erzählen und wie sie nach den Wirren der russischen Revolution mit ihren Eltern auf Geheiß von Lenin und Trotzki ausgebürgert wurde. Warum erzählt sie es genau diesem Schriftsteller? Weil er einer sei, dem man glaube, wenn er lügt und nicht glaube, wenn er die Wahrheit schreibt - so wisse am Ende niemand genau, was wahr sei und das kommt ihr entgegen, da ihr Geschichte so unwahrscheinlich klingt.
In diesem Roman verschwimmen folglich Wahrheit, Unwahrheit und Halbwahrheiten mit realen historischen Ereignissen und Ausgedachtem. Man hört den selten linearen Erinnerungen der alten Dame zu und liest regelmäßig in Wikipedia nach, ob diese oder jene Person real war - denn es treten neben bekannten Namen wie Trotzki eine Menge weiterer Persönlichkeiten der bolschewikischen Revolution auf. Und dann noch eine, mit der man nicht rechnet…

Bewertung vom 23.12.2023
Hab ich noch Hoffnung, oder muss ich mir welche machen?
Raether, Till

Hab ich noch Hoffnung, oder muss ich mir welche machen?


ausgezeichnet

Ein sehr persönliches Buch

In diesem neuen kleinen Büchlein von Till Raether geht es um eines der größten Wörter - um Hoffnung. In seinem typischen Stil schreibt Raether sehr persönlich und offen, reflektiert, manchmal zögerlich und immer sehr ehrlich über Dinge, die ihm Hoffnung machen und Dinge, die ihm Hoffnung rauben. Dabei geht es sowohl um die Klimakrise als auch um seine eigene Depression oder seine Lieblingsgedichte. Einige Kapitel stimmen sehr hoffnungsvoll, andere scheinen einem eher die Hoffnung zu nehmen und man erkennt viele seiner Gedanken und Empfindungen wieder. Er geht der Frage nach, wie und warum man sich eigentlich Hoffnung machen kann, wenn man doch rational sieht, dass es immer weniger Gründe dafür gibt oder ob man sie sich gerade deswegen selber machen soll. Denn das ist die Kernbotschaft: Hoffnung muss man machen, am besten mit anderen zusammen und im Kleinen genau wie im Großen.

Bewertung vom 19.12.2023
Die Verletzlichen
Nunez, Sigrid

Die Verletzlichen


sehr gut

Ein unterhaltsamer Gedankenstrom

Eigentlich geht es in diesem Roman um nichts. Er hat kaum eine Handlung und die Erzählerin bleibt namenlos. Aber trotzdem - es entspannt sich eine Geschichte, die man Seite um Seite gerne liest und sich ab und zu fragt, wie man eigentlich von dem einen Thema zum anderen kam, ohne sich je daran zu stören. Man hört quasi der Erzählerin zu, wie sie über ihr Leben im Lockdown 2020 spricht, sich an ihre Jugend erinnert, mit ihren Freundinnen telefoniert, Zitate ihrer Lieblingsautor:innen einpflegt, über Haustiere sinniert. Sie flicht Verweise auf reale Ereignisse und sogar bekannte YouTube-Videos so geschickt ein, dass der Roman sehr autobiographisch wirkt. Das Pandemiethema ist so gut wie in kaum einem anderen aktuellen Roman in die Handlung eingebunden.
Der Papagei, der auf dem Cover abgebildet ist, kommt selbstverständlich auch im Roman vor, auch wenn er eher eine Nebenrolle spielt.

Bewertung vom 03.12.2023
Der Spion und der Verräter
Macintyre, Ben

Der Spion und der Verräter


ausgezeichnet

Wie ein Spionagefilm!

In diesem realen Thriller erzählt Autor Ben Macintyre die unglaubliche Geschichte des Doppelagenten Oleg Gordijewskis, der als sowjetischer KGB-Spion in Kopenhagen und London operiert hat und dann zum britischen Geheimdienst überlief, während er gleichzeitig Karriere im KGB machte. Sein Weg durch die Ränge des sowjetischen Spionagedienstes und seine klandestine Tätigkeit für den MI6 werden chronologisch nachgezeichnet - bis hin zu dem dramatischen Finale, denn er ist nicht der einzige Doppelagent des Kalten Krieges und der KGB ist ihm auf der Spur…

Oleg Gordijewski ist vermutlich kaum jemandem ein Begriff und doch scheint er eine zentrale Rolle im Kalten Krieg gespielt zu haben, da sein Geheimnisverrat auf verschlungenen Wegen zur Annäherung der Weltmächte geführt hat. Macintyre beschreibt mit hohem Tempo und hoher Spannung die heute teilweise abstrus anmutenden Wege, mit denen Kontakte zwischen Spionen aufgenommen wurden (Schokoriegel und Kreidestriche spielen eine besondere Rolle…) und das Buch wirkt dadurch teilweise wie ein Spionagefilm der besten Sorte. Ein spannendes Werk!

Bewertung vom 25.11.2023
Der Spurenfinder
Kling, Marc-Uwe;Kling, Johanna;Kling, Luise

Der Spurenfinder


sehr gut

Der Spurenfinder Elos von Bergen und seine Kinder Ada und Naru leben in Friedhofen. In Friedhofen geschieht nichts. Eigentlich. Doch dann entspinnt sich eine unerwartete Geschichte, die sie durch das halbe Land führt und auf Gestaltwandler, Feuerläuferinnen, Schwertkünstler und rachsüchtige Herzöge treffen - und einen verworrenen Kriminalfall lösen lässt.

Dieser Roman von Marc-Uwe Kling ist ganz anders als seine bisherigen Werke, auch der Schreibstil ist anders und das Thema ohnehin. Beeindruckend ist, dass er ihn zusammen mit seinen beiden zwölfjährigen Töchter verfasst hat. Viele unterschiedliche Ideen, vielleicht etwas zu viele, wurden in der Geschichte verwendet. Die Charaktere sind meist überzeugend, auch wenn einige nicht ganz zu Ende gezeichnet scheinen - im wahrsten Sinne des Wortes, denn hübsche Zeichnungen vervollständigen das Buch, auch wenn sie nicht immer ganz mit dem Geschrieben korrespondieren. Insgesamt aber ein nettes Fantasy-Einstiegswerk für junge Jugendliche ab 10.

Bewertung vom 12.11.2023
Atalanta
Saint, Jennifer

Atalanta


sehr gut

Neuer Klassiker

Atalanta ist eine der wenigen Heldinnen, die wir aus den antiken Sagen kennen. Als Zögling der Jagdgöttin Artemis wächst sie in den Wäldern Arkadiens zur schnellsten Läuferin und besten Jägerin heran, bis Artemis sie beauftragt, die Argonauten unter Jason auf der Suche nach dem Goldenen Vlies zu begleiten.
Jennifer Saint erzählt die Geschichte von Atalanta auf eine recht klassische Weise, ohne die vielen inneren Monologe, wie sie zum Beispiel für Madeleine Millers Romane typisch sind. Saints Version der Sage ist eher auf die Handlung fokussiert, wobei sie an einigen Stellen ihren eigenen Fokus setzt und den bekannten Sagenstoff ausschmückt, an anderen Stellen aber auch verkürzt. Immer steht Atalanta im Zentrum der Geschichte. An einigen Stellen hätte man noch gern mehr über Atalantas Beweggründe erfahren und auch einige eigentlich spannende Nebencharaktere wie Medea oder Meleagros bleiben etwas unterkomplex beschrieben. Insgesamt aber eine gut zu lesende Version der Atalanta-Sage.

Bewertung vom 23.10.2023
Das Gemälde
Brooks, Geraldine

Das Gemälde


ausgezeichnet

Ein starker Roman!

Im englischsprachigen Original heißt der Roman „Horse“, und dieser Titel passt viel besser als das deutsche „Gemälde“. Denn es geht nicht (nur) um ein Gemälde - eigentlich sogar um mehrere Gemälde - sondern um Lexington, das wohl beste amerikanische Rennpferd aller Zeiten. In Zeitsprüngen zwischen dem 19., 20. und 21. Jahrhundert erzählt die Autorin spannend und kenntnisreich die Geschichte von Lexington und seinem schwarzen Betreuer Jarret, die gewissermaßen die historischen Protagonisten darstellen. In der Jetztzeit übernimmt diese Rolle Theo, ein junger schwarzer Doktorand an der Georgetown University, der zufällig auf ein verschollenes Gemälde eines Pferdes stößt.

Der Autorin Geraldine Brooks gelingt es gekonnt, die Atmosphäre des Pferderennsports in den Südstaaten vor dem amerikanischen Bürgerkrieg einzufangen und sie schildert Rassismus, Sklaverei, Wetten und die vielschichtigen, widersprüchlichen Charaktere dieser Welt überzeugend. Ein lesenswertes Buch, auch für Menschen, die mit Pferden eigentlich nichts am Hut haben.

Bewertung vom 23.10.2023
Das Klugscheißerchen
Kling, Marc-Uwe

Das Klugscheißerchen


ausgezeichnet

Lustig und altklug

Tina und Theo Theufel - mit einem bzw. zwei TH im Namen, bitte! - dürfen noch auf dem Dachboden spielen, nachdem sie ihre Eltern - schon sehr alt, mit komischem Geschmack, denn wer bitte isst eklige Bete, wenn es auch Kroketten hätte geben können? - erfolgreich genervt haben. Als sie beim Spielen die Zahl der Weltmeere nicht korrekt nennen, erscheint das Klugscheißerchen, um sie zu verbessern. Dieses Wesen erscheint nur Menschen, die wirklich gut klugscheißern können. Ob es die Eltern auch sehen können…?

Der typische Sprachwitz von Marc-Uwe Kling kommt auch in dieser kurzweiligen Geschichte zum Tragen, auch wenn es nicht ganz so viel Sprachwitz gibt wie beispielsweise in den Geschichten über das Neinhorn. Die Zeichnungen sind aber auch gelungen und treffen den besserwisserischen Gesichtsausdruck der Kinder ebenso gut wie den erschöpften der Eltern.

Bewertung vom 22.10.2023
Büchermenschen
Vernet, Stéphanie;de Cussac, Camille

Büchermenschen


ausgezeichnet

Ein Schmuckstück!

Dieses aufwendig gestaltete Werk - ein Teil Bilderbuch, ein Teil Sachbuch - ist ein wahres Schmuckstück für alle, die gern lesen und vor allem für die, die gerne wissen wollen, welche Schritte passieren, bevor man tatsächlich ein schönes Buch in den Händen hält. Die liebevollen Zeichnungen illustrieren die Produktionsschritte eines Buches ebenso wie dessen Nutzung und die Texte bieten viel Hintergrundwissen über die Entstehung von Büchern - und einiges an netten, kleinen Anekdoten. Da dies durchaus komplexes Fachwissen ist, ist das Buch nichts für sehr junge Leser:innen, aber für solche mit etwas Erfahrung und besonders viel Begeisterung fürs Lesen.
Die Übersetzung aus dem Französischen ist hervorragend und gut an den deutschsprachigen Markt angepasst, z.B. bei den Verweisen auf deutsche Buchpreise oder die Besonderheiten deutscher Bibliotheken.

Bewertung vom 03.10.2023
Baustellen der Nation
Banse, Philip;Buermeyer, Ulf

Baustellen der Nation


ausgezeichnet

Deutschlands dringendste Reformen

In ihrem Buch, das auf den Themen und Diskussionen des bekannten Podcasts basiert, schildern die beiden Autoren ebenso schlüssig wie kenntnisreich, welches die drängendsten Reformbedarfe des Landes sind und wie man ihnen begegnen könnte. Dabei reicht die thematische Breite von der Föderalismusreform über die Ausfinanzierung und Umstrukturierung der Deutschen Bahn bis hin zum Bürokratieabbau. Jedes Problem wird erläutert, mit einer Vielzahl von Zahlen unterfüttert und mit den Reformvorschlägen bekannter Politik-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler:innen ergänzt, um dann eigenen Vorschläge zu formulieren.

Dabei werden, da es sich ja um die „Baustellen der Nation“ handelt, vor allem jene Probleme betrachtet, die durch Veränderungen im politischen, wirtschaftlichen und bürokratischen System Deutschlands behoben werden müssen. Teilweise wird weniger, teilweise mehr staatliches Eingreifen gefordert. Teilweise stimmt man den Ideen zu, teilweise nicht - immer jedoch sind sie gut recherchiert und stimmig argumentiert. Ein interessanter Diskursbeitrag!