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Anna625

Bewertungen

Insgesamt 89 Bewertungen
Bewertung vom 26.07.2023
Nincshof
Sebauer, Johanna

Nincshof


ausgezeichnet

Wer kennt sie nicht, diese Dörfer, deren Namen man liest und sich denkt "noch nie gehört", obwohl sie nur 20km vom eigenen Wohnort entfernt liegen. Orte, die gefühlt kein Mensch kennt, weil es dort einfach nichts Spannendes gibt, das je über die Grenzen des Dorfrandes in die Welt hinausschwappt. Was aber, wenn es irgendwo tatsächlich ein Dorf gäbe, in das sich niemand je verirrt, das nie in irgendeiner Zeitung oder Berichterstattung auftaucht, dessen Bewohner Außenstehenden nie vom aktuellen Dorfgeschehen berichten? Das einfach komplett unter den Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit fällt?
Nincshof ist so ein Dorf. Oder war es zumindest. Und will es wieder werden. Aber das ist gar nicht so einfach, wenn da plötzlich irgendeine bekannte Schauspielerin (oder, warte, macht sie nicht sogar selber Filme? hoffentlich nicht über Nincshof!) aus der Stadt zuzieht und ihr Mann dann auch noch eine ziemlich hässliche, aber leider auch ziemlich seltene und damit Aufmerksamkeit erregende Ziegenart zu züchten beginnt. Und dann bricht auch noch die Erna von nebenan heimlich nachts irgendwo ein, um da im Pool zu schwimmen, muss das denn sein? Wenn das mal nicht in die Zeitung kommt. Vergessen werden wird Nincshof so jedenfalls nicht, da hilft alles Buchseiten-Rausreißen und Datenbanken-Löschen auch nichts. Klar also, dass man Erna irgendwie dazu bringen muss, sich an dem ganzen Unterfangen zu beteiligen, und was man dann mit den Zugezogenen anfängt, muss man sich halt noch überlegen.

Ich kann ihn absolut verstehen, den Wunsch dieser Dorfbewohner, einfach aus dem Weltgeschehen ausgeklammert zu werden. Einfach seine Ruhe zu haben und das Leben wie bisher weiterzuleben, bei den Nachbarn ein- und auszugehen ohne klingeln zu müssen, mittags hier ein bisschen Kuchen, da ein bisschen aushelfen. "Nincshof" war für mich ein sehr unterhaltsamer und zugleich auch nachdenklicher Roman, dessen Atmosphäre ich geliebt habe - das entspannte Dorfleben, die teils etwas schrägen, aber liebenswürdigen Menschen (das passende Adjekiv wäre wahrscheinlich "schrullig"), das gemeinsame Hinarbeiten auf ein Ziel, die ungewöhnlichen Dorftraditionen wie etwa die Weitergabe des Nachnamens der Frau statt dem des Mannes bei einer Heirat. Die Idee des aktiven Vergessen-Werdens hat mir sehr gefallen, die dahinterstehende eigens gegründete, ebenso wunderliche wie sympahische philosophische Strömung der "Oblivisten" und deren heimliche Treffen und skurrilen Pläne. "Nincshof" ist nicht nur ein wunderbar gelungenes Debüt der österreichischen Autorin, sondern zudem die perfekte Sommerlektüre. Klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 07.05.2023
Das Café ohne Namen
Seethaler, Robert

Das Café ohne Namen


gut

Ach ja. Ich weiß, alle mögen Seethaler. Ist ja auch gar nicht so, als hätte ich irgendetwas gegen ihn und seine Romane. Aber irgendwie springt der Funke bei mir einfach nicht über. Keine Ahnung warum, ich würde ihn auch gerne mögen. Daher wollte ich auch unbedingt seinen neue Roman lesen. Jetzt, danach, sehe ich aber nur bestätigt, was ich von vorneherein befürchtet hatte - ich fand es absolut lesbar, aber mehr auch einfach nicht.

Aber gut, worum geht's hier eigentlich?
Wien, wir schreiben das Jahr 1966. Der Krieg ist seit 20 Jahren vorüber, das Echo seiner Auswirkungen jedoch noch längst nicht verhallt. Die Stadt ist im Werden begriffen und erholt sich langsam vom Schrecken der Vergangenheit. Auch Robert Simon, bisher Gelegenheitsarbeiter auf dem Karmelitermarkt, ergreift die Gelegenheit und eröffnet ein kleines Café. Seine Kundschaft ist ebenso vielfältig wie das Angebot des Cafés begrenzt ist. Doch es braucht gar kein riesiges Menü; die Leute kommen auch so, und das Café wird schnell zum Dreh- und Angelpunkt des Viertels. Denn hier können sie ihre Geschichten erzählen, ihr Lied von Leid und Liebe und Leben singen.

Es ist wirklich nicht so, als hätte ich den Roman nicht gemocht. Er lässt sich wunderbar lesen, ist unaufgeregt und voller Wärme. Seethaler schafft eine Leichtigkeit zwischen all der Schwere in den Leben der Protagonist*innen, die mir sehr gefallen hat. Und trotzdem habe ich ständig auf etwas gewartet, den Moment, in dem es mich wirklich packt und der Roman für mich mehr wird als nur "schön zu lesen". Leider kam dieser Augenblick aber nicht. Vielleicht passen Seethaler und ich einfach wirklich nicht so ganz zusammen.

Bewertung vom 15.04.2023
Keine gute Geschichte
Roy, Lisa

Keine gute Geschichte


gut

Als ihre Großmutter mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat, kehrt Arielle Freytag in die Enge der Wohnung in Essen-Katernberg zurück, in der sie aufgewachsen ist. Eigentlich hatte sie diesem Leben längst den Rücken gekehrt, ist dem sozialen Brennpunktviertel entkommen und inzwischen mit Anfang Dreißig Social-Media-Managerin in Düsseldorf. Der Anblick ihrer alten Heimat ist für sie schockierend und zugleich wenig überraschend: dieselben Menschen wie damals, aus denen tatsächlich genauso wenig geworden ist, wie sich schon zu Schulzeiten abgezeichnet hat. Wer hätte es gedacht.
Während sich im Viertel gerade alles um zwei verschwundene Mädchen dreht, an deren Suche sich Arielle halbherzig beteiligt, sieht sie sich in die Vergangenheit zurückgeworfen. Denn auch ihre Mutter verschwand damals in ihrer Kindheit spurlos - ob freiwillig oder nicht, darüber scheiden sich die Geister. Gleichzeitig ist Varuna, ihre Großmutter, nach wie vor eine alles andere als einfache Persönlichkeit und das Zusammenleben mit ihr noch immer gewöhnungsbedürftig.
Ich sage es, wie es ist: Ich mochte den Einblick in diese sozialen und gesellschaftlichen Strukturen sehr, mit Schreibstil und Protagonistin hingegen bin ich überhaupt nicht zurechtgekommen. Die Sprache des Romans ist häufig grob, nahezu vulgär, und fügt sich so zwar gut in die Umgebung und Situation ein, hat mir aber zugleich den Zugang zum Roman erschwert. Arielles Charakter und ihr Verhalten waren ebenfalls nichts für mich; sie stellt zumeist ihr eigenes Befinden über das anderer, nimmt keinerlei Rücksicht auf ihre Mitmenschen. Ich hatte an vielen Stellen das Gefühl, dass die Geschichte „zu viel“ ist, zu überladen, um wirklich eintauchen zu können.
Am Ende war der Roman für mich wohl tatsächlich „Keine gute Geschichte“, aber zumindest auch keine ganz schlechte. Und seine Leser*innen wird er sicherlich finden.

Bewertung vom 12.03.2023
Malvenflug
Wiegele, Ursula

Malvenflug


weniger gut

Eine mährisch-kärntnerische Familie während des Zweiten Weltkriegs. Während Zwillinge Fritz und Lotte bei den Großeltern aufwachsen, geht ihr Bruder Alfred auf die Napola und ihre Schwester Helga verlässt die Familie, wird zu "Schwester Laura" und lebt fortan im Kloster. Der Vater ist Mitglied der NSDAP, die Mutter arbeitet im schweizerischen Davos, um die Schulden der Familie abbezahlen zu können. Im ersten Teil des Romans kommen alle Familienmitglieder zu Wort, abwechselnd aus den unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird hier in kurzen Kapiteln das Leben der Familie zwischen 1940 und 1945 beschrieben. Im zweiten Teil dann wird aus der Sicht Helgas erzählt, der ältesten Tochter der Familie, die inzwischen in Italien lebt.

Es fällt mir schwer, die richtigen Worte für diesen Roman zu finden. Er war nicht das, was ich mir erhofft hatte, alles in allem hat er mich doch einigermaßen enttäuscht zurückgelassen. Die kurzen, episodenhaften Kapitel im ersten Teil waren mir zu wenig verknüpft und wirken eher wie eine Aneinanderreihung von Momentaufnahmen als wie eine zusammenhängende Geschichte, die man mit Spannung verfolgt. Der zweite Teil hat diese Lücken dazwischen für mich leider auch nicht recht schließen können. Mit den Figuren wurde ich nicht ganz warm, ihr Schicksal war mir die meiste Zeit über ziemlich geichgültig, weil keine von ihnen mich in irgendeiner Weise packen konnte. Dafür blieb mir der Roman auch einfach zu emotionslos und nüchtern erzählt, ich hatte gar nicht den Eindruck, dass er seine Leser*innen überhaupt packen möchte.

Schlecht war der Roman nicht, und man kann ihn sicher ganz gut lesen, aber man kann es auch ganz gut einfach lassen.

Bewertung vom 01.03.2023
Männer sterben bei uns nicht
Reich, Annika

Männer sterben bei uns nicht


schlecht

Ich tue mich, wie wahrscheinlich die meisten, immer ein bisschen schwer mit negativen Rezensionen. Besonders dann, wenn ich eigentlich viel von einem Roman erwartet hatte, und das war hier der Fall. Ich meine, das Cover, whoa. Da denkt man doch sofort: Das muss toll werden, geht gar nicht anders. Naturgesetz. Umso bitterer ist dann die Enttäuschung, wenn man beim Lesen nicht recht in den Sog kommt, immer darauf wartet, dass da noch dieser eine Moment kommt, der einen packt und einfach mitreißt. Aber leider habe ich bei "Männer sterben bei uns nicht" vergeblich darauf gewartet.
Am Ende bleibe ich mit einem Gefühl zurück, das sich am ehesten mit "Ja ok, und nu?" beschreiben lässt. Keine Ahnung, was ich jetzt zu dem Roman sagen soll (wirklich nicht). Fand ich ihn schlecht? Nein. Fand ich ihn gut? Auch nicht wirklich. Es ist mehr so ein Dazwischen, irgendetwas hat gefehlt. Vielleicht waren auch die Erwartungen zu groß?
Anfangs fand ich die Wechsel zwischen den Zeitebenen verwirrend, aber das hat sich eigentlich recht schnell gelegt. Das war also weniger mein Problem. Auch, dass ich die meisten Figuren nicht wirklich mochte, ist in Ordnung. Die Handlung an sich war ebenfalls okay. Was stört mich also? Eigentlich nichts von dem, was da ist. Bleibt nur noch das übrig, was nicht da ist, oder was ich zumindest nicht finden konnte: Das, was die Autorin jetzt damit wollte. Für mich blieb das größtenteils im Dunkeln, und so habe ich die Lektüre spätestens ab der Hälfte als eher zäh empfunden. Einen roten Faden, etwas, das am Ende alles zusammenfasst und/oder auf den Punkt bringt, ein bisschen Licht in diesen Nebel bringt, das hätte ich mir gewünscht. Falls das da war, ist es mir wohl entgangen. Ich schätze, ich habe den Roman einfach nicht verstanden.

Bewertung vom 24.02.2023
Gleißendes Licht
Sinan, Marc

Gleißendes Licht


gut

Der Komponist Kaan, als Sohn eines Deutschen und einer Türkin in Deutschland geboren, reist für längere Zeit nach Istanbul. Dort wird er von der Vergangenheit seiner Familie eingeholt, vom Völkermord an den Armeniern und der fehlenden Aufarbeitung, die sich nun als Trauma durch die unterschiedlichen Generationen der Familie zieht.
So sehr ich mich auch auf den Roman gefreut hatte, so ernüchtert schlage ich ihn am Ende zu. Was eindringlich und vielversprechend begann, verläuft sich bald in zahlreichen Zeitsprüngen quer durch die Familiengeschichte. Die einzelnen Zeitebenen waren dabei zwar durchaus spannend zu lesen, ich hatte aber einfach das Gefühl, dass sich hier zu viele Fäden ineinander verwirren und am Ende allenfalls ein Knäuel bilden, aus dem lauter lose Enden rausragen. Mit dem Schreibstil hatte ich stellenweise dann auch noch so meine Probleme, weil es häufiger mal vorkommt, dass ein einzelnes Wort mehrmals hintereinander wiederholt wird - nicht tragisch, aber irgendwie überflüssig bis störend in meinen Augen.
Davon abgesehen mochte ich den Stil aber, das ist also ein eher kleinerer Kritikpunkt. Auch, dass mir Kaan fast den ganzen Roman hindurch unsympathisch war, kann ich verkraften, denn ein Buch braucht nicht unbedingt sympathische Charaktere, um gut zu sein, wenn denn der Rest stimmt. Was hier aber leider eher nicht der Fall war. Ich hatte mir mehr zum Thema Völkermord gewünscht, einfach eine tiefergehende Auseinandersetzung damit. Denn ja, das Thema wird mehrmals angesprochen und es wird auch ersichtlich, dass es einen großen Einfluss auf das Leben der Protagonist*innen hat; aber insgesamt war es mir doch zu knapp abgehandelt. Gegen Ende, ca. ab dem letzten Drittel, bin ich während des Lesens dann gedanklich immer häufiger abgeschweift, da hat mich der Roman dann nach und nach verloren.
Das war viel Kritik, durchweg schlecht fand ich den Roman aber trotzdem nicht. Sagen wir einfach, dass er mich dazu motiviert hat, mir an anderer Stelle mehr Informationen zu dem Thema anzulesen, und das ist doch auch schon was!

Bewertung vom 17.02.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


ausgezeichnet

Es ist 1945. Die Welt versinkt im Chaos, als Josef Ambacher gemeinsam mit seiner Familie und Hunderttausenden anderen Zivilisten aus Deutschland nach Kasachstan verschleppt wird. Alles, was sie bis dahin kannten, ist fort; sie müssen sich fortan in einem fremden Land, einer fremden Kultur, einer fremden Sprache zurechtfinden und sich an den Gedanken gewöhnen, fortan die Steppe ihr Heim zu nennen.
Jahrzehnte später, Josef hat inzwischen eine eigene Familie gegründet und konnte schon vor einer ganzen Weile nach Deutschland zurückkehren. Jetzt, 1990, findet er sich plötzlich in der Rolle derer wieder, die die Neuankömmlinge willkommen heißen. Denn nicht alle hatten so viel Glück, schon wenige Jahre nach der Verschleppung nachhause zurückkehren zu können; der weitaus größere Teil kommt jetzt erst nach, desorientiert, heimatlos. Josefs Tochter Leila ist noch ein Kind, als dieser ihr so fremde und doch merkwürdig vertraute Teil der Vergangenheit ihrer Familie Einzug in ihr Leben hält.

Beide Zeitebenen fügen sich großartig ineinander ein und vermitteln das Bild einer Suche nach Heimat und Heimkommen, stellen die Frage nach Zugehörigkeit und danach, wie es sich anfühlt, immer nur am Rand zu stehen und "fremd" zu sein. Die Beschreibungen dieser beiden Kindheiten, die vollkommen unterschiedlich verlaufen und doch so viel gemeinsam haben, sind eindrücklich und geprägt von Misstrauen und Angst, aber auch von Freundschaft und Menschlichkeit. Es ist also keinesfalls nur ein düsteres, bedrückendes Bild, das der Roman hier zeichnet; es gibt auch so viel Wärme in diesem Roman, im Leben Josefs und Leilas. Mich hat diese Geschichte jedenfalls sehr schnell in ihren Bann gezogen und ich hätte nach ihrem Ende auch noch eine ganze Weile weiterlesen können.

Bewertung vom 27.11.2022
Die Bücher, der Junge und die Nacht
Meyer, Kai

Die Bücher, der Junge und die Nacht


ausgezeichnet

Leipzig, 1933: Buchbinder Jakob Steinfeld verliebt sich in die geheimnisvolle Juli, die hofft, bei ihm ein Manuskript binden lassen zu können. Doch dann überstürzen sich die Ereignisse, und Juli verschwindet.
Leipzig, 1943: Der Krieg ist in vollem Gange, als ein mysteriöser Fremder einen kleinen Jungen und ein Buch aus den brennenden Ruinen eines Hauses rettet. Der Junge wird ihn von nun an begleiten, und gemeinsam werden sie Jagd auf viele weitere Bücher machen.
Leipzig, 1970er: Robert Steinfeld, der Sohn Jakobs und ebenfalls ein großer Bücherfreund, begleitet eine Kollegin, die die Bibliothek der alten Verlegerfamilie Pallandt auflösen soll. Dabei finden sie Bücher, die es eigentlich gar nicht geben dürfte.

Die Geschichte um die beiden Familien Steinfeld und Pallandt vereint jede Menge Bibliophilie, den Untergang des Graphischen Viertels während der Bombenangriffe im Dezember 1943 und die großartig erzählte Suche nach den Geheimnissen der Vergangenheit in sich. Wie immer ist es Meyer dabei ganz wunderbar gelungen, die beschriebenen Szenen in all ihren Details vor meinem inneren Auge auferstehen zu lassen. Die drei Zeitebenen ergänzen sich perfekt und erzeugen einen Spannungsbogen, der den ganzen Roman über aufrechterhalten wird. Die Figuren sind sympathisch und erlauben es sehr schnell, mit ihnen mitzufiebern, während im Hintergrund Krieg und Nationansozialismus schwelen. Das Besondere an Meyers Romanen ist für mich, dass sich in ihnen immer ein Hauch Phantastik verbirgt, dass sie bestens ohne großen Kitsch auskommen und nach spannenden Lesestunden, wenn man mühsam wieder aus ihnen auftaucht, zufrieden zurücklassen.

Große Leseempfehlung für alle Meyer-Fans und solche, die es noch werden wollen!

Bewertung vom 04.10.2022
Verbrenn all meine Briefe
Schulman, Alex

Verbrenn all meine Briefe


ausgezeichnet

Aex Schulmans erster Roman war ein Jahreshighlight für mich. Klar also, dass auch "Verbrenn all meine Briefe" hier einziehen musste - und das hat sich gelohnt.

In seinem Roman rekonstruiert der Autor die Geschichte seiner Großmutter Karin, die mit Anfang 20 den seinerzeit erfolgreichen schwedischen Schriftsteller Sven Stolpe heiratet. Das, was sie anfänglich für bloße Exzentrik gehalten hat, wird bald zu extremer Reizbarkeit, Kontrollzwang und Unterdrückung, sodass Karin stets auf der Hut sein muss vor den Unberechenbarkeiten ihres eigenen Mannes. Kein Wunder, dass sich die zarten Gefühle, die sie dann mit 24 für einen anderen Mann entwickelt, wie der langersehnte Ausweg anfühlen. Der Roman berichtet von den Ereignissen, die sich 1932, dem Jahr des Kennenlernens von Karin und Olof, abspielten.

Die Tyrannei Svens und sein hohes physisches und psychisches Gewaltpotenzial sind dabei ständig spürbar, Karins zunehmende Verzweiflung und Angst davor, bei ihrem Mann zu bleiben, aber auch davor, was er tun wird, sollte er je hinter die geheime Beziehung kommen oder sollte sie ihn gar verlassen. Ihre Zerissenheit zwischen dieser Angst und der Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben, auf ein Entkommen hin zu einem Mann, der sie so viel besser behandelt, der auf und an ihrer Seite steht - all das wird im Roman unglaublich greifbar und geht gleich nochmal viel näher, wenn man sich bewusst macht, dass das nicht nur fiktiv und vom Autor erfunden, sondern seine ganz persönliche Familiengeschichte ist.

Der Roman ist keine leichte Kost und dessen sollte sich jede*r vor der Lektüre bewusst sein. Karins Geschichte geht nahe und nimmt mit, weil man sich die ganze Zeit über nichts sehnlicher für sie wünscht, als endlich aus dieser toxischen Beziehung und der explosiven Dreieckskonstellation entkommen zu können.
Für mich ist "Verbrenn all meine Briefe" ein Roman von überraschender Intensität und Tiefgründigkeit, den ich regelrecht verschlungen habe. Er ist hart, lohnt sich aber wirklich.

Bewertung vom 17.09.2022
Die Kriegerin
Bukowski, Helene

Die Kriegerin


ausgezeichnet

"Die Kriegerin" hat etwas, dem ich mich beim Lesen kaum mehr entziehen konnte (und das, offen gesagt, auch gar nicht wollte). Vielleicht sind es die Verletztheit und das langsame, vorsichtige Sich-Öffnen der beiden Protagonistinnen, vielleicht die Schönheit der klaren Sprache, vielleicht das Gefühl, dass das alte Leben eigentlich doch nur ein Provisorium ist, ein Übergang, in dem man irgendwie steckengeblieben ist und sich jetzt fragt, warum eigentlich, und ob es da nicht noch mehr gibt, ob es da nicht noch Dinge zu entdecken gibt in den Weiten der Welt, am Ende vielleicht sogar sich selbst tief verborgen unter der alles erstickenden Decke der Vergangenheit, die erst Schicht um Schicht abgetragen werden muss wie die Kruste längst verschorfter Wunden, bevor darunter etwas Neues zum Vorschein kommen kann.

Als Lisbeth klar wird, dass sie die erdrückende Last der Mutterschaft und ihrer Neurodermitis nicht länger ertragen kann, flüchtet sie überstürzt an die Ostsee, den einzigen Ort, der ihr in ihrer Kindheit Linderung verschaffen konnte. Dort begegnet sie der Kriegerin, die sie vor Jahren während der Grundausbildung bei der Bundeswehr kennengelernt hat. Auch die Kriegerin ist auf der Flucht, doch wovor, das bleibt lange im Verborgenen. Klar ist, dass beide Frauen tief traumatisiert sind und schon vor langem einen Schutzpanzer umgelegt haben, und dass dieser inwischen so sehr Teil ihrer selbst geworden ist, dass er kaum mehr durchdrungen, geschweige denn abgestreift werden kann. Und obwohl dieser Panzer ihr Inneres vor der Außenwelt verbirgt, kann er die Frauen selbst nicht dauerhaft vor dem Einsturz des fragilen Konstrukts schützen, zu dem ihr Leben geworden ist.