Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Literaturentochter

Bewertungen

Insgesamt 28 Bewertungen
Bewertung vom 19.11.2023
Diamantnächte
Rød-Larsen, Hilde

Diamantnächte


gut

Auf den ersten Seiten des Buches steigen wir in das gegenwärtige Leben von Agnete (48 y/o) ein. Sie lebt in Oslo, gemeinsam mit ihrer 17-Jährigen Tochter aus erster Ehe und ihrem neuen Ehemann, welcher für mehrere Wochen einen Auslandsaufenthalt antritt.

Die Geschichte verlässt nach dem Erhalt einiger weiterer Hintergrundinfos schnell die Gegenwart und taucht in die Agnetes Vergangenheit ab – die Leserschaft wird in das Leben der 20-Jährigen Hauptfigur katapultiert. Zu dieser Zeit lebt Agnete in London und studiert an der School of Economics. Während des Studiums beginnt Agnete eine folgenschwere Affäre mit dem Vater einer Kommilitonin.

»Jetzt bin ich bereit, jetzt ergreife ich die Gelegenheit, obwohl ich nach wie vor nicht weiß, was der Anfang dieser Erzählung ist, und auch das Ende nicht kenne« (S. 14).

Was nun folgt sind einzelne Sequenzen, geschrieben in kurzen Kapiteln. Inhaltlich reichen diese Sequenzen von belanglosen Erzählungen bis hin zu schockierenden Erlebnissen, die im Leben von Agnete stattgefunden haben.
Die Autorin Hilde Rød-Larsen spart nicht an Inhalten, mit denen die Protagonistin fertig werden muss – Machtmissbrauch, selbstverletzendes Verhalten, Essstörung, Depressionen und sexuelle Übergriffe.

Nicht nur geistig machen Agnete diese Themen zu schaffen, auch körperliche Probleme wie Haarausfall und Hauterkrankungen werden durch die seelische Belastung bemerkbar.

Der Schreibstil von Hilde Rød-Larsen ist klar und gleichzeitig wird deutlich, wie schwer es Agnete fällt über ihre Vergangenheit nachzudenken. Die einzelnen Kapitel wirken wie Tagebucheinträge. Agnetes Unsicherheit tritt mehrmals in den Vordergrund. Mir drängt sich beim Lesen sofort ein Gefühl von »nicht-wahr-haben-wollen« auf, welches Agnete rückblickend auf die Ereignisse verspürt – trotzdem stellt sich die Protagonistin ihren Wunden der Vergangenheit.

»Aber warum konnte ich das nicht einfach ohne Umschweife in mein Tagebuch schreiben, warum musste ich das, was ich erlebte und fühlte, mit diesem ziemlich halbherzigen Schleier der Fiktion verhüllen?« (S. 33/34).

Die Reflexion der eigenen Geschichte führt zu Selbstermächtigung, dies wird in den Erzählungen deutlich. Wunden können langsam heilen und Agnete beantwortet sich dadurch Stück für Stück die zentrale Frage, die dieses Buch aufwirft: »Wie geht es mir eigentlich?«

CN: Machtmissbrauch, selbstverletzendes Verhalten, Essstörung, Depressionen und sexuelle Übergriffe, #metoo.

Bewertung vom 21.09.2023
Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
Scherzant, Sina

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne


sehr gut

Protagonistin Katha(rina), 14 Jahre alt, lebt zusammen mit ihrer Mutter Andrea Lange und ihrer jüngeren Schwester Nadine in Dortmund. Die Eheleute Lange gibt es nicht mehr, sie leben getrennt voneinander. Während Katha als kleines Kind noch Zeugin lüsterne Blicke ihrer Eltern aufeinander war, ebbte die Lust und Leidenschaft mit der Zeit schnell ab und Schwester Nadine war der Versuch die Ehe zu retten. Das Projekt Familie war für die Eltern gescheitert, doch Katha sträubte sich gegen das Auseinanderleben ihrer Eltern.

»Sorgen machte ich mir erst dann, als diese Blicke weniger wurden. So versuchte ich schon in meiner frühesten Kindheit, Momente des Glücks für meine Eltern künstlich zu erzeugen. Ich tüftelte an ihrer Beziehung herum wie eine kleine therapeutische Handwerkerin. […] Je seltener meine Eltern sich mit dem Glücklichen-Blick ansahen, umso heftiger und verzweifelter wurden meine kleinen Pläne […] Eine Festanstellung im Lebenshandwerk, dem selbstlosesten aller Berufszweige, endete nicht nach einem kleinen Misserfolg« (S. 12/13).

Ganz im Gegenteil. Katha hat sich von klein auf in die Rolle der Lebenshandwerkerin eingefunden und gibt diesen Titel auch so schnell nicht mehr ab. Während sie zu Beginn der Story ihr handwerkliches Geschick nur im familiären Umfeld anwendet und sich hier als dritter Elternteil gegenüber ihrer Schwester versteht, weitet sich mit Beginn der Schulzeit der Kreis aus – auch dort betreibt Katha exzessives People Pleasing.

Die Autorin Sina Scherzant versteht es, ihre Figur Katha hinten anstehen zu lassen. Durch die Handlung wird von Beginn an deutlich, wie sich Kathas Lebensalltag verändert – durch das Kümmern, die aufopfernden Gesten und den Willen, das Unwohlsein von Dritten zu verhindern. Die damit verbundene Unsichtbarkeit wird spürbar und wirkt sich auf mich aus. In Windeseile fliege ich nur so durch die Seiten und verfolge gespannt die Geschichte von Katha, ihrer Familie und ihren Freundinnen. Bereits nach ein paar Szenen bin ich begeistert vom Schreibstil und in meinem Hinterkopf wird bereits gejubelt: »Das hier wird sehr gut – ein Lesehighlight. YAY 🙌«

Nicht nur Katha, sondern auch ihre nach und nach immer präsenter werdende Gesprächspartnerin Angelica (Mutter von Jessi, einer Freundin von Katha) schließe ich sofort ins Herz. Durch einen Schicksalsschlag in Angelicas Leben verändert sich auch Katha stark in ihrem Verhalten.

Das Buch ist in drei Kapitel eingeteilt. Der Schreibstil ist für mich im ersten Kapitel anhaltend brillant. Es wird gleich klar, wohin die Autorin möchte, ohne die Spannung dadurch zu drosseln. Das Tempo der Handlungen ist angenehm. Es liest sich wunderbar weg. Wie ich weiter oben schon angedeutet habe – ich bin sehr begeistert. Nach fast 300 Seiten entlässt Sina Scherzant die Leserschaft in das zweite Kapitel, hier ändert sich der Schreibstil. Es wird für meine Geschmack zu anders. Der Bruch – dieses Experiment – nimmt mir meine Euphorie für das Buch. Das letzte Kapitel knüpft vom Niveau wieder an das erste Kapitel an, schafft es aber nicht mehr, meine Euphorie für »Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne« komplett zurück zu holen.

Ich bleibe zurück mit einem Beinahe-Highlight, bin persönlich ein bisschen traurig darüber, aber freue mich, Bekanntschaft mit so einem tollen Debüt gemacht zu haben. Authentische Figuren, ergreifende Geschichte, mit je einer Prise Humor und Dramatik.

Bewertung vom 16.09.2023
Terafik
Karkhiran Khozani, Nilufar

Terafik


gut

»»Wann kommst du endlich nach Iran?«, hatte mein Vater immer am Telefon gefragt. »Ich weiß es nicht, wenn ich mit meinen Prüfungen fertig bin, irgendwann.« Ich hatte immer gerade Prüfungen. Eigentlich hatte ich es nie wirklich vor. Mein Leben lang hatte mich meine Mutter davor gewarnt, in »so ein Land« zu reisen« (S. 10).

Und dann wird aus diesem irgendwann ein jetzt – Ich-Erzählerin Nilufar reist 2016 in den Iran. Ein für sie unbekanntes Land, mit ihr unbekannten Familienmitgliedern. Sie kommt mit vielen offenen Fragen ins Land und erhofft sich Antworten, doch diese fallen fast schon erdrückend oberflächlich aus.
Alle Versuche ein Gespräch zu vertiefen gelingen nicht. Die Kommunikation gestaltet sich als kompliziert, Geheimnisse bleiben und durch die herrschenden Regeln im Iran, mit denen sich die Autorin nicht identifizieren kann, findet ihr Wunsch nach Zugehörigkeit und Identitätsfindung keine Erfüllung.

Der Roman beginnt mit einem zeitlichen Rückblick, in der die Leserschaft Koshrow (Nilufars Vater) im Jahre 1989 in Deutschland begleitet. Innerhalb der Lektüre kommt es immer wieder zu Szenen aus der Vergangenheit, in der Koshrow eine Rolle spielt. Dadurch wird der Wunsch nach einer Intensivierung einer Tochter-Vater-Beziehung deutlich. Nilufars Mutter findet sich im Roman kaum wieder und bleibt somit eine Unbekannte.

Nach der Rückkehr aus dem Iran hätte ich mir mehr Reflexion über die Erlebnisse und Eindrücke gewünscht. Das Buch endet mir hier zu abrupt.
Vor der Reise und teils auch während des Aufenthalts im Iran lässt uns Protagonistin Nilufar an ihren inneren Dialogen teilhaben, auch durch die Kommunikation zu ihrer Partnerin Alex wird ihr emotionales Erleben deutlich. Die Gespräche zwischen ihr und Alex werden jedoch immer seltener. Woran das liegt, bleibt im Verborgenen.

Im Mittelpunkt der Handlung landet dadurch immer wieder Koshrow, der aber selbst in Bezug auf die Gegenwart verschlossen wirkt und lieber Geschichten aus der Vergangenheit preis gibt – über sein berufliches Scheitern in Deutschland und die Rückkehr in den Iran.

Je mehr ich in diesem Buch gelesen habe, desto mehr wird die Zerrissenheit von Nilufar deutlich. In Deutschland erfährt sie Alltagsrassismus, nicht nur von Fremden, sondern auch unterschwellig durch die eigene Partnerin. Im Iran ist die Protagonistin unsicher, weiß nicht, wie sie sich im öffentlichen Raum geben soll. Gleichzeitig kann sie sich nicht vollkommen ihrer gastfreundlichen Verwandtschaft öffnen, ihre romantische Beziehung zu einer Frau bleibt ein Tabuthema.

Die Sprache in diesem Roman ist oftmals lyrisch angehaucht, das Erleben wird greifbar und gleichzeitig bleibe ich am Ende mit offenen Fragen zurück.

CN: Rassismus, Unterdrückung.

Bewertung vom 22.08.2023
Cleopatra und Frankenstein
Mellors, Coco

Cleopatra und Frankenstein


ausgezeichnet

Eine Silvesternacht in New York: Die britische Kunststudentin Cleo trifft auf Frank, Inhaber einer erfolgreichen Werbeagentur. Die beiden kommen sofort ins Gespräch und lernen sich bei weiteren Treffen noch besser kennen.
Während sich Autorin Coco Mellors im ersten Kapitel ihres Buches »Cleopatra und Frankenstein« auf das Kennenlernen der beiden Protagonisten konzentriert, läuten im zweiten Kapitel – ein halbes Jahr später – die Hochzeitsglocken für die 24-Jährige Cleo und Frank, Mitte vierzig.

»Der Gedanke an ihre Hochzeitsreise macht ihn [Frank] furchtbar traurig. Das war, […] bevor sie sich gegenseitig unwiderruflich wehtun konnten« (S. 357).

Coco Mellors schreibt in ihrem Debütroman nicht nur über die schönen Seiten von Liebe, Familie und (vermeintlicher) Freundschaft, sondern zeigt auch deren Schattenseiten auf. Durch bildkräftige innere Dialoge werden die Gefühle und ebenso die Vulnerabilität der einzelnen Figuren spürbar.

Coco Mellors ist eine Meisterin darin, ihren beiden Protagonisten nach und nach immer weniger Glitzer am Boden der Tatsachen zu gönnen. Unverarbeitete dysfunktionale Familienstrukturen aus der Vergangenheit stören beispielsweise den Umgang des Ehepaars in der Gegenwart. Die Abwärtsspirale nimmt mehr und mehr ihren Lauf.

Während des Lesens verspüre ich eine drückende Stimmung, diese wird nicht nur durch die Handlungen des Protagonistenpärchens erzeugt, sondern auch durch deren Interaktionen mit Nebencharakteren. Auch wenn Cleo und Frank klassisch stereotype Charaktere darstellen, nehmen die beiden unabhängig voneinander für mich immer wieder einen Antihelden-Status ein – Coco Mellors hält nämlich in ihrem Buch einige Wendungen für die Leserschaft bereit.

Ein auf 512 Seiten anhaltend starkes Debüt – atmosphärisch, mit stimmungsvollen Passagen, die zum Mitfühlen einladen. Bin definitiv bereit für die Verfilmung dieses Buchs! Wer Bock auf eine literarische RomCom mit Tiefgang hat, ist hiermit wirklich sehr gut bedient!

CN: Homo- und Transfeindlichkeit, Gewalt, Medikamenten-/Alkohol- und Drogenabusus, suizidale Gedanken, selbstverletzendes Verhalten.

Aus dem Englischen von Lisa Kögeböhn.

Bewertung vom 21.08.2023
Nichts in den Pflanzen
Haddada, Nora

Nichts in den Pflanzen


gut

DIESE REZENSION KANN SPUREN VON SPOILER ENTHALTEN.

„Eine Stunde später, ohne Ergebnis, wurde ich unruhig, fühlte den Stress aufgeschobener Arbeit. Also schaute ich auf den kleinen Cursor und wartete ungeduldig wie ein Kind auf seiner Geburtstagsparty auf die eingeladenen und nicht erscheinenden Worte“ (S. 35).

Leila Amari, ihres Zeichens Drehbuchautorin, hat ihren ersten Deal an Land gezogen und einen Vertrag bei einer großen Produktionsfirma unterschrieben. Durch den Vertrag stehen nun einige inhaltliche Änderungen eines bereits vorhandenen Drehbuchs an, außerdem fehlt das Ende ihres Werks. Normal wäre an dieser Stelle der Zeitpunkt, hochmotiviert den Tag mit Schreiben zu verbringen. Doch Leila steckt fest, das Schreiben will nicht gelingen – komplette Schreibblockade und so beginnt Leila ihre Tage und Nächte mit anderen Inhalten fernab ihres Laptops zu füllen…

„Kurz brüllte ich vor Wut, dann beschloss ich, dass dieser Tag ohnehin versaut war, verschob die heutigen Tasks in meiner Organisations-App auf morgen und ging meine Kontakte durch. Wer würde an einem Mittwoch um 16:00 Uhr Zeit haben. […] „Ich sollte gerade zu Hause sein und ein Ende schreiben, aber ich bin hier und saufe, und eigentlich saufe ich jeden Abend, und nie schreibe ich““ (S. 71-78).

Zu Beginn an verwirrt mich das Buch. Die Zeit verläuft nicht linear, sondern die Kapitel sind abwechselnd in zwei Zeitstränge, von Oktober – Dezember und Januar – Oktober, unterteilt. Am Ende klappe ich das Buch auch irgendwie unzufrieden zu, ABER so richtig angebracht finde ich dieses Gefühl jetzt nicht. Mal mag ich Leila, habe Mitgefühl und Verständnis für sie und ihre Situation, mal nervt sie mich und meine Unzufriedenheit ihr und ihren Handlungen gegenüber wächst wieder. Die Erzählerin wird in einer Phase ihres Lebens begleitet, in der sie versucht, sich zu entwickeln, es aber nicht wirklich schafft.

Nora Haddadas Schreibstil ist intensiv, vor allem nimmt die Autorin die Leserschaft tief in die Gedankenwelt der Ich-Erzählerin Leila mit. Was mich am meisten beeindruckt, ist die Art des Schreibens – Nora Haddada fesselt mich mit eindrücklichen und bewegenden inneren Dialogen der Protagonistin, die sich losgelöst von der Haupthandlung auf brillante Art beweisen können.

Ein paar Tage später, ich hab eine Weile gebraucht, mir über das Buch Gedanken zu machen, ist meine Unzufriedenheit vergessen und es bleibt der Eindruck eines Buchs mit einem ausgezeichneten Schreibstil, das inhaltlich ein angenehm zackiges Tempo für die Leserschaft bereit hält und bis zum Ende spannend bleibt.

CN: Alkoholabusus.

Bewertung vom 26.07.2023
Nachts erzähle ich dir alles
Landsteiner, Anika

Nachts erzähle ich dir alles


ausgezeichnet

»Ich [Émile] glaube am schlimmsten finde ich den Moment, wenn du lachst und dich dann plötzlich erinnerst, was passiert ist. Und dass es dir genauso schlecht geht wie kurz vor diesem Moment. Oder wenn du morgens aufwachst und für eine Sekunde nur diese Beklemmung in der Brust spürst und dich fragst, was los ist, aber dann fällt es dir plötzlich ein, und du fragst dich, wie du den Tag schaffen sollst, wenn er so anfängt« (S. 207).

Léa will eine Auszeit von ihrem Leben in Deutschland nehmen und flüchtet deshalb nach Südfrankreich in das alte Familienanwesen an die Côte d’Azur. Am ersten Abend schleicht sich eine junge Frau ebenfalls auf das Anwesen. Überrascht von Léas Anwesenheit lernen sich die Fremde und Lèa kennen. Am nächsten Tag klingelt es an der Tür des Anwesens. Es ist Émile, ein für Léa ebenfalls Unbekannter. Er berichtet über den Tod seiner Schwester Alice – der fremden Frau des gestrigen Abends. Léa war die letzte Person, die Alice lebend gesehen hat. Gemeinsam versuchen Léa und Èmile offene Fragen zum Tod seiner Schwester zu ergründen.

Die Autorin Anika Landsteiner geht in ihrem Roman nicht nur dem Thema der Trauerbewältigung nach, sondern wirft durch die Interaktion der Protagonisten auch Fragen zur Gleichberechtigung der Geschlechter, Gewichtung von romantischen Beziehungen und das gegenseitige Begehren innerhalb des eigenen Lebens auf. Dabei vertritt Protagonistin Léa eine feministische Einstellung. Ein weiterer Grund, wieso ich von diesem Buch absolut angetan bin. Neben Léa kommen noch weitere starke Frauenrollen im Buch vor, an dieser Stelle möchte ich jedoch nicht zu viel verraten.

Das Buch teilt sich in zwei Erzählperspektiven auf. Überwiegend kommt eine allwissende Erzählstimme, welche in der Gegenwart spielt, zu Wort. Diese wird jedoch immer wieder von einer Ich-Erzählerin unterbrochen, die die Vergangenheit aufgreift. Wer die Ich-Erzählerin ist, bleibt zu Beginn offen.

»Nachts erzähle ich dir alles« ist ein maximal gefühlvolles Buch, aber trennt sich trotz der Flut an Gefühlen vom Kitsch ab. Zwei weitere Dinge die mir positiv aufgefallen sind: Zu Beginn des Buchs gibt es eine Playlist (Okay, vielleicht doch ein bisschen kitschig!) und das letzte Kapitel (»Les femmes«) des Buchs widmet sich nur den Frauen innerhalb des Buchs. Wenn das kein Highlight ist, dann weiß ich auch nicht!


CN: Machtmissbrauch, Schwangerschaftsabbruch, Tod.

Bewertung vom 28.06.2023
Institut für gute Mütter
Chan, Jessamine

Institut für gute Mütter


sehr gut

Gust verlässt Frieda kurz nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Harriet. Das Sorgerecht teilen sich die beiden und dennoch verläuft das Leben der beiden Elternteile in komplett unterschiedliche Richtungen. Während Gust sich mit seiner neuen Freundin Susanna ein neues Leben aufbaut, läuft es bei Frieda eher schlecht als Recht. Vor allem der berufliche Wiedereinstieg verläuft holprig und Frieda schafft es nicht immer von ihrem Chef gesetzte Fristen einzuhalten. Zusätzlich baut die Erziehung von Harriet (18 Monate alt) Druck auf. Die Gesamtkonstellation lastet schwer auf Friedas Schultern, die Mutter sehnt sich nach einer Auszeit und etwas Ruhe. Eine falsche Entscheidung verändert alles. Frieda lässt Harriet alleine in der Wohnung, um eine Erledigung für die Arbeit zu tätigen. Ihre Überforderung lässt ihr keinen Raum mehr um einen klaren Gedanken zu fassen.

„Frieda erinnert sich an den Frust und die Angst, die sich an diesem Morgen angestaut hatten, an das Bedürfnis nach einem kurzen Augenblick Ruhe. An den meisten Tagen gelingt es ihr, sich aus dieser Stimmung zu befreien“ (S. 23).

An dem Tag an dem Frieda es nicht schafft, sich aus dieser Stimmung zu befreien, schlägt das totalitäre Regime zu, entzieht ihr das Sorgerecht für Tochter Harriet und steckt Frieda in ein Erziehungslager, welches sich als „Institut für gute Mütter“ betitelt.

Jessamine Chan entführt uns im „Institut für gute Mütter“ in eine dystopische Welt, in der Menschlichkeit sehr sehr klein geschrieben wird. Dabei begleiten wir Frieda, die für mich als Figur schwer zu fassen ist. Schnell wird klar, durch die Lebensumstände muss die Protagonistin ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellen. Insgesamt läuft gefühlt auch alles schief. Das Buch ist erdrückend und gleichzeitig hat es auch eine witzig-skurrile Art an sich. Diese Mischung hält die Autorin durch das ganze Buch aufrecht, dadurch wird die Lektüre zu einem rasanten Pageturner.

Mich konnte „Institut für gute Mütter“ vor allem überzeugen, da die Verzweiflung deutlich spürbar war und sich mit jeder Seite weiter zuspitzt.

CN: Homophobie, Misogynie, Kindeswohlgefährdung, Gewalt an Minderjährigen, emotionale Unterdrückung, emotionale Gewalt, Gaslighting, Suizid, Rassismus.

Bewertung vom 10.06.2023
Das Ende der Ehe
Roig, Emilia

Das Ende der Ehe


gut

»Die Menschheit steht vor einer großen Aufgabe: Wir sollten unsere Vorstellungen von der Liebe und unseren Umgang damit neu fassen, um Liebe als expansiv, großzügig und heilsam zu erleben. Wenn wir uns der patriarchalen Hierarchie entziehen und ihr nicht mehr die Macht geben, unseren Selbstwert zu bestimmen, haben wir schon viel erreicht. Dann sind wir bereit für eine Revolution der Liebe« (S. 307).

Emilia Roig stellt in »DAS ENDE DER EHE. Für eine Revolution der Liebe« die Ehe auf den Prüfstand. Dabei stellt sie unter anderem fest, dass die Ehe als wichtige Säule der patriarchalen Ordnung fungiert und trotzdem als normaler gesellschaftlicher Zustand angesehen wird.


Zu Beginn des Buches und im weiteren Verlauf habe ich mich durch die Themenvielfalt (beispielsweise Feminismus, Geschlechterverhältnisse, Rollenmuster, Klassismus und Sexualität) und den Schreibstil von Emilia Roig empowert gefühlt. Ihre Gedanken zur Ehe sind nachvollziehbar und die Argumente, wieso wir uns gegen die Ehe mit ihrem institutionellen Charakter aussprechen sollten, schlüssig.

An einem gewissen Punkt konnte ich das Buch allerdings nur noch mit gemischten Gefühlen lesen. Sätze wie »Frauen sollten aufhören … « oder »Viele Frauen …« (Vgl. S. 305/306) hatten für mich während des Lesens einen bitteren Beigeschmack, da hier aufgestellte Thesen mit Verallgemeinerungen anstatt mit Belegen untermauert werden.

»Das Ende der Unterdrückung ist kein Nullsummenspiel, sondern eine Win-win-Situation. Wenn sich die Situation der Frauen verbessert, muss das keine automatische Verschlechterung für Männer bedeuten. Der Feminismus will keine umgekehrte Dominanz, sondern die Dominanz komplett abschaffen« (S. 339).


Auf eine Zielgruppe möchte ich mich bei diesem Buch tatsächlich nicht festlegen, da dieses Buch die Ehe nicht nur innerhalb einer intimen Paarbeziehung in den Blick nimmt, sondern das Motto „𝘵𝘩𝘦 𝘱𝘦𝘳𝘴𝘰𝘯𝘢𝘭 𝘪𝘴 𝘱𝘰𝘭𝘪𝘵𝘪𝘤𝘢𝘭“ in den Fokus nimmt und somit uns alle etwas angeht.

»Glücklich verheiratet zu sein, sollte aber kein Grund sein, de Kritik an der Ehe zu unterlassen oder zu diskreditieren, denn meine Kritik geht weit über die individuelle Ebene hinaus« (S. 21).