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Benutzername: 
MarcoL
Wohnort: 
Füssen

Bewertungen

Insgesamt 197 Bewertungen
Bewertung vom 06.11.2024
Wir waren Kometen
Gräfe, Daniel

Wir waren Kometen


sehr gut

Ein rasantes Roadmovie mit dem politischen Hintergrund Rumäniens

Lukas und Luba waren ein schönes Paar. Die Beziehung innig, beide versucht, den Partner zu verstehen. Sie kommen aus komplett unterschiedlichen Kulturkreisen. Während Lukas in den Vorzügen von Westdeutschland aufwuchs, musste sich Luba durch das ungerechte Ceaușescu-Regime quälen. Schon mit zehn Jahren rebellierte sie, eckte in ihrer kindlichen Art und Weise überall an. Ihr Vater war ein strenger Parteigenosse, mit Annehmlichkeiten belohnt. Da passte eine Tochter, die sich in das System nicht einfügen wollte, schlecht dazu.
Lukas absolvierte ein Praktikum in einer Agentur mit Aussicht auf Übernahme, während Luba in Deutschland kaum Fuß fassen konnte. Außerdem schaffte sie es nicht, Lukas endgültig zu überzeugen, wie schlecht es ihr damals in Rumänien ging. Sie träumte von einem Leben mit ihm in Italien, ihrem Sehnsuchtsland. Die Umstände waren verzwickt, die Beziehung zerbröckelte … bis ein Anruf Lukas ereilte. Er begann zu verstehen und machte sich in seinem alten Fiesta auf einen unglaublichen Roadtrip von Stuttgart bis ins rumänische Donaudelta. Wie es ausgeht? Verrate ich natürlich nicht.
Gräfe zeichnet exakte Figuren, stellt sehr plastisch die Verzweiflung von Luba dar. Parallel dazu ist der innere Zwiespalt von Lukas mehr als deutlich zu spüren. Beiden Personen wohnt ein Kampf inne. Und beide müssen lernen, sich diesen Dämonen zu stellen. Es gibt letztendlich kein schwarz oder weiß, sondern wie das Leben so spielt, benötig es den Mut zu Kompromissen.
Während sich die erste Hälfte des Romans mehr um die Charaktere bemüht, geht im zweiten Teil mit dem Roadtrip die vergnügliche Post ab. Anfangs tat ich mich etwas schwer, in diese Geschichte hineinzufinden, die mich inhaltlich doch sehr an die Bücher von Iris Wolff erinnerten (und ich mir manchmal dachte: ne, oder?). Doch dem war dann letztendlich nicht so. Der Roman nahm eine vergnügliche Fahrt auf und ließ genug Spielraum für eigene Interpretationen sowie das Aufeinandertreffen der gesellschaftspolitischen Gegebenheiten rund um beide ProtagonistInnen.
Gerne gelesen! Leseempfehlung

Bewertung vom 03.11.2024
Ghost Mountain
Hession, Rónán

Ghost Mountain


ausgezeichnet

Ein herrlich ruhiges Buch, tiefsinnig und unterhaltsam über das Abenteuer „Leben“

Auf einmal war er da. Erhob sich aus dem Nirgendwo, inmitten von Feldern an einem nahen Weg. Ein Berg. Oder was man in den flacheren Gegenden so landläufig als Berg bezeichnet, könnte auch nur eine einfache, nicht allzu spektakuläre Erhebung sein. Aber egal, der Hügel, Berg, was auch immer war auf einmal da. Wahrscheinlich eine geologische Laune der Natur, die das Sonnenlicht etwas zu verstecken vermag oder den Wind umleitet. Die Gegend, in der er erschien, war in Privatbesitz, belegt mit einem Betretungsverbot, vor allem wegen den Gassi-Gänger. Nur scherte sich niemand darum.
Was der Berg, der Einfachheit halber so genannt, aber macht, ist, er zieht Menschen an um ihn zu bestaunen. Scharenweise pilgern sie um ihn, alle im Uhrzeigersinn, erfahren eine Art tiefere Läuterung ihrer Seele. Oder glauben es zumindest. Und er verändert die Menschen, die um ihn herum leben.
Es sind die Beschreibungen der Menschen, die diesen Roman so wunderbar machen. Manchmal könnte man meinen, der Autor erzähle einfach nur so dahin, lässt die Worte plätschern, damit die Seiten mit angenehmen Geschichten befüllt sind, ohne zu wissen, was man oder warum das hier liest. Die Umkreisungen des Berges, manche klettern auch hinauf, können metaphorisch gesehen werden. Es ist der Kreislauf des Lebens, denn es geht hauptsächlich um die Existenzen der ProtagonistInnen über einen größeren Zeitraum. Um deren Alltag, Sorgen, Nöte. Arrangieren (Leben) oder Scheitern (Tod).
Ein prägendes Merkmal des Romans ist der Umgang mit dem Tod. Oder dessen selten praktiziert Vorbereitung darauf, denn meistens springt er einen an, genauso plötzlich, wie der Berg erschienen war. Das geschieht nicht auf eine meuchlerische, brutale Art, sondern als unausweichlicher Teil des Lebens an sich. Zugegeben, manchmal schreibt Hession schon etwas makaber, mit latentem schwarzen Humor, möglicherweise der irischen Volksseele entsprungen.
Manche Kapitel plätschern lapidar dahin, man schwebt gerne über die Zeilen. Doch vor allem das Kapitel „Elaine und Dominic“ (S. 260-263) hat es in sich.
Es ist von einer derartigen Liebe der beiden Personen beseelt, diese wenigen Seiten beschreiben eine Harmonie von zwei unterschiedlichen Menschen, die zusammengefunden haben, zusammenleben und wissen, dass einer von beiden vor dem anderen sterben wird.
S.261: „Nie kritisierten sie einander. Wenn Elaine Brot auf dem Brett vergaß, wickelte Dominic es in ein Geschirrtuch, um es frisch zu halten. […] Sie redeten kaum miteinander, denn zwischen ihnen herrschte keinerlei Unstimmigkeit, die ausgeräumt werden müsste. So fein austariert und vereinfacht und vertraut waren ihre Gewohnheiten, dass sie die Phase der unbeabsichtigten Zwischentöne und Missverständnisse längst hinter sich gelassen hatten.“

Für mich ist der Roman eine Art Wohlfühlbuch das ich sehr gerne gelesen habe. Es entschleunigt, beruhigt auf seine ganz spezielle Art und Weise. Die fein gesetzten Sätze, die genauen Beobachtungen der Menschen, wie sie mit Neuem umgehen und versuchen, ihr Leben zu meistern, machen dieses Buch zu etwas ganz Besonderem. Sehr gerne gebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 01.11.2024
Die zerbrechliche Zeit
Di Pietrantonio, Donatella

Die zerbrechliche Zeit


ausgezeichnet

Eine gesellschaftliche Momentaufnahme aus den Abruzzen, einfühlsam erzählt.

Seit jener Tragödie vor vielen Jahren hat sich ein Schatten um das Land unterhalb des Dente del Lupo, dem Wolfzahn, gelegt. Eine markante Bergformation in den Abruzzen. Das Land ist alt, archaisch, gehört der Familie von Amanda. Ein Campingplatz sollte damals einen Aufschwung bringen, ein wenig Geld in die leeren Kassen der Besitzer und Pächter spülen. Sogar ein Pool wurde gebaut, ausgehoben und dem Land abgerungen, ein Loch gegen einen Berg von Schulden getauscht.
Das restliche Land wird für die Schafszucht genutzt.
Amanda geht nach Mailand, studieren. Ein Zimmer in einer WG, eingepfercht. Ihre Mutter unterstützt sie so gut es geht, hilft beim Umzug. Doch lange haltet es Amanda nicht aus. Die Pandemie macht das Studium vorerst in der Stadt nicht weiter möglich. Das gehe auch von den eigenen vier Wänden aus. Sie kehrt Hals über Kopf zurück zu ihrer Mutter Lucia, nicht nur wegen des Lock-Downs. Amanda hat sich verändert. Ist wortkarg, lichtscheu. Verkriecht sich in ihrem Zimmer, geht kaum raus, ist nicht wieder zu erkennen.
Der geplante Kauf des Landes durch Immobilienspekulanten lockt Amanda heraus. Sie tritt auf die Barrikaden, organisiert sich mit Demonstranten, damit das Land, das mittlerweile ihrer Mutter gehört, nicht veräußert wird.
All das und vieles mehr erzählt uns Lucia, die Ich-Erzählerin. Besonnen, ruhig berichtet sie von ihrem Leben, blickt dreißig Jahre zurück. Das Verbrechen von damals wird langsam sichtbar, taucht aus den Nebeln der Erinnerungen auf und dringt zu uns vor in all seiner Wucht. Was wäre wenn … was wäre, hätte Lucia damals ihre Freundin gebeten, mit ans Meer zu fahren … was wäre dann passiert, oder nicht passiert. Lebenslang aufkeimende Schuldgefühle plagen sie, obwohl sie ganz genau weiß, dass sich nichts dafür kann. Dass es einfache Entscheidungen waren, wie sie das Leben jeden Tag gebärt und verlangt.
Und das Land bleibt das Land, der Dente del Lupo die Heimat der alteingesessenen Bevölkerung. Und die Geschehnisse sollten am besten vergraben werden …

Mit großem Einfühlungsvermögen beschreibt die Autorin das Leben in jenem Landstrich. In der Ferne sieht man das Meer glitzern, vielleicht auch die große Stadt Pescara, auf der anderen Seite türmen sich die Berge empor. Dazwischen findet das Leben statt in einer dörflich geprägten, von Männern dominerten Gesellschaft.

S.45: „Er hatte einen Sohn gewollt, und dann wurde ich geboren … Viel später erwartete er einen Enkel, einen Buben, den er auf den Traktor setzen konnte ... Zweimal wurde mein Vater schwer enttäuscht.“

Wie auch in ihren anderen Romanen Arminuta und Borgosud (beide sehr empfehlenswerte Bücher) erzählt uns auch hier Donatella di Pietrantonio über das Schicksal von Frauen. Mutter und Tochter, einander fremd und dennoch vereint, beide im Versuch, das jeweilig Beste aus sich zu machen, gegen die Ströme der Zeit anzukämpfen, für ein Leben gegen Unterdrückung, Armut. Und vor allem für eine selbstbestimmte Existenz. Doch der misogyne Alltag streckt auch hier seine Tentakel aus, auch wenn es nicht immer ganz so offensichtlich erscheint.
Vielschichtig kommt der Inhalt daher, zeichnet uns ein klares Bild des Lebens in dieser Gegend der Abruzzen. Figuren und Landschaft werden plastisch, die Sorgen und Nöte projizieren sich auf die Leinwand unserer Imagination. Ganz große Leseempfehlung für diesen wunderbaren Roman. Ein weiteres Meisterwerk aus der Feder der Autorin, ausgezeichnet mit dem Premio Strega 2024 (ein jährlich vergebener Literaturpreis, den seit 1947 nur 11 Frauen gewonnen haben).
Zitat der Autorin am Klappentext: „Ich verspreche, dass ich mich in Wort und Schrift für die Rechte einsetzen werde, für die meine Generation von Frauen so hart gekämpft hat und die heute anscheinend nicht mehr selbstverständlich sind.“

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.10.2024
Der Kommandant des Flusses
Ali Farah, Ubah Cristina

Der Kommandant des Flusses


ausgezeichnet

Berührender Coming-of-Age. Ein römischer Somali als Spielball zwischen zwei Kulturen

Diese Coming-of-Age-Geschichte rund um den römischen Somali Yabar beginnt damit, dass er im Krankenhaus aufgenommen wird. Den Grund für seine schwerwiegende Augenverletzung verschweigt er. Erst im Laufe der Erzählung rund um sein Leben erfahren wir mehr über die Umstände.
Als er aus der Bewusstlosigkeit erwacht wird er nach seinen Eltern gefragt. Er gibt seine „Tante“ Rosa an, die sehr oft für ihn da war und mehr und mehr in seinem jungen Leben eine Bezugsperson wurde als seine eigene Mutter es war. Außerdem urlaubt die im Norden des Landes, und er möchte sie nicht beunruhigen, denn er glaubt, dass er wieder mal Mist gebaut hat. Sein Vater ist schon längst fort. Zuerst kamen sie noch 1990 zusammen von Somalia geflüchtet nach Rom. Er blieb mit seiner Mutter, seinen Vater hielt es nicht. Er wollte zurück in den Bürgerkrieg. Clan-Verpflichtungen.
Yabar tut sich in Rom schwer. Seine Hautfarbe ist schwarz, seine Wurzeln glaubt er nicht zu kennen. Es wird versucht, die Wahrheit von ihm fernzuhalten. Aus Rücksicht, ihm eine besseres Leben zu ermöglichen. Doch auf Dauer bleibt sie nicht verborgen, und Yabar kann sich in der Welt mit anderen Augen sehen.
All daran hat er zu knabbern. Seine schulischen Leistungen sind schlecht, obwohl Sissi, die hellhäutige Tochter von Rosa, versucht mit ihm zu lernen.
Als ihm droht, ein zweites Mal sitzen zu bleiben, schickt ihn seine Mutter kurzerhand nach London zu seiner somalischen Verwandtschaft, auch wenn er kaum Somali spricht.
Erst dort lernt er das wahre Wesen der Somalis kennen. Er tut sich mit der Sprache leichter als gedacht, und lernt Gründe für den andauernden Bürgerkrieg kennen.
Ihm wird das zerstörerische System der Clans erklärt, und allmählich dämmert ihm das wahre, brutale Geheimnis um seinen Vater.

S.190: „ […] dass die Clans nur ein Instrument der Macht sind, wie übrigens alle Spaltungen. Sie entsprechen keiner politischen Überzeugung. Die Geburt entscheidet über die Zugehörigkeit zu einem Clan, nicht der eigene Wille.“

Er beginnt das große Rad des Lebens zu verstehen – und will es dennoch nicht begreifen. Wut und Trauer sind nur zwei der Gefühle, die ihn überkommen … Erwachsenwerden war noch nie einfach.
Die Autorin verpackt in diesen aufrüttelnden Roman ein Stück Somalische Zeitgeschichte. Sie bringt viel Verständnis für ihre handelnden Personen mit. Hauptaugenmerk ist natürlich die Entwicklung von Yabar, den sie hier als Botschafter einsetzt, um uns ein wenig die Hintergründe für das Leid in Somalia näherzubringen. Ich behaupte zu sagen, dass ihr dies recht gut gelungen ist, obwohl hier gewiss noch Luft nach oben wäre. Dennoch vermittelt es den unbedarften LeserInnen ein erstes Gefühl der politischen Lage.
Und wie es in einem Teenager aussehen kann, der nicht weiß, wo er hin gehört und ein Spielball zwischen zwei Kulturen ist, hat sie uns sehr überzeugend dargestellt. Auch ist es eine Abrechnung mit dem Italienischen Kolonialismus in Afrika.
Der Titel des Romans geht zurück auf eine Somalische Sage.
Sehr gerne gebe ich für diesen Roman eine Leseempfehlung – er erweitert unseren Horizont auf eindrückliche und unterhaltsame Weise.

Bewertung vom 25.10.2024
Wohnverwandtschaften
Bogdan, Isabel

Wohnverwandtschaften


ausgezeichnet

Eine herrliche Sozialstudie, eingepackt in einen liebevollen, einfühlsamen Roman.

Hamburg. Constanze, Zahnärztin, ca. 40-jährig, benötigt dringend eine neue Bleibe. Sie kommt in einer WG unter, geführt und vermietet von Jörg. Neben Jörg wohnen dort noch Anke und Murat. Das Zusammenleben ist harmonisch, Constanze wird sofort in der Gemeinschaft aufgenommen. Wie es unter Menschen so ist, hat jede:r so seine Macken und Eigenheiten, Probleme, Sorgen und Freuden. Alle vier WG-BewohnerInnen sind anders, unterscheiden sich in vielen Dingen, und passen dennoch gut zusammen.
Jörg, 68, plant eine Reise mit seinem Bully nach Georgien. Er war mit dem Fahrzeug schon viel unterwegs, schwärmt der Vergangenheit nach. Seine Gedanken kehren immer wieder zu seiner Frau Brigitte zurück, die viel zu früh verstorben ist. Die Trauer hat Jörg nie mehr los gelassen.
Anke ist eine Schauspielerin, 53 Jahre alt. Sie bekommt auf Grund ihres Alters kein Engagement mehr. Sie leidet sehr darunter, seelisch wie finanziell.
Murat ist der Sunny-Boy der WG, perfekt darin, Probleme zu ignorieren. Er ist immer gut drauf, schert sich nicht darum im Adamskostüm vom Bad zu seinem Zimmer zu gehen, ist leidenschaftlicher Koch und kümmert sich meistens um das leibliche Wohlergehen seiner MitbewohnerInnen.
Und Constanze: die WG ist nur als Übergangslösung gedacht, bis sie was Eigenes findet. Aber ihre Bestrebungen, eine Wohnung zu suchen, werden immer weniger.
Dann muss Jörg ins Krankenhaus, Blinddarmdurchbruch. Und das Dilemma beginnt. Die Demenz klopft nicht an, sondern tritt ungefragt in Jörgs Leben und macht sich breit. Alle sind sich vorerst der Meinung, das sei nur eine kurze Phase.
Das Leben passt sich an. Die Menschen passen sich an, wie: bitte selber lesen.

Die Autorin, deren Romane ich sehr schätze und liebe, hat auch hier wieder ein literarisches Kleinod geschaffen. Unspektakulär, ohne großes Brimborium bringt sie uns die vier handelnden Personen näher, lässt uns teilhaben an deren Leben. Einfühlsam, mit wenigen Sätzen lernen wir sie kennen und lieben. Alle. Es gibt keine Antipathieperson. Der Roman benötigt auch keine. Es ist ein fein abgestimmtes Konzert.

Die einzelnen Sorgen verschwimmen wie ein paar Tropfen Tinte im Wasser und formen sich um zu einem neuen, beherrschenden Auftrag. Die Individualität der Personen geht dennoch nicht verloren.
Abwechselnd in den Kapiteln kommen die WG-BewohnerInnen zu Wort, berichten, erzählen. Als wunderbares Stilmittel werden in Zwischensequenzen Dialoge, einem Theaterstück ähnlich, eingebaut.
Die einzelnen Individuen sind Träger für die Alltagsprobleme unserer Gesellschaft. Wohnungsnot und überteuerte Mieten, Leben und Einsamkeit im Alter. Mit einem zwinkernden Auge geht es auch um familiäre Traditionen (Weihnachten, etc.) sowie der Erfüllung von Klischees (Ehe, Kinder). Die Selbstbestimmung der Frauen und deren harter Kampf in der Arbeitswelt sind weitere Themen.
Ich habe den Roman von Isabel Bogdan sehr gerne gelesen. Er fesselt einen auf eine ganz besondere Art, schafft eine Bindung durch die ruhige Erzählweise. Die Lesenden werden zu Mitbewohnern der WG. Eine Wohngemeinschaft, die sich aus einer Zweckgemeinschaft heraus zu einem familiären Cluster entwickelt.
Für mich ist das ganz große Erzählkunst und somit gebe ich sehr gerne eine große Leseempfehlung

Bewertung vom 20.10.2024
Das vergessene Schtetl
Gross, Max

Das vergessene Schtetl


ausgezeichnet

Ein Ort, vergessen, aus der Zeit gefallen, wird ins 21. Jhdt geschubst! Köstlich!

Hat jemand schon von Kreskol gehört? Nein? Das ist ja auch nicht verwunderlich. Die Stadt wurde einfach vergessen. 2000 Einwohner, circa, denn genau erfasst sind sie nie geworden, leben dort, eingepfercht in einem großen urwüchsigen Wald in Polen. Das machen die nun seit etwa einhundert Jahren so. Außer ein paar Roma ein bis zweimal pro Jahr kommt dort niemand vorbei. Und keiner verlässt das Schtetl. Ja, ein Schtetl, eine jüdische Enklave, die äußerst friedlich und abgeschieden von Rest der Welt ihr Dasein zelebriert. Obwohl, friedlich … fast. Gibt es doch schon die ein oder anderen Scharmützel und Streitigkeiten. Ist ja menschlich, dass man sich nicht immer einer Meinung ist, oder? Und dann noch ein frisch vermähltes Paar. Pescha und Ismael. Eigentlich wollten sie ja gar nicht so recht. Haben dann aber doch. Und Pescha wollte am Tag der Trauzeremonie gar nicht mehr. Pescha ist äußerst unglücklich mit Ismael. Umgekehrt auch, vielleicht auch aus anderen Gründen. Beschwichtigungen und Vermittlungen zum Trotz vom Rabbi und anderen einflussreichen Persönlichkeiten gibt es zwischen den beiden keinen Frieden.
Kurzum: Pescha verschwindet. Und kurz darauf Ismael. Die Gerüchteküche brodelt über, weil schon seltsam das alles. Schnell wird in den überschäumenden Fantasien klar, dass ein Verbrechen verübt worden sein muss. Aufklären im Schtetl? Ein Ding der Unmöglichkeit. Also muss Hilfe von außen her. Aber wie? Es gibt keine Kontakte zum Rest der Welt.
Und so wurde entschieden, den armen Jankel Lewinkopf, der innerhalb seiner sehr großen Familie nur hin und her geschubst wird und keinen Platz in der Gesellschaft zu haben scheint, damit beauftragt, 60 km in die nächste Stadt zu pilgern und zur Polizei zu gehen. Ausgestattet mit etwas Proviant und einer Handvoll alter Münzen, die in Polen keinen Wert mehr haben, keine Kenntnisse der Polnischen Sprache (denn es wird im Schtetl seit je her nur Jiddisch gesprochen) wird er los geschickt, und wart nach drei Tagen vergessen.
Für Jankel beginnt das Abenteuer seines Lebens.
Er schafft es, ohne von wilden Tieren, Wölfen oder Bären oder Schlimmeren, man weiß es nicht genau, gefressen zu werden (die Ansichten im Schtetl sind und waren sehr naiv) in die nächste Stadt. Er schafft auch noch viel mehr. Monate später kommt er zurück – als Passagier in einem Hubschrauber. Das Schtetl wird wiederentdeckt, und soll nun an den Staat angegliedert werden. Hier wird es richtig amüsant, weil niemand weiß, was sich in den letzten hundert Jahren getan hat. Nichts vom technischen Fortschritt, und nichts vom Zweiten Großen Krieg, der so vielen Juden und Menschen das Leben kostete. Und auch nichts von einem Staat Israel … mit einem Tritt werden alle in die Jetztzeit gestoßen …
Und dann gibt es noch die Geschichte von Pescha, und Jankel, und wie es weitergeht … aber das alles wird hier nicht verraten.
Den Roman beherrscht eine wunderherrliche Tragikomik, die aus einem Was-Wäre-Wenn-Szenario ein absolut realistisches Setting erzeugt. Die Figuren und Protagonist:Innen sind sehr lebensecht gezeichnet. Man fühlt die Lebensunzufriedenheit von Pescha, die Verunsicherungen von Jankel, dem nebenbei eine große Portion an Gleichmut wie Naivität innewohnt – und der schwer geprüft wird. Man muss ihn einfach mögen, und für all die anderen bringt man ebenfalls gerne Verständnis auf.
Sprachlich brillant, mit dem nötigen Humor gewürzt kommt man an und ab nicht daran vorbei, sich in dieses Schtetl zu wünschen, das von allem Unbill der Welt verschont wurde.
Ganz große Leseempfehlung für diesen wunderbaren Roman.

Bewertung vom 17.10.2024
Worte wie Mandelblüte
Schnack, Sophia Lunra

Worte wie Mandelblüte


ausgezeichnet

Ein herrlicher Hybrid aus Prosa und Lyrik, eingepackt in 11 bezaubernde Erzählungen

In elf beeindruckenden Erzählungen nimmt uns die Autorin mit auf eine sprachliche Reise, die Grenzen zerbricht. Mal in Prosa, mal in Lyrik oder im Hybrid aus beiden. Es sind Geschichten, die sich vornehmlich damit beschäftigen, was bei und nach Abschieden geschehen kann. Gefühle, Vergängliches, Anhaftendes … Zerbrechliches.
Es sind Worte wie Seifenblasen, schillernd schön. Sie tragen einen davon, lassen im Zauber der Worte verweilen, entschweben, in der Hoffnung, sie mögen niemals platzen.
Die Sprache ist oft kryptisch, reduziert auf das Wesentliche, ohne „lästigem“ Beiwerk wie Hilfsverben oder ausführlicheren Erläuterungen. Es entstehen unweigerlich Bilder die aufsteigen, ohne groß und breit erklärt werden zu müssen. Die Worte sind eine Injektion ins bildhafte Verstehen.

S.13: „Während die Sonne immer tiefer, wird in der nächsten Stunde hinter einen der Felsen sinken, währenddessen noch einmal kurz ins Wasser, steigen, nicht springen, diese Angst vor Plötzlichkeit. Möchte Deine Satzreste mit Kälte verrauschen. Nochmals dünne Haut werden
um Deine Bilder, meine geworden
wegzutauchen
nicht durchzulassen

Ich muss zugeben, manche Seiten, Passagen musste ich mehrfach lesen, um mich hineinfallen lassen zu können, oder auch nur ansatzweise die tieferen Bedeutungen zu verstehen.
Es ist ein Experiment in Sprache, ein sehr gelungenes Experiment würde ich meinen, das ich sehr gerne gelesen habe. In Portionen, Häppchen. Jeden Tag, oder auch nur jeden zweiten Tag eine Erzählung, um das Gelesene besser wirken lassen zu können.

S.101:
„Vortasten nicht stören
dieses Aufwachen
in einen Traum
von erster Nähe

Wir ist eine Zeile
du ein Gedankenstrich
Zeit ein Ensemble von Begegnungen“

Sehr gerne gebe ich für diesen wunderbaren Band eine Leseempfehlung für alle Freunde von Sprachmagie und Lyrik, und diejenigen, die es noch werden möchten.

Die Autorin Sophia Lunra Schnack konnte mich mit ihrem Roman „feuchtes holz“ schon begeistern. Ein Buch, das ich ebenfalls wärmstens empfehlen möchte.

Bewertung vom 13.10.2024
Wald im Haus
Morn¿tajnová, Alena

Wald im Haus


ausgezeichnet

Die traurige Geschichte eines kleinen Mädchens. Erzählkunst vom Allerfeinsten!

Sie wird „Trutschel“ genannt. Von ihrer Großmutter, ihrem Großvater, ihrer Mutter. Ein kleines Mädchen, das die Mutter am liebsten abgetrieben hätte, und es der neunjährigen auch ins Gesicht sagt. Ein Kind, das für alles, was schief läuft, was im Leben ihrer Verwandtschaft nicht passt, schuldig gemacht wird. Die einzige Flucht des Kindes: die Schule. Aber wehe ein Wort! Nichts, absolut nichts darf sie sagen. Kein Wort darüber, was zu Hause passiert. Lehrerin und Schulpsychologin haben ein Auge auf die Ich-Erzählerin. Sie erzählt alles in Rückblenden als erwachsene Frau. So, wie es damals war, an was sie sich erinnern kann. Vor allem an eines: Es wird in dem Haus gestritten und geschrien, was das Zeug hält.
Gleich hinter dem Haus beginnt der Wald. Mit seinem Duft nach Moos, Tannen und Harz. Er ist dunkel, tausende Schauermärchen erzählt die Oma dem Kind. Dass dort kleine Mädchen verschwinden, und schlimmeres. Ihr Opa, der sich fast nur in seiner Werkstatt aufhaltet, riecht danach (geniale Titelgebung). Sie mag ihn nicht. Und auch sie ist nur ein geduldetes, lästiges Anhängsel.
S.68: „In der Gegenwart von Oma war ich ein undankbares, verbittertes Mädchen, für Opa war ich ein Angsthase, für Mama eine Tochter, die ihr eine Last war.“
Mit ihrer imaginären Freundin Monika verkriecht sie sich in eine Ecke in ihrem Zimmer, liest Monika aus Büchern vor. Sofern sie in ihr Zimmer darf, und es Oma erlaubt, denn Mama ist selten daheim. Ihr Papa ist eines Tages verschwunden und ward nie mehr gesehen. Er hat ihr zumindest zur guten Nacht eine Geschichte vorgelesen. Irgendwann verschwindet auch ihre Mutter. Macht sich auf und davon und lässt das arme Kind bei ihren Großeltern zurück. Sie vermisst beide … und dann tauchen zwei Jungen auf. Ihre Schulfreundin Ester wird neugierig, sie tuscheln, und das Mädchen verrät Ester etwas … etwas, worüber sie besser geschwiegen hätte … denn so manche ungute Dinge nehmen ihren Lauf. Und das eingeschüchterte Kind kann sich nicht wehren oder ausdrücken. Sie ist eben nur neun Jahre alt, und sehr ängstlich.

S.175: „Die Fragen kamen wie Gewehrsalven, aber ich saß da wie festgefroren und weinte. Ich schwieg, nicht einmal nicken konnte ich. Ich hatte Angst, solche Angst. Alles, was ich fühlte war Angst und vor allem: Hass. Ich hasste mich selbst und war voller Wut. Ich hasste die Frau, die mir gegenübersaß, wegen der schrecklichen Gefühle, die sie mit ihren Fragen in mir auslöste.“

Die Jahre vergehen, sie wird selbständig, kann den Krallen des Hauses am Wald entfliehen, aber die Vergangenheit holt sie dennoch wieder ein. Und wie alles ausgeht, wird hier natürlich nicht verraten.
Das Buch ist äußerst atmosphärisch geschrieben, beinahe schon beängstigend real. Die handelnden Erwachsenen würde man am liebsten aus den Seiten herauszerren … man leidet mit der Kleinen mit. Fühlt und zittert. Auch die Sprache finde ich sehr genial. Einerseits erzählt die Geschichte die erwachsene Frau, einerseits richtet aber die Neunjährige das Wort an uns. Genial kombiniert, wunderbar in Sprache verpackt.
S.54: „Manchmal, wenn im Winter Schnee fiel, bedeckte er die Traurigkeit der gefallenen Blätter und verhüllte die Nacktheit der Bäume.“
Und so allmählich erahnen wir beim Lesen, was dem Kind tatsächlich passiert ist. Es wird nicht ausgesprochen, nur in Schemen angedeutet. Und dennoch wird klar, was es mit dem Wald und der ganzen Familie auf sich hat.

Von mir eine ganz große Leseempfehlung und ein Jahreslesehighlight . Lest das Buch, ihr könnt es nicht mehr weglegen. Es vereinnahmt, fesselt. Die Geschichte ist einfach wunderbar erzählt und könnte wahr sein.

Bewertung vom 10.10.2024
Raureif
Postolache, Ion

Raureif


ausgezeichnet

Ein sehr bewegendes Stück Zeitgeschichte über den Staat Moldau, verfasst von Tagebüchern.

Was wissen wir über den Staat Moldau? Wahrscheinlich geht es den meisten so wie mir, und müssen diese Frage mit: „so gut wie gar nichts“ beantworten.
Ion Postolache war zeitlebens Moldauer, auch wenn er in seinem langen Leben (1918-2012) in ein und derselben Gegend in mehreren Staaten lebte, mehrere Sprachen und Schriften aufgezwungen bekam. Das Staatsgebiet war einst Bessarabien, Rumänien, UDSSR, moldawische SSR und nun Moldau. Irgendwann hielten lateinische Buchstaben Einzug, und ein oder zwei Generationen später war es wieder umgekehrt. Und das Spiel drehte sich und setzte sich fort.

Er erzählt uns sehr vieles über die geschichtliche Vergangenheit, vieles von seinem Großvater und Vater, die allesamt Landwirte in dem sehr fruchtbaren Land waren. Er hatte Tagebuch geführt, und somit ein Stück wertvolle Zeitgeschichte über dieses Land erhalten.

S.8: „Beobachtungen und Reflexionen einfacher Menschen, auch kleine und unbedeutende – es sind genau diese Geschichten, die dann das große Puzzle der Menschheit entscheidend formen.“ […] „Ein einfacher Bauernsohn war er, mein Großvater.“
S.9: „Wir wussten nicht, wer wir sind. Ich weiß es bis heute nicht, wenn ich ehrlich bin.“

Die politischen Geschehnisse und Zerwürfnisse, willkürliche Grenzziehungen, Verschleppungen, Enteignungen, alles am eigenen Leib erfahren, erzählt er ruhig. Meistens besonnen, geizte aber nicht an Kritik, obwohl die auch noch weit heftiger hätte ausfallen können, als geschildert.
Seine Eltern wurden grundlos in der stalinistischen Grausamkeit nach Sibirien verschleppt, während er das Glück hatte, in einem anderen Ort als Veterinär zu arbeiten. Und dabei hatten sie sogar noch so etwas als Glück dabei. Sie konnten sich in der Fremde so etwas Ähnliches wie eine neue Existenz aufbauen, trotz ihres Alters von sechzig Jahren und von Arbeit zerschundenen Körpern. Anderen erging es weit schlechter. Ihr aller Herz hing an der alten Heimat Moldau.

S.115: „ … die Sowjets waren schlimmer als die Barbaren, über die wir im Geschichtsunterricht gelernt hatten …“

Es ist bewegend, wie Postolache alles erzählt, viel Wissen über Land und Leute mit uns teilt und uns ein äußerst lebensnahes Bild des Landes Moldau über eine Zeitspanne von bald 200 Jahren präsentiert.
Mir hat das Buch, das weder Roman noch Sachbuch ist, äußerst gut gefallen und hinterließ einen tiefen Eindruck. Sehr gerne gebe ich eine ganz große Leseempfehlung für dieses brillante Stück Zeitgeschichte aus Moldau. Lest es, denn lesen bildet – und in diesem Fall stimmt es mehr denn je.

Bewertung vom 06.10.2024
Fremde am Pier
Aw, Tash

Fremde am Pier


ausgezeichnet

Bewegendes Familienportrait aus Asien, Suche nach der eigenen Vergangenheit, gegen das Vergessen der Wurzeln.

Der Autor erzählt hier in einer unaufdringlichen, aber sehr berührenden Weise die Geschichte seiner Familie. Er reist mit uns zurück, als seine Großväter das Chinesische Reich in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts verließen. Hunger und Krieg trieb sie zur Flucht, und sie landeten im heutigen Malaysia. Sie fanden Arbeit, konnten Familien gründen. 1971 wurde der Autor in Taiwan geboren. Was dazwischen liegt, was an Verlusten, Ängsten, Verzweigungen, Hoffnungen und vor allem an „Leben“ geschah, wird uns in diesem Buch erzählt. Es sind gerade mal 120 Seiten. Sie hinterlassen ein Bild einer breit gefächerten Familiengeschichte, in der sich Tash Aw auch nicht immer sicher ist, wo er sich selbst einordnen kann.
Asien ist ähnlich wie Europa ein multilingualer Vielvölkerkontinent, in dem oftmals willkürliche Landesgrenzen gezogen wurden, ohne Rücksicht auf Ethnien. Wir Europäer charakterisieren auf Grund ihres Aussehens einen Asiaten als solchen, ganz allgemein, kaum fähig zu unterscheiden, zu welchem Volksstamm oder Staat er wohl gehören mag. Das passiert umgekehrt genauso.
Auf seinen zahlreichen Reisen lernt Tash Aw viel darüber, spricht hier diesen Umstand an, und möchte damit sagen, dass politische und wirtschaftliche Gründe um den ganzen Globus Menschen dazu bringen, ihre Heimat zu verlassen, um wo anders ein friedvolles und sicheres Leben zu haben. Die ethnischen Gruppen finden sich zwar wieder, auch vermischen sie sich natürlich, mögen ihre eigenen Gruppen bilden, aber wo letztendlich jener Ort ist, der schlicht als Heimat genannt wird, ist schwer zu lokalisieren.

„Wir wollen, dass der Fremde einer von uns ist, jemand, den wir verstehen können.“

Das Buch ist äußerst lehrreich, und hilft uns dabei, mit anderen Augen auf uns und den Kontinent Asien zu blicken, auch wenn es nur klitzekleine Momentaufnahmen der eigenen Erfahrungen des Autors sind. Seine Erzählweise fesselt von Anfang an, und man wünscht sich, man könnte länger in den Zeilen verweilen.
Ganz große Leseempfehlung für dieses bewegende Plädoyer und Portrait einer Familie.