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Benutzername: 
dozzeline
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 24 Bewertungen
Bewertung vom 06.10.2019
The Wonderful Wild
Neitzel, Gesa

The Wonderful Wild


ausgezeichnet

„Wir können die Erde nicht lieben, ehren und respektieren, solange wir uns selbst nicht lieben, ehren und respektieren.“

Gesa Neitzels zweites Buch ist anders. Man könnte das Buch als Lebensratgeber bezeichnen, als Achtsamkeitsleitfaden, als Geschichtensammlung über die afrikanische Wildnis – und all das wäre zu kurz gegriffen. „The Wonderful Wild“ möchte uns mitnehmen auf eine Reise in die Wildnis und zu uns selbst und wenn man Gesa Neitzel Glauben schenkt, besteht darin gar kein so großer Unterschied.

In vielen kleinen Anekdoten aus ihrem Leben als Safarirangerin vermittelt die Autorin spannende Informationen über das Leben afrikanische Wildtiere vom kleinen Termitenhaufen bis zur Elefantenherde. Ein besonderes Augenmerk legt sie dabei auf das Sozialverhalten der Tiere, untereinander aber auch zu anderen Arten. Gleichzeitig werden all diese Geschichten in einen Kontext zu unserem „westlichen“ Leben gestellt, zu unserem gesellschaftlichen Umgang, zu unserer Gesellschaftsform und zu unserem Selbstverständnis. Gesa Neitzel schafft es dabei, einen Bogen zu schlagen von der Wanderung der Gnus zum Artensterben, zu aktuellen politischen Krisen, zu Fridays for Future und zur Zunahme von Depressionen und anderer psychischer Krankheiten. Dabei wirken diese Parallelen und Gegenüberstellungen nie konstruiert, vielmehr nutzt die Autorin die Geschichten der Wildtiere, um uns auf unsere Verhaltensmuster aufmerksam zu machen und Alternativen aufzuzeigen. Und trotz all der welt- und klimapolitischen Krisen, schafft es die Autorin, einen unaufgeregten, optimistischen Grundton zu bewahren, in dem festen Glauben, dass eine andere, eine bessere Welt möglich ist, sofern es uns gelingt, unsere Intuition, unseren „inneren Elefanten“ wieder zu entdecken und uns wieder als Teil der Natur zu sehen.

Da ich das erste Buch der Autorin nicht gelesen habe, fällt mir natürlich jeglicher Vergleich schwer. Grundsätzlich bleibe ich bei meiner Aussage: dieses Buch ist anders und lässt sich dementsprechend nur schwer in eine Schublade stecken. Mich hat das Buch zu einer Zeit in meinem Leben gefunden, in der ich mich viel zu häufig dabei ertappe, morgens mit schlechter Laune aufzuwachen und schon gar keine Lust mehr auf diesen Tag zu haben. Mit der Ausgangssituation, die die Autorin zu Beginn des Buchs schildert, konnte ich mich also nur zu gut identifizieren. Viele ihrer Ideen und Denkanstöße werde ich auf jeden Fall versuchen in mein Leben zu integrieren und hoffe, so auch meinem „inneren Elefanten“ wieder ein wenig näher zu kommen.

Bewertung vom 23.09.2019
Menschen neben dem Leben
Boschwitz, Ulrich Alexander

Menschen neben dem Leben


sehr gut

Berlin während der Wirtschaftskrise. Die Stadt wird bevölkert von einem Heer der Abgehängten – Arbeitslose, Bettler, Kriegsveteranen, Prostituierte, Kleinkriminelle. Mühsam halten sie sich tagsüber über Wasser und strömen abends in „Den fröhlichen Waidmann“, um ihre Sorgen zu vergessen. Dort ergeben sich neue Möglichkeiten und die Situation zwischen dem blinden Bettler Sonnenberg und dem Arbeitslosen Grissmann eskaliert.

Bei „Menschen neben dem Leben“ handelt es sich um das Erstlingswerk des damals 22-jährigen Autors Ulrich Alexander Boschwitz, das nun nach seinem zweiten Werk „Der Reisende“ zum ersten Mal auf Deutsch erscheint. Boschwitz hat für sein junges Alter einen sehr reifen Blick auf seine Mitmenschen und fängt Zwischenmenschliches geschickt ein. Er nimmt seine Protagonisten ernst, begegnet ihnen aber trotzdem oft mit Humor und feiner Ironie. Der Schreibstil ist flüssig, so dass es Spaß macht, sich auf die anfangs etwas eigenwillig erscheinende Geschichte einzulassen.

Auch als historisches Dokument über das Leben der Berliner Unterschicht Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre ist „Menschen neben dem Leben“ ein spannender Roman. Die Situation stellt sich für viele der Charaktere trostlos dar. Frauen haben nach wie vor kaum Rechte; auf der Straße regiert meist der Stärkere; ein Teil der Charaktere hat nach allen Entbehrungen sämtliche Hoffnung aufgegeben, andere sind nach Jahren der aufgestauten Wut bereit, über Leichen zu gehen. Erstmals erschienen 1937, blitzen innerhalb der Erzählung bereits erste Vorzeichen der Katastrophe auf, auf die das Land in den nächsten Jahren zusteuern wird. So kursieren auf der Straße zum Beispiel Gerüchte bezüglich der Freimaurer und der jüdischen Weltverschwörung.

„Menschen neben dem Leben“ eröffnet eine neue Perspektive auf das Leben zwischen den Weltkriegen und das Elend vieler Menschen, das letztendlich das Aufsteigen der Nationalsozialisten ermöglichte. Auch in der heutigen Zeit noch/wieder ein wichtiges Buch.

Bewertung vom 17.09.2019
Ein anderer Takt
Kelley, William Melvin

Ein anderer Takt


ausgezeichnet

Tucker Caliban, ein junger schwarzer Mann aus der kleinen Stadt Sutton im Süden der USA, brennt seinen Hof nieder, tötet sein Vieh und kehrt mit seiner Familie dem Bundesstaat den Rücken. Ihm folgen innerhalb weniger Tage alle schwarzen Bewohner Suttons. Ratlos beobachten ihre weißen Nachbarn das Geschehen und machen sich ihre ganz eigenen Gedanken…

Mit „Ein anderer Takt“ erscheint dieses Jahr eine Neuauflage von William Melvin Kelleys erstem Roman „A Different Drummer“, der seit seiner Erstveröffentlichung 1962 zunehmend in Vergessenheit geraten ist und dabei leider kaum an Relevanz verloren hat. Dem eigentlichen Roman vorangestellt ist ein kurzes Vorwort von Kathryn Schulz, das das Leben und vor allem das Gesamtwerk Kelleys beleuchtet und den entsprechenden Kontext für die Lektüre liefert.

Mit Sutton schuf Kelley eine relativ durchschnittliche Südstaatenkleinstadt der 60er Jahre. Es existiert eine unausgesprochene Zwei-Klassen-Gesellschaft; die Nachfahren der Sklaven arbeiten zu einem großen Teil noch für dieselben Familien, denen ihre Vorfahren dienen mussten. Das Wort „Nigger“ ist in besseren gesellschaftlichen Kreisen zwar inzwischen verpönt, begegnet dem Leser aber doch alle Nase lang. Auffallend ist, dass die afroamerikanischen Bewohner Suttons mit ihrem „Auszug aus Ägypten“ zwar die Akteure der Geschichte darstellen – erzählt wird diese aber ausschließlich aus Sicht der weißen Bevölkerung, die damit auch die Deutungshoheit über die Ereignisse für sich beansprucht. Geschildert werden die einzelnen Kapitel aus Sicht unterschiedlicher Charaktere, so kommen außer der Familie Willson, für die die Calibans seit Generationen arbeiten, auch die einfachen Männer aus der Stadt zu Wort. Empathisch zeichnet Kelley jeden einzelnen seiner Charaktere. Besonders herausgestochen haben für mich jedoch die Kapitel aus Sicht des achtjährigen Mister Leland.

William Melvin Kelley versteht es, den Leser mit seinem schlichten und doch poetischen Schreibstil zu fesseln. Des Öfteren musste ich beim Lesen eine kurze Pause einlegen, um mir einzelne Sätze noch einmal auf der Zunge zergehen zu lassen. Das Beeindruckendste an diesem Roman ist für mich jedoch die Differenziertheit, mit der Kelley den Rassismus in Sutton zeichnet, der sich während der Erzählung auf einer feinen Linie zwischen subtil und brutal bewegt, und den Leser so immer tiefer in das soziale Gefüge der damaligen Zeit zieht.

Mich konnte der Autor in den letzten Tagen trotz engem Zeitplan definitiv fesseln. Aus dem Kopf gehen wird mir diese Geschichte nicht so bald. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 17.09.2019
Der Sprung
Lappert, Simone

Der Sprung


ausgezeichnet

Die Kleinstadt Thalbach ist in Aufruhr. Auf dem Dach eines Wohnhauses steht eine junge Frau – mutmaßlich suizidgefährdet. Die Rettungskräfte sind überfordert, schnell bilden sich schaulustige Menschentrauben. Doch auch für elf weitere Menschen in Thalbach ändert dieser Tag, diese Frau auf dem Dach, alles.

Erzählt werden die Ereignisse der zwei Tage deshalb auch aus elf verschiedenen Perspektiven. Die zunächst unbekannte Frau auf dem Dach kommt selber nur in Pro- und Epilog zu Wort. Simone Lappert gelingt es meisterhaft, all diesen unterschiedlichen Charakteren Leben und Persönlichkeit einzuhauchen. Da wäre Winnie, eine Teenagerin, die sich täglich Mobbing ausgesetzt sieht und an ihrer sozialen Isolation leidet, oder Egon, ein ehemaliger Hutmacher, der den Verlust seines Ladens bis heute nicht verwunden hat und als Vegetarier an seiner neuen Arbeit in der Fleischfabrik zugrunde geht. Die Frau, die aus ihrer erdrückenden Beziehung flieht; der Obdachlose, der mit seinen außergewöhnlichen Fragen zum Nachdenken anregt; der junge Mann, der nicht mehr wirklich sicher ist, was er sich vom Leben zu erwarten hat. Besonders interessant fand ich auch die Geschichte von Felix, einem der Polizisten vor Ort, der nach all der Zeit nicht mehr vor seiner eigenen Vergangenheit davon laufen kann.

Die Sprache ist psychologisch dicht und poetisch angehaucht. Einige Sätze möchte man sich anstreichen und an möglichst viele Wände schreiben. Dabei bleibt Simone Lappert ihren Charkateren gegenüber durchgehend empathisch.

Das ist einer dieser Romane, dessen Ausdrucksstärke begeistert, dessen Charaktere man ins Herz schließt und deren Geschichten man mit sich trägt, auch nachdem man die letzte Seite umgeschlagen hat.