Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
MarcoL
Wohnort: 
Füssen

Bewertungen

Insgesamt 144 Bewertungen
Bewertung vom 02.04.2024
Eskalationsstufen
Rieger, Barbara

Eskalationsstufen


ausgezeichnet

Das Portrait einer toxischen Beziehung, geschickt in Szene gesetzt.

„Eine Liebesgeschichte und das Gegenteil davon“ - so lautet der erste Satz des Klappentextes. Und damit ist eigentlich schon alles gesagt. Dieser simple Satz schraubt die Erwartung hoch, baut eine Spannung auf, obwohl der Roman noch gar nicht begonnen hat.
Und der Satz hält, was er verspricht. Es fühlt sich anfänglich an wie eine Romanze, ja beinahe wie ein Match „Made in Heaven“. Eine Beziehung entwickelt sich, baut sich auf, bettet sich in Watte wie in einem gemütlichen Nest. Und dennoch wartet man beim Lesen auf die Dornen, die durch diese flauschige Zweisamkeit stechen. Aber werden sie überhaupt stechen? Passiert denn was?
„Es wird eskalieren“ verspricht eine weitere Ankündigung.
Ohne jetzt viel zu spoilern: der Himmel wird dunkler, kurzes Donnergrollen, wieder lichte Momente, ein Nachgeben. Dabei glaubt man, dass manche Zeichen von außen gesehen offensichtlich sind. Oder doch nicht. Situationen, türmen sich auf …
Julia malt Baumfiguren, hat mit Ausstellungen aber noch mäßige Erfolge. Sie trifft auf Joe, der schon mit mehr Ausstellungen und Erfahrung punkten kann. Er malt Portraits von toten Frauen, und suhlt sich im Schmerz, dass seine Frau verschwunden (und mittlerweile für tot erklärt) ist. Er zeigt sich empfindsam, tritt als Gönner und Förderer von Julia auf. Irgendwann wird mehr daraus, eine Beziehung wächst. Julia, obwohl noch in einer festen, aber offenen Beziehung mit David (der selten zu Hause ist), beginnt sich in Joe zu verlieben. Zuerst dachte sie, es sei nur körperlich, doch das Herz sagt ihr eines Tages etwas anderes.
Bald schlittert Julia, vorerst äußeren Einflüssen geschuldet, in eine Art Abhängigkeit von Joe. Von David verlassen, aus der gemeinsamen Wohnung gedrängt, zieht sie bei Joe ein. Die erhofften Freiräume gestalten sich bald als gläserne Tresore. Joes narzisstische Eigenarten, sein toxischer Drang Julia besitzen zu wollen, tragen ihr nötiges dazu bei. Als dann auch noch die Pandemie beginnt … mehr möchte ich nicht verraten: LESEN!
Der Titel ist sehr geschickt gewählt. Die Autorin erklärt im Nachwort an welche Kriterien sie sich gehalten hat, um den Plot aufzubauen. Damit komponiert Barbara Rieger einen hervorragenden Roman, der von seinen Zuspitzungen (Eskalationen) und deren Abschwächungen lebt, Wellen gleich, die stetig höher schlagen.
Der Satzbau ist knapp, prägnant. Oft lässt Rieger die Sätze mit einem kurzen „ ,aber“ abbrechen. Der Verdacht, welchen man beim Lesen hat, wird so geschickt bestätigt. Auf der anderen Seite wirft dieses geniale Textkonstrukt Fragen auf, ob es tatsächlich so ist, wie man es vermutet und sich hineinversetzt. Und dann möchte man immer wieder in Zeilen hineingreifen, die Handlung aufhalten, das Offensichtliche abwehren. Ganz große Erzählkunst!
Sehr gerne gebe ich eine absolute Leseempfehlung für diesen herausragenden Roman.

Bewertung vom 31.03.2024
Ein Film (3000 Meter)
Català (Pseudonym) Albert i Paradís, Víctor (Pseudonym) Caterina

Ein Film (3000 Meter)


ausgezeichnet

Eine fulminante, epochale Geschichte von 1926 aus Katalonien, in deutscher Erstübersetzung

Hinter dem Namen Victor Catala verbirgt sich die katalanische Autorin Caterine Alberti i Paradis. Damit ihre Romane überhaupt veröffentlicht wurden, musste sie ein männliches Pseudonym annehmen. Der vorliegende Roman erschien 1926, und liegt nun in der deutschen Erstübersetzung vor. Der Titel resultiert aus verwendeten Filmtechniken, um diesen sehr spannenden Roman zu erzählen.
Nonat wächst in einem Waisenhaus auf. Er möchte unbedingt adoptiert werden, ausbrechen aus seiner eingrenzenden Welt. Irgendwann wird sein Wunsch Wirklichkeit. Ein Schlossermeister nimmt ihn auf, behandelt ihn wie einen Sohn, lehrt ihm das Handwerk. Schon bald entpuppt sich Nonat als sehr geschickter Schlosser, und auch sein organisatorisches Talent lässt keine Zweifel offen, dass er einen Betrieb führen könnte.
Doch das war ihm alles zu wenig. Er wollte mehr über seine Eltern wissen, und warum er im Waisenhaus landete. Auch bildete er sich ein, dass sein leiblicher Vater sehr vermögend sein muss. Seine Suche nach seinem richtigen Vater birgt immer wieder Rückschläge.
S. 69: „Doch als er sich nach den langen strapaziösen Stunden wieder nach Hause zurückzog, wie ein Irrlicht, das kalt glimmend zwischen Grabsteinen getanzt hatte, brachte er eine neue Enttäuschung mit, eine weitere zerplatzte Illusion.“
Aber er gibt nicht auf, auch wenn seine Suche in seinem Leben nicht immer die höchste Priorität hat. Nonat, sehr eitel, gibt für die Mode und sein äußeres Erscheinungsbild all sein Geld aus. Doch irgendwann muss er erkennen, dass nur das Äußere nicht alles ist. Ihm fehlt es an gewissen Umgangsformen, und vor allem auch an Bildung.
S.365: „Er begriff, dass seine Macht heutzutage keine Grenzen kennen würde, hätte er auf die Nahrung und Pflege seines Geistes ebenso viel Wert gelegt wie auf sein Äußeres, …“
Er wird wohl immer ein Schlosser bleiben, bis er eines Tages eine schicksalhafte Begegnung macht, die sein ganzes Leben auf eine neue Schiene setzt.
In diesem wirklich äußerst gut geschriebenen Roman geht es nicht nur um Nonat. Er ist die Leitfigur, der straffe Faden durch die Handlung. Die Autorin schuf mit diesem Werk ein kleines Epos mit vielen handelnden Personen, die alle mit Nonat in einer bestimmten Art und Weise in Verbindung stehen. Sie zeichnete auch ein gesellschaftliches Abbild Kataloniens, insbesondere von Barcelona und Girona der damaligen Zeit, mit tiefen Kenntnissen der unteren Schicht.
Die Sprache ist äußerst flüssig gesetzt, teils poetisch mit wunderbaren Sätzen, und wirklich spannendem Flow. Es gibt zwar, wenn neue Personen auftreten, immer wieder kleine Abschweifungen zu deren Herkunft und Leben, aber es fügt sich dann zusammen, was zusammen gehört, zu einem großen, einheitlichen Ganzen. So gesehen, mit all den Einflechtungen, kann man wirklich von einem Film sprechen, der in seinen Handlungen Grundelemente der klassischen Tragödie beinhaltet, und mit den ganz großen Enthüllungen wirklich bis zum Schluss wartet.
Dieser Roman, diese fulminante Erzählung und ein Meilenstein des Werkes der Autorin, verdient ein großes Publikum. Ganz große Leseempfehlung und Riesenkompliment an die Übersetzerin Petra Zickmann.

Bewertung vom 26.03.2024
Der falsche Vermeer
van Odijk, Patrick

Der falsche Vermeer


ausgezeichnet

Perfekt recherchierter historischer Roman um einen gewieften Kunstfälscher.

Was für ein wunderbarer, fein herausgearbeiteter historischer Roman das doch ist. Spannende Unterhaltung pur, sehr gut recherchiert, und genug Raum, um neben all den Fakten Fiktion einfließen zu lassen.
Es geht um den Niederländischen Fälscher Han von Meegeren (1898 – 1947), einer der genialsten Kunstfälscher des 20. Jahrhunderts, im Roman heißt er Jan van Aelst.
Als Jugendlicher wollte er Kunst studieren, was ihm sein Vater verbot. Ein Architekturstudium sollte es sein, und heimlich besuchte er die Kunstakademie. Als Maler blieb er zeitlebens unbedeutend, aber er schaffte es, mit seinen Vermeer-Fälschungen, höchst angesehene Kunsthistoriker an der Nase herum zu führen. Und nicht nur das, auch Obernazi Göring betrog er und erleichterte ihn um sehr viel Geld.
Im Zuge des Aufbruchs nach 1945 gerät der Fälscher in den Fokus der Polizei und wird eingesperrt. Im wird Kollaboration mit den Nazis vorgeworfen.
Die sehr spannende Aufarbeitung des Lebens von van Aelst ist eingebettet in die Geschichte der Reporterin Meg van Hettema. Sie heftet sich gekonnt und mit Beharrlichkeit an die Fersen von Aelst, war den anderen Zeitungen, und auch der Polizei meistens eine Spur voraus, und konnte exklusiv von den Enthüllungen berichten.
Van Odijk lässt beide Hauptprotagonist:Innen geschickt miteinander interagieren. Beinahe spielerisch, und dennoch mit viel Geschick, verwebt er so die Lebensgeschichte des Fälschers mit der Politik der damaligen Zeit. Die Recherchen der Reporterin sind wie ein führendes Licht, welches nicht nur stur geradeaus leuchtet, sondern viel Raum links und rechts der Haupthandlung erhellt, ohne dass auf den über 500 Seiten auch nur ein Satz zu viel gewesen wäre.
Nebenbei schafft es der Autor, wunderbare Psychogramme von die handelnden Personen zu zeichnen. Das macht diese sehr plastisch, lebensecht – und man reist mit ihnen durch die Gassen und entlang den Grachten von Amsterdam oder Straßen von Den Haag.
Für mich hat hier der Autor einen herrlichen historischen Roman geschaffen, der mit seiner Detailtreue und Lebendigkeit bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Ganz große Leseempfehlung.

Bewertung vom 23.03.2024
Dorf ohne Franz
Dolovai, Verena

Dorf ohne Franz


ausgezeichnet

Ungeschönte Bilder vom dörflich geprägten Leben. Wunderbar erzählt!

Maria erzählt von ihrem Leben. Sie wächst auf einem Hof auf, Dorf und Land prägen ihr Leben. Bereits einer der ersten Sätze beschreibt allumfassend ihr Schicksal:
S.10: „..., in der Nacht, hielt mir Papa schließlich einen Zettel unter die Nase. Unterschreib! Hinter ihm Mama, Josef, Franz und der Herr Notar. Ich sag auf das Papier. Durchlesen musst du das nicht, meinte Papa. So ein Theater wegen einer Unterschrift, dachte ich und kritzelte meinen Namen auf die punktierte Linie. Erbverzicht stand oben drüber.“
Damit ist ihre Zukunft besiegelt als Magd in der eigenen Familie. Eine Ausbildung oder Lehre wird Maria von den Eltern untersagt. Sie bleibt eine billige Arbeitskraft am Hof, später wird sie wie selbstverständlich zur Pflege der gebrechlichen Alten abgestempelt. Ihr Bruder Josef bekommt alles. Sie und Franz nichts.
Franz ist das Nesthäkchen, von seiner Mutter verwöhnt, während an Maria all die Arbeit hängen bleibt. Eines Tages beschließt Franz, sich die Welt anzusehen, und geht. Das ist der Startpunkt des geistigen Verfalls seiner Mutter. Eine Mutter, die Maria gegenüber immer abweisend und böse war.
Von ihrer Heirat mit Toni, von dem sie dachte, er würde eines Tages die Wirtschaft seines Vaters erben, verspricht sie sich eine besser Zukunft. Doch es kommt anders. Auf Toni, mit einem starken Alkoholproblem, ist nicht verlass, sein jüngerer Bruder Ferdinand, mit dem Maria zuerst zusammen war, bekommt das Gasthaus. Für Maria bleibt nur ein Leben mit Gelegenheitsjobs, Arbeit am Hof, und Pflege über. Sie hilft wo sie kann und muss. Kleine und größere Katastrophen, die das Leben zwangsläufig anschwemmt, bleiben an ihr hängen wie Treibholz am Ufer. Sie erträgt es auf eine stoische Weise.
Eines Tages sieht sie die Chance, all dem zu entschwinden …
In düsteren Bildern, so wie das Leben auf dem Land nun mal spielt, erzählt uns die Autorin sprachlich gekonnt vom patriarchal geprägtem Dorfleben. Einmal gefangen in diesen Strukturen, scheint es kein Ausbrechen zu geben.
Verena Dolovai zeichnet ein ungeschöntes Bild vom Land, die (viel gepriesene) Idylle gibt es nicht. Und wenn doch, dann ist sie eine Seifenblase, die jäh zerplatzt. Das Leben wird als hart und entbehrungsreich angenommen und gelebt, eine andere Möglichkeit wird von vorn herein ausgeschlossen. Außer man macht es wie Franz, und bricht aus.
Ganz große Leseempfehlung für diesen Roman von Verena Dolovai . Ihr Sprachstil ist fesselnd, direkt, auch nüchtern. Inhaltlich möchte ich gerne Vergleiche zu Helena Adler (Die Infantin trägt den Scheitel links) oder auch Monika Helfer (Die Bagage) ziehen, allerdings mit dem kleinen Einwand, dass hier das persönliche Pathos zur Seite gestellt wird. Trotz der Ich-Erzählung besteht eine gewisse Distanz, die ihre volle Berechtigung hat. Also: kauft und lest das Buch! Es lohnt sich!

Bewertung vom 21.03.2024
Von Geistern und Schatten
Gay, Roxane

Von Geistern und Schatten


ausgezeichnet

Ein Buch voller Schicksale aus Haiti, eingepackt in 15 faszinierenden Stories

Die Autorin beglückt uns in diesem Buch mit fünfzehn Stories, einige gerade mal nur eine Seite lang. Es sind allesamt Erzählungen über Schicksale aus Haiti. Es geht so gut wie immer um das Thema der haitianischen Volksseele, um Identität, das Zurechtfinden in der eigenen und fremden Welt.
Wortgewandt, mit Espit, manchmal mit Humor, dann wieder mit der bittersten Härte des Lebens, bringen uns die Geschichten die Leben von verschiedenen Menschen näher. Meistens geht es um Auswander:Innen, die ein besseres Leben suchen.
Die Träume sind vielfältig, die Wünsche groß, und nicht selten fallen die Suchenden in die naive Blase von einer besseren Welt. Die bittere Enttäuschung, dass im gelobten Land Amerika auch keine gebratenen Tauben vom Himmel fallen, folgt auf dem Fuß. Und dennoch: aufgeben ist keine Option.
S.91: „Er trinkt langsam, so langsam, dass kein Eis mehr im Becher ist, wenn er endlich wieder aufsteht. Die eine Hot Pocket isst er, die andere hält er einfach nur fest. Er spürt die wohltuende Wärme und meint, die ganze Welt in den Händen zu halten.“
Trotz Arbeit in den USA (oftmals illegal), bleibt die Armut allgegenwärtig. Die großen Versprechen den zurückgelassenen Ehefrauen und Kindern gegenüber, diese binnen ein paar Monaten, sobald sich der Reichtum eingestellt hat, nachzuholen, zerplatzen wie Seifenblasen.
Sie wähnten sich trotz ihrer miserablen Lage in einer heileren Welt angekommen:
S. 18:“Viele Jahre lang hatten wir gar nicht bemerkt, dass unsere Eltern mit Akzent sprachen und ihre Stimmen für feindselige amerikanische Ohren anders klangen. Wir hingegen hörten nichts als Heimat.“
Die Texte reißen einen alle mit, ausnahmslos. Sprachlich gekonnt, wunderbar übersetzt von Eva Bonné, werden verschiedenste Bereiche angesprochen, seien sie politischer Art, queere Themen, Gewalt gegen Frauen, Hoffnungslosigkeit oder all die Vorurteile, welche Haitianer:Innen entgegengebracht werden. Nur weil ein Mädchen aus Haiti stammt, wird impliziert, dass dieses Voodoo praktiziert – eine wunderbar erzählte Geschichte, kurz und prägnant.
Absolute Leseempfehlung für dieses wunderbare Buch, welches trotz der brisanten Themen leicht und flüssig zu lesen ist. Am besten genießt man dieses Buch in Raten – Story für Story, um sie noch besser wirken zu lassen.

Bewertung vom 20.03.2024
Buchhaim / Die Stadt der Träumenden Bücher Bd.1
Moers, Walter

Buchhaim / Die Stadt der Träumenden Bücher Bd.1


ausgezeichnet

Eine wunderbare Adaption des Klassikers „Die Stadt der Träumenden Bücher“ als Graphic Novel.

Wie toll bitte ist diese Graphic Novel
Auf der Grundlage des Buches „Die Stadt der Träumenden Bücher“ von Walter Moers – eines meiner Lieblingsbücher für immer – erschuf hier Florian Biege eine sensationelle Graphic Novel. Dies ist der erste Teil „Buchhaim“. Im zweiten Teil geht es mit unserem lieben Protagonisten in die äußerst gefährlichen Katakomben.
Hildegunst von Mythenmetz trauert in der Lindwurmfeste um seinen Dichtpaten Danzelot von Silbendrechsler. Auf dem Sterbebett vermachte dieser Hildegunst ein Manuskript eines unbekannten Autors. Dieses Manuskript ist perfekt, einzigartig. Und so macht sich Hildegunst, der zu dieser Zeit noch kein Dichter ist, in die legendäre Bücherstadt Buchhaim. Dort möchte er nicht nur das Orm, jene Kraft, die einen beflügelt, die richtigen Worte aufs Papier zu bringen, finden, sondern auch den Verfasser jenes perfekten Manuskriptes. Dabei begibt er sich in allerhöchste Gefahr …
Die Aufmachung dieses Bandes ist einfach nur wunderbar. Die Zeichnungen sind voller Phantasie und Details, beinahe schon in 3D. Man wird regelrecht in diese zamonische Welt hinein gesogen. Und es bleibt auch nicht beim einmaligen Schmökern. Immer wieder gibt es in den Bildern etwas Neues zu entdecken. - Ganz große Kunst!
Moers hat den Text für diese Graphic Novel meisterhaft adaptiert. Ich bin erstaunt, wie es ihm gelang, mit wenigen Worten die Handlung derart treffend und spannend wiederzugeben. Ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen rundet den Band perfekt ab.
Absolute Leseempfehlung für dieses herrliche Werk. Es hätte eigentlich 10 Sterne verdien

Bewertung vom 16.03.2024
Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen
Grigorcea, Dana

Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen


sehr gut

Über die Kunst, nach einer wahren Geschichte, und wie diese in einen Roman kommt.

Beruhend auf einer wahren Begebenheit erschafft hier die Autorin einen kleinen, fein gezeichneten Roman um die Kunst, um die Liebe, und wie beides miteinander zusammenhängt.
Im Jahr 1926 reiste der französische Bildhauer Constantin Avis auf Einladung seines Mäzens nach New York. Dieser hatte Constantin eine Ausstellung, nur mit seinen Werken, in Aussicht gestellt und wollte ihn „groß“ herausbringen. In New York angekommen, verlor sich der Künstler zunächst. Vom Gönner keine Spur, dafür traf er auf Lidy, welche eng mit dem Hause verbunden war. Es entspannte sich eine lockere Beziehung der besonderen Art. In seinem Hotel, einen Stock höher, residierte die berühmte Schauspielerin Alba. Sie fuhr sogar mit ihm auf dem gleichen Schiff über den Ozean. Doch die Schauspielerin blieb ihm fern, obwohl es immer wieder Berührungspunkte gab.
Ein Angelpunkt des Romans ist eine bronzene Skulptur des Künstlers, welche einen Vogel darstellen sollte. Dies wurde aber am Zoll nicht als Kunst bewertet – er musste den Vogel wie einen Gebrauchsgegenstand verzollen. Es kommt zu einem Prozess, und zur Frage, was denn Kunst überhaupt ist.
Parallel dazu beschreibt die Autorin die Geschichte von Dora. Diese reist knapp 100 Jahre später zusammen mit ihrem Sohn Loris und dessen Kindermädchen von Zürich an die ligurische Küste. Sie möchte dort ihr Buch „Damenwahl“ fertig schreiben. In diesem Buch geht es um oben beschriebenen Künstler und seine ersten Tage in New York, sowie um die Gerichtsverhandlung.
S.12: „Jahre schon trug sie diese Geschichte mit sich, in allen Details. Jedes ihrer Bücher hätte dieses werden müssen – und war dann doch ein anderes geworden.“
In losen Kapiteln erzählt die Geschichte uns abwechselnd Episoden von Doras Aufenthalt am Meer, und von den kleinen Abenteuern, die Constantin in New York erlebte. Doras Wunsch, einen vollendeten Roman rund um die Kunst zu schreiben ist das zentrale Thema des Romans. Abgelenkt durch den Alltag spürt sie dem Leben von Constantin Avis nach, verbindet die Gegenwart mit der Vergangenheit.
Grigorceas Sprache ist leicht, locker wie das Leben am Meer, und dennoch so dicht wie das pulsierende New York der 20er Jahre. Man kann beim Lesen ohne Mühe in beide Welten eintauchen. Ich hätte mir allerdings mehr Tiefe bei der Geschichte rund um Constantin gewünscht. So verblasst er meines Erachtens manchmal ein wenig zu sehr im Licht von Dora, und bleibt mehr Statist als handelnde Person. Dafür wird das schriftstellerische Leben von Dora fein herausgehoben. Die Frage, was Kunst ist und kann, muss am Ende jeder für sich selbst entscheiden.

Bewertung vom 14.03.2024
Nachtblaue Blumen
Kamber, Alexander

Nachtblaue Blumen


sehr gut

Eine ehem. Tänzerin in der Nervenklinik um 1890. Literarisch anspruchsvoll.

Paris 1890, der Schauplatz ist die berühmt-berüchtigte Nervenheilanstalt Salpêtrière. Ein Arzt möchte der Krankenheit „Hysterie“ auf den Grund kommen – seine Patientinnen und Opfer: junge Frauen. Die Behandlungen finden teils vor Publikum statt, es entstehen oft mehr Fragen als Antworten, da sich das Verhalten der Frauen, auch mit den verabreichten Medikamenten, in unvorhergesehene Richtungen verändert. Die Anstalt wurde nicht umsonst die „weibliche Hölle genannt.
Eine Tänzerin wird von ihrem Patron eingeliefert, da sie nicht mehr tanzen wollte. Um während des Aufenthaltes nicht völlig den Verstand zu verlieren, zeichnet sie ihre Erfahrungen in einem Notizbuch auf.
Der Nervenarzt gibt sich freundlich, verständnisvoll, doch man kommt ihm nicht auf die Schliche, ob sein Getue nur gespielt ist. Es gibt bestimmte Momente zwischen Arzt und Patientin, die auf der einen Seite fast schon väterliche Fürsorge entdecken lassen, auf der anderen Seite kommt es zu ungewollter Nähe. Der Autor spielt mit dem Vertrauen zum Arzt – es könnte eines da sein. Es wird versucht, es den Leser:Innen einzuflößen, genauso wie den Patientinnen. Doch zu sehr sind die Vorurteile mit dem Ort verschränkt. Die Tänzerin passt sich an, spielt ihrerseits, um diesen Klauen zu entwischen. Der Patron, der sie anfangs noch besucht, damit sie wieder in den Club kommt, und auf sie einredet, was er alles für sie getan hat, scheint irgendwann sein Interesse zu verlieren und kommt nicht mehr.
Dabei ist der einzige Grund, warum die junge Frau in der Anstalt ist, weil sie partout nicht mehr tanzen will.
Die Erzählung liest sich leicht, ist von einer bestimmten Spannung durchdrungen, hat mich aber dennoch irgendwie unschlüssig zurückgelassen. Auch wenn sich viel zwischen den Zeilen findet, eine Quintessenz habe ich nicht gefunden – außer dem immerwährenden Umstand, das Frauen den alten weißen Männern hilflos ausgeliefert waren und sind.
Wer sich gerne für ein literarisches Abenteuer, zumal noch schnell gelesen, einlassen möchte, kommt hier sehr auf seine Kosten.

Bewertung vom 14.03.2024
Seifert, Nicole

"Einige Herren sagten etwas dazu"


ausgezeichnet

Aufrüttelnder Bericht über Schriftstellerinnen der Gruppe 47. Ein wichtiges Buch!

Im Jahr 1947 lud die Autorin Ilse Schneider-Lengyel Schriftsteller in ihr Haus am Bannwaldsee ein. Sie sorgte für Kost und Logis. Es war der Startschuss für die Gruppe 47. Es sollten Treffen voller literarischer Brisanz werden, ein Austausch auf Augenhöhe, um die neue Literatur in Deutschland nach dem Krieg wieder voranzubringen. Es gab strikte Regeln, wer dabei sein durfte. Diese begründeten sich u.a. mit der Kriegsvergangenheit der Autor:innen.
S. 210: „… er [Richter] wollte denen, die einen anderen Umgang mit dem Nationalsozialismus gefunden hatten als den Gehorsam, kein Gehör verschaffen.“ Sie wollten eine junge Literatur schaffen, von den alten Klassikern abgrenzen. Zwanzig Jahre später waren sie selbst „alt“, junges Blut nicht unbedingt willkommen.
Die Namen der Männer, die sich um Hans Werner Richter scharten, dürften vielen von uns mehr oder weniger bekannt sein. Aber wie sieht es mit den Autorinnen aus? Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann. Und dann? Kennen wir die Namen Drewitz, Wohmann, Elsner, König, Koschel, Reinig, Fleming, Novak, Borchers, Plessen, Frischmuth, Rasp?
Das waren in ihrer Zeit alles zum Teil sehr erfolgreiche Autorinnen, doch sie schafften es nicht, uns in Erinnerung zu bleiben, oder gar im Kanon.
Seifert beleuchtet in diesem wirklich sehr lesenswerten Buch die Umstände, wie es dazu kam, wie gute Autorinnen unterdrückt, wenig beachtet und sexualisiert wurden. Sie stellt uns die Frauen vor, erläutert ihr schriftstellerisches Werk – und welche Erfahrungen sie bei den Gruppentreffen machten. Und diese Begegnungen hatten meistens, angeführt durch Aussagen von Richter, einen sehr negativen, sexistischen Beigeschmack. Nicht selten wurden die teilnehmenden Autorinnen nur nach ihrem Äußeren bewertet, nicht aber nach ihrem schreiberischen Können.
Redakteure des Spiegels bliesen ins das selbe Horn, Diskreditierungen, sogar posthum, waren weit häufiger zu lesen als wohlwollende Kritik. Auch die ehemalige Gastgeberin wurde als solche ausgenützt, ihr literarisches Werk abgewertet. Die Details in diesem Buch sind wirklich sehr haarsträubend.
S.178: „Zweifel an der Eigenständigkeit der Arbeit zu säen und auf das Äußere der Autorin auszuweichen – beides bewährte Strategien, um die Arbeit von Schriftstellerinnen abzuwerten. [am Beispiel von Gisela Elsner]
Das Buch ist äußerst sorgsam recherchiert und zusammengestellt. Die einzelne Passagen zu den Treffen und Autorinnen lesen sich spannend wie ein Krimi. Sie stecken voller Details, und klingen dennoch nicht überladen. Ganz große Kunst ist das.
Es ist ein sehr wichtiges Werk, den „vergessenen“ Autorinnen wieder Gehör zu schaffen. Und es ist mehr als ein hoch erhobener Zeigefinger, wie es alte weiße Männer schafften, im Literaturbetrieb ihre Misogynie und alteingesessenes Patriarchat durchzusetzen. Erschreckend und schockierend ist das. Darum: kauft und lest dieses Buch! Es steht so vieles darin, so immens viele Informationen darüber, was der Literatur mehr oder weniger entsagt bzw. vorenthalten und versteckt wurde. Ganz große Leseempfehlung.

Bewertung vom 07.03.2024
Der spanische Esel
Guhr, Sebastian

Der spanische Esel


ausgezeichnet

Eindrucksvolles Portrait über die Enstehung von Bunuels „Las Hurders“

Der Filmemacher Luis Buñuel ist egozentrisch, mag die Menschen nicht, gehört der Szene der Surrealisten von Paris an, und ist mittellos. Seine ersten beiden Filme waren erfolgreich wie skandalös. Und er möchte gerne einen neuen Film machen, seine wirr umher hüpfenden Gedanken samt seiner Verbitterung in bewegende Bilder bannen. Provozieren. Aber ihm fehlt das Geld. Da kommt ihm sein Freund Ramon, sofern man in Buñuels Kreisen überhaupt von Freunden sprechen kann, gelegen. Ramon, ein Anarchist bis in die Haarspitzen, hat im Lotto gewonnen und bietet an, einen neuen Film zu finanzieren.
Das Thema ist rasch gefunden. Es soll ein Film werden über Menschen, die nichts als ihr Leben, und das was sie am Leib tragen, haben. Sie fahren zu viert nach Las Hurdes, eine einst heroische Region in Spanien, die nur mehr Armut zu bieten hat. Das alles passiert 1932.
In der Region angekommen, weiß Buñuel, dass er dort richtig ist. Die Menschen im Dorf, von bitterster vom kargen Leben gebeutelt, haben in ihrem Leben noch nicht mal ein Automobil gesehen. Wie Menschen von einem fernen Stern erscheinen ihnen die Filmemacher.
Der Dreh beginnt, Bilder werden aufgenommen, doch Buñuel ist nicht zufrieden. Es fehlt etwas, kann aber nicht sagen, was es ist. Erst eine Entdeckung im Kloster, in welchem sie untergebracht sind, beflügelt seine Phantasie auf grausame Art. Der Film wird ein Skandal, nach der Premiere in Spanien sofort verboten.
Sebastian Guhr beschreibt in diesem schmalen Band in knappen Worten die Entstehungsgeschichte zum Film „Las Hurdes“ und zeichnet ein eindrucksvolles Psychogramm des Regisseurs. Klare Bilder tauchen auf, mehr als plastisch. Fast kann man den Knall von Buñuels Revolver, eine Schlüsselszene, (Triggerwarnung!) hören.
Buñuels Gedankengänge (und seine Filme) können schwer auf seinem Publikum lasten, sie erzeugen einen gewissen Druck. Um so leichter schafft es hier der Autor, die Gewalt (doppeldeutig) der surrealen Momente in ein klares, reales und leicht zu lesendes Abbild zu projizieren.
Gerne gebe ich hier eine Leseempfehlung, für alle, die sich auf diese Abenteuer einlassen wollen.