Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Micki
Wohnort: 
Köln

Bewertungen

Insgesamt 55 Bewertungen
Bewertung vom 06.04.2022
Kaiserstuhl
Glaser, Brigitte

Kaiserstuhl


ausgezeichnet

Im Jahr 1962 dreht sich alles um eine Flasche Champagner aus der Vorkriegszeit: Henny, eine Weinhändlerin, verbindet damit ihre große Liebe, der Ex-Soldat Paul möchte sie unbedingt Charles de Gaulle als Zeichen europäischer Freundschaft überreichen und der 21-jährige Kaspar hat ebenfalls eigene Pläne damit...
Thematisch mal etwas ganz anderes, hatte ich mit dem Einstieg in den Roman etwas Schwierigkeiten. Grund dafür ist nicht nur die komplexe Handlung, sondern insbesondere die Vielzahl an Personen sowie die vielen Zeitsprünge. Auch wenn die Haupthandlung im Jahr 1962 angesiedelt ist, deckt der Roman noch weitere Zeitabschnitte ab. Es geht um die Vorkriegsjahre und die beginnende Liebe zwischen Henny und Yves, die Kriegsjahre 43/44, sowie die ersten Jahre nach dem 2. Weltkrieg, als Henny und Paul sich kennenlernen und sich dem Kind Kasper annehmen. Auch wenn alle drei Handlungsstränge sehr spannend sind, fiel es mir anfangs schwer, den Ereignissen zu folgen. Erzählt wird nämlich nicht streng chronologisch, sondern die Handlung springt immer mal wieder vor und zurück. Zudem sind die einzelnen Abschnitte sehr kurz, sodass man nicht tief in die aktuelle Handlung versinken kann. Das macht den Roman etwas anstrengend zu lesen, nach ca 100 Seiten bin ich jedoch ganz rein gekommen und die Geschichte wurde immer besser!
Trotz dieser Anfangsprobleme habe ich die Geschichte unheimlich gerne gelesen. Das geschichtliche Hintergrundwissen der Autorin ist beeindruckend und im Anhang wird deutlich, wie viel Recherchearbeit in dem Werk steckt. Außerdem gefiel mir die Verknüpfung von historischer Gegebenheiten mit literarischer Fiktion und Liebesgeschichte sehr gut.
Fazit: Ein sehr guter und spannender Roman, der jedoch mit einiger Konzentration gelesen werden muss.

Bewertung vom 06.04.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


sehr gut

Mélanie ist ein YouTube Star. Doch anstatt sich selbst, vermarktet sie in erster Linie ihre beiden Kinder. Tagtäglich werden diese über mehrere Stunden gefilmt, mit Spielzeug überschüttet und unterschiedlichen Challenges ausgesetzt. Als die Tochter Kimmy entführt wird, beschäftigt sich die junge Polizistin Clara erstmals mit der Social Media Welt und ist (wie der Leser) schockiert zu sehen, wie weit Eltern für Ruhm, Geld und Anerkennung gehen...
Die Idee, die aktuelle Social Media Problematik anhand eines Entführungsfalles aufzudecken, finde ich sehr kreativ und spannend. Auch wenn das Buch kein klassischer Krimi ist, enthält es doch Element wie ein zunehmender Spannungsbogen und plötzliche Wendungen. Die Auflösung fand ich gut und nicht vorhersehbar.
Die beiden Hauptprotagonistinnen sind beide nicht nur in ihren Berufen gänzlich konträr: Obwohl sie in etwa das gleiche Alter haben, hat Clara keine Ahnung von der Social Media Welt. Diesen Punkt fand ich etwas merkwürdig, da auch sie ja mit diesen Medien aufgewachsen sein muss. Ansonsten fand ich sie aber als Figur interessant und auch die Rückblicke in ihr vergangenes Leben haben mir gut gefallen. Mélanie ist einfach wahnsinnig unsympathisch - um jeden Preis will sie berühmt werden und geht dabei fast über Leichen. Auch die Rückblenden in ihr Leben fand ich sehr interessant, auch wenn ich ihre Denkweise dennoch nicht verstanden habe.
In den letzten Seiten des Romans folgt ein Vorblick auf das Jahr 2031. Diese kurze Sequenz hat mit nicht so gut gefallen und hat der Roman nicht gebraucht. Generell war er nicht spannend und wirkte auf mich irgendwie gewollt.
Im großes und ganzen fand ich den Roman jedoch sehr gelungen und erschreckend aktuell. Man kann sich sehr gut vorstellen, dass es wirklich solche Mütter gibt, die alles tun, um Geld und Ansehen zu bekommen

Bewertung vom 19.05.2021
Drei Kameradinnen
Bazyar, Shida

Drei Kameradinnen


sehr gut

Anspruchsvolle Lektüre mit aktuellem Thema
Hani, Kasih und Saya sind drei junge Frauen, die gemeinsam im von der Erzählerin als Ghetto bezeichneten Plattenbau aufgewachsen sind und auch über die schwere Kindheit Freundinnen – oder eben Kameradinnen – geblieben sind. Alle drei haben einen Migrationshintergrund und sind regelmäßig Alltagsrassismus und offenen Anfeindungen ausgesetzt. Während sich Hani und Kasih (die Erzählerin) damit auf den ersten Blick abgefunden zu haben scheinen, kämpft Saya offen und energisch gegen Rassismus und gerät dadurch auch in brenzlige und nicht ungefährliche Situationen. Eine dieser Situationen wird von der Erzählerin detailliert beschrieben – der Brand in einem Flüchtlingsheim, mit dem Saya in irgendeiner Weise zu tun haben scheint.
Die Erzählerin Kasih springt dabei in ihrer Geschichte immer wieder zwischen Kindheit, jüngerer Vergangenheit und den aktuellen Geschehnissen. Zudem wird auch der Prozess des Schreibens der Geschichte immer wieder thematisiert. Durch die vielen Zeitsprünge fällt es somit als Leser manchmal schwer, die Geschichte zu verfolgen. Hinzu kommt ihre Unzuverlässigkeit als Erzählerin: Sie verschweigt dem Leser Dinge in voller Absicht, verdreht Tatsachen und gibt offen zu, dass sie sich Teile nur ausgedacht hat. Dieser Erzählstil ist wirklich sehr besonders und interessant.
Generell schildert Kasih ihr Leben und die Probleme des Alltags sehr schonungslos. Tagtäglich ist sie als Frau mit Migrationshintergrund Rassismus ausgesetzt. Ich kann die Lektüre deswegen sehr empfehlen, weil sie auch den Blick auf das eigene Verhalten schärfen kann und so dabei helfen kann, Vorurteile und festgefahrene Ansichten zu überwinden.

Bewertung vom 22.04.2021
Der Abstinent
McGuire, Ian

Der Abstinent


ausgezeichnet

Nachdem mich Nordwasser sehr begeistert hat, war klar, dass ich auch den neuen Roman von Ian McGuire unbedingt lesen muss. Wieder hat sich der Autor für sein neues Werk ein düsteres Setting in der Vergangenheit ausgesucht: „Der Abstinent“ führt den Leser in das Jahr 1867 nach England, in der Kriminalität und Mord auf den Straßen nichts Ungewöhnliches war. Der ehemalige Alkoholiker und Polizist James O´Connor jagt den amerikanischen Iren Stephen Doyle, der einen Anschlag in der Stadt plant.
Wie auch der Vorgänger konnte mich „Der Abstinent“ wirklich sehr begeistern. Dabei ist es gar nicht unbedingt die Geschichte, die den Leser so fesselt, sondern vielmehr die Stimmung. Es ist ein wirklich düsterer Roman und durch die Erzählweise des Autors fühlt man sich sofort in das Manchester des 19. Jahrhunderts hineinversetzt, so als würde man die gesamten Geschehnisse von außen betrachten.
Leider finde ich den Beschreibungstext nicht sonderlich gelungen und muss sagen, dass ich, ohne den Vorgänger zu kennen, aufgrund der Geschichte nicht zu dem Buch gegriffen hätte. Der Klappentext macht den Eindruck, dass die politischen Ereignisse den Großteil der Ereignisse einnimmt, dabei geht es vielmehr um die Beziehung zwischen Connor und Doyle.
Ein wirklich gutes Buch, das ich sehr empfehlen kann – auch wenn man sich eventuell nicht für die politischen Ereignisse interessiert.

Bewertung vom 31.03.2021
Otmars Söhne
Buwalda, Peter

Otmars Söhne


ausgezeichnet

Ludwig Smit (eigentlich Dolf) wächst quasi mit zwei Väter auf: Sein Adoptivvater Otmar, den er bewundert und respektiert, und der abwesende Erzeuger, der trotz seiner Abwesenheit gedanklich die ganze Kindheit und auch Erwachsenenzeit über präsent ist. In seinen 30ern angekommen, arbeitet er als mittelmäßiger Angestellter für einen großen Ölkonzern und trifft auf einer Geschäftsreise nicht nur auf seine alte Mitbewohnerin Isabelle, sondern auch auf seinen vermeintlichen Vater.
Die Thematik von Otmars Söhne ist wirklich sehr vielschichtig. Einmal geht es natürlich um die Identitätssuche von Ludwig und seinen Platz im Leben: Schon als Kind spielte er neben seinen hochbegabten Stiefgeschwistern immer nur eine untergeordnete Rolle und fühlte sich dadurch oft vernachlässigt. Nur sein Stiefvater Otmar hielt zu ihm, während er vom Rest der Familie oftmals vernachlässig wurde. Auch der Aspekte der Vatersuche ist ein zentrales Thema des Romans, bei dem sich auch Ludwigs innerliche Zerrissenheit offenbart: Auf der einen Seite möchte er seinen Vater kennenlernen, hat jedoch auch große Angst davor. Weitere Thematiken des über 600 Seiten starken Werkes: toxische Beziehungen, Musik (insbesondere Beethoven), Umweltschutz, sexuelle Vorlieben und Macht.
Die Verknüpfung der einzelne Themenkomplexe und Zeitebenen gelingt dabei dem Autor unglaublich gut, sodass man zu keinem Zeitpunkt die Handlung aus den Augen verliert. Der Protagonist Ludwig als Hauptfigur ist eine sehr interessante Persönlichkeit mit einige Macken und Besonderheiten und hat mich als Leser sehr fasziniert. Viele seiner Aktionen sind wirklich zum Fremdschämen, da er sich in einigen Situationen sehr unbeholfen verhält. Es mangelt ihm an sozialen Kompetenzen wie Feinfühligkeit und Empathie, dennoch fühlt man mit ihm mit. Auch die anderen Figuren – selbst wenn sie nur im Nebengeschehen vorkommen – im Roman sind außergewöhnlich und auf ihre Weise individuell und besonders.
Mit hat der Roman wirklich außergewöhnlich gut gefallen. Die Handlung ist trotz ihrer Komplexität sehr spannend und gut nachzuvollziehen, außerdem hat mir der Humor sehr gut gefallen. Ich freue mich auch die beiden Folgebände.

Bewertung vom 24.03.2021
Was wir scheinen
Keller, Hildegard E.

Was wir scheinen


sehr gut

Anspruchsvolle Lektüre
Im Sommer 1975 blickt die Publizistin Hannah Arendt auf ihr knapp 70 Jahre langes Leben zurück. Erst kürzlich verwitwet und selbst auch gesundheitlich angeschlagen, verbringt sie einige Wochen im Schweizer Tessin, eine Region, mit der sie bereits seit vielen Jahren eng verbunden ist. Geschildert wird nicht nur Hannahs Flucht vor den Nazis nach Amerika, sondern auch die Ereignisse der ersten Jahre und die ersten Erfolge als Publizistin und Essayistin. Im Mittelpunkt der Handlung steht dabei die Arbeit an dem Buch über den Eichmannprozess in Jerusalem, dem Hannah Arendt als Journalistin über mehrere Monate beiwohnte. Dabei folgen die Geschehnisse zwar einer chronologischen Handlung, sind jedoch oftmals sehr bruchstückhaft, sodass ein Art Mosaik des aufregenden und spannenden Lebens von Hannah Arendt entsteht. Gespickt werden diese Bruchstücke mit Gedichten und Ausschnitten unterschiedlicher Autoren. Auch wenn der Roman, wie die Autorin betont, an sich fiktional ist und sich nur am Leben Hannah Arendts orientiert, entsteht so ein starker Eindruck von Authentizität.
Der Roman ist intellektuell sehr anspruchsvoll. Man sollte zumindest schon einigermaßen mit den Zeitgenossen von Hannah Arendt vertraut sein, um den sprachlichen Diskursen und den Austausch der Personen untereinander gut folgen zu können. So kommen der Philosoph Walter Benjamin ebenso vor wie Martin Heidegger oder Karl Jaspers. Um die Lektüre halbwegs genießen zu können, empfehlen sich zumindest Grundkenntnisse der philosophischen und intellektuellen Strömungen der 40er, 50er und 60er Jahre.
Unterhaltsam und spannend ist „Was wir scheinen“ eher weniger. Böse Zungen würden behaupten, dass dem Roman eine wirkliche Handlung fehlt – was stimmt, da nicht wirklich etwas passiert. Vielmehr geht es darum, den Zeitgeist und die gesellschaftliche Atmosphäre rund um Hannah Arendt und ihre geistigen intellektuellen Freunde zu vermitteln. Ich empfehle diesen Roman nicht nur allen, die sich für Hannah Arendt als Person interessieren, sondern auch allen, die generell großes Interesse an den geistigen Strömungen des letzten Jahrhunderts haben.

Bewertung vom 08.03.2021
Hard Land
Wells, Benedict

Hard Land


gut

Netter Roman, jedoch wenig tiefgründig
Der 16-jährige Sam ist wohl das, was man einen typischen Teenager nennt: Seine Probleme und Gedanken drehen sich um die Sehnsucht nach Mädchen und Sex, Unsicherheit, keine Lust auf Schule und Probleme mit den Eltern und deren Ansichten. Hinzu kommt die Krebserkrankung der Mutter, die die Stimmung zuhause trübt. Um seinem Elternhaus und der Langweile der Sommerferien zu entkommen, nimmt Sam einen Job im örtlichen Kino an, wo er nicht nur Freunde findet, sondern sich auch erstmal so richtig verliebt.
Hard Land gehört zu den typischen Coming of Age-Roman bezeichnet, was auch die zeitliche Einordnung der Ereignisse – der Roman spielt in den 1980er Jahren in Amerika – erklärt. Und tatsächlich sind die 80er insbesondere in Form von Filmen und Musik sehr präsent, was dem Buch eine gute und realistische Atmosphäre verleiht. Die Geschichte ist an sich nichts Neues: Schüchterner Teenie verliebt sich in älteres Mädchen, hinzu kommen familiäre Probleme in Form von Krankheit und später im Verlauf die Trauerarbeit. Der junge Protagonist erlebt dabei ein Wechselbad der Gefühle: So ist es einerseits der beste Sommer seines Lebens, in dem er sich verliebt, Freunde findet und typische Teenie-Dinge erlebt. Andererseits ist seine Mutter schwer erkrankt und die Beziehung zu seinem Vater quasi nicht vorhanden.
Hard Land ist nett erzählt und lässt sich in einem Rutsch durchlesen. Trotz ernsterer Themen (Krebserkrankung etc.) verliert die Sprache dabei nicht ihre Leichtigkeit. Dennoch muss ich sagen, dass mir das alles ein wenig zu oberflächlich ist und ich die inhaltliche Tiefe und Analyse vermisse. Die Sprache Wells ist sehr jugendlich und emotional – was natürlich gut zu der erzählten Perspektive passt – hat mich jedoch einfach nicht wirklich erreicht.
Fazit: Hard Land ist ein Roman über die erste große Liebe, über den Umgang mit einem schweren Verlust und die Leichtigkeit des Sommers zwischen Kindheit und Erwachsenwerden. Im Großen und Ganzen ein Roman, den man lesen kann, der jedoch nicht viel Neues bietet. Vielleicht eine nette Sommerlektüre und auch etwas für Teenager, die mal an ein anderes Genre herangeführt werden möchten.

Bewertung vom 15.02.2021
Sprich mit mir
Boyle, T. C.

Sprich mit mir


sehr gut

Wie ähnlich sind uns Affen?
Die Verwandtschaft von Affe und Mensch ist ein Thema, welches nicht nur die Wissenschaft seit Jahren beschäftigt, sondern auch in Film und Fernsehen thematisiert wird. Auch der erfolgreiche amerikanische Autor T.C. Boyle befasst sich in „Sprich mit mir“ mit der Menschlichkeit von Affen: Durch Zufall wird die Studentin Aimee in ein ungewöhnliches Wissenschaftsprojekt mit einbezogen. Wie eine Erzieherin soll sie sich um das Affenkind Sam kümmern, der kurz nach seiner Geburt seiner Mutter weggenommen wurde und seitdem unter Menschen aufwächst. Doch für Aimee ist Sam bald viel mehr als nur ein Forschungsprojekt – es entsteht eine intensive Bindung.
Was mit an den Romanen von T.C. Boyle immer besonders gut gefällt, ist die thematische Abwechslung. Jede Geschichte ist etwas völlig Neues hinsichtlich Figuren und Setting, sodass sich seine Bücher nur schwer miteinander vergleichen lassen. Dennoch hat mir diese Geschichte nicht so gut gefallen, wie andere Romane von ihm. Mir fehlte der intensive Zugang zu den handelnden Personen, vieles bleibt sehr oberflächlich und sowohl Aimee und Dr. Schermerhorn bleiben für mich sehr blass, können mich nicht berühren und interessieren mich auch als Figuren nicht weiter.
Auch generell fehlt mir teilweise der wissenschaftliche Hintergrund, stattdessen stehen die Emotionen viel zu sehr im Fokus. Die ganze Story ist teilweise sehr vorhersehbar und war für mich ohne Überraschungen. Selbst das Ende war doch sehr schnell abzusehen, da habe ich mir definitiv mehr erwartet.
Im Großen und Ganzen hat mich der Roman gut unterhalten und stellenweise auch fesseln können. Definitiv regt das Thema Forschung an Affen zum Nachdenken an und macht auch wütend, wenn man bedenken, wie schamlos Affen für die menschliche Forschung genutzt werden. Dennoch ist das nicht das beste Buch von Boyle.

Bewertung vom 12.11.2020
Die zitternde Welt
Paar, Tanja

Die zitternde Welt


ausgezeichnet

Eine ungewöhnliche Familiengeschichte
Als die Österreicherin Maria bemerkt, dass sie schwanger ist, macht sie sich auf den Weg zu ihrem Liebhaber: Wilhelm arbeitet in Anatolien für die dortige Eisenbahn, die eines Tages quer durch das osmanische Reich von Istanbul bis nach Bagdad. Doch der 1. Weltkrieg zerstört nicht nur diesen Traum, sondern auch Marias Familie zerbricht.
Das gewählte Thema – eine Familiengeschichte rund um den ersten Weltkrieg und den Bau der Bagdadbahn – ist sehr spannend und außergewöhnlich. Als Leser begleiten wir nicht nur Maria in den ersten Jahren in Anatolien, wo sie sich als westliche und eigenständige Frau gegen die sittlichen Vorstellungen zurecht finden muss, sondern auch später ihre erwachsenen Kinder. So gelingt es der Autorin, auf nicht einmal 300 Seiten ein generationenübergreifendes Portrait einer ungewöhnlichen Familie zu zeichnen.
Sehr gut beschrieben werden auch die innerlichen Konflikte der einzelnen Familienmitglieder. Maria, die immer mit ihrem Leben in Anatolien hadert, weil sie sich als Frau nicht respektiert fühlt, dennoch niemals nach Österreich zurückkehren möchte. Wilhelms Herz schlägt nicht nur für seine Frau und seine Familie, sondern auch für die Eisenbahn. Als dieser Lebenstraum aufgrund des heranbrechenden Krieges verloren zu sein schein, zerbricht auch er. Und auch die drei Kinder des Paares haben es auf ihrem Weg durch die Welt alles andere als einfach und müssen schwere Schicksalsschläge überstehen.
Insgesamt ist „Die zitternde Welt“ ein wirklich lesenswertes Buch, dass das Schicksal einer Familie mal aus einer ganz anderen Sicht beleuchtet und damit wirklich empfehlenswert.

Bewertung vom 12.11.2020
Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
Ferrante, Elena

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen


ausgezeichnet

Der Weg zum Erwachsenwerden
Als die 13-jährige Giovanna ihren Vater dabei belauscht, wie dieser sie mit der gehassten Tante Vittoria vergleicht, ist sie am Boden zerstört. Doch kurz darauf beschließt sie, dass die diese Tante, zu der ihre Familie keinen Kontakt hat, kennenlernen möchte. Doch das Kennenlernen und die spätere Beziehung entwickeln sich ganz anders als sich das Giovanna vorgestellt hat. Zwischen ihr und der Tante entsteht eine merkwürdige Freundschaft, die Giovannas Weg ins Erwachsenwerden sehr prägt und ihre wohlbehütete Welt auf den Kopf stellt.
Giovanna ist eine recht eigenwillige Person, die mir als Leserin nicht unbedingt sympathisch war. Allerdings fand ich sie mit ihren Gedanken und Gefühlsschwankungen sehr realistisch gezeichnet, sodass ich mich gut in sie hereinversetzen konnte. Was mich nicht völlig gestört hat, mit dennoch stark aufgefallen ist: Ein bisschen scheint es so, als wäre Giovanna eine gemischte Version von Lila und Elena aus der Neapolitanischen Saga. Das ist etwas schade, da mir viele Gedankenstränge dadurch bereits bekannt vorkamen und mich manchmal etwas gelangweilt haben.
Wie immer schafft es Elena Ferrante mich nach nur wenige Seiten in die Welt von Neapel einzusaugen und mir das Gefühl zu vermitteln, ich wäre dabei. Das rechne ich der Autorin sehr an und ist wahrscheinlich auch mit der Grund für ihren großen Erfolg. Die Story an sich ist nicht sonderlich spannend oder außergewöhnlich: Die Probleme eine pubertierenden Teenies, Familienprobleme, finanzielle Unterschiede – davon haben wir vermutlich alle schon oft gelesen. Doch dank der unheimlich lebensnahen Sprache und der dichten Atmosphäre habe ich das Buch sehr gerne gelesen.