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Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 179 Bewertungen
Bewertung vom 30.05.2024
Malnata
Salvioni, Beatrice

Malnata


gut

Monza, 1935: Während sich Italien unter der Diktatur Mussolinis in dunklen Zeiten befindet, fühlt sich die elfjährige Francesca unverstanden. Ihre Mutter begegnet ihr mit Lieblosigkeit und Verboten, ihr Vater verfällt in eine fast sprachlose Gleichgültigkeit. Da wirkt es fast wie ein Wunder, dass sich plötzlich dieses wilde Mädchen für sie zu interessieren scheint, das immer mit zwei etwas älteren Jungen am Ufer des Lambro spielt. Der Name des Mädchens ist Maddalena, doch wird sie von allen im Ort nur "Malnata" genannt - die "Unheilbringende". Allen Warnungen der Erwachsenen zum Trotz freundet sich Francesca mit der "Malnata" an. Eine Entscheidung, die ihr junges Leben komplett auf den Kopf stellt...

"Malnata" ist der Debütroman von Beatrice Salvioni, der jüngst in der deutschen Übersetzung aus dem Italienischen von Anja Nattefort bei Penguin erschienen ist und laut Klappentext in Italien noch vor Erscheinen "zu einem literarischen Ereignis" und mittlerweile in 35 Länder verkauft wurde. Hohe Vorschusslorbeeren, denen der Roman leider nur zu Beginn gerecht wird.

Denn der Anfang des Buches ist hochdramatisch und berührend. Ich-Erzählerin Francesca wird im Prolog von ihrer Freundin Maddalena offenbar gerade noch vor einer Vergewaltigung gerettet. Im Rückblick erzählt uns Francesca, wie es zu dieser Situation, vor allem aber zu der unerschütterlichen Freundschaft mit der "Malnata" kommen konnte. Salvioni zeichnet in dieser Phase authentisch und zärtlich, wie sich die beiden Mädchen langsam annähern und unter welchen gesellschaftlichen Anfeindungen insbesondere Maddalena zu leiden hat. Die abergläubische Welt der Erwachsenen macht sie für mehrere Unglücksfälle in ihrer unmittelbaren Umgebung verantwortlich. Es ist bezaubernd, wie feinfühlig Salvioni sich den beiden Hauptfiguren widmet. Dabei gelingt ihr der Spagat, die aufgeladene Atmosphäre des Faschismus hintergründig darzustellen, ohne die Perspektive der Kinder zu verlassen. Die "Malnata" selbst wirkt dabei manchmal wie eine dunkle Pippi Langstrumpf, die mit ihren nicht ganz harmlosen Streichen eine Art freiheitlicher Kontrapunkt zur faschistischen Welt der Erwachsenen darstellt. Die kindlichen Szenen am Fluss, die Mischung aus Unschuld und Härte, erinnern in ihren besten Momenten ein wenig an den legendären "Club der Verlierer" aus Stephen Kings "Es".

Leider gelingt es Salvioni jedoch nicht, diese Szenen zu einem glaubwürdigen Roman weiterzuspinnen. Die Figuren lassen Grautöne vermissen, nahezu alle lassen sich spielend leicht in "Gut und Böse" eingruppieren. Die Erwachsenen sind mit Ausnahme von Francescas Haushaltshilfe Carla menschlich allesamt eine Katastrophe, vor allem die Elternfiguren aller Kinder versagen komplett. Ein regelrechtes Ärgernis ist aber die Glorifizierung der Maddalena. Während die Faszination, die sie auf ihre Freundin aus dem gut-bürgerlichen Haushalt ausübt, zwar authentisch und verständlich wirkt, hat die Figur in ihrer Konzeption so große Schwächen, dass eigentlich nicht einmal Francesca darüber hinwegsehen könnte. So verbreitet die "Malnata" eine erwachsene Weisheit nach der anderen, scheitert aber selbst im zwischenmenschlichen Bereich, indem sie den wenigen ihr wohlgesinnten Menschen großen Schaden zufügt. Beispielsweise durch völlig unsinnige Mutproben, die von der Autorin offenbar nur eingeführt wurden, um den Spannungsbogen aufrechtzuerhalten. Oder durch Unstimmigkeiten, in denen Salvioni die Mädchen genau so abergläubisch handeln lässt, wie es die von ihnen verachteten Erwachsenen eigentlich tun würden. Vollends an Glaubwürdigkeit verliert "Malnata", wenn gegen Ende des Buches eine von den Kindern leidlich gepiesackte Figur einen Sinneswandel um 180 Grad vollzieht und sich plötzlich als Hilfsbereitschaft in Person präsentiert.

Eine weitere Schwäche ist die Melodramatik des Textes, die mit fortschreitender Lektüre immer stärkere Züge annimmt und die Kitschgrenze zumindest streift, wenn nicht gar überschreitet. Schicksal reiht sich an Schicksal, die Verehrung Francescas für ihre Freundin nähert sich der Hörigkeit an. Gewalttaten der "Malnata" wie beispielsweise das Blutigschlagen des Kopfes der Sitznachbarin in der Schule auf den Tisch werden als Lappalie abgetan, Tierquälereien als Mittel zum Zweck nicht einmal hinterfragt. Bedauerlich ist auch, dass der Roman kaum noch Überraschungspotenzial hat und sich die Figuren mit Ausnahme der Ich-Erzählerin wenig entwickeln. So ist beispielsweise äußerst früh zu durchschauen, wer hinter der anfangs erzählten versuchten Vergewaltigung steckt.

Letztlich endet das "literarische Ereignis" eher als halbgare Mischung aus Coming-of-Age- und Jugendroman, die ihr anfängliches Potenzial zunehmend verspielt, indem sie - und damit Autorin Salvioni - falsche Entscheidungen trifft und die letzte Konsequenz vermissen lässt. Schade.

Bewertung vom 29.05.2024
Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
Brooks, Sarah

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland


sehr gut

Peking, 1899: Nach zehnmonatiger Pause ist der einzigartige Transsibirien-Express endlich wieder einsatzbereit, um die lange Reise ins weit entfernte Moskau anzutreten. Mit an Bord ist beispielswese Dr. Henry Grey, eigentlich ein renommierter Wissenschaftler, dessen Ruf jedoch kürzlich merklich gelitten hat. Oder Maria Petrowna, eine junge Trauernde, die nicht ohne Grund unter falschem Namen reist. Und natürlich - wie jedes Mal seit ihrer Geburt im Zug vor 16 Jahren - Zhang Weiwei, als Mitglied der Crew eine Art Mädchen für alles. Gemeinsam mit vielen anderen begeben sie sich auf eine Fahrt, die keine:r von ihnen je vergessen wird. Denn das zu durchquerende Ödland ist gar nicht so öd, wie es der Name vermuten lässt. Ganz im Gegenteil. Als dann auch noch klar wird, dass sich eine blinde Passagierin trotz aller Sicherheitsmaßnahmen in den Zug schleichen konnte, nehmen die Dinge ihren Lauf...

"Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland" ist der Debütroman der im englischen Leeds lebenden Autorin Sarah Brooks, dessen Manuskript bereits vor Veröffentlichung mit dem Lucy Cavendish Fiction Prize ausgezeichnet wurde. Der Roman erscheint in insgesamt 15 Ländern, darunter in der deutschen Übersetzung von Claudia Feldmann bei C. Bertelsmann im Juli. Bemerkenswert schön ist diese Ausgabe rein optisch geworden. Ein goldener Zug unter goldener Schrift, dazu eine liebenswerte Verzierung des Buchdeckels und eine detaillierte Zeichnung der einzelnen Waggons im Inneren. Umso besser, dass da auch der Inhalt insgesamt überzeugen kann.

Gerade die erste Hälfte des Romans weiß nämlich zu gefallen. Brooks nähert sich den oben vorgestellten drei Hauptfiguren behutsam an und legt erst Schritt für Schritt deren Träume und Ziele offen. Ein kluger Schachzug, der zusammen mit der großen Fabulierfreude der Autorin und der Liebe zum Detail für eine aufregende Lektüre sorgt. Da ist beispielsweise das Buch, das diesem Roman seinen Titel gibt und von einem gewissen Valentin Rostow 1880 veröffentlicht wurde. Die Auszüge, die man zu lesen bekommt, wirken dabei so authentisch, dass man kurz zweifelt und sich fragt, ob dieser Rostow nicht vielleicht doch wirklich gelebt hat? Wunderbare Begriffe wie "Ödlandweh" - eine Art Trancezustand, die Reisende während der Fahrt durch das gefährliche Niemandsland befallen kann - "Valentinsfeuer" oder "Birkenkathedralen" und Beschreibungen des Zuges und der Geschehnisse um diesen herum, dürften nicht nur bei Eisenbahnfreund:innen den richtigen Nerv treffen.

Insgesamt ist auch die Figurenkonzeption ein großes Plus des Romans. Sarah Brooks hat sich in jedem Fall für die richtigen Hauptfiguren entschieden, denn Weiwei, Maria und Dr. Grey sind letztlich der Grund, warum das Buch auch in der schwächeren zweiten Hälfte noch zu überzeugen weiß. Sie alle berühren die Leser:innen jeweils auf ihre ganz eigene Art. Sei es Weiwei mit ihrer Sehnsucht nach einer echten Freundin, sei es der gescheiterte Dr. Grey mit seinem Streben nach Wissen und seiner Liebe zur Natur oder die trauernde Maria, die von Brooks mit großer Empathie gezeichnet wurde.

Dabei setzt sich die Autorin durchaus kritisch mit so großen Themen wie den Unterschieden zwischen Natur und Kultur oder auch Wissenschaft und Religion auseinander und scheut zudem keine Genregrenzen. Während die Leserschaft zu Beginn an Horror-Bahnhöfen Halt macht, zwischendrin ein paar Coming-of-Age-Passagier:innen zusteigen lässt, eine kurze Pause auf einem Krimi-Abstellgleis einlegt, driftet die Fahrt in der zweiten Hälfte doch ziemlich rasant und eindeutig in Richtung Endstation Fantasy.

Brooks begeht allerdings den Fehler, dem Grauen vorzeitig den Dampf zu nehmen. Vergleichbar mit einem mittelmäßigen Horrorfilm, bei dem der Grusel mit dem ersten sichtbaren Auftritt des Monsters schlagartig aufhört, muss sich die Autorin den Vorwurf gefallen lassen, es in der zweiten Hälfte mit den Fantasy- und Actionelementen zu übertreiben. Dadurch wirkt das "Handbuch" irgendwann ein wenig überfrachtet.

Dennoch ist es gerade für einen Debütroman erstaunlich, dass Sarah Brooks mit dem "Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland" eine ganz eigene Welt kreiert hat, die vor Ideen und Fantasie nur so strotzt. Zwar erinnern gewisse Momente an den 2014er-Kinofilm "Snowpiercer" von Bong Joon-ho, Jeff VanderMeers "Auslöschung" oder an Albert Sánchez Piñols großartigen Roman "Im Rausch der Stille", doch sind alle drei ja nicht die schlechtesten Referenzen.

Bewertung vom 05.05.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


sehr gut

Die 16-jährige Odile lebt in einem ganz besonderen Tal. Würde sie dort die Grenze nach Westen überschreiten, befände sie sich 20 Jahre in der Vergangenheit. Eine Grenzüberschreitung nach Osten katapultierte sie hingegen 20 Jahre in die Zukunft. Doch über die Grenzen und das gesamte Leben im Tal entscheidet das regierende Conseil, das eine Reise in die Vergangenheit oder in die Zukunft nur in ganz wenigen begründeten Ausnahmefällen zulässt - beispielsweise, um einen zu früh verstorbenen Menschen wenigstens noch ein einziges Mal sehen zu können. Als Odile zufällig zwei maskierte Gäste aus der Zukunft im Tal entdeckt und dahinter die Eltern ihres nahezu einzigen Freundes Edme erkennt, ringt sie mit sich. Soll sie verbotenerweise in das Geschehen eingreifen, um Edmes Tod doch noch zu verhindern? Oder konzentriert sie sich ganz auf ihre angestrebte Ausbildung im Conseil und nimmt damit den Verlust des Freundes in Kauf?

"Das andere Tal" ist der Debütroman des kanadischen Autors Scott Alexander Howard, der jüngst in der deutschen Übersetzung aus dem kanadischen Englisch von Anke Caroline Burger bei Diogenes erschienen ist. Es ist ein bemerkenswert kluger Roman, dem man den philosophischen Hintergrund Howards nahezu durchgehend anmerkt, ohne dass er auch nur ansatzweise verkopft daherkommt. In den existenziellen Fragen nach Schuld und Moral in Verbindung mit einer jugendlichen Protagonistin erinnert er zeitweilig an Jostein Gaarders "Sofies Welt", über weite Strecken des ersten Teils kommt er einem hingegen wie ein sehr guter Jugendroman vor. Es ist nicht nur die für das Genre typische Begleitung einer Außenseiter-Figur, die sich mit der Zeit stark entwickelt und nach und nach Anschluss findet, sondern es sind auch die Themen wie Freundschaft, erste Liebe, Schule und Ausbildung, die daran erinnern lassen. Und auch wenn junge Leser:innen durchaus Gefallen an "Das andere Tal" finden könnten, sollten Erwachsene nicht den Fehler machen, das Buch zu unterschätzen. Denn im zweiten Teil wird die Handlung ungleich düsterer und nähert sich immer stärker einer Dystopie an.

Sprachlich ist "Das andere Tal" klar strukturiert und gönnt sich wenig Abschweifungen. Doch auch wenn der Roman extrem handlungsorientiert und souverän erzählt wird, weiß Scott Alexander Howard seine sprachlichen Fähigkeiten wohldosiert einzusetzen. Beispielsweise bei einer ungemein romantischen Nachtszene, in der der Geige spielende Edme Odile seine Kompositionen auf einer Klippe vorstellt. Oder bei einem Regenschauer, der sich kongenial mit Odiles Stimmungsbild verbindet.

Das größte Verdienst des Buches ist es aber, dass man als Leser:in im positiven Sinne dazu gezwungen wird, seine grauen Zellen anzustrengen. Das philosophische Konstrukt hinter einer offenbar unendlich wirkenden Reihe von Tälern zu verstehen - oder es zu dekonstruieren. Sich selbst zu hinterfragen, wie man sich entscheiden würde. Und wenn man zu dieser Entscheidung gekommen ist, sich wiederum zu fragen, warum man diese Entscheidung so getroffen hat. Das macht Scott Alexander Howard herausragend, indem er mit den Erwartungen der Leserschaft spielt und diese animiert.

Da ist es dann doch sehr schade, dass ausgerechnet die zentrale Idee des Buches der Hinterfragung nicht standhält. Die ernst gemeinte Begründung der für alle Beteiligten und auch für das Conseil extrem riskanten Grenzüberschreitungen bzw. Zeitreise lautet nämlich tatsächlich: "Das war schon immer so." Hier macht es sich Howard zu einfach und unterschätzt die klugen Leser:innen. Mit bösen Absichten könnte man so die eigentlich hervorragende Grundidee - und damit auch den Roman - komplett auseinandernehmen.

Da "Das andere Tal" einen ansonsten aber nahezu über die gesamte Dauer der etwas mehr als 450 Seiten komplett für sich einnimmt, bleibt dies ein mittelgroßer Wermutstropfen eines ansonsten wunderbaren Debütromans, der große Lust auf weitere Werke des Kanadiers macht.

Bewertung vom 22.04.2024
Astrids Vermächtnis
Mytting, Lars

Astrids Vermächtnis


sehr gut

1936, im norwegischen Butangen: Die junge Astrid Hekne ist fasziniert von der Geschichte ihrer Vorfahren. Mehr als 300 Jahre sind mittlerweile vergangen, seitdem die an der Hüfte zusammengewachsenen Hekne-Schwestern Halfrid und Gunhild ihren legendenumwobenen Wandteppich gewebt haben sollen. Doch existiert dieser wirklich? Unbestritten ist die Existenz der Schwesterglocken, die an die beiden erinnern sollen. Noch immer läutet eine in Dresden, die andere befindet sich in der Kirche Butangens unter der Obhut von Pfarrer Kai Schweigaard. Doch aus dem nationalsozialistischen Deutschland mehren sich die Interessen, die Glocken in Dresden als ein Symbol der nordischen Kultur zusammenzuführen. Etwas, das Kai unter allen Umständen verhindern möchte...

"Astrids Vermächtnis" ist der dritte und letzte Teil der sogenannten "Schwesterglocken-Trilogie" von Lars Mytting, der jüngst in der deutschen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel im Insel Verlag erschienen ist. Für viele Freund:innen der norwegischen Literatur düfte der Titel einer der meisterwarteten in diesem Jahr sein. In seiner Erzählweise und Struktur erinnert er an die beiden Vorgänger "Die Glocke im See" und "Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund", kann aber deren - allerdings auch überragende - Qualität nicht ganz halten.

Erstaunlich ist vor allem die strukturelle Ähnlichkeit zum "Rätsel": Einer Einführung über die beiden Urcharaktere Gunhild und Halfrid folgt ein langsamer, abermals hervorragend und farbenfroh erzählter Teil über das Erwachsenwerden der mittlerweile dritten Astrid Hekne und eine intensive Auseinandersetzung mit den weiteren zentralen Figuren. Mit der deutschen Besetzung Norwegens beginnt ein langer Teil, der an Tempo und Brutalität verständlicherweise zunimmt, ehe eine Art episch-poetischer Epilog "Astrids Vermächtnis" nach 650 Seiten zu einem halbwegs würdigen Ende bringt.

In der ersten Hälfte des Buches zieht Mytting einmal mehr alle Register seines erzählerischen Könnens. Ein zentrales Thema ist dabei erneut der Konflikt zwischen Tradition und Moderne, der sich wie ein roter Faden durch alle Teile der Trilogie zieht. Die Familie Hekne nimmt dabei eine Art Vorreiterrolle ein, die nicht von allen Dorfbewohner:innen gern gesehen wird. Gelungen ist Mytting zudem auch wieder die Figurenzeichnung. Die wohl spannendste Figur ist Astrids Bruder Tarald, die Mytting mit einer bemerkenswerten Ambivalenz ausstattet. Tarald ist eine sensible Künstlerseele, als angedachter Hoferbe aber ein Versager. Zudem bewegt er sich nahezu ständig auf dem schmalen Grat zwischen liebendem Bruder und potenziellem Verräter.

Während mich die erste Hälfte des Romans abermals komplett in ihren Bann ziehen konnte, kann die zweite Hälfte qualitativ leider nicht mithalten. Zwar ist der Widerstandskampf der jungen Astrid durchaus spannend erzählt, doch wirkt es so, als sollten unbedingt alle Figuren des Vorgängerbandes noch einmal auftauchen. Völlig aus dem erzählerischen Konzept bringen einen beispielsweise die Schwenke nach England, wo Astrids Onkel Victor und seine zwei Söhne Edgar und Alastair sich ebenfalls auf den Zweiten Weltkrieg vorbereiten. Der größte Kritikpunkt ist aber der Umgang mit der zentralen Figur der Trilogie: Kai Schweigaard. Schweigaard ist mittlerweile ein Greis, dessen Amtszeitsende nur durch den Ausbruch des Krieges verhindert wird. Mytting macht aus ihm eine Art Helden, was einerseits völlig in Ordnung ist, weil keine andere Trilogiefigur in der Gunst der treuen Leserschaft so weit oben stehen dürfte. Auf der anderen Seite ist dessen finale "Heldentat" zutiefst unmoralisch und wird dem Charakter nicht gerecht. Ein regelrechtes Ärgernis! Und auch andere Charaktere warten vergeblich auf ein würdiges Ende. So erfahren wir tatsächlich erst in einer Art Personenregister ganz am Ende des Buches, was beispielsweise aus Tarald geworden ist. Astrid Heknes Bruder ist in "Astrids Vermächtnis" eine durchaus bedeutsame Figur, die aber irgendwann einfach völlig aus der Handlung verschwindet.

So ist "Astrids Vermächtnis" in seiner Gesamtheit ein Roman, der die Fans der Schwesterglocken zwar nicht enttäuschen sollte, gerade im Vergleich zum "Rätsel auf blauschwarzem Grund" aber etwas hinter den Erwartungen zurückbleibt.

3,5/5

Bewertung vom 11.04.2024
Maifliegenzeit
Jügler, Matthias

Maifliegenzeit


ausgezeichnet

Als der 65-jährige Hans einen Anruf erhält, glaubt er, seinen Ohren nicht zu trauen. Es ist Daniel, sein Sohn, der kurz nach dessen Geburt vor 40 Jahren im Krankenhaus von Naumburg an der Saale für tot erklärt wurde. Ohne vorherige Warnung, ohne irgendwelche Anzeichen von Krankheiten. Seine Frau Katrin hatte von Beginn an Zweifel an dieser Geschichte, doch mittlerweile ist auch Katrin seit langer Zeit tot. Wie geht ein Vater damit um, wenn er erkennt, dass er nicht genug getan hat, um das Schicksal seines Kindes zu verfolgen? Und wie reagiert ein Sohn, wenn er nach so langer Zeit eine ganz neue Identität aufgezwängt bekommt? Davon und von so viel mehr erzählt Matthias Jügler in seinem neuen Roman "Maifliegenzeit", der jüngst im Penguin Verlag erschienen ist.

Ursprünglich wollte Jügler über das Thema "Zwangsadoptionen in der DDR" schreiben, über Eltern, die vom Unrechtsstaat aus verschiedensten Gründen als untauglich eingestuft wurden, ein Kind zu erziehen. Ohne es gegeneinander aufwiegen zu wollen, wirkt das Sujet von "Maifliegenzeit" ungleich dramatischer. Es geht um Eltern, deren Kinder unmittelbar nach der Geburt für tot erklärt wurden, um offenbar linientreue Elternpaare mit deren Erziehung zu beauftragen. Es geht aber auch um Väter und ihre Söhne, um ihre komplizierten Beziehungen und um verschiedene Generationen von Eltern. Und es geht um die Liebe zur Natur und zur Region und nicht zuletzt um das Angeln.

Denn "Maifliegenzeit" ist auch eine warmherzige Liebeserklärung an die Unstrut, einen Nebenfluss der Saale, und ihre Bewohner: die Fische. Detailliert und voller Respekt erzählt Jügler von diesen Tieren. Von der Barbe, die sich am liebsten ihr Leben lang versteckt hält, von der goldschimmernden Rotfeder und vom Karpfen, der aus Mitleid vom jungen Hans kurzerhand mal eben zurück ins Wasser geworfen wird. Und tatsächlich sind diese Naturbeschreibungen, die liebevollen Details, das große Plus dieses Romans. Jüglers Sprache ist einfach bezaubernd. Wer gedacht hat, dass ein Roman über das Angeln langweilig sein muss, der möge dieses gerade einmal 150 Seiten umfassende kleine Werk vorurteilsfrei zur Hand nehmen und sich eines Besseren belehren lassen.

Doch auch auf der Handlungsebene weiß der Roman zu überzeugen. Wie Ich-Erzähler Hans nicht nur in seine Kindheit zurückblickt, sondern auch, wie er sich auf die langjährige Suche nach seinem Sohn und nach der Wahrheit begibt, liest sich für ein so stilles Buch bemerkenswert spannend. Zwischenzeitlich wähnt man sich fast in einem Krimi. Dabei gelingt es Jügler hervorragend, die Bilder der Fische mit den skandalösen Ereignissen rund um die Suche nach Daniel kongenial zu verknüpfen. Scheinbar spielend umgeht er dabei sogar eine möglicherweise drohende Kitschgefahr. Wenn beispielsweise Hans in einer unglaublich anmutenden Szene dazu gezwungen wird, eigenhändig das Grab seines Sohnes zu schaufeln. Oder wenn mehrere Seiten lang die titelgebende Maifliegenzeit hinreißend schön erklärt wird. Jügler erzählt poetisch und bildhaft, aber niemals übertrieben. "Maifliegenzeit" ist von vorn bis hinten anrührend, aber niemals rührselig.

Da stört es letztlich auch nicht, dass man nach dem Zuschlagen des Buches ein wenig das Gefühl hat, dass das Finale im Vergleich zu den vorangegangenen 140 Seiten vielleicht nicht der Höhepunkt des Romans ist und dass einige Fragen offen bleiben. Schließlich setzt der Autor auf durchaus mündige Leser:innen - anders als es das DDR-Regime mit seinen Bürger:innen tat.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.04.2024
Gebranntes Kind
Dagerman, Stig

Gebranntes Kind


ausgezeichnet

Stockholm, in den 1940er-Jahren: Während der 20-jährige Bengt um seine heißgeliebte Mutter trauert, tröstet sich sein Vater Knut längst mit einer neuen Frau. Die Kinokartenverkäuferin Gun erbt nicht nur Almas rotes Kleid, das dieser ohnehin nie passte, sondern auch die Liebe des Schreiners. Doch Bengt lehnt die neue Frau an der Seite des Vaters strikt ab. Als er gemeinsam mit seiner Freundin Berit an einem familiären Trip auf die Schären teilnimmt, brechen sich die Emotionen Bahn...

"Gebranntes Kind" ist ein Roman des Autors Stig Dagerman (1923 - 1954), der im schwedischen Original 1948 erschienen ist. 1967 wurde er verfilmt (deutscher Titel: Ich - seine Geliebte), 1983 sowohl in der BRD, als auch in der DDR erstmals ins Deutsche übersetzt. Nun ist bei Guggolz eine deutsche Neuübersetzung von Paul Berf erschienen, die durch ein kompaktes und informatives Nachwort des schwedischen Schriftstellers Aris Fioretos komplettiert wird. Nach "Deutscher Herbst" ist "Gebranntes Kind" bereits das zweite Werk Dagermans bei Guggolz. Kein Wunder, passt "Bränt barn", so der Originaltitel, in seiner Mischung aus sprachlicher Extravaganz und ambivalenter Figurenzeichnung doch ganz hervorragend in das Guggolz-Beuteschema, wie beispielsweise im letzten Jahr auch Tom Kristensens "Absturz".

Wobei "Gebranntes Kind" tatsächlich noch stärker polarisieren dürfte, denn es ist ein durch und durch unbequemer Roman. Das beginnt mit den kurzen, stakkatohaften Sätzen, die Dagerman seinen Leser:innen förmlich um die Ohren haut, mischt sich mit pathetischen Briefen der Hauptfigur und mündet schließlich in einem Protagonisten, der vor physischer und psychischer Gewalt gegen Frauen und Tiere nicht zurückschreckt. Ständig arbeitet Dagerman zudem mit Symbolen und Gegensätzen wie "schön" und "hässlich", die man schon nach dem ersten Kapitel als anstrengend empfindet.

Womit wir beim großen "Aber" wären. Denn die kurzen Sätze, die - einem Schüleraufsatz gleich - gern auch mit "Und" oder "Dann" beginnen, sind so voller Tiefe, dass man beim ersten Lesen kurz zusammenzuckt. "Der Sohn ist zwanzig und nichts", heißt es an einer Stelle, an einer anderen "die Welt fürchtet den, der weint". Das ist schmerzhaft und klug. Die Briefe sind nicht nur pathetisch, sondern zerbersten fast vor lauter Emotionalität, die bisweilen an die biblischen Propheten erinnert. Gekonnt setzt Dagerman mit ihnen eine Art Kontrapunkt zu den nüchtern anmutenden Erzählpassagen, die sich nicht einmal trauen, die Namen der Figuren zu nennen. Meisterlich ändert sich in ihnen der Tonfall zur Stimmung von Hauptfigur Bengt. Die Briefe "von ihm selbst an ihn selbst" sind zunächst voller Trauer über die Mutter und Wut auf den Vater, die Freundin, ach eigentlich die ganze Welt. Später öffnet sich Bengt und schreibt "an eine junge Frau" und gar "an eine Insel", und Teile dieses letzten Briefes erinnern in ihrer überbordenden Zärtlichkeit an den Sturm und Drang, vielleicht an eine Art "Werther 2.0".

"Gebranntes Kind" ist ein forderndes und herausforderndes Werk, das nicht gefällig ist, aber auch gar nicht gefallen will. Es ist schmerzhaft und schrecklich. Und dennoch ist es ein großes Buch, das mit bemerkenswerter Präzision das Innenleben eines Charakters emotional und stilistisch so außergewöhnlich kunstvoll präsentiert. Bengt trägt das gesamte Buch, es gibt keine Szene, die ohne ihn auskommt. Wenn er leidet, leidet der Roman. Wenn er liebt, blüht der Roman auf. Er dürfte eine der wohl widersprüchlichsten Hauptfiguren der Literaturgeschichte sein, ein klassischer Antiheld. Es fällt leicht, ihn auf den ersten Blick zu hassen. Doch betrachtet man sein Innenleben - und das ist bei der Lektüre unabdingbar - erkennt man die Zerrissenheit dieses jungen Mannes, seinen wahrhaftigen Schmerz über den Verlust der Mutter, seine Gefühle, von denen er nicht weiß, wohin damit.

Es ist eine kühne Entscheidung Stig Dagermans, einen solchen Protagonisten erschaffen zu haben, der vornehmlich auf Ablehnung stoßen wird, ohne ihm eine ebenbürtige positiv besetzte Figur entgegenzusetzen. Liest man aber die biographischen Angaben zu Dagerman im Anhang und im Nachwort, so konnte es eigentlich keine andere Entscheidung geben. Denn unglückliche Todesfälle, Schreibblockaden und schließlich der Suizid sechs Jahre nach Erscheinen des Romans machen aus Dagerman selbst ein "gebranntes Kind".

Bewertung vom 28.03.2024
Namen unbekannt
Babb, Sanora

Namen unbekannt


sehr gut

Oklahoma, in den 1930er-Jahren: Milt und Julia Dunne leben gemeinsam mit ihren beiden Töchtern und Milts Vater in einer ärmlichen Unterkunft. Zwar bessert sich ihre Situation etwas, als sie sich auf den Anbau von Winterweizen spezialisieren, doch immer wieder macht ihnen die Trockenheit einen Strich durch die Rechnung. Während die Sonne unnachgiebig brennt, leiden die Menschen zudem unter verheerenden Staubstürmen, die nicht nur die Ernte vernichtet, sondern auch Mensch und Tier krank macht. Als Julia und Milt diese Situation nicht mehr aushalten, entschließen sie sich, ihr Glück als Wanderarbeiter:innen in Kalifornien zu versuchen. Großvater Konkie bleibt gemeinsam mit Grund und Boden zurück...

"Namen unbekannt" ist ein Roman der US-Amerikanerin Sanora Babb (1907 - 2005), der Ende der 1930er-Jahre mit dem Originaltitel "Whose Names Are Unknown" entstand und sage und schreibe bis 2004 auf seine Erstveröffentlichung warten musste. Der Grund ist kurios: Ihre Notizen für den Roman teilte ihr damaliger Vorgesetzter mit John Steinbeck, der kurzerhand daraufhin seinen Welterfolg "Früchte des Zorns" schrieb. Babbs Romanprojekt wurde aus diesem Grund 1939 bei Random House beerdigt. Auch wenn ihr der Ruhm dadurch entging, so konnte sie sich im Krankenbett im stolzen Alter von 97 Jahren doch noch über die Veröffentlichung freuen. Nun ist der Roman in der Reihe "Reclams Klassikerinnen" in der deutschen Übersetzung von Sabine Reinhardus bei Reclam erschienen. Es handelt sich dabei um das erste Werk Babbs überhaupt, das auf Deutsch erschienen ist.

Schon das Cover, das auf einer berühmten Fotografie von Arthur Rothstein basiert, wirkt ungemein berührend. Es zeigt einen Farmer mit seinen beiden Kindern im Staubsturm vor einer ärmlichen Behausung und passt ganz hervorragend zum Ton des Romans. Denn "Namen unbekannt" ist ein im Grundton trauriges Buch, das sich vor allem mit den Themen Armut und Hunger beschäftigt, aber auch mit menschengemachten Katastrophen. Die erwähnten Sandstürme sind nämlich kein Zufall oder Schicksal. Sie entstanden, weil die Farmer:innen vor allem auf Monokulturen - in diesem Fall den Anbau von Weizen - setzten und das von der indigenen Bevölkerung geraubte Land nicht mit dem nötigen Respekt ihrer Vorgänger:innen behandelten. Im informativen und ungewöhnlich emotionalen Nachwort von Mareike Fallwickl bezeichnet diese Babbs Schreiben nicht nur als "nature writing", sondern "eco-critism", bevor dieser überhaupt existierte.

Und tatsächlich sind die Stellen, an denen Sanora Babb das Land und die Natur beschreibt, auch die stärksten. Fast scheint man, den Staub zu schmecken, die Hitze zu spüren. Ebenfalls spürbar ist die große Empathie, die Babb ihren Figuren entgegenbringt. Und es ist kein Wunder, dass sie sich so in Julia und das umfangreiche Ensemble hineinfühlen kann. Schließlich ist Babb selbst in Armut und als Farmerstochter aufgewachsen und kümmerte sich später während der Großen Depression als Sozialarbeiterin um in Not geratene Farmer:innen.

Nicht ganz so stark sind hingegen die Figurenkonzeption und der Handlungsaufbau. Die Handlung verläuft nämlich recht monothematisch. Zwar gibt es immer mal wieder wechselnde Schauplätze und Figuren, doch im Grunde dreht sich alles um Armut und Arbeit. Das ist einerseits verständlich, andererseits bewies gerade vor einem Monat mit Maria Leitners "Hotel Amerika" ein anderer Roman aus der Reihe "Reclams Klassikerinnen", dass man eine ähnliche Thematik auch viel dynamischer aufbereiten kann. Und trotz des von Fallwickl angesprochenen feministischen Grundtons bleibt mit Julia Dunne ausgerechnet die wichtigste Frauenfigur überraschend blass. In den ersten zwei Dritteln des Buches zeigt sie sich zwar grundsympathisch, doch man hat das Gefühl, sie sei ständig am Kochen, Stricken und Waschen. Da gibt es insbesondere im Teil, der in Kalifornien spielt, viel stärkere weibliche Charaktere. Etwas unglücklich wirkt auch, dass bei Julia eine erlittene Fehlgeburt psychologisch kaum eine Rolle spielt, sondern sie eher dem verkauften Klavier hinterher trauert. So ist es ihr Mann Milt, der um den Verlust des Kindes weint.

Insgesamt ist "Namen unbekannt" rein sprachlich, aber auch wegen der Aktualität der menschengemachten Klimakatastrophen ein würdiger Vertreter der Reclam-Reihe. Ein kleines Ärgernis ist, dass im ersten Drittel des Romans das Korrektorat ein wenig geschlampt und doch einige "das/dass"-Fehler übersehen hat. Es ist zu hoffen, dass weitere Werke Sanora Babbs ihren Weg ins Deutsche finden werden.

3,5/5

Bewertung vom 19.03.2024
Wir werden jung sein
Leo, Maxim

Wir werden jung sein


gut

Das hatte sich Professor Martin Mosländer nun wirklich anders vorgestellt. Sein an der Berliner Charité neu entwickeltes Medikament sollte doch eigentlich nur Herzinsuffizienzen beheben und für eine Erneuerung der lebensnotwendigen Zellen sorgen. Doch siehe da: Die vier Proband:innen erfreuen sich nicht nur immer besserer Gesundheit, sie verjüngen sich auch. Problematisch wird das Ganze erst, als absehbar ist, dass sich dieser Prozess nicht ohne Weiteres stoppen lässt. Und plötzlich merken auch die Patient:innen, dass so ein ewig sprudelnder Jungbrunnen vielleicht doch nicht die Rettung der Menschheit ist...

"Wir werden jung sein" ist der neue Roman von Maxim Leo, der jüngst bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Leo erzählt darin von den unbegrenzten Möglichkeiten der Medizin und was diese für die Gesellschaft bedeuten würden. Die Idee ist zweifelsohne genial und wurde meines Wissens nach so in der deutschen Gegenwartsliteratur noch nicht behandelt. Der Autor fokussiert sich dabei auf sechs verschiedene Hauptfiguren. Das sind neben dem Professor die vier Patient:innen Jakob, Wenger, Jenny und Verena sowie Miriam, wissenschaftliche Beraterin der Regierung. Gut gelingt es dem Autor, die Erzählstimmen rund um die einzelnen Figuren auch völlig unterschiedlich klingen zu lassen. So sind beispielsweise die Texte rund um den 16-jährigen Jakob jugendlich-flapsig, während beim 80-jährigen Immobilienmagnaten Karl Wenger stets eine gewisse Autorität mitschwingt. Positiv hervorheben muss man zudem, wie Maxim Leo es schafft, ein vordergründig wissenschaftliches Thema unterhaltsam, spannend und mit einem Augenzwinkern so zu vermitteln, dass der Roman durchaus eine breite Leserschaft ansprechen dürfte.

Womit wir beim Aber wären. Denn so genial diese Idee auch ist, so wirkt die literarische Umsetzung manchmal ein wenig unterkomplex. Dies ist vor allem bei der Figurenzeichnung zu spüren. Wir folgen den Charakteren in wortreichen Dialogen, Konflikte und Probleme werden fast ausschließlich darüber gelöst. Über das Innenleben der Figuren erfährt man viel zu wenig. Ein paar innere Monologe der Figuren, gerade in Bezug auf Ethik und Moral, hätten hier in meinen Augen eine größere Wirkung erzielt. Am stärksten sticht noch Verena heraus, ihrerseits Leistungsschwimmerin und Olympiasiegerin. Als die Folge der Tablettenneinahme ein neuer Schwimm-Weltrekord im fortgeschrittenen Alter ist, sieht sie sich plötzlich mit Dopingvorwürfen konfrontiert. Bei ihr spürt die Leserschaft noch am stärksten, was solche Vorwürfe bewirken können. Zudem gewinnen die Patient:innen allesamt im letzten Drittel unvermittelt an Kontur, als sie - leider jedoch aus recht absurden Gründen - dazu gezwungen sind, plötzlich zusammenarbeiten zu müssen.

Misslungen sind hingegen der Professor und insbesondere Miriam, die wissenschaftliche Beraterin. Martin nimmt selbst die von ihm kreierten Kapseln und verabreicht sie auch seinem geliebten Hund, was jedoch anders als bei den Patient:innen keine große Rolle spielt. Der eigentliche Protagonist, bei dem die wissenschaftlichen und erzählerischen Fäden zusammenlaufen sollten, ist eher eine Mischung aus albernem Hanswurst und nettem Onkel und lässt bis kurz vor dem Ende jegliche Haltung vermissen.

Miriam ist gar ein echtes Ärgernis. Die Figur wird offenbar nur eingeführt, um den Leser:innen mit dem Holzhammer die gesellschaftlichen Auswirkungen der Verjüngungskapseln einzutrichtern. In einer ermüdenden Szene diskutiert sie darüber mit den Politiker:innen und man hätte Maxim Leo hier mehr Vertrauen in die mitdenkende Leserschaft gewünscht. Letztlich verliert selbst der Autor sein Interesse an Miriam, im Finale findet sie schlichtweg nicht mehr statt.

Wobei das Finale insgesamt eher recht wirkungslos verpufft. Zwar werden bis auf Miriam noch einmal die Erzählstränge der einzelnen Charaktere recht warmherzig aufgenommen, doch die große Überraschung oder gar ein Aha-Effekt bleiben aus. So bleibt die Kooperation der vier Patient:innen zugleich erzählerischer wie auch Spannungshöhepunkt.

"Wir werden jung sein" ist insgesamt ein moderner und flott erzählter Unterhaltungsroman, dem eine große Aufmerksamkeit und Leserschaft gewiss sein sollte. Allerdings kratzt das Buch vor allem in den ethisch-moralischen Fragen und bei der Figurenzeichnung nur an der Oberfläche.

Bewertung vom 14.03.2024
Das Schweigen des Wassers
Tägder, Susanne

Das Schweigen des Wassers


ausgezeichnet

"Das Schweigen des Wassers" ist der Debütroman der gebürtigen Heidelbergerin Susanne Tägder, der jetzt bei Tropen erschienen ist. Es ist ein bemerkenswert souverän erzähltes Debüt, das vor allem durch seine starken Figuren, die melancholische Atmosphäre und die pointierten Dialoge glänzt. Doch auch auf der Handlungsebene weiß "Das Schweigen des Wassers" zu überzeugen. Denn der ertrunkene Eck ist nur der Pfeiler eines elf Jahre zurückliegenden Verbrechens. 1980 wurde im Tannenkruger Forst nämlich die Leiche der 19-jährigen Jutta Timm gefunden. Der Mord blieb unaufgeklärt, obwohl Eck seinerzeit bereits ein Geständnis abgelegt hatte, vor Gericht aber freigesprochen wurde.

Das größte Plus sind aber die Figuren. Neben Protagonist Groth gibt es eine ganze Reihe an Charakteren, die den Leser:innen lange im Gedächtnis bleiben werden. Da ist beispielsweise Gerstacker, Groths nächster Kollege, der alles ganz genau nimmt und sich von niemandem reinreden lässt. Schon gar nicht von jemandem, der aus Westdeutschland kommt. Da ist Hennemann, Fotograf und Reporter der lokalen Zeitung, der zum Fall der ermordeten Jutta Timm eine ganz besondere Verbindung hat. Da ist Regine Schadow, Kellnerin eines zweitklassigen Lokals am See, die mehr über Eck weiß, als es anfangs scheint. Und da ist Ecks Vater, ein nach außen hin stoisch wirkender Hinterbliebener. Sie alle haben ihre Verletzungen erlitten und gemeinsam bilden sie so etwas wie ein Panorama der Versehrten. Tägder nähert sich diesen Verwundeten mit großer Empathie und Mitgefühl, nie verrät sie sie, welche Fehler sie auch begehen mögen. Hervorstechend ist aber tatsächlich Arno Groth. Der Kafka lesende Kommissar musste einige Schicksalsschläge verkraften. Er trauert noch immer um seine Tochter Saskia und auch beruflich hat er Hamburg nicht ohne Grund verlassen. Tägder widmet ihren Roman allen, "die ein rauer Wind aus ihrer Heimat fortgeweht hat" und bezeichnenderweise trifft dies auch auf Groth und viele ihrer Figuren zu. Groth ist ein herausragendes Beispiel an Menschlichkeit, ein Ermittler, der trotz seiner Probleme nie so verkorkst wirkt wie seine literarischen Kolleg:innen aus Schweden.

Atmosphärisch erinnert "Das Schweigen des Wassers" in seiner Melancholie ein wenig an die Fälle von Friedrich Anis Ermittler Jakob Franck, die bedauerlicherweise seit 2017 auf eine Fortführung warten. In den Dialogen agiert Tägder aber ohne die Francksche Tristesse, sondern lockert den in seiner Gesamtheit eher düsteren Grundton immer wieder pointiert und feinsinnig auf. Beispielsweise, wenn Groth sich in einer Dorfkneipe auf die Suche nach einem ehemaligen Bandkollegen von Siegmar Eck begibt. Oder wenn Regine Schadow, die die zweite Hauptfigur in diesem Kriminalroman ist, ihre Oma im Pflegeheim besucht.

Toll sind auch die plastischen Beschreibungen der fiktiven Stadt Wechtershagen, deren geographisches Vorbild Neubrandenburg ist, Herkunftsort von Susanne Tägders Eltern. So erfahren wir es in der Danksagung ganz am Ende des Buches. In dieser schildert die Autorin auch, woher die Idee des Krimis stammte. Die Geschichte basiert nämlich auf einem wahren Fall, den die Journalistin Renate Meinhof 2002 in der Reportage "Das eisige Echo des Verdachts" für die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte. Ich empfehle eindringlich die Lektüre dieser Reportage, die sich einfach und kostenfrei im Archiv des Reporter-Forums finden lässt. Allerdings erst nach der Lektüre von "Das Schweigen des Wassers", denn es wäre schade, sich die bis zum Ende bestehende Spannung möglicherweise dadurch zu verderben, wenn man schon zu viel weiß.

Im Klappentext meint Schrifstellerkollege Andreas Pflüger über Susanne Tägder: "Diese Autorin ist gekommen, um zu bleiben." Wünschenswert wäre es auch, wenn man sagen könnte "Dieser Kommissar ist gekommen, um zu bleiben", denn man fühlt sich dem Protagonisten am Ende so verbunden, dass man ihn schwer wieder loslassen möchte. Mit "Das Schweigen des Wassers" gelingt Susanne Tägder jedenfalls ein bemerkenswert großer Schritt in Richtung des bislang rein männlichen Triumvirats der höchsten Klasse der deutschen Kriminalliteratur, bestehend aus Friedrich Ani, Matthias Wittekindt und Jan Costin Wagner.

Bewertung vom 11.03.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


gut

Trophäenjäger Hunter White hat sein Ziel fast erreicht. Von Afrikas "Big Five" fehlt ihm nur noch das Spitzmaulnashorn. Löwe, Leopard, Büffel und Elefant zieren längst die heimischen Räume seiner Villa. Nun möchte er seiner Frau noch dieses letzte fehlende Geschenk machen. Unterstützung erhält er dabei von seinem Freund und Jagdpartner Van Heeren, der mit der Großwildjagd in Afrika schon seit längerer Zeit ein äußerst lukratives Geschäft betreibt. Doch mit dem prähistorisch anmutenden Dickhäuter ist nicht zu spaßen. Als ein erster Angriff auf das Nashorn schief läuft, macht ihm Van Heeren ein perfides Angebot, das Hunter an dessen moralische Grenzen führt. Wie wird er sich entscheiden?

"Trophäe" ist der neueste Roman der flämischen Autorin Gaea Schoeters, der jüngst in der deutschen Übersetzung aus dem Niederländischen von Lisa Mensing bei Zsolnay erschienen ist. Er dürfte zweifellos einer der polarisierendsten Romane des Jahres werden und auch auf der bevorstehenden Leipziger Buchmesse mit dem Gastland Niederlande & Flandern und dem Motto "Alles außer flach" für Aufregung sorgen. Und flach ist "Trophäe" keinesfalls. Dennoch ist das Buch insgesamt eher eine Enttäuschung, wenn man bedenkt, wie hoch die Vorschusslorbeeren aus den Niederlanden und Belgien waren - inklusive Literaturpreis der belgischen Sabam, dem Pendant zur deutschen GEMA.

Die erste kleinere Enttäuschung liefert dabei tatsächlich schon ein Blick aufs Cover. Dieser Blick des Nashorns, die kleinen Härchen am Ohr, das beeindruckende Horn. Was für ein prächtiges Foto! Denkt man zumindest auf den ersten Blick. Wer war denn dieser talentierte Fotograf? Werfen wir einen Blick auf den Schutzumschlag. Oh, es war die KI! Schade!

Alles andere als artifiziell oder enttäuschend ist hingegen von Beginn an Gaea Schoeters' Sprache. Es ist bemerkenswert, wie es der Autorin gelingt, dieses aus guten Gründen namentlich nicht näher benannte afrikanische Gebiet zum Leben zu erwecken. Diese drückende Hitze, die Geräusche und Gerüche. Die Schilderung der Landschaft. Die Beobachtung der Tiere. Dazu die plastische und authentisch wirkende Vorbereitung der Jagd. Das alles hat ganz große Sogkraft. In Frankreich wurde "Trophäe" auf dem Buchmarkt als Thriller verkauft. Es ist eine weise Entscheidung, dass Zsolnay das Buch im deutschsprachigen Raum als literarischen Roman herausgebracht hat. Die Intensität der Sprache hätte bei einem typischen Thriller-Publikum wohl nicht die ausreichende Würdigung erfahren.

Wobei sich "Trophäe" in seinen schwachen Momenten dann doch den Thriller-Konventionen bedenklich nähert. Da ist zum einen die unerhörte Grausamkeit, die der Roman aufweist. Wer explizite und detaillierte Tötungen von Tieren verachtet und wessen Magen rebelliert, wenn sich ein "schmunzelnder Büffel" auf einen Menschen setzt, um ihm den Bauch mit den Hörnern aufzureißen, der mache besser einen Bogen um "Trophäe". Noch schwerwiegender ist allerdings der Zynismus, den Schoeters ihren Figuren entgegenbringt. Es ist schwierig, diesen näher zu erläutern, ohne auf den - etwas reißerisch - auf dem Klappentext so zitierten "ethischen Mindfuck" (Dimitri Verhulst) einzugehen. Es ist kein guter Umgang der Autorin mit ihren Figuren. Nicht einmal mit Dawid, einem Einheimischen, der so etwas wie der Good Guy des Romans und somit der Gegenpart des widerwärtigen Protagonisten Hunter White - der Name ist natürlich Programm - sein soll.

Was Schoeters hingegen hervorragend gelingt, ist die subtile Vereinnahmung ihrer Leserschaft. Es ist im positiven Sinne bemerkenswert perfide, wie sie diesen Hunter White vor allem zu Beginn des Romans darüber philosophieren lässt, warum die Großwildjagd doch eigentlich Naturschutz sei und warum auch das Land nicht nur finanziell, sondern auch ökologisch von seinem perversen Hobby profitiere. Zudem zwingt die Autorin die Leser:innen dazu, sich zu hinterfragen. Wo sind eigentlich die Grenzen von Ethik und Moral?

Schwach hingegen ist, dass sich "Trophäe" 250 Seiten lang thematisch wenig bewegt. Eine Jagd folgt der anderen. Mal wird ein Nashorn gejagt, mal ein Büffel, mal ein anderes Raubtier. Natürlich ist dies neben der Moral das Grundthema des Buches, aber etwas weniger monothematisch hätte es schon sein dürfen.

Gaea Schoeters' "Trophäe" ist ein Buch, das auf der einen Seite provozieren und wehtun möchte und auf der anderen Seite eine Haltung einfordert zu großen Themen wie Tier- und Naturschutz und Postkolonialismus. Ein legitimes Ansinnen, das letztlich aber daran scheitert, literarisch zu wenig abwechslungsreich zu sein und durch seinen Zynismus und die Grausamkeiten im Laufe des Romans immer mehr abzustumpfen. So ist die Aufregung um das Buch dann doch so ein wenig wie das Nashorn auf dem Cover: auf den zweiten Blick ein wenig künstlich.