Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Romy

Bewertungen

Insgesamt 55 Bewertungen
Bewertung vom 07.02.2022
Unser wirkliches Leben
Crimp, Imogen

Unser wirkliches Leben


ausgezeichnet

Annas Kindheitstraum ist es, Opernsängerin zu werden. Seit sie denken kann liebt sie das Singen, und das Gefühl, andere mit ihrer Stimme zu verzaubern. Als sie schließlich aller Widrigkeiten zum Trotz ein Stipendium für ein renommiertes Londoner Konservatorium bekommt, ist sie im siebten Himmel. Sie kann sich nur ein winziges Zimmer leisten, der Weg zum Konservatorium ist lang, oft muss sie Mahlzeiten auslassen, weil sie sich einfach nicht leisten kann - doch Anna ist das alles egal, sie lebt für die Musik. Jede Arie, die sie singt, jede Note, die sie ihrer Kehle entlockt, bedeutet ihr so viel mehr als ein üppiges Mittagessen oder eine eigene Wohnung. Um irgendwie über die Runden zu kommen, singt sie hin und wieder in einer Jazzbar. Das ist unter ihren wohlhabenden Mitstudierenden zwar verpönt, und auch ihre Gesangslehrerin sieht so etwas nicht gerne, doch Anna braucht das Geld und genießt es einfach, auf der Bühne zu stehen. Bei einem ihrer Auftritte lernt sie einen etwas älteren Mann kennen - an sich nicht ungewöhnlich, es kommt häufiger vor, dass sie nach ihrem Set angesprochen wird. Doch dieser ist anders: Er stellt neugierige Fragen, fordert Anna heraus, hält sich selbst bedeckt. Und als der Abend endet, nimmt er Anna nicht mit zu sich nach Hause. Die beiden sehen sich wieder, beginnen eine Affäre. Max stellt von Anfang an klar, dass er gerade dabei ist, sich scheiden zu lassen; er kann Anna also nichts bieten, als die Zeit, die sie gemeinsam verbringen. Doch Anna ist wie verzaubert: Ihr Alltag am Konservatorium verblasst im Vergleich zu den funkelnden Nächten, die sie mit Max verbringt. Er lädt sie ein in teure Restaurants und Cocktail-Bars, seine Wohnung hoch über den Dächern der Stadt wird beinah Annas zweites Zuhause - aber eben nur beinah. Denn da ist immer auch eine gewisse Kälte, die Max umgibt, die Anna nie komplett durchdringen kann.

Obwohl die Grundidee des Buches (arme Studentin lässt sich auf reichen Banker ein) wenig komplex anmutet, gelingt es Imogen Crimp, eine Geschichte zu erzählen, in der es um so viel mehr geht. Wir lernen viel über Annas Liebe zu Musik, über ihre Bindung zu Max, aber auch darüber, woran die beiden zwischenmenschlich immer wieder scheitern. Die vielen Fallstricke, die in jeder Beziehung lauern: ein Altersunterschied, verschiedene Interessen, unterschiedliche Talente und Begabungen, eine enorme Einkommensdifferenz, persönliche Prioritäten, charakterliche Reife. In all diesen Punkten haben Anna und Max nicht viel gemeinsam, doch das nicht nur aufgrund ihres Altersunterschieds. Crimp schreibt auf eine sehr poetische Art und Weise, die gleichzeitig sehr direkt und sehr bildhaft sein kann. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, ohne mit dieser Direktheit ihre Leser zu sehr zu schocken. Durch die Sprache der Autorin wirkt alles, was Anna erlebt und fühlt, unglaublich bedeutungsvoll und auch die Leserinnen und Leser werden dazu eingeladen, eine neue Bedeutsamkeit und Romantik in ihrem eigenen Leben zu entdecken. Der starke Fokus und die singuläre Erzählperspektive machen Anna zum absoluten Mittelpunkt des Buches - dadurch wurde meine Neugier als Leserin, vor allem was Max angeht, zwar nicht immer befriedigt, aber im Gesamtkontext macht diese Ausrichtung durchaus Sinn. Ein Detail, das mir nicht immer zugesagt und manchmal meinen Lesefluss etwas gestört hat, ist die Einbindung der Dialoge in den Fließtext. Crimp verzichtet dabei auf Anführungszeichen. Teilweise wirkt dies kunstvoll, manchmal war es aber einfach schwierig, Gedanken von gesprochenen Sätzen zu unterscheiden, und diese den richtigen Personen zuzuordnen.

Alles in allem hat mir "Unser wirkliches Leben" sehr gut gefallen. Es ist eine authentische Erzählung über eine junge Frau, die mich sehr berührt und beeindruckt hat. Die Schilderung von Annas Alltag, angereichert mit ihrer inneren Gefühlswelt, hat dabei beinahe hypnotisch auf mich gewirkt.

S. 365: "Wenn er aus seiner Wohnung und hinein in die Welt tritt, fängt er an zu exist

Bewertung vom 20.12.2021
Meeressarg / Fabian Risk Bd.6
Ahnhem, Stefan

Meeressarg / Fabian Risk Bd.6


ausgezeichnet

Zwei Leichen in einem Auto, das aus dem Wasser gezogen wird: Er mit Austrittswunde am Hinterkopf, sie erdrosselt. Was zunächst nach einer Beziehungstat aussieht, entpuppt sich als hochbrisanter Fall, der sich bis in die Führungsebene der obersten Polizeibehörden Dänemarks zieht. Während das Team um Kim Sleizner Ermittlungen anstellt, die er selbst lieber heute als morgen abgeschlossen sehen würde, ist Fabian Risk mit seinen persönlichen Problemen beschäftigt. Sein Sohn sitzt in U-Haft wegen dem Mord an einem Obdachlosen, an dem er angeblich beteiligt war. Und so kommt es, dass Fabian beinah den Verstand verliert, während er eigentlich Sleizner im Blick behalten sollte, der ein etwas zu gutes Gespür dafür hat, wo die nächsten Hinweise im Fall der beiden Wasserleichen die Ermittlungen hin führen werden. Doch zum Glück ist da noch Dunja, die Sleizner keine Sekunde aus den Augen lässt. Sie selbst ist untergetaucht und hat aus dem Untergrund heraus einen komplexen Überwachungsapparat aufgebaut, mit dem sie jeden Schritt von Sleizner beobachtet, dokumentiert und anlysiert.
Doch je mehr sie erfährt, desto größer wird die Gefahr für sie, und auch für die ermittelnden Beamten, die dank - oder trotz? - Sleizners Hilfe immer mehr Spuren finden, die sie in Richtung der Elite des Landes führen...

Stefan Ahnhem lebt und atmet Krimi - das wird auch in diesem Teil der Geschichte rund um Fabian Risk wieder deutlich. Bereits die beiden Episoden über den Würfelmörder haben mir sehr gut gefallen, und das obwohl ich den Beginn der Geschichte nicht kannte. Ahnhem gelingt es, vielschichtig zu erzählen und mehrere Handlungsstränge spielend und logisch miteinander zu verknüpfen, ohne dabei etwas aus den Augen zu verlieren, zu vergessen oder zu überfrachten. Alles wirkt harmonisch und natürlich, unterhält und lässt einem manchmal das Blut in den Adern gefrieren. "Meeressarg" ist wirklich ein spannender Krimi, egal ob man die Teile davor kennt oder nicht. Das "Insiderwissen" aus den vorherigen Bänden steigert das Lesevergnügen sicher noch, ist aber nicht essentiell um der Geschichte in "Meeressarg" zu folgen. Ahnhems Liebe zum Detail ist dabei manchmal nichts für schwache Nerven, macht die Geschichte aber umso plastischer und elektrisierender. Der Spannungsbogen, der sich dabei aufbaut, trägt die Geschichte bis zu allerletzten Seite, ohne logische Lücken oder Sprünge. Wirklich eines der besseren Bücher des Genres!

Bewertung vom 21.11.2021
Wie schön wir waren
Mbue, Imbolo

Wie schön wir waren


weniger gut

Imbolo Mbue erzählt die Geschichte des afrikanischen Dorfes Kosawa, das sich gegen die Machenschaften des amerikanischen Ölkonzerns Paxton auflehnt. Deren Ölbohrungen bringen der Regierung zwar erhebliche Einnahmen, für die Bewohner von Kosawa aber bedeuten sie verseuchtes Wasser, magere Ernten und kranke Kinder. Als die Bewohner endlich verstehen, wie das schwarze Gold und die vielen Kindersärge zusammenhängen, sind bereits Unmengen an Rohöl in ihr Grundwasser und ihre Äcker gesickert. Doch sie sind entschlossen, ihr Land zurück zu erobern, ihre Hütten weiter zu bewohnen und sich auf den Beistand des großen Geistes zu verlassen, der ihnen den richtigen Weg weisen wird.
Mbue erzählt die Geschichte Kosawas, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt, aus den verschiedenen Perspektiven einer Familie. Der damit einhergehende Perspektivwechsel macht die Geschichte interessanter und erlaubt es der Autorin, Informationen aus verschiedenen Quellen einfließen zu lassen - allerdings nutzt sie dies kaum, stattdessen hat der Leser das Gefühl, die gleiche Geschichte gleich mehrfach zu lesen. Dabei springt die Autorin ohne ersichtlichen Grund in der Zeit, was einen natürlichen Lesefluss leider verhindert. Darüber hinaus bin ich mit der Kultur, aus der Mbue erzählt, nicht richtig warm geworden. Teilweise werden die Dorfbewohner naiv dargestellt, teilweise auf niedere Bedürfnisse reduziert - so ist die Perspektive der männlichen Erzählung von einem Fokus auf weibliche Schenkel und Hintern geprägt. Leider gelingt es der Autorin nicht, einen typischen Spannungsbogen aufzubauen. Wenig relevante Elemente werden sehr detailreich erzählt, während wichtige Ereignisse in ein oder zwei Sätzen abgehandelt werden, ohne dass die Relevant der Situation ensprechend ausgeführt und beschrieben wird.
Allgemein finde ich es spannend, über einen Roman Zugang zu einem für mich neuen kulturellen Raum zu gewinnen, wie es beispielsweise in Ronya Othmans "Die Sommer" der Fall war. Die Schilderungen rund um Kosawa wirken teilweise jedoch abstoßend auf mich. So wird einer jungen Frau der "Samen des großen Geistes" eingepflanzt, dafür wird sie überwältigt und ohne ihr Einverständnis in die Hütte der Medizinmänner verschleppt. Auch unter den besonderen Umständen der Geschichte von "Wie schön wir waren" kann ich solche Schilderungen nicht wirklich einordnen.
Insgesamt hat mir "Wie schön wir waren" leider nicht zugesagt - weder als unterhaltende Lektüre, noch als Fenster in eine andere Kultur. Auch der Schreibstil der Autorin hat mir nicht zugesagt, sondern mir den Zugang zu den Gedanken und Gefühlen der Protagonisten eher noch erschwert. Deshalb kann ich den Roman leider nicht weiterempfehlen, bin aber ehrlich gespannt, wie andere Leserinnen und Leser die Geschichte finden.

Bewertung vom 30.10.2021
Ein Buch, vier Jahreszeiten
Funk, Kristin

Ein Buch, vier Jahreszeiten


sehr gut

"Ein Buch, vier Jahreszeiten" bietet eine Vielzahl an Anregungen, Ideen, Bucket-Lists, Rezepten, Gedichten und Geschichten. Sowohl das Cover als auch die einzelnen Seiten sind liebevoll gestaltet und machen einen hochwertigen Eindruck. Der Inhalt an sich ist nicht neu oder einzigartig: schöne Gedichte, Rezepte für Plätzchen oder Kürbissuppe, sowie kurze Märchen findet man genauso im Internet. Was das Buch jedoch bietet, sind kuratierte Inhalte und handverlesenen Inhalt. Statt sich bei Instagram oder Pinterest durch Unmengen an Posts zu scrollen, bekommt der Leser hier eine Auswahl an die Hand gegeben. Ob und wie gut diese seinen Geschmack trifft, das ist natürlich Glückssache. Über eine Auszeit von den vielen Bildschirmen, die uns umgeben, freut sich wahrscheinlich jeder - egal, wie seicht die vermittelten Inhalte an sich sind.
"Ein Buch, vier Jahreszeiten" passt für mich am besten in die Kategorie "Coffee Table Book": Es ist keine wirkliche Lektüre, der Inhalt ist mehr als überschaubar, die schöne Gestaltung steht im Vordergrund. Trotzdem ist es kurzweilig, man nimmt es gerne mal in die Hand um etwas Entschleunigung zu genießen, und als Geschenk eignet es sich sicher auch gut.

Bewertung vom 15.10.2021
Pacific Crest Trail Killer (eBook, ePUB)
Piskulla, Christian

Pacific Crest Trail Killer (eBook, ePUB)


weniger gut

Die Handlung der Geschichte schreitet von Anfang an zügig voran. Der Einstieg ist keinesfalls langatmig, die erste Tote lässt nicht lange auf sich warten und auch der zentrale Handlungsstrang, die Ermittlungen von Mark Stetson, der eigentlich selbst als Wanderer auf dem Trail unterwegs ist, nimmt zügig Fahrt auf. Allerdings wirkt dieser Beginn auf mich mechanisch und hölzern. Als Leserin habe ich kaum die Möglichkeit, mich mit den Charakteren der Erzählung vertraut zu machen, der Aufbau einer Atmosphäre kommt am Anfang zu kurz. Was es jedoch im Überfluss gibt, sind Schilderungen von Gewalt und Brutalität aller Art. Wer zu einem Thriller greift, muss mit solchen Elementen in einem gewissen Maße leben - doch mir persönlich gehen diese im "Pacific Crest Trail Killer" zu weit. Dies ist kein geschickt erzählter Thriller, der den Leser mit Andeutungen und Ahnungen in Atem hält, sondern eine Aneinanderreihung kriminell-kranker Fantasien, von denen ich sehr schnell mehr als genug hatte. Vielleicht findet der Thriller bei Lesern mit einer Vorliebe für Hang zum Horror mehr Anklang, mich konnte er leider nicht überzeugen.

Bewertung vom 28.09.2021
Die Tote mit der roten Strähne
Kent, Kathleen

Die Tote mit der roten Strähne


gut

Betty ist Polizistin, wie es schon viele Männer in ihrer polnischen Familie waren. Einziges Problem: Sie ist eine Frau. Trotzdem hat sie sich von Vorurteilen und fiesen Kommentaren nicht davon abhalten lassen, ihren Traum zu verwirklichen, und auf die Polizeiakademie zu gehen. Dort ist sie dank ihres flammend roten Haarschopfes stets aufgefallen und mehr Männern im Gedächtnis geblieben, als dies zugeben würden - besonders da Betty offen homosexuell lebt. So hat sie es als einzige Frau in ihrem Ermittlerteam bei der Drogenfahndung in Dallas, Texas, alles andere als leicht. Doch Betty liebt ihren Job, und kann knallhart sein wenn es darauf ankommt. Doch als einer ihrer Fälle immer mehr aus dem Ruder läuft und eine Leiche nach der anderen auftaucht, beginnt Betty an sich zu zweifeln. Doch damit nicht genug: Plötzlich tauchen vor und in ihrer Wohnung Leichenteile auf, die jemand scheinbar dort drapiert, wie Geschenke für sie. Welches Spiel wird hier gespielt?

Kathleen Kent hat einen mehr oder weniger klassischen Kriminalroman geschrieben: Es gibt Ermittlungen, Verhöre, Beweise, Rituale der Polizisten, kleinere Streitereien unter Kollegen und Rangeleien um die symbolische Macht im Büro. Natürlich gibt es Verletzte und Verbündete, Verräter und Vertraute. Bettys Charakter sticht etwas heraus, wirkt plastischer als die austauschbaren Kollegen. Doch so wirklich packen konnte mich ihre Geschichte nicht, vielleicht weil die Beziehung zu ihrer Partnerin zu hölzern, zu eindimensional wirkt? Trotz alledem nimmt die Geschichte vor allem in der zweiten Hälfte Fahrt auf und wird wirklich spannend. Der allerletzte Teil jedoch ist mehr als blutig und war für mich wirklich unangenehm zu lesen. Ich hätte auf vielen Seiten mein eigenes Vorstellungsvermögen gerne ausgeschalten und kann mir kaum vorstellen dass es vielen Leserinnen hier anders ging. Meinen Geschmack hat Kent mit "Die Tote mit der roten Strähne" also leider nicht getroffen. Zu viel Blut, zu wenig Eleganz und Pfiff. Schade!

Bewertung vom 12.09.2021
Junge mit schwarzem Hahn
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


gut

Martin ist 11 Jahre alt und besitzt nichts außer der Kleidung am Leib und einem schwarzen Hahn, der ihn treu durch sein Leben begleitet. Als Martin drei Jahre alt war, hat der Vater die Mutter und alle Geschwister erschlagen, nur der kleine Martin blieb zurück. Das Dorf hat ihn verstoßen, seitdem lebt Martin für sich, kümmert sich um sich selbst und kommt mit dem Wenigen das er hat, gerade so aus. Eines Tages kommt ein Maler in das Dorf und entdeckt die unendliche Güte in Martins Augen. Gemeinsam ziehen sie weiter, erleben große Not und großes Glück, unglaubliche Verbrechen und Wunder. Dabei wird Martin stets ermutigt und geschützt von dem Guten, das aus seinen Augen leuchtet und absolut unübersehbar ist.

Stefanie vor Schulte hat mit "Junge mit schwarzem Hahn" einen besonderen Roman geschrieben, der sich kaum mit einem anderen Buch vergleichen lässt, das ich bisher gelesen habe. Ihre Erzählweise ist märchenhaft und träumerisch, ohne schwer verständlich zu sein. Ein wenig erinnert die Atmosphäre an "Greta und Jannis" von Sarah Kuratle, allerdings ist "Junge mit schwarzem Hahn" wesentlich stimmiger und flüssiger zu lesen, ohne weniger poetisch oder magisch zu wirken.
Insgesamt passt "Junge mit schwarzem Hahn" nicht so recht in die klassischen Bewertungsmuster. Doch meinem Eindruck nach ist dies aus gar nicht der Zweck der Erzählung. Stattdessen geht es um den allgegenwärtigen Konflikt zwischen Gut und Böse. Wenn man es so will ist vor Schultes Roman die Geschichte eines Superhelden, neu interpretiert und in einen ungewohnten Kontext gesetzt. Das wird viele Leser überraschen, innehalten und nachdenken lassen.

Bewertung vom 31.08.2021
Ritchie Girl
Pflüger, Andreas

Ritchie Girl


gut

Paula Bloom kehrt nach ihrer Ausbildung in Camp Ritchie als Angehörige des US-Militär in das zerstörte Nazi-Deutschland zurück. Mit ihrem amerikanischen Vater ist sie in Berlin aufgewachsen und hat die Veränderungen in der Gesellschaft miterlebt, wenn auch immer aus einer sehr privligierten Position heraus. Wieder in Deutschland muss sie sich nun mit den neuen Machtverhältnissen auseinandersetzen und ertragen, wie Verbrecher als Verbündete rekrurtiert werden, da ihr Wissen für die Amerikaner mehr wert ist als ihre Schuld. Doch nicht nur die kollektive Schuld des deutschen Volkes wiegt schwer in Paulas Augen und in ihrem Herz - auch Menschen in ihrem eigenen Umfeld, wie ihren Vater, Freunde, einen Geliebten, muss sie plötzlich mit anderen Augen sehen, um die Wahrheit zu erkennen.

Andreas Pflüger erzählt mit der Geschichte von Paula Bloom eine sehr vielschichtige Lebensgeschichte: Paula ist Tochter, Freundin, Geliebte, alte Bekannte, sie ist Soldatin, Deutsche und Amerikanerin, sie ist Siegerin und Besiegte gleichzeitig. Entsprechend reich ist ihre Erfahrungswelt, sind ihre Gedanken und Gefühle. Doch den weitaus größeren Raum in Pflügers Roman nehmen historische Schilderungen, Seilschaften, Geheimpläne und Verbindungen ein. Und so würde ich "Ritchie Girl" durchaus als historischen Roman beschreiben, wobei der Fokus durchaus auf den historischen Umständen und Hintergründen liegt. Für mich persönlich war der Roman dadurch vor allem in der zweiten Hälfte zäh und durchaus schwere Kost. Die Geschichte von Paula ist durchweg anspruchsvoll und erfordert vom Leser einiges an Einordnung, Abwägung und Interesse. Wer denkt, hier einen Liebes- oder Kriminalroman mit historsichen Elementen in den Händen zu halten, der liegt falsch - das Gegenteil ist der Fall.
Diesen Umstand sehe ich jedoch nicht als Nachteil: Wer Interesse und vielleicht auch Vorwissen über die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen mitbringt, der findet hier einen exzellent recherchierten Roman, gespickt mit einer Vielzahl an geschichtlich relevanten Elementen und bekannten Namen, die den Leser aufhorchen lassen. Für mich persönlich war der Roman als Freizeitlektüre etwas zu dicht in seiner Erzählweise, sodass ich ihn nur eingeschränkt weiterempfehlen kann.

Bewertung vom 14.08.2021
Greta und Jannis
Kuratle, Sarah

Greta und Jannis


gut

Greta und Jannis wachsen als Nachbarskinder in einem Dorf mitten in den Bergen auf. Dort gibt es aus Sicht der Städter nicht viel; nur Wälder, Seen, Lichtungen. Doch aus der Sicht der Dörfler gibt es dort alles: Wälder, Seen, Lichtungen. Beeren, Luchse, verschneite Bänke und moosbewachsene Verstecke. Nur wer seinen Blick der Magie öffnet, kann sie auch entdecken. In ihrer eigenen Welt wachsen Greta und Jannis auf, entdecken ihre Umgebung und einander. Schon bald sind sie wie Bruder und Schwester, und eines Tages mehr als das. Doch irgendwann zieht Jannis zum Studieren in die Stadt, und Greta bleibt auf dem Hof ihrer Tante Severine zurück, die sich um einige Waisenkinder kümmert und ihren Hof ganz ohne die Hilfe eines Mannes bewirtschaftet. Greta lernt dort nicht nur, wie man die köstlichsten Lebkuchen backt und sich um die kleineren Kinder kümmert, sondern sie wird auch in den Zauber der Berge eingeführt und übernimmt die Dankbarkeit ihrer Tante, keinen Mann zu haben. Eines Tages zieht ein neuer Nachbar in das Häuschen nebenan, und Greta beginng, sich mit ihm anzufreunden...
Sarah Kuratle hat mit "Greta und Jannis" keine typische Liebesgeschichte geschrieben. Auch wenn es der Titel und die Gestaltung des Covers vermuten lassen, geht es hier um mehr als zwei Menschen, die auf Umwegen zueinander finden. Vielmehr geht es um die Hindernisse, die ihnen ihr Umfeld und auch ihre eigene Familie in den Weg legt. Es geht um die Natur und ihre Bedeutung für die Menschen im Dorf, es geht um Disziplin und Aufopferung, um den Wert eines Menschenleben und um Schicksalsschläge, die uns alle treffen können. All diese Themen verpackt Kuratle in einer lyrischen Erzählung, bei der die Natur in all ihrer Schönheit und mit all ihren Geheimnissen beinah als eigene Figur aufzutreten scheint, so präsent ist sie. Die lyrische Erzählweise der Autorin macht es teilweise allerdings auch schwer, den Geschehnissen zu folgen und Zusammenhänge zu begreifen. So schön die gewählten Worte auch sind und so magisch sie sich aneinanderreihen, teilweise stehen sie einem flüssigen Verständnis der Handlung leider im Weg. Inhaltlich kommt mir die Geschichte etwas überladen vor. Die Beziehung zwischen Greta und Jannis nimmt zurecht so viel Raum ein, dass für all die übersinnlichen oder übernatürlichen Elemente, die die Autorin einbindet, beinah kein Raum bleibt. Die Verbindung zwischen diesen beiden Komplexen hat mir leider gefehlt, da ich nicht sehen konnte, wie sie sich sinnvoll ergänzen. Insgesamt hat "Greta und Jannis" also leider nicht meinen Geschmack getroffen, aber ich kann mir vorstellen, dass sich der Roman gut für Leser eignet, die gerne auch Gedichtbände oder lyrische Kurzgeschichten lesen.

Bewertung vom 10.08.2021
Auszeit
Lühmann, Hannah

Auszeit


ausgezeichnet

Henriette muss raus aus der Stadt, weg von den Menschen, dorthin wo nichts ist, wo sie niemand braucht - also flüchtet sie mit ihrer besten Freundin Paula für ein paar Wochen in eine kleine Ferienhütte mitten im Nichts. Dort gehen die beiden spazieren, machen Yoga und ordnen ihre Gedanken. Denn bei Henriette gibt es einiges zu ordnen: Nach einer Affäre mit einem verheirateten Mann hat sie einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. Doch dieser nüchterne Satz kann niemals ausdrücken, was dies für Henriette bedeutet hat, für ihr Leben, ihre Zukunft, ihr ganzes Sein. Doch es ist nicht nur dieses einschneidende Ereignis, das sie beschäftigt. Ihre ganze Existenz, ihre Gedanken, Wünsche, Träume - wie setzt sich all das zu einem Ich zusammen? Woraus bestehen wir, wozu werden wir, wenn uns selbst verwirklichen? Und was, wenn wir es nicht tun?
Hannah Lühmann erforscht all diese Fragen auf eine liebevolle und zugleich schmerzhafte Art und Weise. Sie legt den Finger in Wunden, von denen ich bisher nichts wusste, und beschreibt Stimmungen, die ich noch nichteinmal benennen kann. Henriettes Geschichte ist bei genauerem Hinsehen nur ein Instrument, um den Weltschmerz unserer Generation auszudrücken, um die Parallelen unserer makellosen Biographien auszudrücken, denen es an nichts mangelt, und denen doch so viel fehlt. Für mich ist "Auszeit" von Hannah Lühmann das erste Buch seit Jahren, in dem ich mich 100% wieder finde.