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iGirl
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Bad Nauheim

Bewertungen

Insgesamt 147 Bewertungen
Bewertung vom 26.12.2022
Das College
Ware, Ruth

Das College


ausgezeichnet

Wen die Vergangenheit verfolgt.

Hannah ist traumatisiert nach dem gewaltsamen Tod ihrer besten Freundin April. Obwohl alles 10 Jahre zurück liegt und Hannah mittlerweile in einer glücklichen Beziehung lebt und ein Baby erwartet, lässt sie das im Internat erlebte Ereignis nicht los. Als der verurteilte Neville im Gefängnis stirbt und ein Journalist beginnt Ursachenforschung zu dem alten Fall aufzunehmen, gerät Hannah in einen Strudel von Zweifel, Schuld, Wut und Angst. Welche Rolle spielten dabei ihre alten Freund:innen am College?

Die Autorin, Ruth Ware, führt uns Lesende geschickt durch die Gedankenwelt Hannahs. Zunehmend werden die Erlebnisse in der Vergangenheit mit der Rekonstruktion des Ablaufs am Abend von Aprils Tod verknüpft. Dadurch entsteht nach und nach ein Gesamtbild, das die Freunde Will, Hugh, Ryan, Emily, April und Hannah verbindet. Jedes Detail der damaligen Geschehnisse und neue Erkenntnisse fügen sich zu neuen Geschichten, je nachdem welche Figur beleuchtet wird. Es scheint so als wäre jeder beteiligt gewesen und jede:r käme als Täter:in in Frage. Wem kann Hannah noch vertrauen und wurde Neville zu Unrecht verurteilt?

Ich fand die Geschichte unglaublich spannend. Bis zur letzten Seite spinnen sich die Erzählfäden und es ist plötzlich überhaupt nicht mehr klar was geschehen ist und wer der Mörder Aprils ist. Jede Figur verkörpert dabei einen besonderen Charakter, dem die Autorin durch bildhafte Beschreibungen und passende Dialoge Leben einhaucht. An dieser Stelle auch ein Lob meinerseits an die gelungene Übersetzung. Erst nach und nach entpuppen sich die dunkleren Seiten, die jede Figur mit sich trägt. Der Wechsel der Erzählperspektive zwischen „davor“ und „danach“ erhöht die Spannung laufend und hat mich das Buch kaum aus den Händen legen lassen. Außerdem finde ich es super, dass der Spannungsaufbau ohne geschilderte Grausamkeiten oder krude Ermittelnde auskommt, wie das oft in „Mainstream-Krimis“ der Fall ist.

Einen kleinen Meckerer habe ich zum Buchcover: den Untertitel „In der Nacht kommt der Tod“ finde ich gezwungen reißerisch und angesichts der guten Geschichte daher überflüssig. Auch das Bild auf dem Cover überzeugt mich nicht, es scheint mir „aus der Konserve“ gegriffen. Meiner Meinung nach, wäre bei der Gestaltung des Buchcovers weniger mehr.

Mein Fazit: Ein toll geschriebenes, wirklich spannendes Buch. Für mich ist „Das College“ ein Krimi-Highlight und bekommt daher eine 5-Sterne-Leseempfehlung.

Bewertung vom 16.12.2022
Zukunft Mikromobilität

Zukunft Mikromobilität


sehr gut

Besser Rad als gar nicht fahren

„Zukunft Mikromobilität“ ist in der Tat ein guter „Rad-Geber“. Schon das Cover zeigt die Vielfalt an fahrbaren Untersätze. Das Buch bietet einen breiten Überblick zu Geschichte, Technologie und Entwicklung, Verkehrskonzepte, Sharing-Modelle, Entwicklung von Kleidung und Radkomponenten, Ansätze zur Nachhaltigkeit von Radfahrenden und Herstellern. Auch Themen zum Reisen mit einigen Tourenvorschlägen, Achtsamkeit, gemeinsame Nutzung der Infrastruktur durch die verschiedenen Verkehrsteilnehmer und sogar der Einfluss des Rads auf die Entwicklung des Feminismus werden diskutiert. Zahlreiche Quellenangaben ermöglichen die individuelle Vertiefung. Die teilweise farbigen Abbildungen zu verschiedenen Themen und die Fotos der Autoren geben den Beiträgen eine besondere Note.

Ich fand, dass alle Beiträge der Autoren sehr gut, verständlich, informativ und auch unterhaltsam geschrieben haben. Bereits das Vorwort ist schon mehr als eine Einführung. Es enthält einen Themenkatalog mit zig Fragen, die das komplexe Thema der Verkehrswende anreißen. Abgerundet mit einigen Angaben zu Zahlen zur möglichen CO2-Reduktion und einigen Lösungsvorschläge ist das Vorwort ein guter Einstieg ins Buch.
Etwas schade fand ich, dass die Verkehrswende im ländlichen Bereich nur am Rande erwähnt wird. Der Fokus der Ausführungen liegen auf Städten und Ballungszentren, was sich natürlich aufdrängt, angesichts der dicht aufeinander lebenden Menschen, ebenso vieler herumstehender Autos, der verstopften Straßen, Lärm und schlechter Luft.

Gut fand ich, dass einige der Beiträge Lösungsansätze und Maßnahmen anderer Länder aufgreifen, wie den Niederlanden, Dänemark oder der Schweiz. Hier gibt es noch einigen Handlungsbedarf in Deutschland, vor allem auch angesichts der stetig hohen Kosten, die der Autoverkehr verursacht und für die auch jeder Nicht-Auto-Fahrer mit zahlen muss. Auch gut gefallen hat mir, dass mehrere der Autoren das Thema Lastenfahrrad kritisch diskutieren, ebenso wie den zu einfachen Vorschlag den Individualverkehr einfach nur auf E-Autos umzustellen ohne brauchbare Infrastruktur und Recyclingoptionen.

Mein Fazit: „Zukunft Mikromobilität“ ist ein umfassendes Nachschlagewerk, um sich zu diesem aktuellen Thema zu informieren und in die Diskussion zu gehen. Dieses Buch werde ich auch gerne an Personen verschenken, die mit „Rad und Tat“ an der Verkehrswende bereits aktiv mit strampeln oder noch dazu angeregt werden sollen.

Bewertung vom 09.12.2022
Codename: Sempo
Neuenkirchen, Andreas

Codename: Sempo


sehr gut

Viele Hüte und zwei Vornamen

Eine klassische Biografie ist es nicht, vielmehr eine Erzählung mit enger biografischer Anlehnung. Diese führt der Autor im Quellenverzeichnis detaillierter aus. In der Geschichte um die private und politische Person des Chiune Sugihara geht es quer durch die Welt. Ganz nebenbei erfährt man einiges über japanische Lebens- und Denkweisen und wird durch die Geschichte der Kriegsjahre in Japan, China, Russland und Europa geführt. Sehr interessant ist bereits der Werdegang des jungen, intelligenten Chiune, der gegen den Willen des Vaters und daher ohne familiäre Unterstützung ein Auslandsstudium antritt, das zwar nicht sein Wunschstudium war, aber aufgrund seiner Sprachbegabung eben eine gute Möglichkeit. Danach schließt sich ein aufregendes Diplomatenleben mit zahlreichen Stationen an. Chiunes Leben ist geprägt von hoher, fast militärischer Disziplin, Strebsamkeit, aber auch Verantwortungsbewusstsein und Menschlichkeit. Auf den Punkt gebracht: ein Leben mit und für Überzeugungen.

Das Lesen erfordert im ersten Drittel des Buchs einige Konzentration angesichts der vielen Personen, ungewohnten Namen, Orte und Begebenheiten. Die Erzählung scheint sich eng an recherchierten Fakten zu bewegen, wobei der Autor die eine oder andere eigene Interpretation und auch joviale Kommentierung einstreut. Durch die biografische Brille gesehen fand ich das manchmal irritierend, andererseits lockert dieser Schreibstil die reine recherchebasierte Beschreibung auf.

Sehr gut gefallen haben mir die historischen Zusammenhänge zwischen Europa und Japan/China, aber auch das Wirken Russlands. Gut geschildert fand ich auch die familiäre Person des Chiune, die nochmals eine ganz andere Facette dieses interessanten Menschen offenlegt. Hier möchte ich auch die zweite Ehefrau, Yukiko, erwähnen, die genauso menschenzugewandt, klug und stark agiert wie ihr Mann Chiune. Die Stärke der Eltern wirkt sich ebenso auf die Kinder aus. Insgesamt habe ich den Eindruck einer weltoffenen, respektvollen und sich liebenden Familie gewonnen.
Beeindruckend finde ich die Einblendungen einiger der Menschen, die dank Chiunes Hilfe überlebt haben und im Buch „zu Wort kommen“. Dadurch wird dem japanischen Diplomaten eine besondere Ehrung zuteil, die ihm öffentlich nur bedingt zugebilligt wurde.

Mein Fazit: Mir hat „Codename Sempo“ gut gefallen. Die spannungsreiche, gut zu lesende biografische Geschichte ist empfehlenswert für Lesende mit Interesse am weltweiten Geschehen im 2. Weltkrieg und ihren bewundernswerten Akteuren.

Bewertung vom 27.11.2022
Agent Sonja
Macintyre, Ben

Agent Sonja


ausgezeichnet

Zwischen Spionage und Familie

Anfangs liest sich das Buch für meinen Geschmack etwas zäh. Sehr viele Personen, Orte und kurze Ereignisse jagen sich während der ersten Kapitel. Der Zusammenhang zwischen den Personen in den Kinder-/Jugendjahren Ursulas sind nicht leicht nachzuvollziehen. Ursula steht zunächst im Schatten ihres Bruders Roberts. Im Gegensatz zu ihm bleibt ihr ein Studium versagt. Noch in den Jugendjahren wird sie zu einer überzeugten Kommunistin und schließt sich entsprechenden Bewegungen an. Mit zunehmendem Einfluß des Nationalsozialismus gerät die gesamte Familie, jüdisch und kommunistisch, unter Druck und geht nach und nach ins Exil. Bereits davor heiratet Ursula Rudi und beide gehen nach China, das sich im Krieg mit Japan befindet. Ursula bekommt in China ihr erstes Baby und schließt sich einer Gruppe Kommunisten an, denen sie die Wohnung der Familie für Treffen zur Verfügung stellt. Ursulas Agentenkarriere beginnt mit ihrer Affäre mit Richard Sorge, einem Topagenten Russlands. Sie bekommt weitere 2 Kinder von verschiedenen Männern mit denen sie bzw. die mit ihr zusammen arbeiten. Trotz ihrer drei Kinder ist sie eine wichtige für Russland spionierende Aktivistin, die neue Agenten akquiriert, Informationen weitergibt und Aktivitäten plant, die in mehreren Ländern stattfinden.

Das Buch hat eine sehr hohe Informationsdichte, die über mehrere Jahrzehnte reicht, zahlreiche Personen beinhaltet und Ursulas Schlüsselrolle während der vielen Aktivitäten vor, während und nach dem 2. Weltkrieg beschreibt. Dennoch ist es gut zu lesen und bietet einen gelungenen Überblick zur Weltgeschichte des Kommunismus. Sehr gut finde ich die im Buch enthaltene Sammlung von Fotos der zahlreichen Akteure. Der Autor zeigt die Protagonistin Ursula als eine äußerst facettenreiche Frau, die Eigenschaften vereint von skrupellos, furchtlos, bedenkenlos bis zu charakterfest, prinzipienfest, standfest. Ich tue mir schwer damit, ob sie eher verachtenswert oder eher bewundernswert ist. Bewundern kann ich ihre ungebrochene politische Überzeugung und ihren stetigen Einsatz dafür. Verachtenswert finde ich wie sie ihre eigenen Kinder und ihre Familie gefährdet. Nichtsdestotrotz hat mich der Lebensweg Ursulas beeindruckt.

Mein Fazit: Das Buch ist eine gelungene Mischung aus Biografie und Spionagethriller über eine beachtenswerte Frau.

Bewertung vom 16.11.2022
Labyrinth der Freiheit / Wege der Zeit Bd.3
Izquierdo, Andreas

Labyrinth der Freiheit / Wege der Zeit Bd.3


ausgezeichnet

Unerbittliche Freundschaft

Drei Freunde stehen im Fokus einer unglaublich mitreißenden Geschichte: Isi, Carl und Artur. Alles beginnt mit einem Überfall auf die schwangere Isi und den Folgen, die eine Spirale der Gewalt nach sich zieht. Die drei Freunde kennen sich aus Kindertagen und haben schon Tragisches zusammen erlebt. Besonders Artur ist nach dem Krieg durch seine Gesichtsentstellung gezeichnet. Carl, der Kameramann, erhält eine Anstellung bei den UFA-Filmwerken. Durch ihn erfahren wir Lesende einiges über die Filmgeschichte, ihren bekannten Regisseuren und den ersten Tonfilmen. Nach dem Überfall auf die schöne und mutige Isi gehen die 3 Freunde auf Spurensuche und es spinnt sich ein Netz an Intrigen bis Isi schließlich im Gefängnis landet und um ihr Leben bangen muss.

Viele sympathische und verabscheuungswürdige Charaktere lernen wir beim Lesen kennen. Dem Autor gelingt es über Worte seinen verschiedenen Figuren Leben einzuhauchen. Leicht fällt es daher das manchmal gewalttätige Vorgehen der Freunde mitzutragen. Bis zum Schluß fiebert man mit, ob sich die Geschichte zum Guten wenden wird oder alles über den Dreien zusammenbricht.

Die Geschichte schließt an zwei vorangegangene Bücher an, die ich leider nicht gelesen hatte. Daher fehlten mir einige Zusammenhänge und es kommen Figuren ins Spiel, die ich erst im Laufe des Lesens nach und nach einordnen konnte. Insgesamt tat das der Lesespannung aber keinen Abbruch. Sehr gut gefallen haben mir die Einschübe zu den Stimmungen am Filmset mit dem 'Gott der Regisseure' Fritz Lang und die Bezüge zu den Filmen: Dr. Mabuse, Nosferatu oder Die Nibelungen. Insgesamt fand ich die geschichtlichen Bezüge in der Geschichte gelungen, z.B. das Wirken des Adels mit dem Erstarken der nationalen Rechten, das Attentat auf Rathenau, der Massenmörder Großmann, der Einfluss der Inflation auf das Leben in den 20-ern, Homosexualität, sexuelle Ausbeutung bis hin zum Dadaismus.

Mein Fazit: 'Labyrinth der Freiheit' ist eine spannende, gut lesbare Geschichte um die bedingungslose Freiheit dreier Freunde. Ich denke, es lohnt sich, auch die ersten beiden Bände der Trilogie zu lesen.

Bewertung vom 06.11.2022
Shorty
Maurer, Jörg

Shorty


ausgezeichnet

Sein oder Nichtsein oder Anderssein

Shorty, die Hauptfigur, sieht cäsarisch vornehm aus, verfügt über vielfältigste Fähigkeiten und bringt es im Leben doch zu nichts als zu zahlreichen belanglosen Aushilfsjobs. Und gerade ihm wird nichts weniger als die Rettung der Welt übertragen und dann auch noch von Außerirdischen. Klar, dass da jede Menge Schwierigkeiten und abstruse Verwicklungen vorprogrammiert sind. Und es stellt sich heraus, dass die Außerirdischen, eher „Innerirdische“ sind und davon gibt es anscheinend jede Menge verschiedene, die mit uns, unter uns, parallel zu uns und vieles mehr, leben. Während Shorty versucht das verursachte Kuddelmuddel klar zu bekommen, erfahren wir Leser:innen alles über die vielen facettenreichen Lebensformen, vom Urknall und der Genesis und wer das alles verursacht hat. Einfach klasse!

Der Roman ist ein gelungenes Feuerwerk der Sprachkunst mit spitzfindigen Auslegungen, die an Wortwitz und Skurrilität kaum zu übertreffen sind. 'Shorty' ist ein Leckerbissen für alle, die 'Per Anhalter durch die Galaxis' und die fantasiereiche Gedankenwelt von Walter Moers lieben. Auf mich trifft beides zu, so dass ich den Roman von Jörg Maurer, für mich der Meister des Sprachwitzes, geradezu verschlungen habe.

Neben all der Schrägheit in der Geschichte bleibt aber auch eine Menge Raum zum Nachdenken, da ich immer wieder Aspekte entdecken konnte, die trotz ihrer Absurdität einen realen Bezug haben.

Mein Fazit: für mich war es ein köstliches Lesevergnügen – das gilt vielleicht nicht für jeden, aber bestimmt für diejenigen, deren Fantasie nicht beim Tellerrand endet.

Bewertung vom 04.11.2022
Der Pfirsichgarten
Fu, Melissa

Der Pfirsichgarten


ausgezeichnet

Eine chinesisches Weltgeschichte

Eigentlich ist es nur eine Lebensgeschichte. Aber 'der Pfirsichgarten' ist weit mehr als das. Es ist die Geschichte einer Familie, die über mehrere Generationen reicht und unglaublich spannend und nahegehend geschrieben ist. In Zeitabschnitten beginnend mit dem Jahr 1938, im Krieg zwischen Japan und China, bis zum Jahr 2000, werden die Leben der Hauptprotagonist:innen Meilin, ihrem Sohn Renshu und dessen Tochter Lily erzählt. Daneben gibt es weitere Figuren, die das Leben der Protagonist:innen wesentlich beeinflussen. Der dramatische Fluchtweg Meilins, dem kleinen Renshu und weiterer Personen ihrer mit dem Leben davon gekommenen Familie zieht sich über mehr als 10 Jahre durch verschiedene Städte in China bis nach Taiwan. Von dort aus beginnt der Studien- und Berufsweg Renshus in den USA. Die ganze Geschichte ist geprägt durch Meilins Stärke und schier unerschütterlicher Zuversicht. Ihre Fähigkeit dem kleinen Renshu, anhand wunderbarer Geschichten einer Bildrolle, Bilder einer Welt voller Hoffnung und Zukunft zu vermitteln, begleiten Renshus gesamten Lebensweg. Und dennoch liegt ein Schatten der Angst vor möglicher Verfolgung chinesischer Geheimdienste auf dem Leben des in den USA erfolgreichen Renshu, der ihn nicht zur Ruhe kommen lässt und seine eigene Familie belastet.

Das Buch ist toll geschrieben. Durch die Erzählweise im Präsens hatte ich das Gefühl eine Art Tagebuch-Aufzeichnung zu lesen. Die Geschichte fühlt sich dadurch unglaublich nahe und authentisch an. Sehr gut gefiel mir die Gedankenwelt Meilins, die mit klarem Weitblick und strategischen Überlegungen die Lebensplanung für Renshu und sich selbst sichert. Das Leid, die Strapazen und den Verzicht, die sie selbst dabei erfährt haben mich sehr berührt. Da musste ich durchaus mal eine Träne wegwischen und durchatmen. Außerdem hat mich die, sich durch die Geschichte ziehende, latente Bedrohung durch Repressalien des chinesischen Staates, die sich wie ein Spinnennetz weltweit erstrecken, zum Nachdenken gebracht - gerade auch angesichts der aktuellen Situation und der zunehmend weltweiten Einflussnahme Chinas.

Mein Fazit: 'Der Pfirsichgarten' ist ein Buch, das mich begeistert hat. Ich habe es in einem Rutsch gelesen. Ich kann daher eine 100%-Leseempfehlung aussprechen und das Buch auch als gute Geschenkidee für Weihnachten empfehlen.

Bewertung vom 23.10.2022
Lektionen
McEwan, Ian

Lektionen


ausgezeichnet

Beeindruckende Lebensgeschichten haben und brauchen viele Seiten

Den Protagonisten Roland, ein Nachkriegskind, begleiten wir Lesende durch sein Leben und erfahren vieles über die Personen rund um ihn. Während der Erzählung werden die Lebensgeschichten der jeweilig erwähnten Personen erzählt. Sü fügt sich Teilchen für Teilchen Rolands Leben vor unseren Augen zu etwas Kompletten zusammen. Immer wieder holen ihn seine Erfahrungen ein, als Jugendlicher im Internat und die dort entstehende Liaison mit seiner Klavierlehrerin. Dann überschattet das plötzliche Verschwinden seiner Ehefrau Alissa das junge Familienglück – Roland bleibt mit Lawrence, dem Baby, zurück. Langsam und Jahre später kristallisiert sich Alissas Grund
aus vielen Erzählfetzchen. Auch bei ihr stehen unverarbeitete Verletzungen in der Jugend im Vordergrund.

'Lektionen' ist ein sprachlich ausgefeiltes, für mich an keiner Stelle langweiliges Buch. Die Geschichte zieht sich über viele Jahrzehnte und verknüpft das Leben Rolands und der ihn umgebenden Personen mit verschiedenen geschichtlichen Ereignissen, z.B. Kubakrise, Tschernobyl, Widerstandsbewegung (Weiße Rose), Wiedervereinigung, Corona. Dabei beleuchtet er auch DDR-Schicksale anhand einer befreundeten Familie, die Roland einige Jahre lang im Osten besuchte und die die Willkür des Staates erleben mussten. Ungewöhnlich fand ich die Erzählstränge, die intime Erfahrungen Rolands schildern, die weit in seine frühe Jugend zurückreichen und immer wieder durch ihn reflektiert werden. Sehr beeindruckend fand ich Rolands starke Hinwendung zu seinem Sohn Lawrence, den er nach dem Verschwinden Alissas von Baby auf betreut. Ich finde, dass es Ian McEwan sehr gut gelungen ist, die verschiedenen Facetten und Lebensphasen Rolands zu beschreiben. Möglicherweise verbergen sich biografische Elemente des Autors in der Figur Rolands. Einzelne Schilderungen fand ich einerseits etwas lang, andererseits werden sie jedoch durch die bildhaften Lebenserzählungen zu den einzelnen Personen mehr als ausgeglichen.
Etwas Kritik muss ich leider zur Buchausführung üben: die Seiten sind sehr dünn und durchscheinend, das störte mich beim Lesen immer wieder; aber vielleicht ist das ja der aktuellen Ressourcenknappheit an Papier geschuldet.

Mein Fazit: 700 Seiten Lebensgeschichte erscheint zwar erstmal ziemlich viel, aber es kommt eben auf den Inhalt an. Der weitere Lebensweg einiger Figuren hat mich sogar so stark interessiert, dass ich darüber gerne noch mehr Seiten gelesen hätte. Chapeau, für dieses fulminante, perfekt geschriebene Lesewerk.

Bewertung vom 06.10.2022
Verbrenn all meine Briefe
Schulman, Alex

Verbrenn all meine Briefe


ausgezeichnet

Ein gnadenloser Narzisst

Es hätte eine große Liebe werden können. Karin, die Frau des erfolgreichen Schriftstellers Sven Stolpe verliebt sich in den Studenten Olov. Doch Sven weiß das durch Unterdrückung, Erpressung und Bedrohung zu verhindern. So dauert ein jahrzehntelanges Martyrium an, das seine negative Strahlkraft auf alle Nachkommen des Paares wirft. Als Alex, ein Enkel, bemerkt, dass sein eigenes Verhalten nun auch bei seiner Familie zunehmend Angst hervorruft, begibt er sich auf die Suche nach der Ursach, woher die Beziehungsstörungen innerhalb der großen Familie Stolpe rühren. Er entdeckt eine unglaubliche Geschichte, die er Stück für Stück, anhand von Briefen und Nachlässen an verschiedenen Orten, zu einem Gesamtbild zusammenfügt.

Unglaublich berührend und nachhallend ist diese Geschichte geschrieben. Sehr schnell habe ich Sven Stolpe wirklich gehasst, der seinen pathologischen Narzissmus ungefiltert an seiner Frau auslebte. Es kam mir vor, dass er wie eine Krake seine Frau Karin umschließt und jeglichen eigenen Willen, Tropfen für Tropfen, aus ihr heraussaugt. Doch damit nicht genug, er schlachtet Karins eigene grausame Erfahrungen, während einer Abtreibung in den 20er-Jahren und einer vorehelichen Affäre, auch noch publikumswirksam in seinen erfolgreichen Romanen aus. Selten, dass ich mit einer Romanfigur so mitfühlen konnte – bei Karin war das so.

Mein Fazit: Ein hervorragend geschriebener Roman über dunkle Familiengeheimnisse und unerfüllte Liebe. Er ist zwar kein Krimi, aber doch mindestens genauso spannend.

Bewertung vom 02.10.2022
Das Zuhause
Coccia, Emanuele

Das Zuhause


ausgezeichnet

Wohnglück und Schutzraum

Das imposante Cover ist ein Hingucker und erinnert an M.C. Escher. Tatsächlich deutet schon das Cover den Perspektivenwechsel an, den Emanuele Coccia, zum Thema 'Zuhause' aufzeigt. Ja, das Zuhause ist eine umhüllende Einheit, die weit über den reinen Wohnraum hinaus reicht und genau darum geht es in den philosophischen Betrachtungen im Buch. Der Autor beleuchtet vom Start in das Zuhause, dem Umzug, über dem Wohnungsbau, den einzelnen Zimmern und Wohnflächen, dem Inventar und den Inhalten von Schränken, auch das Äußere: die Stadt, die Gärten und die Umgebung bis hin zu den Haustieren und dem 'neuen Zuhause' in den sozialen Medien, um schließlich sogar einen Bezug zum Stein der Weisen herzustellen. Es ist wahrlich eine philosophische Welt- und Geschichtsreise, begleitet in einer Sprache, die von unterhaltend witzig bis hin zum philosophische Exkurs weit über das Thema 'Zuhause' hinausreicht.
Einige Sätze haben mich tief beeindruckt, wenigstens einen davon möchte ich hier nennen: „Das Zuhause muss zu einer Sphäre werden, in der wir das Leben befreien können, ohne es in irgendeiner Form zu determinieren.“

Mein Fazit: ein WOW-Buch für den philosophisch geübten Lesenden.