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Literaturentochter

Bewertungen

Insgesamt 23 Bewertungen
Bewertung vom 26.07.2023
Nachts erzähle ich dir alles
Landsteiner, Anika

Nachts erzähle ich dir alles


ausgezeichnet

»Ich [Émile] glaube am schlimmsten finde ich den Moment, wenn du lachst und dich dann plötzlich erinnerst, was passiert ist. Und dass es dir genauso schlecht geht wie kurz vor diesem Moment. Oder wenn du morgens aufwachst und für eine Sekunde nur diese Beklemmung in der Brust spürst und dich fragst, was los ist, aber dann fällt es dir plötzlich ein, und du fragst dich, wie du den Tag schaffen sollst, wenn er so anfängt« (S. 207).

Léa will eine Auszeit von ihrem Leben in Deutschland nehmen und flüchtet deshalb nach Südfrankreich in das alte Familienanwesen an die Côte d’Azur. Am ersten Abend schleicht sich eine junge Frau ebenfalls auf das Anwesen. Überrascht von Léas Anwesenheit lernen sich die Fremde und Lèa kennen. Am nächsten Tag klingelt es an der Tür des Anwesens. Es ist Émile, ein für Léa ebenfalls Unbekannter. Er berichtet über den Tod seiner Schwester Alice – der fremden Frau des gestrigen Abends. Léa war die letzte Person, die Alice lebend gesehen hat. Gemeinsam versuchen Léa und Èmile offene Fragen zum Tod seiner Schwester zu ergründen.

Die Autorin Anika Landsteiner geht in ihrem Roman nicht nur dem Thema der Trauerbewältigung nach, sondern wirft durch die Interaktion der Protagonisten auch Fragen zur Gleichberechtigung der Geschlechter, Gewichtung von romantischen Beziehungen und das gegenseitige Begehren innerhalb des eigenen Lebens auf. Dabei vertritt Protagonistin Léa eine feministische Einstellung. Ein weiterer Grund, wieso ich von diesem Buch absolut angetan bin. Neben Léa kommen noch weitere starke Frauenrollen im Buch vor, an dieser Stelle möchte ich jedoch nicht zu viel verraten.

Das Buch teilt sich in zwei Erzählperspektiven auf. Überwiegend kommt eine allwissende Erzählstimme, welche in der Gegenwart spielt, zu Wort. Diese wird jedoch immer wieder von einer Ich-Erzählerin unterbrochen, die die Vergangenheit aufgreift. Wer die Ich-Erzählerin ist, bleibt zu Beginn offen.

»Nachts erzähle ich dir alles« ist ein maximal gefühlvolles Buch, aber trennt sich trotz der Flut an Gefühlen vom Kitsch ab. Zwei weitere Dinge die mir positiv aufgefallen sind: Zu Beginn des Buchs gibt es eine Playlist (Okay, vielleicht doch ein bisschen kitschig!) und das letzte Kapitel (»Les femmes«) des Buchs widmet sich nur den Frauen innerhalb des Buchs. Wenn das kein Highlight ist, dann weiß ich auch nicht!


CN: Machtmissbrauch, Schwangerschaftsabbruch, Tod.

Bewertung vom 28.06.2023
Institut für gute Mütter
Chan, Jessamine

Institut für gute Mütter


sehr gut

Gust verlässt Frieda kurz nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Harriet. Das Sorgerecht teilen sich die beiden und dennoch verläuft das Leben der beiden Elternteile in komplett unterschiedliche Richtungen. Während Gust sich mit seiner neuen Freundin Susanna ein neues Leben aufbaut, läuft es bei Frieda eher schlecht als Recht. Vor allem der berufliche Wiedereinstieg verläuft holprig und Frieda schafft es nicht immer von ihrem Chef gesetzte Fristen einzuhalten. Zusätzlich baut die Erziehung von Harriet (18 Monate alt) Druck auf. Die Gesamtkonstellation lastet schwer auf Friedas Schultern, die Mutter sehnt sich nach einer Auszeit und etwas Ruhe. Eine falsche Entscheidung verändert alles. Frieda lässt Harriet alleine in der Wohnung, um eine Erledigung für die Arbeit zu tätigen. Ihre Überforderung lässt ihr keinen Raum mehr um einen klaren Gedanken zu fassen.

„Frieda erinnert sich an den Frust und die Angst, die sich an diesem Morgen angestaut hatten, an das Bedürfnis nach einem kurzen Augenblick Ruhe. An den meisten Tagen gelingt es ihr, sich aus dieser Stimmung zu befreien“ (S. 23).

An dem Tag an dem Frieda es nicht schafft, sich aus dieser Stimmung zu befreien, schlägt das totalitäre Regime zu, entzieht ihr das Sorgerecht für Tochter Harriet und steckt Frieda in ein Erziehungslager, welches sich als „Institut für gute Mütter“ betitelt.

Jessamine Chan entführt uns im „Institut für gute Mütter“ in eine dystopische Welt, in der Menschlichkeit sehr sehr klein geschrieben wird. Dabei begleiten wir Frieda, die für mich als Figur schwer zu fassen ist. Schnell wird klar, durch die Lebensumstände muss die Protagonistin ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellen. Insgesamt läuft gefühlt auch alles schief. Das Buch ist erdrückend und gleichzeitig hat es auch eine witzig-skurrile Art an sich. Diese Mischung hält die Autorin durch das ganze Buch aufrecht, dadurch wird die Lektüre zu einem rasanten Pageturner.

Mich konnte „Institut für gute Mütter“ vor allem überzeugen, da die Verzweiflung deutlich spürbar war und sich mit jeder Seite weiter zuspitzt.

CN: Homophobie, Misogynie, Kindeswohlgefährdung, Gewalt an Minderjährigen, emotionale Unterdrückung, emotionale Gewalt, Gaslighting, Suizid, Rassismus.

Bewertung vom 10.06.2023
Das Ende der Ehe
Roig, Emilia

Das Ende der Ehe


gut

»Die Menschheit steht vor einer großen Aufgabe: Wir sollten unsere Vorstellungen von der Liebe und unseren Umgang damit neu fassen, um Liebe als expansiv, großzügig und heilsam zu erleben. Wenn wir uns der patriarchalen Hierarchie entziehen und ihr nicht mehr die Macht geben, unseren Selbstwert zu bestimmen, haben wir schon viel erreicht. Dann sind wir bereit für eine Revolution der Liebe« (S. 307).

Emilia Roig stellt in »DAS ENDE DER EHE. Für eine Revolution der Liebe« die Ehe auf den Prüfstand. Dabei stellt sie unter anderem fest, dass die Ehe als wichtige Säule der patriarchalen Ordnung fungiert und trotzdem als normaler gesellschaftlicher Zustand angesehen wird.


Zu Beginn des Buches und im weiteren Verlauf habe ich mich durch die Themenvielfalt (beispielsweise Feminismus, Geschlechterverhältnisse, Rollenmuster, Klassismus und Sexualität) und den Schreibstil von Emilia Roig empowert gefühlt. Ihre Gedanken zur Ehe sind nachvollziehbar und die Argumente, wieso wir uns gegen die Ehe mit ihrem institutionellen Charakter aussprechen sollten, schlüssig.

An einem gewissen Punkt konnte ich das Buch allerdings nur noch mit gemischten Gefühlen lesen. Sätze wie »Frauen sollten aufhören … « oder »Viele Frauen …« (Vgl. S. 305/306) hatten für mich während des Lesens einen bitteren Beigeschmack, da hier aufgestellte Thesen mit Verallgemeinerungen anstatt mit Belegen untermauert werden.

»Das Ende der Unterdrückung ist kein Nullsummenspiel, sondern eine Win-win-Situation. Wenn sich die Situation der Frauen verbessert, muss das keine automatische Verschlechterung für Männer bedeuten. Der Feminismus will keine umgekehrte Dominanz, sondern die Dominanz komplett abschaffen« (S. 339).


Auf eine Zielgruppe möchte ich mich bei diesem Buch tatsächlich nicht festlegen, da dieses Buch die Ehe nicht nur innerhalb einer intimen Paarbeziehung in den Blick nimmt, sondern das Motto „𝘵𝘩𝘦 𝘱𝘦𝘳𝘴𝘰𝘯𝘢𝘭 𝘪𝘴 𝘱𝘰𝘭𝘪𝘵𝘪𝘤𝘢𝘭“ in den Fokus nimmt und somit uns alle etwas angeht.

»Glücklich verheiratet zu sein, sollte aber kein Grund sein, de Kritik an der Ehe zu unterlassen oder zu diskreditieren, denn meine Kritik geht weit über die individuelle Ebene hinaus« (S. 21).