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Bewertungen

Insgesamt 63 Bewertungen
Bewertung vom 19.02.2024
Krummes Holz
Linhof, Julja

Krummes Holz


ausgezeichnet

Starkes und bewegendes Debüt -Julja Linhofs Debütroman hat mich vom ersten Satz an inhaltlich wie erzählerisch gefesselt und so viele Bilder und Emotionen geweckt, dass ich am Ende das Bedürfnis hatte, direkt nochmal von vorn zu beginnen.

Es ist ein trockenheißer Sommer. Der 19-jährige Georg „Jirka“ kehrt nach 5 Jahren Abwesenheit auf den heruntergekommenen Elternhof zurück. Dort trifft er auf eine Mauer aus Ablehnung und Unbehaglichkeit: Seine ältere Schwester Malena zeigt ihm die kalte Schulter, hat er sie doch zu lange mit dem gewalttätigen und lieblosen Vater allein gelassen. Die Großmutter Agnes hatte einst als „Ersatz“ für die zu früh verstorbene Mutter gedient, lieblos und mit Strenge, jetzt dement und nur noch ein Schatten ihrer Selbst. Der Vater selbst lässt sich nicht blicken. In dieser beklemmenden und ablehnenden Atmosphäre begegnet einzig Leander, der Sohn des verstorbenen Verwalters, Jirka offen und wohlwollend. Aber genau diese Offenheit setzt Jirka erst recht zu, löst sie doch in tief sitzende Verdrängungen und verborgene Gefühle aus.

Nach und nach eröffnet sich der Leserin das Ausmaß der Verletzungen und Traumata, die die jungen Erwachsenen in ihrer Kindheit erleiden mussten. Und die Leere, Einsamkeit und Lieblosigkeit, die sich offenbart, wird greifbar, ebenso wie die Hoffnung auf Zuneigung und einem Halt im Leben.

„Da ist das Internat, der Ort, an dem mein Inneres wieder zusammengewachsen ist. Krumm, und mittendrin ein riesiger Spalt. Aber lebensfähig. Und da ist der Hof, der zu mir gehört wie meine Gliedmaßen, den ich nicht wegdenken kann, den ich meide und der mir trotzdem fehlt wie sonst nichts in meinem Leben.“

Julja Linhof beschreibt diese Szenerie in einer Dichte und erhitzten Atmosphäre, die ihresgleichen sucht. Die Schwüle des Sommers dringt in jede Ecke des alten Hofes ein und macht auch vor seinen Bewohnern nicht halt. Vorwürfe, die sich entladen, Erinnerungen, die Jirka einholen, Spannungen, die in der Luft liegen, aber auch zaghafte und heilende Annäherungen. Großartig, wie die Autorin die Gefühlswelt der drei jungen Menschen mit der melancholischen, drückenden Umgebung verwebt und diese Schwere in ihre Erzählsprache übersetzt.

Mir hat dieser Roman wahnsinnig gut gefallen und ich bin mir sicher, dass er uns noch lange begleiten wird. Und ich hoffe sehr, dass wir zukünftig noch viel mehr von Julja Linhof lesen dürfen.

Bewertung vom 19.02.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

Jäger und Beute -Dieser Roman ist der Wahnsinn! Im wahrsten Sinne des Wortes! Sicherlich nichts für schwache Nerven aber einmal angefangen taucht man erst auf Seite 253 nach Atem schnappend wieder auf!

Es geht um die Großwildjagd in Afrika. Das allein schon ist ein aufgeheiztes Thema, das in all seinen moralischen, wirtschaftlichen und kulturellen Facetten starke Kontroverse hervorruft. Ganz zu schweigen vom Artenschutz und der vom Kolonialismus geprägten Historie.

Das Ziel eines Großwildjägers: die Big Five. Aber wie wäre es, wenn man dem noch die Krone aufsetzen könnte? Eine sechste Art hinzukäme?

Hunter White – der Name ist Programm! – ist so ein Jäger. Steinreich. Ein Wohltäter Afrikas. Die Spitze der Nahrungskette. Tötet allein der Jagd wegen. Die Trophäe eher etwas für die Ehefrau daheim. Er kommt nach Afrika, um seine Big Five endlich vollzumachen. Frustriert, weil dies in letzter Sekunde vereitelt wird, erfährt er so das erste Mal von den Big Six. Aufgepumpt mit Adrenalin, Jagdfieber und den besten moralischen Absichten beginnt sein Kopf zu arbeiten…

Gaea Schoeters Roman ist genauso gegensätzlich wie seine Thematik. Die Bildsprache gewaltig und faszinierend, einen kleinen Landstrich Afrikas beschreibend, der so vielfältig ist, dass es einem die Sprache verschlägt. Du spürst die Hitze, hörst die unzähligen, fremdartigen Geräusche, nimmst eine vollkommen andere Landschaft vor deinem geistigen Auge wahr. Erhälst faszinierende Einblicke in Kultur und Bräuche längst durch den Kolonialismus und die Folgen der „weißen“ Zivilisation zurückgedrängten Stämme und Völker. – Und bist gleichzeitig den Gedankengängen eines weißen, „zivilisierten“ Mannes ausgesetzt, dem der Jagdinstinkt und die Überlegenheit quasi in die Wiege gelegt wurden. Der mit manch verstörenden, schockierenden Thesen aufwartet, dann wieder eher versöhnliche Töne anschlägt. Der in jedem Falle polarisiert und doch auch immer wieder Argumente aufführt, die durchaus populär sind und im Pro und Contra der Großwildjagd und des Artenschutzes ebenso wie im Kontext des Kolonialismus und dessen Folgen für den gesamten Kontinent zum Tragen kommen.

Gaea Schoeters Darstellung ist in vielerlei Hinsicht ein Maximum, eine Gratwanderung, die bis an ihre Grenzen geht. Aber eben auch nur bis an Grenze und nie drüber. Sich der Klischees und überspitzten Charaktereigenschaften eher als stilistisches Mittel bedient. Das war für mich persönlich krass gut und zutiefst aufwühlend.

Bewertung vom 06.02.2024
Das Lächeln der Königin
Gerhold, Stefanie

Das Lächeln der Königin


ausgezeichnet

James Simon und seine Königin - Hauptfigur des Romans ist der jüdische Unternehmer und Berliner Mäzen James Simon, der Anfang des 20. Jhds. mit anderen Kunstinteressierten die Deutsche Orient-Gesellschaft gründet. Diese nun finanziert Grabungen unter der Leitung des Archäologen Ludwig Borchardt in Tell el-Amarna – und eben dort findet dieser die wunderschöne Büste der Königin Nofretete, die zweite Hauptfigur, wenn man so will. Bis sie dann aber erstmalig in Berlin einem breiten Publikum vorgeführt werden kann, sollen noch etliche Jahre vergehen.

Gerhold verflechtet gekonnt Fiktion und Realität zu den Ereignissen rund um die Büste der Nofrete und bedient sich dabei verschiedener Genres. So liest sich das Buch als biographischer Roman über das Leben James Simons, über sein großes kulturelles und soziales Engagement und seine Liebe zur Archäologie. In diesem Kontext offenbart der Roman in erschütternd nüchterner Art und Weise den „salonfähigen“ Antisemitismus, der sich bis in allerhöchste Kreise zog und bereits lange vor den Nazis ein gesellschaftlich-politisches Thema war. – Dann wiederum erhält man Einblicke in den „kolonialen Grabungsrausch“ in Ägypten und die Verhandlungen, die mit den Grabungsländern zum Aufteilen der Funde geführt haben. Als historischer Roman werden nicht nur diese, sondern auch weiterhin politische Ereignisse in Deutschland aufgegriffen. – Und dann liest sich der Roman auch als große Liebeserklärung an die Königin und die wunderbaren Kunstschätze, die sie im Neuen Museum umgeben.

Kritiker mögen anmerken, dass die eine oder die andere Lesart zu oberflächlich war. Auch der Ton des Romans mag an manchen Stellen ein bisschen zu nüchtern gewesen sein. Ich fand diese Mischung beim Lesen perfekt, gerade weil die Sprache in ihrer Art wunderbar die Zeit und die Figuren des Romans wiedergespiegelt hat. Allein die ehrfurchtsvollen Worte beim erstmaligen Aufstellen der Büste!

Bewertung vom 30.01.2024
Fall, Bombe, fall
Kouwenaar, Gerrit

Fall, Bombe, fall


ausgezeichnet

Eindrückliche Antikriegsnovelle - Gerrit Kouwenaars Novelle erschien bereits 1950 in den Niederlanden. Subtil und in einfachen Worten schildert er, wie Krieg, von einem Tag auf den anderen, Kindheit und Jugend auslöschen kann.
Im Mai 1940 lebt der 17-jährige Karel in einer Stadt in den Niederlanden. Er gibt sich Tagträumen und Wunschdenken hin, in denen der Krieg in den Nachbarländern in punktuellen Ereignissen auch zu ihm kommt. Sie möge doch endlich fallen, die Bombe, damit es endlich mal ein Ereignis gäbe. Als verklärte Wahrnehmung eines Jungen vom Jugendlichen zum Erwachsenen verknüpft er diese Ideen eher mit einem großen Abenteuer als mit dem, was es ist: Tod und Verderben. Als er die jüdische Geliebte seines Onkels und deren Tochter kennenlernt, ist es die kindliche Liebe, die ihn aus der Eintönigkeit befreien könnte. Tod, Leid, Judenverfolgung scheinen für ihn abstrakte Begriffe ohne Emotionen und persönlichen Bezug zu sein. Weit weg und nicht Gegenstand seines noch kindlichen Gemüts. Bis er einen Brief überbringen muss und die Realität ihn einholt.
Kouwenaars Novelle ist von einfacher Sprache, spiegelt sie doch die naive und verträumte Gesinnung ihres Protagonisten wider. Und trotzdem ist sie von einer furchtbaren Intensität, verdeutlicht sie doch den irrgeleiteten Eifer der jungen Generation im zweiten Weltkrieg, die, ahnungslos von Realität, zur Verteidigung des Vaterlands heldenhaft in den Krieg ziehen wollten.
Dieses Antikriegsbuch verknüpft Fiktion mit autobiographischen Elementen des Autors, die im Nachwort des Buchs geschichtlich eingeordnet werden. Das gibt dem Ganzen nochmals eine zusätzliche erschreckend reelle Nuance.

Bewertung vom 15.01.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


ausgezeichnet

Wunderbare, zarte Geschichte über Freundschaft und Familie - Iris Wolffs neuer Roman nimmt uns mit auf eine wunderbare, poetische Reise zurück in die Leben unserer beiden Protagonisten und zurück in die lichten Erinnerungen ihrer prägenden Erlebnisse.
Lev und Kato sind Freunde seit ihrer Kindheit. Damals, im kommunistischen Rumänien, in Siebenbürgen, ist Lev ans Bett gefesselt und Kato sein Lichtblick. Er, der deutsche Junge inmitten rumänischer Halbgeschwister, verwurzelt in der Heimat und in den Erinnerungen an Vater und Großvater. Sie, Halbweise, Tochter eines Trinkers, Außenseiterin, klug und wissbegierig, mit einem großen Zeichentalent. Zarte freundschaftliche Bande entstehen, die über die Jahre mal enger, mal weiter geknüpft sind, aber sich doch nie voneinander lösen.
Iris Wolff erzählt chronologisch rückwärts die Geschichte zweier ungleicher Menschen. Gleich dem Kennenlernen von Fremden beginnt sie in der Gegenwart und lässt uns nach und nach in neun Episoden unsere beiden Figuren entdecken und verstehen. Immer geht es ein Stück weiter in die Vergangenheit, immer ist es eine „Lichtung“ im Lebenslauf, eine besondere Begegnung, ein Ereignis, das die persönlichen Entwicklungen von Kato und Lev geprägt haben. Zwei Menschen, deren Leben sich im Rumänien des Kalten Krieges trafen und deren Wege sich in unterschiedliche Richtungen schlängelten. Iris Wolffs Sprache ist poetisch und bildreich, ihre Sätze sind intensiv und doch sehr anmutig und zart. Gleich einem Bild im Roman ist es, als würde man am Rand einer Lichtung stehen und durch die Sonnenstrahlen plötzlich für einen ganz kurzen Moment vollkommene Klarheit erlangen. Jede Figur hat ihre Rolle und ist selbst in kleinen Randerscheinungen fein gezeichnet und von tieferer Bedeutung. Und so handelt der Roman von Freundschaft, Familie und Vertrauen, von Zugehörigkeit und den Wurzeln der eigenen Identität, von enger Verbundenheit inmitten von Gegensätzen, von Freiheit, Flucht und Verlassenwerden.
Wie prägen unser Leben und Erlebnisse unsere Identität, unsere Lebensentwürfe, unsere Zukunft? Was sind die Bande, die uns über Jahre und Jahrzehnte miteinander verknüpfen? Lev und Kato zeigen uns dies in Fragmenten, in kleinen Lichtungen ihres Lebens.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.01.2024
Blick in den Abgrund
Friedländer, Saul

Blick in den Abgrund


ausgezeichnet

Israel und die Justizreform - ein lehrreiches Tagebuch - Saul Friedländer verfasst sein „israelisches Tagebuch“ von Januar bis Juli 2023, vor dem Hintergrund der Justizreform, die die Koalition unter Benjamin Netanjahu in Israel implementieren will. Hunderttausende Israelis sind dieser Tage auf den Straßen, er selbst kann nicht mehr mitdemonstrieren. Und so dokumentiert er die laufenden Ereignisse schriftlich. Er berichtet tagesaktuell über Demonstrationen, Terroranschläge, politische Statements und Entscheidungen. Er ordnet für die Leser die gesellschaftlichen, ethnischen, militärischen und politischen Strukturen kritisch und differenziert in einen größeren (auch geschichtlichen) Kontext ein, äußert seine Überlegungen zur Zwei-Staaten-Lösung, zur Siedlungspolitik der aktuellen und früheren Regierungen, zur Abgrenzung von Antisemitismus und Israelkritik. Und er bringt seine große Sorge zum Ausdruck, wie die Regierung Netanjahu durch die Koalition mit rechten religiös-nationalistischen Parteien versucht, die Demokratie in Israel systematisch auszuhöhlen.
Blick in den Abgrund – treffender hätte der Titel für dieses Buch nicht gewählt sein könnten. Saul Friedländer, jüdischer „Historiker des Holocaust“, der bereits 1948 nach Israel kam, um, wie er selbst schreibt, das Land mitaufzubauen, blickt auf ein zerrissenes Land. Seine Worte, seine Aussagen sind ehrlich, offen und deutlich kritisch. Er selbst macht keinen Hehl daraus, wo er steht: Seite an Seite mit der Demokratie, mit den Zivilisten, mit den Menschen. Und doch findet auch er nur schwer Worte für das Unfassbare dieser Tage, große Sorge trifft auf kleine Hoffnungsschimmer.
Viele der von Friedländer erwähnten Fakten waren mir bis heute nicht bekannt und liefern nun gute Erklärungen und Einordnungen zum Verständnis Israels. Und doch: Kann man dieses Buch losgelöst von dem Krieg, der seit drei Monaten in der Region tobt, lesen? Ja! Unbedingt. Denn es wird eine Zeit danach geben und dann ist Friedländers Einordnung der rechtsradikalen, religiösen Kräfte im Land vielleicht wichtiger denn je, um zu verstehen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.12.2023
Wir sind nicht alle
Plagemann, Johannes;Maihack, Henrik

Wir sind nicht alle


ausgezeichnet

Wichtiger politischer Perspektivwechsel - Die beiden Autoren nehmen uns mit auf einen politischen Perspektivwechsel und setzen uns quasi die „Brille des Globalen Südens“ auf. Wir blicken auf die großen Krisen und Abgründe dieser Welt, die Kriege, die Coronapandemie, den Klimawandel. Wir blicken auf die Weltgeschichte, die von hier ganz anders aussieht. Wir blicken auf internationale Politik, Organisationen und Institutionen, in denen die Länder des Globalen Südens eine andere Rolle innehaben als die des Westens.
Die beiden Autoren sind Politologen und Experten für den globalen Süden mit langjährigen, auslandspolitischen Erfahrungen. Sie beleuchten fundiert und strukturiert das (gesellschafts)politische Weltgeschehen, in dem die westliche „Blockbildung“ immer weniger Relevanz hat und die Länder des Globalen Südens sich selbstbewusst und auf Augenhöhe mit ihren internationalen Partnern begegnen. Multipolarität und individuelle Allianzen gewinnen zunehmend an Relevanz und stärken die Interessen dieser Länder.
Bewusst klammern sie kritische Themen nicht aus; Autokratien und Korruption werden ebenso angesprochen wie die politische Doppelmoral des Westens. Gleichwohl schreiben die Autoren nie belehrend, sondern fokussieren klug und differenziert auf gemeinsame Ansätze und Chancen hin zu einer gerechteren Welt.
Dieser Perspektivwechsel hat mir viele Aha-Erlebnisse und fundierte und detaillierte neue Erkenntnisse beschert. Ein ganz, ganz wichtiges und unglaublich aktuelles Buch, das vor allem diejenigen lesen sollten, die der Ansicht sind, dass allein die westliche Politik die „richtige“ sei.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.11.2023
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


ausgezeichnet

Emotional schwierige Familiengeschichten -Wieder einmal hat Alex Schulman bewiesen, was für ein großartiger Geschichtenerzähler er ist. Suchtfaktor inklusive!
Ein Zug in Richtung Malma: An Bord ein Vater mit seiner kleinen Tochter, die beide eine schwierige Beziehung verbindet. Ein junges Ehepaar, das sich seit Jahren von Krise zu Krise hangelt. Eine Frau, die anhand eines Buches auf den Spuren ihrer eigenen Familie ist.
Sie alle verbindet ein unsichtbares Band, das Alex Schulman einmal mehr gekonnt und bis zur letzten Seite in Szene setzt. Und wie man es von ihm gewohnt ist, greift er dabei keine einfachen Themen auf: toxische Elternliebe, die Schwere des Familienerbes, emotionale Extreme. Trauer und Wut sind in diesem Roman sehr gegenwärtig; wenn dann auch noch Kinder im Spiel sind, ist dies manches Mal für die Leserin nur schwer zu ertragen. Und doch gibt es da immer wieder diese kleinen, ruhigen Momente, die Schulman wunderbar einfängt.
Alex Schulmans Bücher haben eine immense Sogwirkung und einmal angefangen kann man sie nur schwer zur Seite legen. Gleichwohl konnten mich in diesem Roman nicht alle Figuren vollends überzeugen, manche blieben mir persönlich zu blass. Da hätte ich mir etwas mehr Tiefe und im Zweifel einige Seiten mehr gewünscht. Dennoch ein sehr guter Roman, der bis zum Schluss nichts an Spannung verliert.

Bewertung vom 26.10.2023
So weit das Licht reicht
Imbler, Sabrina

So weit das Licht reicht


ausgezeichnet

Fulminantes Debüt - Sabrina Imbler ist Wissenschaftsjournalist:in und hat mit diesem großartigen Buch ein fulminantes Debüt hingelegt. Zum einen lernen wir zahlreiche wundersame und unglaubliche Tiere der Tiefsee kennen. Wir beobachten, wie sie sich ihrer kargen, rauen und dunklen Umgebung angepasst haben und wie sie sich für das Leben und, wichtiger noch, das Überleben gewappnet haben.
Gleichzeitig nimmt uns Imbler mit auf eine sehr persönliche Reise in die eigene Vergangenheit und die eigenen Herausforderungen des Lebens. Nicht umsonst lautet der Untertitel dieses Coming-of-Age-Buches „…und was sie mir über das Leben erzählen“. Und so halten die 10 Essays zahlreiche Parallelen, Herausforderungen und Erinnerungen zu und aus Imblers Leben bereit: Queerness, familiäre Wurzeln, their „Erleben als mixed-race“ oder auch Essstörungen und Sexualität.
Sabrina Imblers Erzählsprache ist sehr feinfühlig und poetisch. Die wissenschaftlichen Beschreibungen sind sooo schön und faszinierend, dass man unweigerlich diese Tiere beschützen und bewahren möchte. Und dann sind da Sabrinas Erinnerungen und Gedanken, die so ehrlich und einfühlsam, direkt und dann wieder verletzlich sind. Ganz wundervoll.

Bewertung vom 22.10.2023
Diamantnächte
Rød-Larsen, Hilde

Diamantnächte


ausgezeichnet

Wahrheit trifft auf Illusionen und Selbsttäuschung - Diamantnächte erzählt von einer Frau, die sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen will und doch immer wieder an der Diskrepanz zwischen Wahrheit und Ehrlichkeit einerseits und Selbsttäuschung und Aufrichtigkeit andererseits zu scheitern droht.
Agnete ist 48, zum zweiten Mal verheiratet, hat eine Tochter, führt ein angepasstes, unauffälliges Mittelstandsleben. Eigentlich schein alles gut zu sein. Eigentlich. Bis ihr von einem Tag auf den anderen die Haare ausfallen. Und Agnete ahnt, dass die Lösung hierzu in ihrer Studentenzeit in London liegt, tief verborgen und emotional „weit weggepackt“. Als ihr Mann dann für längere Zeit dienstlich verreist, stellt sie sich ihren Erinnerungen.
Es beginnt eine Geschichte voller Selbstbetrug und Illusionen, Wahrheiten und Täuschungen. Agnete erkennt, dass sie sich immer wieder windet, ablenken lässt. „Ich weiche schon wieder aus, Wort für Wort versperrt das, wohin ich eigentlich vordringen will.“ Nur durch einen Perspektivwechsel gelingt ihr dann der Fokus. „Ich muss verschwinden.“ Genau hier wechselt die Autorin in Teilen vom Ich ins Sie. Allein mit dieser Distanz ist die Erinnerung möglich. Und was da zutage kommt ist geprägt von toxischen Beziehungen, Selbstzweifeln, fehlender Anerkennung und dem Wunsch dazuzugehören.
Rød-Larsens außergewöhnlicher Schreibstil lässt die Leserin auf eine Art am Geschehen und den Gedanken Agnetes teilhaben und ist doch sehr distanziert und emotionslos. Gleich so, als wäre ich die Vertraute des Opfers, das in Fragmenten berichtet und gleichzeitig aus der zeitlichen Reflexion heraus deutet und erklärt. Erschütternd, wie da Erlebnisse aus der Vergangenheit im gesellschaftlichen Kontext heutiger Diskussionen wie beispielsweise #metoo eine neue, gegenwärtigere Interpretation und Einordnung erfahren.
Auch wenn vieles inhaltlich in Andeutungen bleibt und viel Raum für Interpretation lässt, so mag dieser Roman für einige Leserinnen schwere Kost sein. Einmal darauf eingelassen ist der Roman sehr tiefgründig, ergreifend und lässt bis zum Ende sehr viel Spielraum für eigene Gedanken.