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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
TontoM
Wohnort: 
Wolsfeld
Über mich: 
Ich lese gern anspruchsvolle Literatur und Sachbücher.

Bewertungen

Insgesamt 40 Bewertungen
Bewertung vom 16.06.2021
Die jüngste Tochter
Daas, Fatima

Die jüngste Tochter


sehr gut

Brisantes Tabuthema

Gebetsmühlenartig leitet Fatima Daas die Abschnitte ein, bis auf einen, und beschwört den Namen einer symbolischen Figur des Islam. Sie beschreibt mit diesem Stilmittel ihre innere Zerrissenheit zur nachfolgenden Beschreibung ihres Lebens in einer algerischen Familie in der Banlieue von Paris. Die Verhaltensregeln in der Küche, dem Königsreich ihrer Mutter; sind symptomatisch für das Leben einer Muslimin im Allgemeinen. Fatima Daas verhält sich anders als ihre älteren Schwestern. Sie erzählt von ihrem Versuch der Selbstfindung, wenn sie wegen ihrer homosexuellen Gefühle professionelle Hilfe beim Iman oder Psychologen sucht. Homosexualität gibt es nicht im Islam. Fatima folgt dem Rat des Iman, um durch das Gebet auf den rechten Lebensweg zu finden. Vergeblich. Sie schreibt über ihre Liebesbeziehungen, die kompliziert sind wie alle Liebesbeziehungen. Ihr Buch gleicht Tagebuchaufzeichnungen, die Struktur in ihr Leben bringen sollen und der Reflexion dienen. Niemandem wagt sie sich anzuvertrauen. Es gibt jedoch eine Person in ihrer Familie, die durchaus sehr gut Bescheid weiß über Fatima.
Das Buch stellt keine leichte Lektüre dar. Es überzeugt mit seinen Darstellungen des zermürbenden öffentlichen Transportes im Großraum Paris – eine weniger glamouröse Facette des Leben an der Seine - oder dem Besuch bei den Verwandten in Algerien.
Das Buch stand wochenlang auf der französischen Bestsellerliste – berechtigterweise.

Bewertung vom 22.05.2021
Alles wird Zahl
de Padova, Thomas

Alles wird Zahl


ausgezeichnet

Alles wird Zahl – Die faszinierende Welt der Mathematik

Thomas De Padova zeichnet ein lebendiges Bild der Renaissance in den oberitalienischen Städten (Venedig, Florenz, Bologna) und dem süddeutschen Nürnberg. Sie sind eng miteinander verbunden durch Handel, Kultur- und Wissenstransfer.
Buchdruckkunst, Erfindung der Zentralperspektive in der Malerei und Erschaffung einer mathematischen Formelsprache befördern den Ideenaustausch. Deutsche Buchdrucker verbreiten den Buchdruck in Italien und italienische Papiermacher bringen die Technik der Papierherstellung nach Deutschland.
Padova stellt herausragende Vertreter beider Regionen vor, die wesentlich die Wissensentwicklung in der Renaissance voranbrachten. Der bedeutende Mathematiker und Astronom Regiomontanus übersetzt und korrigiert Übertragungen aus dem Griechischen ins Lateinische und erschließt damit Wissen der Antike, Indiens und des arabisches Raumes. Die venezianische Buchführung benutzt konsequent indisch-arabische Zahlen und prägt damit die moderne doppelte Buchführung. Vielfältige Rechenoperationen der Algebra werden erst durch diese uns heute gebräuchlichen Zahlen möglich.
Padova beschreibt Leonardo Da Vincis und Albrecht Dürers Beschäftigung mit Malerei und ihr intensives Interesse für die Mathematik, das sich auch in bedeutenden bis in die heutige Forschung wirkenden Lehrwerken niederschlägt. Spannend schildert Padova, wie Cardano und Stifel mit anderen Mathematikern um ihr Wissen konkurrieren und dieses in ihren Büchern festhalten. Beide sind Astrologen und recht umtriebig in verschiedenen Wissensgebieten und Berufen (Medizin, Theologie). Die Gültigkeit oder Lösung einiger Probleme konnte erst in den vergangenen Jahrzehnten gefunden und bewiesen werden.
Leider beenden Krankheiten, Seuchen wie die Pest oder Kriege jäh vielversprechende ehrgeizige Forschungs- und Druckprojekte.
Das Buch ist überaus anschaulich und faktenreich geschrieben – Wissenschaftsgeschichte fesselnd und faszinierend.

Bewertung vom 15.05.2021
Unnützes Wissen Literatur
Heer, Carina

Unnützes Wissen Literatur


ausgezeichnet

Abwechslungsreicher Spaziergang durch die Weltliteratur

Carina Heer kennt sich in der Welt der Bücher aus, sie hat kein Lieblingsbuch, aber sehr viele Lieblingsbücher, deshalb lädt sie uns zu einem unterhaltsamen und abwechslungsreichen Spaziergang durch die Weltliteratur ein. Der Buchtitel ist ironisch gemeint, denn ihr faktenreiches Buch birgt interessante Details, die zum weiteren Schmökern einladen.
In Victor Hugos Les Misérables gibt es einen Satz mit 823 Wörtern. Goethe traf zweimal persönlich Napoleon, der auch seinen Werther gelesen hat. Die Startauflage des ersten Harry-Potter-Bands betrug 500 Exemplare. Der Mörder John Lennons trug bei seiner Festnahme J.D. Salingers Kultbuch Der Fänger im Roggen bei sich. Im kleinsten Buch der Welt, dem japanischen Shiki no Kusabana (Blumen der Jahreszeiten) sind die Buchstaben nur 0,01 mm groß. Ein Leser verliert sein Interesse an einem Buch meist auf Seite 18. Am 2. Mai ist Gedenktag der heiligen Wiborada, der Schutzpatronin der Bücherfreunde. Seit Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 steigen die Verkaufszahlen von Albert Camus Die Pest. Pro Buch soll Johannes Mario Simmel eine Schreibmaschine verschlissen haben. David Bowie besaß einen Koffer für 1500 Bücher, den er mit auf Reisen nahm. Tolstois Krieg und Frieden hat 1536 Seiten.

Bewertung vom 28.04.2021
Siegerin
Sarid, Yishai

Siegerin


ausgezeichnet

Siegerin- Welche Gefühle darf man beim Töten empfinden?

Die hochbegabte Abigail hat wie ihr Vater Psychologie studiert. Während er meint, Psychologie und Militär vertrügen sich nicht, berät sie das israelische Militär. Sie bereitet die Soldaten auf ihre Kampfeinsätze vor oder therapiert diese nach traumatisierenden Erlebnissen.
Abigails Sohn leistet als Fallschirmjäger in einer Eliteeinheit seinen Wehrdienst und gerät psychisch an seine Grenzen. Abigail schwankt zwischen ihren Gefühlen als Mutter, die unbedingt ihr Kind beschützen möchte und der bedeutenden Militärpsychologin, die eine wichtige Rolle bei der Landesverteidigung wahrnimmt.
Das Buch thematisiert die psychologische Kriegsführung auf israelischer und palästinensischer Seite, die durch direkte Ansprache ihre Anhänger zu Provokationen am israelisch-palästinensischen Grenzzaun anstiftet.
Im Buch wird der Unterschied zwischen Töten und Morden thematisiert. Abigail erlebt spät im Roman das lustvollen Gefühl des Tötens, als ein junger Scharfschütze, der ihr Liebhaber wird, sie bei einem Einsatz daran teilhaben lässt.
Ist Abigail eine Siegerin, weil sie das Töten nur von der lustvollen Seite her erfährt und sie nicht die Traumata ihrer Patienten erlebt? Sie wirkt abgeklärt und distanziert, beherrscht scheinbar jede Situation. Ausgerechnet zu ihrem Vater und ihrem Sohn kann sie jedoch keine wirkliche Nähe herstellen.
Sarid beschreibt sehr einfühlsam starke Protagonistinnen, die gefühlsmäßig an ihre Grenzen geraten können. Im Wettstreit der Psychologie mit dem Militär obsiegt Erstere.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.04.2021
Eingewanderte Wörter
Heine, Matthias

Eingewanderte Wörter


ausgezeichnet

Der Tollpatsch, der Schlawiner und der Kanake palavern in der Pampa
Der Germanist und Journalist Matthias Heine erzählt anhand von 140 im Alltag geläufigen Stichwörtern unterhaltsam und fundiert Wort- und Kulturgeschichte. Seine präzisen Erläuterungen belegt er mit der einschlägigen Fachliteratur, die er im Anhang auflistet. Eine wahre Fundgrube sind die zahlreichen interessanten Quellen aus Literatur und Publizistik, von denen er auch ausgewählte im Anhang erwähnen sollte.
Aktuell zur Coronapandemie erläutert er zum Stichwort Virus zahlreiche neue Wörter wie Lockdown und Homeoffice, die Eingang in unsere Sprache gefunden haben. Die Vielzahl der Ursprungssprachen aus denen Wörter ins Deutsche kamen ist beeindruckend.
Sprachgeschichte mit diesem Buch ist äußerst vergnüglich. 1968 wollte z.B. Franz-Josef Strauß noch lieber Ananas in Alaska züchten, als Kanzlerkandidat der CDU/CSU werden. 1980 hatte er sich dann umentschieden.

Bewertung vom 13.04.2021
Wir bleiben noch
Wisser, Daniel

Wir bleiben noch


ausgezeichnet

Eine Familie zeigt die tiefen Brüche in der modernen österreichischen Gesellschaft auf.

Auf der Geburtstagsfeier der 99-jährigen Großmutter finden Victor,47, und seine Cousine Karoline, die aus Norwegen nach Österreich zurückgekehrt ist, nach 30 Jahren endlich zueinander. Ihre Beziehung ist legal, stellt jedoch einen Tabubruch dar. Bereits früh werden die Familienkonflikte offengelegt, die jeder aus seiner Familie kennen dürfte.

Victor ist Aussteiger und letzter Sozialdemokrat seiner Familie, die jetzt rechts wählt. Die Romanhandlung umfasst den Zeitraum September 2018 - September 2019 und bezieht wichtige innenpolitische Ereignisse wie die Ibiza-Affäre und die daraus resultierenden Neuwahlen ein.

Victor seziert seine Familie, die exemplarisch ist für die österreichische Gesellschaft. Wann hat diese Angst begonnen, bei der gesellschaftlichen Umverteilung der Pfründe leer auszugehen. Persönlicher Frust über eigene Fehlentscheidungen und nicht genutzte Chancen belasten die familiären Beziehungen.

Das Buch erzählt von dem Versuch für die alternde Gesellschaft im Dorf eine Perspektive zu entwickeln und den Vorbehalten bei der Integration von Flüchtlingen. Für die Errungenschaften des modernen Lebens wie Smartphone und Amazon gibt es ein Remis. Sind die Preisgabe persönlicher Daten ein zu hoher Preis für Komfort und Anschluss an die moderne Welt auch auf dem Land?

Wie das auf dem Buchcover abgebildete vom Aussterben bedrohte Breitmaulnashorn ist Victor mit seiner unangepassten Haltung allen Unkenrufen zum Trotz noch sehr präsent! Die Diskussion um ein C oder ein K im Namen ist übrigens eine charmante Anspielung an k.u.k.

Bewertung vom 21.03.2021
Sibiriens vergessene Klaviere (eBook, ePUB)
Roberts, Sophy

Sibiriens vergessene Klaviere (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Eine ungewöhnliche Entdeckungsreise durch Sibirien nicht nur für Klavierfreunde
Die britische Reisejournalistin Sophy Roberts bereiste Sibirien auf der Suche nach einem geeigneten Instrument für die mongolische Pianistin Odgerel Sampilnorow.. Auf ihren Reisen lernt Roberts viele Menschen kennen, die wertvolle Puzzleteile zu einer Musik- und Gesellschaftsgeschichte Russlands seit dem 18. Jhdt.liefern.
Roberts beeindruckende Sibirienreise spürt drei Epochen nach: die Zeit Katharinas der Großen bis zur Oktoberrevolution 1917, die Jahre der Sowjetunion bis 1991 und die Entwicklung seit 1992. Zur Erkundung Sibiriens gehören Geschichten über Verbannung und Exil, Krieg, Gulags oder das Schicksal der Zarenfamilie.
Die zahlreichen Klavierstimmer, denen Roberts begegnet, erzählen Bemerkenswertes von den zahlreichen Klavieren in Sibirien, mit denen ein Stück europäischer Kultur dorthin gebracht wurde. Das Buch umschließt russische Klavierbaugeschichte, verweist aber auch auf Weltmarken wie Steinway und erklärt, warum nach dem Ende der Sowjetunion mit ihrer Musikschultradition viele erstklassige Musiklehrer in China eine neue Anstellung fanden.
Lebendig mit berührenden Details erzählt Roberts die Uraufführung von Schostakowitschs Leningrader Sinfonie zur Zeit der Belagerung durch Hitlers Truppen.
Das gründlich recherchierte Buch mit seinen Anmerkungen und das umfangreiche Personenregister sind eine sehr gute Quelle für weiterführende Studien.
Im Epilog erzählt Roberts vom ersten Konzert Sampilnororows auf ihrem Grotrian-Steinweg in der Mongolei. Das Buch öffnet den Blick auf eine reiche unbekannte Welt, auf die ich mich gern eingelassen habe!

Bewertung vom 14.03.2021
Wieder mal Anschluss
Porsch, Peter

Wieder mal Anschluss


ausgezeichnet

Von Wien nach Leipzig- Die Lage ist aussichtslos, aber nicht kritisch

Anschluss bedeutet für den Wiener Peter Porsch(*1944) der politische an das Deutsche Reich (1938) oder der DDR an die Bundesrepublik (1990). Privaten Anschluss mit allen Konsequenzen fand er in Leipzig, wo er als Professor für Marxistisch-Leninistische Sprachtheorie an der Karl-Marx-Universität lehrte und später im Sächsischen Landtag als Fraktionsvorsitzender der PDS/Die Linke wirkte.
Unnachahmlich erzählt Porsch in der dritten Person von seiner Kindheit in einer katholischen Arbeiterfamilie in der Wiener Brigittenau. Sein sprachsoziologisches Interesse zeigt sich, wenn er über die Wirkung seines in den Ferien angeeigneten burgenländischen Dialekts in Wien berichtet. Auch die Vorzüge des Wiener Dialektes im Allgemeinen und des sächsischen im Besonderen in Wien kommen zur Sprache. Porsch benutzt die Ich-Form für die Episoden aus seinem ereignisreichen und besonders in der DDR nicht an Absurditäten mangelnden Alltags. Er stellt uns Weggefährten und gute Freunde vor, die wie der Lateinlehrer Egon entscheidend sein Denken prägten, oder skizziert pointiert den Schlagabtausch mit einem früheren Ministerpräsidenten.
Das Buch bietet nicht nur dem Leser oder der Leserin aus dem deutschsprachigen Raum Erklärungen für seinerzeit Unerklärliches, sondern erzählt mit dem nötigen Wiener Charme unterhaltsam Kultur- und Gesellschaftsgeschichte aus Zeiten, die sich gewendet haben.