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GeSchwaetz

Bewertungen

Insgesamt 30 Bewertungen
Bewertung vom 12.10.2022
Lektionen
McEwan, Ian

Lektionen


ausgezeichnet

Die Lebensrevue eines Mannes ummantelt von 100 Jahren Jahren historischer Geschichte.
Am Beispiel der Lebens- und Familiengeschichte des Roland Baines, eines einfachen Mannes und alleinerziehenden Vaters eines Sohnes, erzählt Ian McEwan sehr ausführlich und spannend über die großen Ereignisse eines Jahrhunderts. Er zeigt auf wie sich das persönliche Leben der Menschen und die Auswirkungen politischer Entscheidungen, Umweltkatastrophen u.a. gegenseitig beeinflussen.
Nach der Lektüre fragte ich mich: Entstand dieser Roman aus Wut, Verzweiflung und Unverständnis darüber, dass die Menschen nichts aus der historischen Vergangenheit lernen und Gesellschaften und die Umwelt immer weiter zugrunde richten? Sollte das Buch eine Bestandsaufnahme sein, eine Zwischenbilanz, um aufzuzeigen, seht her, wir wissen über alles bescheid und handeln dennoch wie ignorante Egoisten, die entweder völlig desinteressiert sind oder aus Angst vor der Zukunft die Hände in den Schoß legen, in der Hoffnung, es wird schon nicht so schlimm werden?
Ist das unsere „… ein neues Zeitalter der Unvernunft.“? Denn wir wissen, Geschichte wiederholt sich und geht uns auch heute etwas an.
Bei all dem verständlichen Pessimismus, verwehrt Ian McEwan uns dann doch nicht einen kleinen versöhnlichen Hoffnungsschimmer, wenn wir bereit sind ein paar Lektionen zu lernen und Verantwortung für uns selbst und andere zu übernehmen.
Ein Roman, den man sehr empfehlen kann.

Bewertung vom 20.07.2022
Eine Feder auf dem Atem Gottes
Nunez, Sigrid

Eine Feder auf dem Atem Gottes


ausgezeichnet

Ein Leben in der eigenen Familie wie unter Fremden.

Von den Büchern „Was fehlt dir“, „Der Freund“ und „Sempre Susan“ hat mir „Eine Feder auf dem Atem Gottes“ von Sigrid Nunez am besten gefallen.

Dieser sehr poetische Titel scheint so gar nicht zum Erzählten zu passen.
Die Autorin beschreibt wie ihre Mutter sich manchmal in Situationen, in denen sie zu verzweifeln schien, fragte, wie bin ich nur hierher geraten (in diese Ehe, in dieses Land, in die jeweilige Situation), als sei sie wie eine Feder dorthin geweht worden. (Inspiriert vom Zitat: „Eine Feder auf dem Atem Gottes“ von der Heiligen Hildegard von Bingen.)

Es fühlt sich gar nicht gut an, wenn man in einer disharmonischen Familie aufwächst, die Eltern sich ständig streiten, weil sie unzufrieden mit ihren Leben und dem finanziell ärmlichen Dasein in Amerika sind, diesem Land, in das sie in den 1950er Jahren eingewandert sind und das ihnen, dem Vater auch sprachlich, immer fremd bleiben sollte. Die Mutter ist Deutsche, der Vater halb Chinese, halb Panamaer. Und so flüchtet sich die Tochter, die sich in dieser Familie auch nicht heimisch fühlt, in Träume, Geschichten und in das Ballett-Tanzen.
Davon erzählt Sigrid Nunez in ihrem autobiografischen Roman sehr eindrucksvoll, in einer sehr klaren Sprache, die nichts beschönigen und nichts vertuschen will. Sie schreibt Geschichten aus ihren Erinnerungen und Recherchen und manchmal nur fragmentarisch über Erlebnisse, an die sie sich nicht mehr vollständig erinnern kann, die das Gesamtbild sehr gut ergänzen. Beim Lesen überträgt sich die Traurigkeit der Protagonistin auf ihre LeserInnen.
In einer Familie aufzuwachsen, mit sehr unterschiedlichen Eltern, in der Zuneigung und Verständnis füreinander fehlen, prägt das die Kinder auf eine nicht zuträgliche Weise.
Dies ist nicht nur ein persönliches, sondern auch ein gesellschaftlich relevantes Problem.

Ich kenne das Original („A Feather On The Breath Of God“, HarperCollins, 1995) nicht, hatte aber an manchen Stellen im Text das Gefühl, dass die Übersetzung nicht besonders gut gelungen ist.

Nachdem ich mit dem Cover zunächst nichts anfangen konnte, hatte ich während des Lesens dann eine Idee, wie ich die Abbildungen darauf interpretieren könnte, was ich hier nicht erläutern werde, weil ich jedem die Freude lassen möchte, die eigenen Gedanken schweifen zu lassen.

Diese Lektüre ist sehr inspirierend, eigene Erinnerungen aufzuschreiben.

Bewertung vom 25.03.2022
Die Feuer
Thomas, Claire

Die Feuer


ausgezeichnet

Melbourne. Hitze. 40 Grad Celsius. Buschfeuer bedrohen die Menschen, deren Häuser, die Stadt.
Drei Frauen unterschiedlicher Generationen sitzen im klimatisierten Theater und sehen das Beckett-Stück „Glückliche Tage“. Endzeitstimmung. Die Szene spiegelt die Umwelt-und Klimakatastrophe vor der Tür. Die Frauen im Publikum lassen ihre Gedanken schweifen. Sehen die Szenen auf der Bühne, eine Frau ist eingegraben, nur ihr Oberkörper ragt aus einem Grashügel heraus, aus ihren jeweiligen Blickwinkeln ihrer Lebenserfahrungen.
„… weil sie heute vielleicht gehört wird, also wird sie stillhalten und sprechen. Sie wird unter der Erde stillhalten und gegen das Unglück anreden, das sie ereilt hat.“
Die einen reden gegen das Unglück öffentlich an, die anderen unterschreiben diverse Online-Petitionen. Sesselaktionismus.
Der ganze Themenkatalog der globalen Probleme unserer Zeit kommt im Buch zur Sprache. Klimawandel, Umweltverschmutzung, Rassismus, Feminismus, Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch …
„Der Klimawandel ist die moralische Schlüsselfrage der Epoche.“
Die Zuschauer inszenieren sich in der Pause zwischen den beiden Akten selbst, als hätten sie vergessen, was sie soeben gesehen und erlebt haben. Sie folgen einer gesellschaftlich anerkannten Dramaturgie. Man trinkt Champagner, hält Smalltalk, knüpft Verbindungen, die für die Karriere und den guten Ruf nützlich sein könnten.
Mir gefällt die Idee, das Beckett-Stück als roten Faden zu nehmen, an dem entlang die Geschichte erzählt und über die Themen philosophiert wird.
Die Autorin stellt Fragen und gibt auch Antworten, was nicht nötig gewesen wäre, weil die Leserinnen und Leser sie sich längst selbst gestellt haben. Ich hätte gerne einen eigenen Interpretationsspielraum und möchte nichts vorgeben bekommen.
Insgesamt hätte ich mir eine umfangreiche Wortwahl und eine Sprache, die literarischer ist, gewünscht.
Der unterhaltsame, der sehr heutige Roman endet wie das Beckett-Stück. Was wird aus uns? Wie wird es weitergehen? Wird es weiter gehen?
Ich leihe mir das Zitat von Bertolt Brecht, das durch Marcel Reich-Ranicki berühmt gewordene Schlusswort: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen/Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

Bewertung vom 30.09.2021
Althea Gibson - Gegen alle Widerstände. Die Geschichte einer vergessenen Heldin
Schoenfeld, Bruce

Althea Gibson - Gegen alle Widerstände. Die Geschichte einer vergessenen Heldin


ausgezeichnet

Dieses Buch ist eine wichtige Erinnerung an Althea Gibson als Mensch
und eine wunderbare Würdigung als Sportlerin – Nicht nur für Tennisfans.

Der Reporter, Reise- und Sportjournalist Bruce Schoenfeld hat eine umfang- und detailreiche Biografie über die Tennisspielerinnen Althea Gibson Amerikanerin (1927 - 2003) und Angela Buxton Engländerin (1934 - 2020) geschrieben.
Althea Gibson gewann als erster schwarzer Mensch überhaupt Wimbledon, die French Open und die US Open.
1957 war sie die Weltranglistenerste.
Der Autor bettet die Biografie in die historische Zeit ein, in der die Tennisspielerin und ihre zeitweilige Doppelpartnerin, mit der sie ihr Leben lang befreundet blieb, lebten. Gibson als Schwarze aus dem armen Harlem/New York und ihre Freundin, eine Jüdin aus England und einer reichen Familie, wurden überall auf der Welt diskriminiert. Die stärksten Gegnerinnen standen ihnen nicht auf dem Tennisplatz gegenüber, sondern kamen aus den Ressentiments, dem Rassismus dem Antisemitismus der Gesellschaft und vielen Funktionären des Sports.
Althea Gibson wollte sich nie über ihre Hautfarbe definieren lassen und Angela Buxton nie über ihr Jüdischsein.
Bruce Schoenfeld – da kann man im wohligen Brustton nur ausrufen: Man, schreibt der gut! (Erinnert mich an den Stil von Bill Bryson.)
Ich vermisse in diesem sehr interessanten Buch nur einen Anhang mit einem chronologischen Überblick über die Lebensstationen und die sportlichen Erfolge Althea Gibsons.

Bewertung vom 17.10.2020
Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht
Petkovic, Andrea

Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht


ausgezeichnet

Man muss sich im Tennissport nicht unbedingt auskennen, um diese sehr gut und unterhaltsam erzählten, ganz persönlichen, erfrischend humorvollen und selbstironischen Erzählungen aus dem sportlichen und privaten Leben der Andrea Petković zu genießen. Nicht nur jeden Fan der Sportlerin werden sie begeistern.
Diese autobiografischen Erzählungen mit dem schönen poetischen Titel „Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht“ sind nicht wie die üblichen Sportlerbiografieberichte, sondern erzählen auch davon, wie Familien versuchen, sich als Fremde in einer neuen Heimat zurechtzufinden.
Andrea Petković widmet dieses Buch „Dem Land, in dem ich aufgewachsen bin – Deutschland. Und dem Land, das, als ich es verließ, noch Jugoslawien hieß.“ Sie schildert auch, wie sie lernte ein kosmopolitisches Leben zu führen und mit den Höhen und Tiefen, Siegen und Niederlagen umzugehen, in privaten, wie auch in sportlichen Bereichen.
Man merkt, dass sie oft inspiriert wurde durch die Bücher, die die las, die Kunst, die Menschen, die sie kennenlernte und dass sie daraus unterschiedliche Erkenntnisse gewann und es ihr so auch gelang ihr Leben, die Kunst, die Literatur, ihren Sport in Beziehungen zueinander zu setzen und davon zu profitieren. Ja, es klingt so einfach, alles hängt mit allem zusammen – das Eine bedingt das Andere, aber das muss erst mal jeder für sich persönlich begreifen und für sich etwas daraus machen. Ich glaube, Andrea Petković ist eine Frau, mit der man sich gut gerne über Gott und die Welt unterhalten kann. Tagelang und nächtelang und so schnell nicht müde wird, weil aus ihr eine unglaublich lebendige Energie sprudelt.
Ich habe nach der Lektüre dieses Buch gut gelaunt zugeklappt und es in Griffnähe ins Regal gestellt, wie einen guten Freund, den man nicht aus den Augen lassen will.
Der KiWi Verlag schreibt vollkommen zu Recht von einem „grandiosen literarischen Debüt“.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.09.2020
Das Buch eines Sommers
Kast, Bas

Das Buch eines Sommers


weniger gut

„Was hindert uns daran, zu werden, wer wir sind?“
Das ist die Frage, um die es dem Autor geht. Er hätte sie auch in einem Sachbuch untersuchen können, hat sich aber für eine Romanhandlung entschieden, um mit Hilfe seiner Figuren unterschiedliche Meinungen und Lebensphilosophien gegeneinander zu stellen und sie Antworten suchen zu lassen.
Dieses Buch liest sich, als beschreibt hier jemand eine Geschichte, die er sich als Film für das Sommerkino vorgestellt hat.
Man findet hier ganz normale, einfache Sätze, die jeder schon gedacht, gehört und gesagt hat. Hier ist nichts literarisch ausformuliert, nichts überrascht einen.
Schreibstil und Formulierungen sind naiv, unbeholfen, steif, konservativ, öde und langweilig und auch eine kitschige Abendsonne ist dabei. Man liest immer wieder dieselben Worte und Begriffe, oft kurz hintereinander, es gibt keine Variationen. Manches wird einem mehrfach beschrieben, wie das kastanienbraune Haar der Ex-Freundin und dass die Villa des Onkels in einer Weingegend steht z.B. Die Raubtier-Metapher scheint der Autor besonders zu lieben. Gleich drei Mal verwendet er sie. Ab und zu sind seine Übergänge etwas holprig, manchmal scheinen Sätze zu fehlen.
„Er schrieb und schrieb, aber was er schrieb, hatte keine Tiefe.“ So ist es mir beim Lesen dieses Romans auch gegangen.
„Das Buch eines Sommers“, ist das Buch eines Erzählers, der uns Lesern nichts hinterlassen hat.
Vielleicht kann es ein guter Einstieg für diejenigen sein, die sich mit dem Thema der Selbstfindung zum ersten Mal beschäftigen wollen.

Bewertung vom 31.08.2020
Gipskind
Kögl, Gabriele

Gipskind


ausgezeichnet

Mit dem Glauben an sich selbst sein Leben verändern

In den 60er Jahren wächst ein Mädchen auf dem Land in einer Bauernfamilie auf. Sie kann lange nicht laufen und muss in ihren ersten Lebensjahren, so genau erfährt man nicht, wie lange, mit eingegipsten Beinen zurechtkommen.
Nur die Oma hat Verständnis für das kleine, kranke Kind, das für keine Arbeit zu gebrauchen und somit nur eine Last für die Familie ist.
Als das Mädchen von der Dorfschule endlich in eine Schule in der Stadt wechseln kann, wo sich für sie eine völlig neue Welt eröffnet und sich ihr ganz andere Möglichkeiten offenbaren, begreift sie endgültig, dass sie mehr will als ein Leben auf dem Land, in dieser spießigen und kleingeistigen Enge der Dorfgemeinschaft und des vorbestimmten Lebens von Heirat, Familie und Hof.
In den 70er Jahren wird für Jugendliche endlich alles freier. Reisen, Kleidung, Frisuren, Musik (nicht mehr nur deutsche Schlager, sondern Popmusik aus England und Amerika). Frischer Wind. Aufbruchstimmung.
Das „Gipskind“ wird immer nur „die Kleine“ genannt, auf Seite 131 bekommt sie endlich einen Namen, bei dem sie dann im letzten Drittel Buches auch kontinuierlich genannt wird, weil sie im Laufe der Zeit eine eigene Persönlichkeit und einen starken Willen entwickelt hat ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Obwohl ihr Leben so düster beginnt, wie es das Cover erahnen lässt, verliert sie sich nicht ins Wehklagen, sondern bleibt inspiriert von dem, was sie in der Zukunft erwarten könnte und möchte. Und so löst sie sich auch von all denen, die sie in alten kleingeistigen Traditionen halten wollen.
Gabriele Kögl beschreibt das karge Leben und die schlechten Wohnverhältnisse auf dem Land, die überforderten Eltern, die Sprache der Menschen, die Musik, die im Radio gehört wurde, eingängige Schlagertexte, Fernsehsendungen, die Familien gemeinsam geguckt haben und schafft so eine gut nachvollziehbare Atmosphäre der damaligen Zeit. Am Beispiel unterschiedlicher Familien zeigt sie verschiedene gesellschaftliche Vorurteile und Konflikte auf, wie sie nicht nur für die 60er Jahre typisch waren. Frei davon sind wir heute immer noch nicht.
Ein wenig nervte mich, dass alles immer aus einer latenten Naivität heraus erzählt wurde, so, als hätte die Erzählerin über sich als sich-fremd-Gewordene geschrieben, aus dem Abstand der Lebenserfahrung heraus, die sie inzwischen gemacht hatte und als würde sie heute noch immer darüber staunen, dass sie dieser Enge entkommen ist.
Eine coming of Age Story, die ich gerne gelesen habe.

Bewertung vom 26.07.2020
Der letzte Satz
Seethaler, Robert

Der letzte Satz


ausgezeichnet

Wunderbar einfühlsam erzählt
Der kranke und körperlich sehr geschwächte Gustav Mahler sitzt allein an Deck des Schiffes, das ihn, seine Frau Alma und seine Tochter Anna von New York in seine Heimat, nach Österreich bringt. Umsorgt wird er von einem extra für ihn abgestellten Schiffsjungen, der auch als Übermittler von Informationen zwischen Mahler und seiner Frau, die sich mit der Tochter unter Deck aufhält, fungiert. Diese Szene hat eine treffende Symbolik. Der Mann thront oben während Frau und Kind unsichtbar sind.
Gustav Mahler weiß, dass dies seine letzte Reise sein wird. Er erinnert sich an einige Erlebnisse und Ereignisse, z.B. an das Kennenlernen seiner Frau, an seine Arbeit als Dirigent, als Operndirektor, an die Ruhe in der Natur und daran, wie er den Vögeln im Garten und im Wald ihre Melodien ablauschte und sich von ihren Gesängen beim Komponieren inspirieren ließ.
Robert Seethaler widmet sich in diesem Buch wunderbar einfühlsam dem letzten Satz der großen Sinfonie dieses Lebens, des Menschen und Musikers Gustav Mahler, und erschafft damit ein kleines Memorial für die Leser, das ihnen eine Inspiration, eine Aufforderung, ein Anstoß sein kann, Mahlers Musik wieder zu hören oder sie für sich zu entdecken.

3 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.06.2020
Unter den Linden 6
Kaiser, Ann-Sophie

Unter den Linden 6


ausgezeichnet

Atmosphärisch dicht, lebendig und spannend erzählt.

Das Cover ist liebevoll gestaltet, aber ein wenig zu verspielt für meinen Geschmack. Die drei abgebildeten Frauen bringen etwas Farbe in die trüben Aussichten, die das Berlin ihrer Zeit für sie bereithielt. Im hinteren Einband findet man einen Auszug aus dem historischen Stadtplan Berlins rund um die die titelgebende Prachtstraße „Unter den Linden“.
Wir lernen drei unterschiedliche Frauen kennen, an deren Beispiel die Lebenssituationen in Preußen erzählt werden, die typisch für die damalige Zeit waren, in der Frauen nicht studieren, nicht politisch diskutieren, nichts ohne Zustimmung des Ehemannes tun und Lehrerinnen nicht verheiratet sein durften.
Dieser Roman ist eine Momentaufnahme in der Geschichte der Frauenbewegung und legt den Schwerpunkt des Erzählens auf die ersten Frauen, die an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität studieren dürfen. Die Autorin verknüpft ihre fiktionale Romanhandlung mit historischen Persönlichkeiten und Geschichten sehr glaubhaft.
Bei der lebendig geschilderten Atmosphäre des Berliner Gewimmels auf Bahnhöfen und Straßen, musste ich an Fallada denken, was ein gutes Omen für mich ist.
Die Autorin baut eine gute Spannung auf, mithilfe den Fragen, die sich ihre Figuren stellen, was deren Zukunft betrifft.
Ihr Erzählton wird jedoch nach und nach in manchen Passagen etwas zu märchenhaft und liebesschnulzig. Zu oft pochen Herzen und werden Küsse gestohlen. Zusammen mit all den vielen altbekannten und immer gleichen Metaphern und Formulierungen führte es dann bei mir zur Ermüdung.
Insgesamt ist es ein guter Unterhaltungsroman, der einem noch einmal klar macht, wie schwierig es für Frauen war und oft leider immer noch ist, ein unabhängiges und selbständiges Leben nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen führen zu können.
Das dem Buch vorangestellte Zitat von Hedwig Dohm: "Ob Frauen studieren dürfen? Ob Frauen studieren können? Ob Frauen studieren sollen? Mir persönlich erscheinen diese Untersuchungen ebenso müßig, als wollte jemand fragen: Darf der Mensch seine Kräfte entwickeln? Soll er seine Beine zum Gehen gebrauchen?", macht einem sehr deutlich, dass der Frauenbewegung wieder mehr Wertschätzung entgegen gebracht werden sollte, was unserer gesamten Gesellschaft sehr gut tun würde.
Gerne hätte ich noch mehr über Lise Meitner erfahren. So ist dieser Roman auch ein guter Anstoß, sich mit dem Thema der Frauen-und Menschenrechte und den Arbeitsmöglichkeiten in der Wissenschaft zu beschäftigen.
Insofern war es ein inspirierendes Leseerlebnis.

Bewertung vom 07.06.2020
Kostbare Tage
Haruf, Kent

Kostbare Tage


ausgezeichnet

Ergreifend und liebevoll erzählt.

Kent Haruf beschreibt seinen fiktiven Ort Holt in Colorado so liebevoll und genau, dass man das Gefühl hat, man stünde, wie einer seiner Figuren, auf der Mainstreet und schaue durch die Fenster der Häuser den Bewohnern bei deren Leben zu. Er schafft es mit seinen Worten uns Lesern Bilder in die Köpfe zu projizieren und diese auch noch zu kolorieren.
Er zeigt, wie eine Gemeinschaft, ein Zusammenleben unterschiedlicher Menschen funktionieren kann, wenn jeder bereit ist zu helfen und sich im Notfall auch um die Nachbarn zu kümmern, mit denen man sonst nichts zu tun hat. Die Polizei lässt man gerne außen vor, man regelt lieber alles selbst, solange es geht.
In der Kleinstadt Holt haben alle Leute ihre Probleme und Sorgen, da wird nichts verschwiegen und nichts beschönigt. Und gerade Harufs Liebe und große Empathie zu seinen Figuren macht auch diese Geschichte über die letzten kostbaren Tage seines Protagonisten so authentisch.
Wäre der Autor nicht 2014 gestorben, gäbe es vermutlich noch weitere Geschichten über die Menschen in Holt. Zumindest kann man sich gut vorstellen, dass einige Erzählstränge weitergeführt werden könnten und vielleicht sogar sollten.
Wer die Bücher von Kent Haruf immer noch nicht kennen sollte, dem möchte ich sie wärmsten empfehlen. Man hat eine schöne Zeit mit ihnen.