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Benutzername: 
Ninis_weltderbuecher
Wohnort: 
Viernheim

Bewertungen

Insgesamt 35 Bewertungen
Bewertung vom 26.11.2022
Als die Welt zerbrach
Boyne, John

Als die Welt zerbrach


ausgezeichnet

'Gleichgewicht des Schreckens'
"Gretel Fernsby, über neunzig, lebt seit Jahrzehnten in ihrer Londoner Wohnung. Sie führt ein ruhiges Leben, trotz ihrer dunklen Vergangenheit. Über den Tod ihres Bruders spricht sie nicht. Genauso wenig wie über ihre Flucht aus Deutschland vor über siebzig Jahren. Vor allem aber verliert sie kein Wort über ihren Vater, der Kommandant in einem Konzentrationslager war. Als eine junge Familie in die Wohnung unter ihr zieht, weckt der neunjährige Erinnerungen, die sie lieber vergessen hätte." Klappentext

John Boyne schenkt in seinem neuen Roman 'Als die Welt zerbrach' einer zarten, irisch brilliant humorvollen, in sich versunken brodelnden Erzählstimme das Leben, die mitnichten Wege der Perfektion sucht, sondern all das Unausgegorene, was sich wahrhaftiges Leben nennt, auf die Seiten zaubert.
In der Narration Klug inszeniert unerwartete Wendungen beheizen in gekonnt eingesetzten Dosierungen den hitzig temperierten Spannungsbogen. Anhaltend konnte ich mit diesem Buch in der Hand der Herbstkälte meine warme Schulter entgegen halten.

Jeder wird in ein historisch individuelles Leben geboren, da gibt es nichts zu wünschen, da gibt es nichts zu erbitten. Doch die Maße der Zwangsjacken, der in die Welt geborenen Bürden, sind von unterschiedlichsten Tragweiten. Unzweifelhaft trägt Gretel eine Lebensbürde, die kaum auszuhalten ist, die erdrückt, die isoliert, die einfach nicht abzustreifen ist.

"Also wirklich, dachte ich. Glaubte er, solche Trivialitäten würden mich interessieren? Meine Güte, hätte ich beinahe gesagt, ich habe Adolf Hitler die Hand geschüttelt und Eva Braun auf die Wange geküsst. Ich habe mit Goebbels' Kindern gespielt und bin auf Gudrun Himmlers Geburtstagsparty gewesen." 377

Meisterhaft kreiert @johnboyneauthor
mit Gretel eine historisch fiktive Frau, deren Geschichte er mit so viel Feingefühl erzählt, so dass die aufpeitschenden Wechselspiele ihres Gemütes und das der anderen sich unmittelbar in die eigenen Gedanken vergraben und dort magenknurrend rumoren.

Bewertung vom 10.11.2022
Connemara
Mathieu, Nicolas

Connemara


sehr gut

Ganz eindeutig ist die Rahmenhandlung von 'Connemara', der neue Roman des Prix Goncourt Gewinners (2018) @nicolasmathieu, eine einfache, schon oft da gewesene, die aber mit stimmungsvoll morbider Authentizität die Wände von Leser*innen durchbohrt.
In tragenden Symbiosen vernetzt der Autor Wörter mit einer galanten Linienführung in Sätzen miteinander. Tempoerzeugende Aufzählungen, die sich nicht nur auf Wortkombinationen beschränken, sondern mit ganzen Handlungssträngen kokettieren, bezirzen als ein über dem Buch schwebendes Mobile das Leserauge.

Es ist durch die ausgewogene Gestaltung der Charakter*innen, die, wie der Autor, so wie ich, zur aktuellen Zeit die 40er durchleben, mit allen Sinnen durch einen beiläufig konstruierten Klang, der sich nie verliert, zu erspüren, welche Spannungsverhältnisse in unserer aufgewühlten Epoche zu individuellen Zerreißproben führen können. Zerreißproben, die Persönlichkeiten immer wieder auf einen Show-down zu hecheln lassen, um dann doch entnervt feststellen zu müssen, dass Herkunft unüberwindbar konstituierend ist.

Tatsächlich beinhaltet dieser Roman, wie der Buchrücken ankündigt, eine beeindruckende Geschichte einer modernen Madame Bovary.

Diese Geschichte ist erzählt von einem Autor, der es beherrscht, Sätze mit einer durchdachten Impulsivität wie ein Drummer in die Freiheit zu lassen.

Bewertung vom 07.11.2022
Miss Kim weiß Bescheid
Cho, Nam-joo

Miss Kim weiß Bescheid


ausgezeichnet

Alle Schicksale dieser koreanischen Frauen stehen tatsächlich einfach an einer unserer Straßenecken mit kaltschnäuzigen Tatsachen uns entgegen wedelnd. Sang und klanglos schlendern sie auf und ab, um verschmitzt lächelnd dem Lesergemüt entgegenzuhauchen
- Glaubtest Du etwa, Deine Welt sei so viel reifer, so viel innovativer, dass Du in ihr die Art von Ungerechtigkeiten, die in Korea, dem Dir ach so fernem Land, kursieren, nicht mehr begegnen würdest. Öffne lieber Mal Dein inneres Auge!

Wieder einmal gelingt es der Autorin Cho Nam-Joo mit einem unaufgedrängt intelligentem Sprachklang die Charakter*innen mit Leben zu füllen und alle nicht ohne ein Erdbeben von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Erdbeben, die in ihrer Individualität die Welten der Leser*innen um einen Millimeter verschieben. Doch genau dieser Millimeter ist die entscheidende Veränderung in den eigenen Gedanken. Jede Geschichte blickt dich mit blinzelnder Schärfe fragend an!

Meine Lieblingsstory ist die letzte, in der es um Schüler*innen während und nach der Coronazeit geht. Meine unverschlossene Teeanagermutterwunde riss schmerzbeißend unverhohlen auf. Die in dieser Story täuschend beiläufig geschilderte kaltschnäuzige Tatsache teile ich mit all meiner Ratlosigkeit als Pädagogin:

""Es ist ein Jammer, dass es wegen Corona so weit gekommen ist. Das tut mir wirklich leid."
"Warum tut es Ihnen leid?"
"Ich weiß nicht. Das tut es eben." S. 302"

Bewertung vom 07.11.2022
Das Gesetz der Natur
Winter, Solomonica de

Das Gesetz der Natur


weniger gut

Der dystopische Fantasy-Roman von Solominica de Winter konnte mich trotz seiner herausstechend prosaischen Sprache einfach nicht erreichen. Ich fühlte mich verloren in einem Labyrinth aus dramaturgischer Uferlosigkeit. Alles oder nichts - in Ecken versteckte Fiktionsstränge, die dann doch wiederum nicht von Belang waren. Krieg, Krieg und nochmal Krieg....verdüstert schlich ich das Ende herbei sehnend durch die Seiten, lies mich nicht einfangen von einer treibenden Stimmung, suchte ellenlang nach der angekündigten Büchersuche. Erst im letzten Drittel gewaltete die Autorin Gnade und lies mich auf diese Suche stoßen. Da war es leider schon zu spät - ich schnappte unaufhörlich nach Luft, akzeptierte diesen verlorenen Zustand, die vergebliche Suche nach Ufern, die Halt schenken könnten.

Bewertung vom 30.10.2022
Lektionen
McEwan, Ian

Lektionen


ausgezeichnet

Zu Beginn oute ich mich als langjähriger Ian McEwan-Fan, die meisten seiner Romane habe ich gelesen und schmücken mein Regal. Manche davon habe ich inhaliert. Seinen neuen Roman 'Lektionen' inhalierte ich auf ähnliche Weise wie sein Roman 'Abbite' (2002).

Wieder ein Schmöker, der sich als mannigfaltiges Sprachmenü in meine Hände schmiegte, der jede Seite flattern ließ, der mit zarter Stringenz Spannung in Erwartung auf große Geschehnisse aufbaute, um gerade dann im Ausbleiben derer beeindruckte, da Ian McEwan es mit energetischer Kraft beherrscht, die pure Brutalität der Unerfülltheit in Szene zu setzen. Gerade für diese dramaturgisch beeindruckende Kraft ist jede der 710 Seiten unverzichtbar.
In plastisch intelligenter Ausgefeiltheit wird das Lebensgerüst eines Mannes, der der Nachkriegsgenerationen angehört, konstruiert und schnörkellos mit der unausweichlich nebenher schlendernden Weltgeschichte verwoben. Ganz beiläufig werden Leser*innen mit dem ganz eigenen Tastenspiel von Roland der 70 Jahre alt bekannten Geschichte - ohne Verformung, ohne Hinzudichtung - ausgeliefert. Ein Tastenspiel offener Freundlichkeit, ein Tastenspiel, dass auf niemand einen Finger zeigen, stets eine Mehrdeutigkeit zulassen und konstatieren möchte, dass meist nichts ist, wie es scheint. In der Realität wie in der Literatur.

"Alles, was ich erlebt habe, aber auch alles, was ich nicht erlebt habe. Alles, was ich weiß, und jeder, dem ich jemals begegnet bin - all das wird von mir zu dem vermengt, was ich erfinde." 678

Ein #jahreshighlight 2022!

Bewertung vom 09.10.2022
Unsre verschwundenen Herzen
Ng, Celeste

Unsre verschwundenen Herzen


weniger gut

Der neue Roman 'Unsre verschwundenen Herzen' von Celeste Ng - übersetzt von #brigittejakobeit - ist eine bodenständige Dystopie, die ein aufwühlendes, düster verzerrtes Bild der USA in nicht weiter Zukunft zeichnet. In dieser düsteren Welt steht ein Rassengesetzsystem im Vordergrund, welches sich auf die Optik asiatischer Menschen eingeschossen hat.
In einem gemächlichen Sound präsentiert die Autorin kraftvoll pointiert diese düstere Welt - allein ihre Detailverliebtheit verhindert ein tiefes Abtauchen. Diesem düsteren Szenario stehen Helden des Wortes - in jeglicher Ausdrucksform - gegenüber. Wörter und Geschichten in der Luft, auf dem Papier, in Bibliotheken, Büchereien oder einfach von einer Mutter ausgepustet, die einen Freigeist suggerieren. Wie würdevoll und anmutend zugleich. Leider werden diese Worthelden erzählerisch in einem verkatert moralischen Korsett an der Kandare gehalten, verlieren ihr energetisches Potential und lassen jegliche Illusion bewegungsfreudiger Innovationen von den Seiten verschwinden. Die Handlung verliert sich in meinen Augen in einem kitschig banalen Schwarz-Weiß-Gefälle, so etwas lässt mich leider am Gehweg ungesättigt vor sich hin schwadronieren.

Allein die Kostbarkeit der Sprache, die mit geistreicher Voluminösität ein bildhaftes Mosaik entwirft, ließ mich den Roman zu Ende lesen, so dass ich trotz dieser für mich persönlich unbefriedigenden Lektüre einen weiteren Roman der Autorin lesen werde.

Bewertung vom 08.10.2022
Verbrenn all meine Briefe
Schulman, Alex

Verbrenn all meine Briefe


ausgezeichnet

Der autofiktionale Roman 'Verbrenn all meine Briefe' erzählt eine opulent nachhallende Geschichte. Eine allwissende Erzählstimme blättert anhand von Briefen und Tagebuchauszügen ein Wurzeln geschlagenes Familiengeheimnis auf. Diese Erzählstimme belebt Alex Schulman mit einer Sprache, die vor tiefgründig authentischer Leidenschaft nur so strotzt. Bei all der lebendigen Herzenskraft strafft er dramaturgisch in voller Klarheit die Handlung zu einer facettenreichen Komprimierung zusammen und versiegelt das Ganze auf einzigartige Art und Weise. So versiegelt, dass beim Aufschlagen des Buches ein 'Plop' zu hören ist wie beim Öffnen eines Einmachglases. Ein 'Plop', welches Qualität, Geschmack, Einzigartigkeit, Genuss, Vergnügen, Spannung und so vieles mehr verspricht und hält. Die Geschmacksnerven meiner Zunge wurden bei der Lektüre spielerisch durchgängig durch sich reibend abwechselnde Süß-Sauer-Komponenten angeregt, um am Ende in harmonischer Traurigkeit zusammengerollt das Buch zu schließen.

"Ich tappe nicht länger im Dunkeln. Ich weiß, welche Aufgabe ich vor mir habe. Und ich stecke nicht fest, ich bin in Bewegung." 297

Nur wenn wir mutig in Bewegung bleiben, in einer Bewegung, die voller Offenheit zu uns selbst und zu den Narrativen unserer jeweiligen Familiengeschichten gerichtet ist, nur dann können wir episch fehlgerichteten Hass in einer Familie deuten, verstehen und vielleicht auch transformieren. Dies in poetischer Lebendigkeit zu Papier zu bringen, kann er einfach, der @alexschulman .

Bewertung vom 26.09.2022
Die Stimme meiner Schwester
Vieira Junior, Itamar

Die Stimme meiner Schwester


gut

Der Roman 'Die Stimme meiner Schwester' schenkt würdevoll den Nachkommen früherer Sklaven in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine aufklärende Stimme - allein nur ein literarischer Kreis schließt sich nicht.
Itamar Vieira Junior pflanzt mit seinem Debüt einen Samenkorn in die Erde, aus dem unüberhörbare Klanglaute zum Himmel gesendet werden. Sprachliche Klanglaute voll magischer Anziehungskraft schenkten mir tiefe Einblicke in eine Natur, die mir bis dato unbekannt war. Die Landschaft rund um eine brasilianische Siedlung auf einer Plantage strahlte mit leuchtenden Farben durch eine gekonnte Inszenierung von Wortkombinationen bis tief hinter meine Augäpfel und lies mich abtauchen.

Abtauchen, um mich dann leider versunken allein zu lassen. Es sprudelten fragende Bläschen in mir: Ja, wo ist denn die Leuchtkraft der Charakter*innen, warum öffnet sich nicht ihr Samenkorn, um einen Wachstum sichtbar zu machen? Nein, da öffnete sich nichts - die unterschiedlichen Erzählstimmen blieben konstant bildend im Ton, ohne zu berühren, ohne mit Kontrasten zu spielen. Auch die Handlung blieb unaufgeregt, sie wurde gesät und fing nicht an zu wachsen. Vielleicht war einfach keine Gießkanne zur Hand, die das in die 'Höhe sprießen' hätte unterstützen können?

Bewertung vom 26.09.2022
Die Mauersegler
Aramburu, Fernando

Die Mauersegler


schlecht

Der Roman "Die Mauersegler" von Fernando Aramburu ist der zweite Roman in diesem Jahr, welchen ich nicht zu Ende lesen konnte. Eine so starke Idee, so schwach umgesetzt. Kapitel, die einen Jahresgang repräsentieren sollten, müssten doch irgendwie eine chronologisch sinnvolle Stringenz repräsentieren, dies fehlt dem Roman vollends. Es wird willkürlich zwischen Vergangenheit und Gegenwart herumgetänzelt, so dass ein flüssiger Erzählfluss durch hemmende Bahnschranken verhindert wird. Mit dieser Umsetzung hätte ich noch leben können, aber 800 Seiten einem andauernd wehleidigen Mann, der Gott und die Welt für sein Leid und sein Hass auf die Menschen verantwortlich macht, beim besten Willen, dafür ist mir meine Zeit zu kostbar. Der arme, arme Kerl leidet und leidet und leidet, weil seine Ex-Frau schlimm ist, weil er seinen Sohn für dumm hält, weil er seinen Beruf als Philosophielehrer hasst, weil seine Mutter Dement ist und weil er einfach nur leiden will. Nach 200 Seiten konnte ich nicht mehr hinsehen, am allermeisten tat mir der Hund leid, der diesem wahnsinnig unreflektierten Selbstmitleid ausgesetzt war.

Bewertung vom 17.09.2022
Schlangen im Garten
vor Schulte, Stefanie

Schlangen im Garten


weniger gut

Der märchenhaft mit einem Parabelduft angehauchte Debütroman 'Junge mit schwarzem Hahn' von Stefanie vor Schulte konnte mich letztes Jahr sehr überzeugen. Ihr neuer Roman 'Schlangen im Garten' hat mir leider die Augen ermüdet. Die Sprache ist mit einer ausgetüftelt kreativen Feder auf das Papier gebracht und zweifelsohne in seiner Literarität von höchst qualitativer Form. In dieser Form bleibt sie aber gefangen, überrascht nicht mehr, wagt nichts Neues, wird schwer an Last durch gewollter Verkünstelung. Vielleicht ist dies auch genau der Grund, warum mich die Charaktere in ihrer Gesamtheit nicht abholen konnten. Ein scheinbar krampfhafter Versuch des Beeindruckens wirft einen Schleier über das authentisch skurrile Potential der Figuren.
Leider konnte ich die Schlangen nicht erspüren - ich konnte keine trächtige, den verbindenden Zusammenhang herstellende Faser mit meinen Augen erspähen, aber Geschmäcker sind ja wohl bekanntlich erfreulicherweise verschieden.