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Bewertungen

Insgesamt 61 Bewertungen
Bewertung vom 06.02.2024
Das Lächeln der Königin
Gerhold, Stefanie

Das Lächeln der Königin


ausgezeichnet

James Simon und seine Königin - Hauptfigur des Romans ist der jüdische Unternehmer und Berliner Mäzen James Simon, der Anfang des 20. Jhds. mit anderen Kunstinteressierten die Deutsche Orient-Gesellschaft gründet. Diese nun finanziert Grabungen unter der Leitung des Archäologen Ludwig Borchardt in Tell el-Amarna – und eben dort findet dieser die wunderschöne Büste der Königin Nofretete, die zweite Hauptfigur, wenn man so will. Bis sie dann aber erstmalig in Berlin einem breiten Publikum vorgeführt werden kann, sollen noch etliche Jahre vergehen.

Gerhold verflechtet gekonnt Fiktion und Realität zu den Ereignissen rund um die Büste der Nofrete und bedient sich dabei verschiedener Genres. So liest sich das Buch als biographischer Roman über das Leben James Simons, über sein großes kulturelles und soziales Engagement und seine Liebe zur Archäologie. In diesem Kontext offenbart der Roman in erschütternd nüchterner Art und Weise den „salonfähigen“ Antisemitismus, der sich bis in allerhöchste Kreise zog und bereits lange vor den Nazis ein gesellschaftlich-politisches Thema war. – Dann wiederum erhält man Einblicke in den „kolonialen Grabungsrausch“ in Ägypten und die Verhandlungen, die mit den Grabungsländern zum Aufteilen der Funde geführt haben. Als historischer Roman werden nicht nur diese, sondern auch weiterhin politische Ereignisse in Deutschland aufgegriffen. – Und dann liest sich der Roman auch als große Liebeserklärung an die Königin und die wunderbaren Kunstschätze, die sie im Neuen Museum umgeben.

Kritiker mögen anmerken, dass die eine oder die andere Lesart zu oberflächlich war. Auch der Ton des Romans mag an manchen Stellen ein bisschen zu nüchtern gewesen sein. Ich fand diese Mischung beim Lesen perfekt, gerade weil die Sprache in ihrer Art wunderbar die Zeit und die Figuren des Romans wiedergespiegelt hat. Allein die ehrfurchtsvollen Worte beim erstmaligen Aufstellen der Büste!

Bewertung vom 30.01.2024
Fall, Bombe, fall
Kouwenaar, Gerrit

Fall, Bombe, fall


ausgezeichnet

Eindrückliche Antikriegsnovelle - Gerrit Kouwenaars Novelle erschien bereits 1950 in den Niederlanden. Subtil und in einfachen Worten schildert er, wie Krieg, von einem Tag auf den anderen, Kindheit und Jugend auslöschen kann.
Im Mai 1940 lebt der 17-jährige Karel in einer Stadt in den Niederlanden. Er gibt sich Tagträumen und Wunschdenken hin, in denen der Krieg in den Nachbarländern in punktuellen Ereignissen auch zu ihm kommt. Sie möge doch endlich fallen, die Bombe, damit es endlich mal ein Ereignis gäbe. Als verklärte Wahrnehmung eines Jungen vom Jugendlichen zum Erwachsenen verknüpft er diese Ideen eher mit einem großen Abenteuer als mit dem, was es ist: Tod und Verderben. Als er die jüdische Geliebte seines Onkels und deren Tochter kennenlernt, ist es die kindliche Liebe, die ihn aus der Eintönigkeit befreien könnte. Tod, Leid, Judenverfolgung scheinen für ihn abstrakte Begriffe ohne Emotionen und persönlichen Bezug zu sein. Weit weg und nicht Gegenstand seines noch kindlichen Gemüts. Bis er einen Brief überbringen muss und die Realität ihn einholt.
Kouwenaars Novelle ist von einfacher Sprache, spiegelt sie doch die naive und verträumte Gesinnung ihres Protagonisten wider. Und trotzdem ist sie von einer furchtbaren Intensität, verdeutlicht sie doch den irrgeleiteten Eifer der jungen Generation im zweiten Weltkrieg, die, ahnungslos von Realität, zur Verteidigung des Vaterlands heldenhaft in den Krieg ziehen wollten.
Dieses Antikriegsbuch verknüpft Fiktion mit autobiographischen Elementen des Autors, die im Nachwort des Buchs geschichtlich eingeordnet werden. Das gibt dem Ganzen nochmals eine zusätzliche erschreckend reelle Nuance.

Bewertung vom 15.01.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


ausgezeichnet

Wunderbare, zarte Geschichte über Freundschaft und Familie - Iris Wolffs neuer Roman nimmt uns mit auf eine wunderbare, poetische Reise zurück in die Leben unserer beiden Protagonisten und zurück in die lichten Erinnerungen ihrer prägenden Erlebnisse.
Lev und Kato sind Freunde seit ihrer Kindheit. Damals, im kommunistischen Rumänien, in Siebenbürgen, ist Lev ans Bett gefesselt und Kato sein Lichtblick. Er, der deutsche Junge inmitten rumänischer Halbgeschwister, verwurzelt in der Heimat und in den Erinnerungen an Vater und Großvater. Sie, Halbweise, Tochter eines Trinkers, Außenseiterin, klug und wissbegierig, mit einem großen Zeichentalent. Zarte freundschaftliche Bande entstehen, die über die Jahre mal enger, mal weiter geknüpft sind, aber sich doch nie voneinander lösen.
Iris Wolff erzählt chronologisch rückwärts die Geschichte zweier ungleicher Menschen. Gleich dem Kennenlernen von Fremden beginnt sie in der Gegenwart und lässt uns nach und nach in neun Episoden unsere beiden Figuren entdecken und verstehen. Immer geht es ein Stück weiter in die Vergangenheit, immer ist es eine „Lichtung“ im Lebenslauf, eine besondere Begegnung, ein Ereignis, das die persönlichen Entwicklungen von Kato und Lev geprägt haben. Zwei Menschen, deren Leben sich im Rumänien des Kalten Krieges trafen und deren Wege sich in unterschiedliche Richtungen schlängelten. Iris Wolffs Sprache ist poetisch und bildreich, ihre Sätze sind intensiv und doch sehr anmutig und zart. Gleich einem Bild im Roman ist es, als würde man am Rand einer Lichtung stehen und durch die Sonnenstrahlen plötzlich für einen ganz kurzen Moment vollkommene Klarheit erlangen. Jede Figur hat ihre Rolle und ist selbst in kleinen Randerscheinungen fein gezeichnet und von tieferer Bedeutung. Und so handelt der Roman von Freundschaft, Familie und Vertrauen, von Zugehörigkeit und den Wurzeln der eigenen Identität, von enger Verbundenheit inmitten von Gegensätzen, von Freiheit, Flucht und Verlassenwerden.
Wie prägen unser Leben und Erlebnisse unsere Identität, unsere Lebensentwürfe, unsere Zukunft? Was sind die Bande, die uns über Jahre und Jahrzehnte miteinander verknüpfen? Lev und Kato zeigen uns dies in Fragmenten, in kleinen Lichtungen ihres Lebens.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.01.2024
Blick in den Abgrund
Friedländer, Saul

Blick in den Abgrund


ausgezeichnet

Israel und die Justizreform - ein lehrreiches Tagebuch - Saul Friedländer verfasst sein „israelisches Tagebuch“ von Januar bis Juli 2023, vor dem Hintergrund der Justizreform, die die Koalition unter Benjamin Netanjahu in Israel implementieren will. Hunderttausende Israelis sind dieser Tage auf den Straßen, er selbst kann nicht mehr mitdemonstrieren. Und so dokumentiert er die laufenden Ereignisse schriftlich. Er berichtet tagesaktuell über Demonstrationen, Terroranschläge, politische Statements und Entscheidungen. Er ordnet für die Leser die gesellschaftlichen, ethnischen, militärischen und politischen Strukturen kritisch und differenziert in einen größeren (auch geschichtlichen) Kontext ein, äußert seine Überlegungen zur Zwei-Staaten-Lösung, zur Siedlungspolitik der aktuellen und früheren Regierungen, zur Abgrenzung von Antisemitismus und Israelkritik. Und er bringt seine große Sorge zum Ausdruck, wie die Regierung Netanjahu durch die Koalition mit rechten religiös-nationalistischen Parteien versucht, die Demokratie in Israel systematisch auszuhöhlen.
Blick in den Abgrund – treffender hätte der Titel für dieses Buch nicht gewählt sein könnten. Saul Friedländer, jüdischer „Historiker des Holocaust“, der bereits 1948 nach Israel kam, um, wie er selbst schreibt, das Land mitaufzubauen, blickt auf ein zerrissenes Land. Seine Worte, seine Aussagen sind ehrlich, offen und deutlich kritisch. Er selbst macht keinen Hehl daraus, wo er steht: Seite an Seite mit der Demokratie, mit den Zivilisten, mit den Menschen. Und doch findet auch er nur schwer Worte für das Unfassbare dieser Tage, große Sorge trifft auf kleine Hoffnungsschimmer.
Viele der von Friedländer erwähnten Fakten waren mir bis heute nicht bekannt und liefern nun gute Erklärungen und Einordnungen zum Verständnis Israels. Und doch: Kann man dieses Buch losgelöst von dem Krieg, der seit drei Monaten in der Region tobt, lesen? Ja! Unbedingt. Denn es wird eine Zeit danach geben und dann ist Friedländers Einordnung der rechtsradikalen, religiösen Kräfte im Land vielleicht wichtiger denn je, um zu verstehen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.12.2023
Wir sind nicht alle
Plagemann, Johannes;Maihack, Henrik

Wir sind nicht alle


ausgezeichnet

Wichtiger politischer Perspektivwechsel - Die beiden Autoren nehmen uns mit auf einen politischen Perspektivwechsel und setzen uns quasi die „Brille des Globalen Südens“ auf. Wir blicken auf die großen Krisen und Abgründe dieser Welt, die Kriege, die Coronapandemie, den Klimawandel. Wir blicken auf die Weltgeschichte, die von hier ganz anders aussieht. Wir blicken auf internationale Politik, Organisationen und Institutionen, in denen die Länder des Globalen Südens eine andere Rolle innehaben als die des Westens.
Die beiden Autoren sind Politologen und Experten für den globalen Süden mit langjährigen, auslandspolitischen Erfahrungen. Sie beleuchten fundiert und strukturiert das (gesellschafts)politische Weltgeschehen, in dem die westliche „Blockbildung“ immer weniger Relevanz hat und die Länder des Globalen Südens sich selbstbewusst und auf Augenhöhe mit ihren internationalen Partnern begegnen. Multipolarität und individuelle Allianzen gewinnen zunehmend an Relevanz und stärken die Interessen dieser Länder.
Bewusst klammern sie kritische Themen nicht aus; Autokratien und Korruption werden ebenso angesprochen wie die politische Doppelmoral des Westens. Gleichwohl schreiben die Autoren nie belehrend, sondern fokussieren klug und differenziert auf gemeinsame Ansätze und Chancen hin zu einer gerechteren Welt.
Dieser Perspektivwechsel hat mir viele Aha-Erlebnisse und fundierte und detaillierte neue Erkenntnisse beschert. Ein ganz, ganz wichtiges und unglaublich aktuelles Buch, das vor allem diejenigen lesen sollten, die der Ansicht sind, dass allein die westliche Politik die „richtige“ sei.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.11.2023
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


ausgezeichnet

Emotional schwierige Familiengeschichten -Wieder einmal hat Alex Schulman bewiesen, was für ein großartiger Geschichtenerzähler er ist. Suchtfaktor inklusive!
Ein Zug in Richtung Malma: An Bord ein Vater mit seiner kleinen Tochter, die beide eine schwierige Beziehung verbindet. Ein junges Ehepaar, das sich seit Jahren von Krise zu Krise hangelt. Eine Frau, die anhand eines Buches auf den Spuren ihrer eigenen Familie ist.
Sie alle verbindet ein unsichtbares Band, das Alex Schulman einmal mehr gekonnt und bis zur letzten Seite in Szene setzt. Und wie man es von ihm gewohnt ist, greift er dabei keine einfachen Themen auf: toxische Elternliebe, die Schwere des Familienerbes, emotionale Extreme. Trauer und Wut sind in diesem Roman sehr gegenwärtig; wenn dann auch noch Kinder im Spiel sind, ist dies manches Mal für die Leserin nur schwer zu ertragen. Und doch gibt es da immer wieder diese kleinen, ruhigen Momente, die Schulman wunderbar einfängt.
Alex Schulmans Bücher haben eine immense Sogwirkung und einmal angefangen kann man sie nur schwer zur Seite legen. Gleichwohl konnten mich in diesem Roman nicht alle Figuren vollends überzeugen, manche blieben mir persönlich zu blass. Da hätte ich mir etwas mehr Tiefe und im Zweifel einige Seiten mehr gewünscht. Dennoch ein sehr guter Roman, der bis zum Schluss nichts an Spannung verliert.

Bewertung vom 26.10.2023
So weit das Licht reicht
Imbler, Sabrina

So weit das Licht reicht


ausgezeichnet

Fulminantes Debüt - Sabrina Imbler ist Wissenschaftsjournalist:in und hat mit diesem großartigen Buch ein fulminantes Debüt hingelegt. Zum einen lernen wir zahlreiche wundersame und unglaubliche Tiere der Tiefsee kennen. Wir beobachten, wie sie sich ihrer kargen, rauen und dunklen Umgebung angepasst haben und wie sie sich für das Leben und, wichtiger noch, das Überleben gewappnet haben.
Gleichzeitig nimmt uns Imbler mit auf eine sehr persönliche Reise in die eigene Vergangenheit und die eigenen Herausforderungen des Lebens. Nicht umsonst lautet der Untertitel dieses Coming-of-Age-Buches „…und was sie mir über das Leben erzählen“. Und so halten die 10 Essays zahlreiche Parallelen, Herausforderungen und Erinnerungen zu und aus Imblers Leben bereit: Queerness, familiäre Wurzeln, their „Erleben als mixed-race“ oder auch Essstörungen und Sexualität.
Sabrina Imblers Erzählsprache ist sehr feinfühlig und poetisch. Die wissenschaftlichen Beschreibungen sind sooo schön und faszinierend, dass man unweigerlich diese Tiere beschützen und bewahren möchte. Und dann sind da Sabrinas Erinnerungen und Gedanken, die so ehrlich und einfühlsam, direkt und dann wieder verletzlich sind. Ganz wundervoll.

Bewertung vom 22.10.2023
Diamantnächte
Rød-Larsen, Hilde

Diamantnächte


ausgezeichnet

Wahrheit trifft auf Illusionen und Selbsttäuschung - Diamantnächte erzählt von einer Frau, die sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen will und doch immer wieder an der Diskrepanz zwischen Wahrheit und Ehrlichkeit einerseits und Selbsttäuschung und Aufrichtigkeit andererseits zu scheitern droht.
Agnete ist 48, zum zweiten Mal verheiratet, hat eine Tochter, führt ein angepasstes, unauffälliges Mittelstandsleben. Eigentlich schein alles gut zu sein. Eigentlich. Bis ihr von einem Tag auf den anderen die Haare ausfallen. Und Agnete ahnt, dass die Lösung hierzu in ihrer Studentenzeit in London liegt, tief verborgen und emotional „weit weggepackt“. Als ihr Mann dann für längere Zeit dienstlich verreist, stellt sie sich ihren Erinnerungen.
Es beginnt eine Geschichte voller Selbstbetrug und Illusionen, Wahrheiten und Täuschungen. Agnete erkennt, dass sie sich immer wieder windet, ablenken lässt. „Ich weiche schon wieder aus, Wort für Wort versperrt das, wohin ich eigentlich vordringen will.“ Nur durch einen Perspektivwechsel gelingt ihr dann der Fokus. „Ich muss verschwinden.“ Genau hier wechselt die Autorin in Teilen vom Ich ins Sie. Allein mit dieser Distanz ist die Erinnerung möglich. Und was da zutage kommt ist geprägt von toxischen Beziehungen, Selbstzweifeln, fehlender Anerkennung und dem Wunsch dazuzugehören.
Rød-Larsens außergewöhnlicher Schreibstil lässt die Leserin auf eine Art am Geschehen und den Gedanken Agnetes teilhaben und ist doch sehr distanziert und emotionslos. Gleich so, als wäre ich die Vertraute des Opfers, das in Fragmenten berichtet und gleichzeitig aus der zeitlichen Reflexion heraus deutet und erklärt. Erschütternd, wie da Erlebnisse aus der Vergangenheit im gesellschaftlichen Kontext heutiger Diskussionen wie beispielsweise #metoo eine neue, gegenwärtigere Interpretation und Einordnung erfahren.
Auch wenn vieles inhaltlich in Andeutungen bleibt und viel Raum für Interpretation lässt, so mag dieser Roman für einige Leserinnen schwere Kost sein. Einmal darauf eingelassen ist der Roman sehr tiefgründig, ergreifend und lässt bis zum Ende sehr viel Spielraum für eigene Gedanken.

Bewertung vom 05.10.2023
Warum wir noch hier sind
Pelny, Marlen

Warum wir noch hier sind


ausgezeichnet

Marlen Pelny erzählt in ihrem neuesten Roman eine hochemotionale Geschichte, „die Geschichte von einem Danach“, die Geschichte nach dem Mord an der 14-jährigen Etty.
Im Roman geht es aber nicht um Etty, wenn sie auch allgegenwärtig ist. Es geht um Heide, Ettys Mutter und um ihre beste Freundin, die Ich-Erzählerin. Wie sieht ein Leben aus, in das das Unfassbare Einzug gehalten hat? In dem Schmerz, Trauer, Hilflosigkeit und Wut alles übertünchen. Tage sich endlos aneinanderreihen voller Leere, Sinnlosigkeit und der großen Frage nach dem Warum. In der Großstadt, die sich plötzlich grau und gefährlich anfühlt. In einem Leben, das irgendwie weitergehen muss, mit Job und Alltag und einer Großmutter, die ebenso Hilfe und Unterstützung benötigt.
Marlen Pelny ist es so unfassbar gut und echt gelungen, Worte für das zu finden, was so oft unausgesprochen bleibt, hinter Türen stattfindet, nur als Gedankenchaos im Kopf ist. Herausgekommen ist ein sehr ehrlicher und berührender Roman, der die Emotionen der Hinterbliebenen, die ja im Grunde auch ein Opfer der Gewalttat geworden sind, in all ihren Facetten einfängt. Und der in beiden parallel laufenden Erzählsträngen auch kleine Lichtblicke und Hoffnung zulässt, die zeigen, wie wichtig und wertvoll Liebe und Freundschaft gerade in den dunkelsten Momenten sind.

Bewertung vom 09.09.2023
Die Unwürdigen
Jacobsen, Roy

Die Unwürdigen


ausgezeichnet

Starker, beeindruckender Roman, der lange nachhallen wird - Stadtrand von Oslo zur Zeit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. Hier leben die Freunde Carl, Olav, Roar, Vidar, Mona, Jan und Amalie in ärmlichsten Verhältnissen. Der Krieg, die Entbehrungen der letzten Jahre, die Besatzung. All dies hat das Leben der Menschen hart und düster gemacht und ebenso ist der Alltag der Jugendlichen: geprägt von Armut und Verlusten. Und so ergreifen sie jede Gelegenheit, um die eigenen Familien mit dem Nötigsten zu unterstützen: Sie stehlen, räumen ganze Villen aus, sie halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, auch, wenn dies bedeutet, mit dem Feind zu arbeiten, sie fälschen Dokumente, sie betrügen die Besatzer. Und immer ist da die Angst, erwischt zu werden. Selbst als der Krieg vorbei ist, wendet sich das Blatt nicht und das, was als „Befreiung“ gefeiert werden könnte, ist nur ein weiterer Tag ums Überleben.
Roy Jacobsen schildert in seinem neuen Roman den Alltag der Jugendlichen in düsterer und beklemmender Atmosphäre. Das Leben ist ein Kampf ums Überleben und jede und jeder muss seinen Beitrag dazu leisten. Koste es, was es wolle. Emotionen sind da fehl am Platze. Ganz zu schweigen davon, was das Leben dieser Kinder eigentlich ausmachen sollte: Spielen, Schule, Freude und Glück. Kind sein zu dürfen statt die Aufgaben und Pflichten eines Erwachsenen zu erfüllen.
Sprachlich setzt Jacobsen diese Tristesse und düstere, beklemmende Stimmung genial um. Er beschreibt mehr als er erzählt, er blendet Emotionen und Sympathien aus, lässt den Figuren keinen „Raum zu leben“ und schildert schrecklichste Momente eher gefühlslos bis schockerstarrt. Es geht nur darum, den nächsten Tag zu überleben. - Und dann schlucke ich als Leserin. All die Figuren in diesem Roman sind doch noch Kinder! Kinder ohne Kindheit! In Norwegen im Zweiten Weltkrieg. Und heute? - Ein beeindruckender Roman, der lange nachhallen wird.