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Adelebooks
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Bremen

Bewertungen

Insgesamt 97 Bewertungen
Bewertung vom 22.05.2024
Wir werden jung sein
Leo, Maxim

Wir werden jung sein


sehr gut

Stellen Sie sich vor, wir könnten ewig leben…


Jakob ist erst 17 und bemerkt plötzlich Veränderungen an seinem Körper. Jenny versucht mit knapp 40 Jahren lange vergeblich schwanger zu werden, und erwartet plötzlich ein Kind. Dem alten Unternehmenspatriarchen Wenger drohte multiples Organversagen, sein Testament ist verfasst, doch plötzlich geht es ihm immer besser. Verena, aufgrund einer Erkrankung des Herzmuskels mit Herzinsuffizienz, Schwimmerin im Ruhestand, schwimmt plötzlich einen Rekord. Sie alle haben eines gemeinsam - sie sind Teilnehmer:innen einer Studie an der Charité für ein neues Herzmedikament, das Herzmuskelzellen regenerieren können soll.

Martin sind als behandelndem Arzt und zuständigem Forscher die Ereignisse zunächst ein Rätsel, bis deutlich wird, dass es kein Zufall sein kann. Sein Medikament kann offensichtlich viel mehr als nur Herzmuskelzellen regenerieren.

Miriam ist wissenschaftliche Beraterin der Regierung und bewertet als Moralphilosophin ethische Fragen. Was bedeutet es, wenn wir ewig leben, unsere Kinder keine Kinder bekommen dürfen? Werden durch immer dieselben Menschen überhaupt noch neue Innovationen möglich? Wer erhält Zugang zum Medikament und aufgrund welcher Kriterien?

Mit der unerwarteten Nebenwirkung des Medikaments stellen sich sowohl medizinische als auch persönliche und gesellschaftliche Fragen, die in - Wir werden jung sein - in den Mittelpunkt rücken. Es beginnt ein Duell zwischen Medizin und Gesellschaft.

Das Szenario ist interessant und durch die Vielfalt der Perspektiven gelingt es dem Autor sehr gut die zahlreichen persönlichen ebenso wie gesellschaftlichen Auswirkungen eines vermeintlich ewigen Lebens darzustellen. Leider blieben die Figuren dabei für mich etwas blass, sodass ich zu keiner eine wirkliche Nähe beim Lesen aufbauen konnte.

Sprachlich kann Maxim Leo, wie immer, brillieren, der Roman liest sich flüssig, pointiert, unterhaltsam und klug.

Überzeugend ist für mich der Roman primär auf gesellschaftstheoretischer Ebene, hier hat der Autor gut recherchiert und die strukturellen wie moralethischen Implikationen des Szenarios sehr gut ausgearbeitet und zeigt auf was Kapitalismus und Gerechtigkeit im deutschen und globalen Gesundheitssystem bedeuten.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.05.2024
Und dann sind wir gerettet
Carati, Alessandra

Und dann sind wir gerettet


ausgezeichnet

Gibt es eine echte Rettung vor Krieg und (vererbten) Traumata?

Aida ist 6 Jahre alt, als sie im Jahr 1992 mit ihren Eltern aus ihrer bosnischen Heimat vor dem Krieg flieht. Was folgt, ist nicht nur eine gefährliche Flucht durch ein bereits kriegsgebeuteltes Gebiet, sondern auch ein Ankommen in Italien, das zwar physisch zunächst Frieden verspricht, innerlich kann jedoch kein Familienmitglied die schrecklichen Erfahrungen abstreifen. Hinzu kommt die stete Sorge und Trauer um die zurückgelassenen Familienmitglieder und Freunde.

In diesem Rahmen erzählt Alessandra Carati auf drei Zeitebenen zwischen 1992 und 2013 die Geschichte einer Flucht, eines Ankommens und einer Rückkehr.

Poetisch und sensibel, mit einem besonderen Blick für die menschlichen Zwischentöne beschreibt die Autorin die Herausforderungen für das Familienleben, bei dem die Integration in das neue Umfeld der Sehnsucht nach der Heimat und dem Schmerz der Kriegserfahrung gegenübersteht und wie ein Pendel ausschlagen, ohne je in ein echtes Gleichgewicht zu finden, eben weil dies vielleicht auch kaum möglich ist.

In einer Familie zeigt Carati so die Variation von Traumata durch Kriegs- und Fluchterfahrung und den Umgang mit diesen, von Abgrenzung, Aggression über innere Verschlossenheit bis hin zur Psychose.

Und dann sind wir gerettet ist ein schmerzhaftes und hoffnungsvolles Buch zugleich, das nicht nur inhaltlich mit einem sensiblen Blick für psychische und soziale Herausforderungen in Verbindung mit Krieg, Flucht und Neuanfang, sondern auch einer wundervoll poetischen Sprache der Autorin überzeugt. An dieser Stelle muss auch die herausragende Übersetzung aus dem Italienischen unbedingt erwähnt werden.

Bewertung vom 13.05.2024
Windstärke 17
Wahl, Caroline

Windstärke 17


ausgezeichnet

Freischwimmen

Vorab: für mich war 22 Bahnen mein Überraschungsbuch 2023, mich hat die Geschichte um Tilda und Ida unglaublich berührt und ich habe mit ihnen gelitten, geweint und mich natürlich ebenso gefreut. Mit Windstärke 17 setzt Caroline Wahl diese mitnehmende, authentische Geschichte nun fort, diesmal aus Idas Perspektive ca. 10 Jahre später. Doch kann sie damit an 22 Bahnen anschließen, sich sogar übertreffen?

Windstärke 17 beginnt wenige Wochen nach dem Tod von Idas und Tildas alkoholkranker Mutter. Ida ist Anfang 20, überfordert mit dem Verlust, verloren in Wut, Trauer und Schuldgefühlen und möchte einfach nur noch weg, ohne zu wissen wohin. In dieser Ziellosigkeit landet sie schließlich an einem abgelegenen Zipfel des Landes, auf der Ostseeinsel Rügen. Die Insellage, den Launen der Natur ausgesetzt, ist nicht ohne Grund, das was sie angezogen hat, entspricht es doch am ehesten ihrem aufgewühlten Innenleben. Durch einen glücklichen Zufall lernt sie das ältere Paar Marianne und Knut kennen, und findet bei den bodenständigen Insulanern, genau das, was sie gerade so dringend braucht.

Idas Gefühle, die mit dem Tod der Mutter ausbrechen, gehen weit über die Trauer hinaus. Da sind Wut und Enttäuschung über die Mutter, die aufgrund ihres Alkoholismus nie wirklich eine Mutter war, und all die Verletzungen der Vergangenheit, Schuldgefühle, und das Gefühl plötzlich allein auf der Welt zu sein.

Bereits nach wenigen Zeilen und Seiten bin ich mit Ida und ihrem Fühlen und Erleben verschmolzen. Die Wut über den Verlust der Mutter, auf Tilda, sich selbst, die Welt, ohne Ziel und so stark, dass sie für Trauer (noch) keinen Platz lässt. Und dazu immer wieder Schuldgefühle, hätte sie mehr tun müssen? Etwas tun müssen? Caroline Wahl versteht es dieses undefinierbare Gefühl Idas, eine Symbiose aus so vielen schmerzhaften Empfindungen und ihrer Verdrängung, einzufangen und das Erleben ihrer Figur für die Leserin nicht nur nachvollziehbar, sondern fast spürbar zu machen.

Mir hat sehr gefallen, dass die Autorin nach 22 Bahnen auch in Idas Geschichte dem Wasser eine so prominente Rolle einräumt. Ida kämpft mit den Wellen der Ostsee, wie sie mit und gegen sich selbst kämpft, gegen Trauer, Wut und Schuldgefühle. Sie dabei zu begleiten ist traurig und schön zugleich.

Wird Ida wieder zu sich finden, vielleicht überhaupt erstmals ein eigenes Ich unabhängig von der Krankheit ihrer Mutter ausbilden können, ihren Weg und innere Stärke entdecken? Wird sie ihrer Mutter, Tilda und am wichtigsten, sich selbst verzeihen können? Welche Rolle werden Marianne und Knut, und der ebenso traurige, gezeichnete Leif, den sie auf der Insel kennenlernt, dabei spielen? Da hilft nur: unbedingt lesen und herausfinden!

Man kann Windstärke 17 sicher auch gut lesen ohne 22 Bahnen zu kennen. Doch warum sollte man das tun und damit auf die wundervolle Geschichte darin und die Einblicke in Idas Vergangenheit verzichten?

In Windstärke 17 zeigt Caroline Wahl was ein Aufwachsen in dysfunktionalen Familienverhältnissen mit uns macht, wie schwer es ist einen gesunden Weg zwischen Nähe und Abgrenzung zu finden, da man egal wie, nie der Herkunft wirklich entkommen kann. Und zuletzt bleiben bei allem eigenen Leid, Schuldgefühle, Trauer und Wut. Idas und Tildas Geschichten zeigen jedoch auch, wie man selbst in Situationen, die zu schwer zum Tragen anmuten, Hoffnung und sich selbst finden kann, um trotz oder vielleicht gerade wegen einer schweren Vergangenheit gestärkt ins Leben und die Zukunft zu treten!

Bewertung vom 12.05.2024
25 letzte Sommer
Schäfer, Stephan

25 letzte Sommer


ausgezeichnet

Zwei Tage und der Beginn einer Freundschaft, die ein Leben verändern

Der Ich-Erzähler in 25 Sommer ist beruflich erfolgreich, hat privat ein stabiles Familienleben mit zwei Kindern, steht auf den ersten Blick mitten im Leben. Und doch fühlt er sich viel zu oft eher neben sich und nicht mit beiden Beinen auf dem Boden. Er hat verlernt zu leben, ist irgendwann falsch abgebogen im Leben und schon viel zu lange in der modernen Effizienz- und Optimierungsmaschinerie gefangen, er funktioniert ohne wirklich zu leben. Ein Wochenende im eigens zur Entschleunigung angeschafften Häuschen auf dem Land soll etwas Ruhe bringen. Doch selbst die Natur vermag nicht die innere Anspannung zu lösen. Da entdeckt er bei einem Abzweig seiner Laufrunde zu einem See einen anderen Mann, der beschwingt aus dem kühlen Nass steigt.

Die Offenheit und Freundlichkeit des Fremden irritiert und beruhigt ihn auf eine ihm vergessene Weise. Es ist echtes Interesse an seiner Person, seinem Denken und Fühlen, fernab von Status und Oberflächlichkeit, die sonst seinen (Berufs-)Alltag bestimmen. Und so begleitet er den Mann, der sich als Karl vorstellt auf seinen nahe gelegenen Bauernhof, lernt dessen Familie und Leben kennen und entdeckt dabei Stück für Stück neue Perspektiven und auch lange vergessene Aspekte von sich selbst wieder. In den Gesprächen mit Karl wird deutlich, dass auch dieser seine gelassene Lebenseinstellung nicht in die Wiege gelegt bekommen hat, sondern aus Erfahrungen seines Lebens gelernt hat, lernen musste. Und so lernen zwei Menschen Neues übereinander, voneinander und sich selbst, der Beginn einer echten Freundschaft, wie sie das Leben schreibt.

25 Sommer ist eine berührende, lebensweise Erzählung über den Beginn einer Freundschaft, dem Einlassen auf ein neues Gegenüber und die Bereitschaft loszulassen vom vermeintlichen Müssen des Alltags und das Glück, das man dabei in der Begegnung, in sich selbst und anderen zu finden vermag!

Bewertung vom 02.05.2024
Heult leise, Habibis
Masrar, Sineb El

Heult leise, Habibis


weniger gut

Dauererregung und Polarisierung sind eine Gefahr für unsere Demokratie und gehen damit uns alle etwas an

In diesem eher schmalen Essay zeigt Sineb El Masrar auf, wie eine gesellschaftliche Dynamik entstanden ist, in der die Extrovertierten und Lauten immer lauter werden und damit vernünftigen, ausgewogene Stimmen in den Hintergrund geraten und so letztlich auch in den Debatten um die Zukunft unserer Demokratie fehlen. Die Autorin liefert interessante Denkanstöße und sensibilisiert für gesellschaftliche und diskursive Dynamiken, die letztlich unsere Demokratie bedrohen können. Der Schreibstil ist eingängig und leicht zu folgen.

Was mich nicht überzeugt hat, ist das fast vollständige Ausblenden struktureller Faktoren in der Analyse bei gleichzeitiger Überbetonung diskursiver und psychoanalytischer Elemente, die vermeintlich monokausal zu bestimmten gesellschaftlichen Konsequenzen führen. So wird beispielsweise der NSU als Folge der von der Autorin beschriebenen kommunikativen Dynamik genannt. Hier bedient die Autorin sich ähnlicher Werkzeuge, die sie an anderer Stelle kritisiert. Während sie Ideologisierung und Polarisierung über weite Strecken sehr gut und nachvollziehbar als problematisch herausarbeitet, zur besonnenen Reflexion aufruft, verfällt die Schrift selbst im Verlauf in den Dienst der Proklamation sehr einseitiger Positionen der Autorin und der Überlegenheit eines wirtschaftsliberalen Konservatismus.

Insbesondere in der zweiten Hälfte verliert das Buch damit für mich an Stärke. Dieser Eindruck wird zusätzlich dadurch verfestigt, dass zunehmend einige Gedankengänge und Argumente in sich inkonsistent, eindimensional und auch redundant sind, andere scheinen wiederum selbst einer Aufmerksamkeitslogik zu folgen, wie wenn die Autorin unter Orgasmische Polarisierung die Sexualisierung von Polarisierung ausführt. Von einem soziologisch und sozialpsychologisch geschulten Lektorat hätte die Schrift sicher profitiert, insbesondere mit Blick auf die einschlägigen theoretischen Grundlagen zu sozialer Identität und Intergruppenkonflikten.

Einer starken ersten Hälfte, die viele wichtige Denkanstöße liefert und mit einer erfrischend ausgewogenen Analyse und Betrachtung überzeugt, steht so ein deutlich schwächerer zweiter Teil gegenüber, in dem die Autorin in der Umsetzung dem eigenen, zuvor formulierten Anspruch leider nicht gerecht werden kann. Das Ziel der Schrift bleibt damit letztlich unklar.

Bewertung vom 30.04.2024
Und alle so still
Fallwickl, Mareike

Und alle so still


ausgezeichnet

Die Wegwerfmenschen - Nicht gehört, nicht gesehen, nicht geachtet

Elin, Ruth, Alma, Nuri. Vier Personen und jede leidet auf jeweils eigene Art unter den patriarchalen Strukturen, der Diskriminierung und Ausbeutung in der Gegenwartsgesellschaft. Während die junge Elin als Social Media Star an der hohlen Selbstdarstellung zweifelt und Nähe und Anerkennung in kurzen sexuellen Abenteuern sucht, bekommt Nuri jeden Tag zu spüren, was es als Arbeiterkind mit Migrationshintergrund bedeutet zu den nicht privilegierten Klassen in der modernen kapitalistischen Dienstleistungsökonomie mit zum Teil nicht mal rudimentärer sozialer Absicherung zu gehören. Ruth wiederum bekommt als Krankenpflegerin täglich die Konsequenzen eines Gesundheitssystems zu spüren, in dem echte Fürsorge und menschenwürdige Pflege nicht honoriert wird, im Gegenzug jedoch das Sparen auf Kosten von Patient:innen und dem Personal. Der Personalmangel in der Pflege wird so mit allen Konsequenzen für Patientinnen und Pflegekräfte bildlich herausgearbeitet.

Was die Protagonist:innen eint ist Einsamkeit und eine Verzweiflung an den Zumutungen, die dieses System an jeden einzelnen von ihnen und letztlich uns alle stellt. Doch wie dem entkommen? Wie kann Veränderung gelingen? Die Autorin skizziert im Roman hierzu ein mögliches Szenario und setzt dieses auch sprachlich hervorragend um.

Gekonnt buchstabiert Mareike Fallwickl die Bedeutung von Systemrelevanz literarisch aus und führt uns damit vor Augen was tatsächlich passiert, wenn all die als selbstverständlich wahrgenommenen Tätigkeiten von Frauen im Privaten wie im Beruflichen nicht erledigt werden. Dabei beweist sie einen sensiblen Blick nicht nur auf Sexismus und Misogynie sondern ebenso auf all die Zumutungen eines harten Arbeiter:innenlebens.

Und alle so still - ist das Gegenteil seines Titels, denn still ist dieser aufwühlende, emanzipatorische Roman sicher nicht!Und das ist genau richtig!

Bewertung vom 29.04.2024
Wären wir Vögel am Himmel
Litteken, Erin

Wären wir Vögel am Himmel


sehr gut

Die Ukraine im 2. Weltkrieg - zwischen Schmerz und Hoffnung

Wären wir Vögel erzählt die Geschichte zweier ukrainischer Familien in der Zeit des zweiten Weltkriegs und dabei auch die schmerzhafte und wechselhafte Geschichte der Ukraine und ihres Volkes. Besonders eindrucksvoll fand ich die starken Frauen in der Erzählung. Krieg, Flucht, Verschleppung, Hunger, Verlust und Trauer bestimmen viel zu oft ihren Alltag in dieser Zeit und trotzdem strahlen Lilija, Halya und Vika eine unbändige Stärke und Willen zur Selbstbehauptung aus, jede auf ihre Weise.

Inhaltlich vermittelt der Roman fast schon nebenbei viel historisches Wissen zur Geschichte der Ukraine, ihrem Zerreiben zwischen verschiedenen Mächten und dem Kampf um Unabhängigkeit, der deutschen Besatzung im zweiten Weltkrieg und dem grausamen Schicksal von Zwangsarbeiterinnen, die, zum Teil noch Kinder, aus besetzten Staaten in Osteuropa zur Arbeit in der Rüstungsindustrie nach Deutschland verschleppt wurden.

Sensibel blickt Erin Litteken jedoch auch auf die sozialen Beziehungen und bewegt sich hier zwischen Hass und Leid, Menschlichkeit, Hilfe und auch Freundschaften zwischen Polen, Russen und Ukrainern.

Zum Ende hin verliert die Autorin sich leider ein wenig in einer allzu klischeehaften Darstellung.

Sehr lesenswert ist die historische und persönliche Einordnung des Geschriebenen als Anmerkung der Autorin am Endes des Romans.

Sprachlich wurde ich leider nicht ganz überzeugt und kann nicht einschätzen, ob dies an der Übersetzung liegt. Einige Formulierungen ergeben schlicht keinen Sinn, wie wenn Haare vermeintlich an der Wurzel abgeschnitten werden, dann aber kinnlang sind. Andere finde ich eher ungewöhnlich, wie ein Bevor und ein Danach. Für mich wäre Davor und Danach ein üblicherer Ausdruck.

Wären wir Vögel am Himmel ist ein schmerzhafter und hoffnungsvoller Roman zugleich, den ich mit ganz leichten Abstrichen in der Sprache sehr gerne empfehle!

Bewertung vom 23.04.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


gut

Die Chronologie eines Skandals in der Verlagswelt im Twitterzeitalter

Athena hat alles was June sich immer erträumt hat. Mit Mitte 20 ist sie ein Star der Literaturszene, weiblich, divers, talentiert, gut aussehend. June hingegen ist eine vollkommen durchschnittliche weiße Amerikanerin und erfolglose Autorin. Durch das gemeinsame Studium verbindet die beiden eine lose Freundschaft, und als Athena unglücklich beim Essen erstickt, ist June dabei. Ohne viel nachzudenken, schnappt sie sich Athenas neuestes Manuskript…

Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich Yellowface mit Schuld, kultureller Aneignung, Rassismus, Cancel Culture, der Rolle sozialer Medien in diesem Kontext und der hart umgekämpften Verlagswelt.

So interessant wie die Darstellung der Verlagswelt und auch die des Twitter und Social Media - Mobs waren, hatte der Roman für mich doch einige Längen. Viele Motive wiederholen sich und auch June entwickelt sich als Charakter nicht weiter, wird immer wieder in ihre Haltung zwischen Neid, Reue, Erfolgssucht hineingeschrieben und verharrt und verzweifelt dort. Zum Teil war der Charakter für mich inkonsistent, wenn einerseits das Schreiben als größte Passion herausgestellt wird und andererseits jedoch der Erfolg und die Anerkennung vollkommen im Vordergrund stehen - um jeden Preis.

Insgesamt lässt mich Yellowface etwas ratlos zurück. Es ist stilistisch gut geschrieben, gibt interessante Einblicke in die Verlagswelt und regt zum Nachdenken über Cancel Culture und die Rolle von Social Media an. Doch gleichzeitig bleibt es seltsam blass dabei, ohne echte Botschaft oder Charakterentwicklung und zeigt einige Längen. Für mich hallt Yellowface dadurch nur wenig nach und reiht sich in solide Unterhaltungsliteratur ein. Nach dem Hype um den Roman, habe ich etwas mehr erwartet.

Bewertung vom 16.04.2024
Die Spaghetti-vongole-Tagebücher
Maiwald, Stefan

Die Spaghetti-vongole-Tagebücher


ausgezeichnet

Ein sehr persönlicher Reisebericht mit viel Kulinarik, Historie und Lebensart Italiens

Den Titel auf ein Gericht zu reduzieren, ist eine wahre Untertreibung für den vielfältigen kulinarischen Inhalt dieses Buchs. Und auch bei der Kulinarik ist nicht Schluss, denn in den Spaghetti Vongole Tagebüchern, gibt Autor Stefan Maiwald ebenso interessante und unterhaltsame Einblicke in die italienische Geschichte, Kultur und Lebensart.

Der Autor nimmt uns mit in seine Vorbereitungen für sein großes Geburtstagsmahl bei dem es in erster Linie darum geht seine kritischen Schwiegereltern zu überzeugen. Für den Anspruch der besten, authentischsten Küche, Rezepten, Zutaten und Inspiration reist er dafür von Conegliano nach Triest.

Dabei erfahren wir nicht nur viel über die Region und unglaublich leckere Rezepte. In den Einschüben - Am Wegesrand - gibt der Autor auch immer wieder Einblicke und Informationen zur Herkunft von Rezepten, italienischen Eigenarten, oder auch Mussolinis Verhältnis zur Pasta.

Der Schreibstil ist sehr flüssig und einnehmend, man hat fast das Gefühl vom Autor direkt angesprochen und mitgenommen zu werden auf seine Reise und Begegnungen.

Unbedingt erwähnenswert ist auch, dass das ganze Buch nicht nur inhaltlich ein Genuss ist, auch Layout, das Cover und seine Haptik, überzeugen auf ganzer Linie.

Die Spaghetti Vongole Tagebücher sind ein kurzweiliger Leseurlaub in Italien, bei dem man ganz in die Region eintauchen kann, dabei viel über das italienische Kochen und Verhältnis zum Essen ebenso wie die Lebensart und Kultur erfährt und direkt etwas Leckeres zaubern möchte - bei mir ist es das Tiramisu.

Bewertung vom 14.04.2024
James
Everett, Percival

James


ausgezeichnet

Potential für einen neuen Klassiker!

James erzählt ausgehend von Mark Twains Klassiker Die Abenteuer des Huckleberry Finn, die Geschichte um Huck Finn und Jim neu bzw. ergänzt sie aus Perspektive des Sklaven Jim.

Everett schreibt mit James die Geschichte einer immer stetiger wachsenden Einsicht in die Ungerechtigkeit und Grausamkeit der Verhältnisse, der Evolution eines Zorns auf diese und in der Konsequenz einer inneren und äußeren Befreiung von Unfreiheit. Die Einsichten in die Sklaverei mit all ihren Grausamkeiten sind zum Teil schwer auszuhalten und es ist für mich fast unvorstellbar, dass dies möglich und gesellschaftlich akzeptiert war, sogar verteidigt wurde.

Trotzdem kommt der Roman stellenweise auch mit einer seltsamen Leichtigkeit zwischen den Zeilen daher, die zunächst gar nicht so recht zu der furchtbaren Realität James’ passen mag. Diese ergibt sich jedoch insbesondere in den Gesprächen zwischen James und dem jungen Huckleberry Finn, der mit kindlichem Übermut und Neugier beginnt die gesellschaftlichen Strukturen in Frage zu stellen.

Eindrucksvoll waren für mich die Passagen in denen Everett über das Lesen, Wissen und Schreiben reflektiert und diese als Macht und Weltzugang, der Freiheit ermöglicht und Trost spendet, herausarbeitet. Besonders gefallen haben mir auch die kurzen ideengeschichtlichen Reflexionen James‘ über Freiheit und Gleichheit in der Auseinandersetzung mit Voltaire, Montesquieu und Locke.

Etwas gewöhnungsbedürftig beim Lesen ist der Slang mit dem Jim und auch alle Sklaven sprechen. Eine, wie sich schnell herausstellt bewusste, vermeintlich primitiv wirkende Sprache und Ausdrucksweise mit der die Sklaven vor den Weißen eine Rolle spielen, die ihnen von diesen zugeschrieben wird und daher auch im Sprachgebrauch nicht hinterfragt wird.

Mit James ist Percival Everett ein sowohl literarisch als auch gesellschaftspolitisch bedeutendes Werk gelungen, das als Ergänzung zu Mark Twains Huckleberry Finn unabdingbar ist und keinen Tag zu früh kommt.