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Bücherbummler

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Insgesamt 110 Bewertungen
Bewertung vom 14.01.2023
Jahre mit Martha (MP3-Download)
Kordi?, Martin

Jahre mit Martha (MP3-Download)


sehr gut

Željko, Sohn einer Migrantenfamilie aus Bosnien-Herzegowina, ist 15, als er die 25 Jahre ältere Arbeitgeberin seiner Mutter kennenlernt. Martha stammt aus einer Welt, die alles enthält, was Željko in seiner vermisst: Wohlstand, Bildung, aber vor allem Souveränität. Auch Martha, die nicht nur verheiratet, sondern auch Mutter ist, fühlt sich von dem Jungen angezogen, hält aber Abstand. Erst als Željko Student ist, beginnt die Affäre der beiden richtig, eine ungewöhnliche Beziehung, die aus der Norm fällt, aber beiden zu geben mag, was ihnen fehlt.

Geschichten über Beziehungen mit einem Altersunterschied von 25 Jahren sind kritisch, besonders, wenn ein Teil des Paares besonders jung ist. Sie sind außerdem noch einmal befremdlicher - Emanzipation hin oder her - wenn die Frau der ältere Part ist. Die Konstellation ist riskant, der Grat schmal. Der Autor kann schnell in entweder unerträglichen Kitsch oder psychologische Untiefen mit hohem “Cringe-Faktor” abrutschen. Martin Kordić passiert das in seinem zweiten Roman “Jahre mit Martha” nicht. Kordić bleibt nüchtern, lässt die Banalität, die jeder Liebesbeziehung in der Realität anhaftet, durchschimmern, verzichtet auf den großen Herzschmerz und Gefühlszermürbungen seiner Protagonisten. Das ist ausgesprochen angenehm und schenkt dem Roman einiges an Gewicht.

Dadurch, dass wir das Geschehen aus der Sicht Željkos hören, bleibt Marthas Seite weitestgehend ein schwarzer Fleck. Trotzdem ist sie es, die die Fäden in der Hand hat, die bestimmt, was wann und wo passiert. Oder eben nicht. Auch sie und Željko nutzen einen schmalen Spielraum, in dem die Grenzen zwischen Gefühlen und Bedürfnissen, zwischen Zuneigung, Zweckgemeinschaft und Ausnutzung verwischen.

Aber der Roman ist mehr als nur die Geschichte eines jungen Mannes, der sich in eine um einiges ältere Frau verliebt. Er ist vor allem die eines Menschen, der nach Heimat und Zugehörigkeit sucht. In diesem Sinne ist Martha eher die Verkörperung dessen, was Željko in seinem Leben anstrebt, als die Frau, mit der er dieses teilen möchte. Und dadurch der Roman vielschichtiger, als man auf den ersten Blick meint.

Komplett überzeugen konnte mich “Jahre mit Martha” aber letztendlich nicht. Was mir als Erstes auffiel, war, dass meine inneren Bilder nicht mit der Zeit übereingestimmt haben, in der der Roman tatsächlich spielt. Ob ich unbewusst von dem Cover beeinflusst wurde oder ob es an der Sprache lag, kann ich im Nachhinein nicht sagen. Ich befand mich jedenfalls durchgehend in den 1940er oder 50er Jahren und war verwirrt über den fortschrittlichen Zustand der verwendeten Technik.

Wesentlicher ist aber, dass es mir nicht gelang, einen wirklichen Zugang zu Željko und Martha zu finden. So stabil und dramaturgisch korrekt aufgebaut der Roman auch sein mag, mitgerissen wurde ich nicht.

Dafür bekommt die Hörbuchversion mit Julian Mehne als Sprecher einen eindeutigen Zugewinn. Er ist ein überzeugender Željko, der einen souverän durch die Geschichte führt.

Zusammengefasst hat mich an “Jahre mit Martha” der klare Stil mehr überzeugt, als der Inhalt. Er gehört zu den Romanen, die ich vor allem mit dem Kopf gelesen habe, weil er mich innerlich nicht ganz erreicht hat. Durchaus lesenswert, aber für mich keines der ganz großen Leseerlebnisse.

Bewertung vom 03.01.2023
Was man von hier aus sehen kann
Leky, Mariana

Was man von hier aus sehen kann


ausgezeichnet

Immer wenn Luises Großmutter Selma von einem Okapi träumt, stirbt jemand in ihrem Dorf. Ist es wieder soweit, lässt es sich nicht vermeiden, dass sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet, den Alltag lahmlegt und die Bewohner dazu bewegt, mit ihrem Leben aufzuräumen, Geheimnisse zu gestehen und zu wagen, was sie sich vorher nicht getraut hätten (oder es zumindest anzudenken). Doch dann greift der Tod eines Tages dort zu, wo keiner damit gerechnet hätte.

Ich habe mich Hals über Kopf in “Was man von hier aus sehen kann” von Mariana Leky verliebt. Zum einen lag das an ihrem wunderbaren Stil. Dem feinen und intelligenten Humor, der charmant und gleichzeitig tiefsinnig ist, und sich vor allem nicht abnutzt, wie es oft passiert, wenn Autoren sich an einem eigenen Ton versuchen. Den frischen Metaphern, die so ungewohnt und trotzdem treffend sind. Der Sprache, die frisch und aufregend ist, und trotzdem vertraut und klar wirkt.

Aber auch den wundervollen Protagonisten, die Leky entstehen lässt. Von eigentlich jeder Realitätsnähe widersprechen, und doch so echt und greifbar sind, wie liebgewonnene Bekannte. Figuren von der Art, die man am Ende persönlich zu kennen meint.

Und Sandra Hüller als Sprecherin rundet das Gesamtbild wunderbar ab. Eigentlich bin ich der politisch unkorrekten Ansicht, dass Männer die besseren Hörbuchsprecher sind, aber besser als Hüller hätte man es nicht machen können. Ihre Interpretation spiegelt Lekys Sprache, als würde beides von jeher zusammengehören.

Würde man mich mit vorgehaltener Waffe zwingen, etwas über diesen Roman zu sagen, dass nicht nach einem leicht angeheiterten Teenager klingt, könnte ich höchstens anmerken, dass “Was man von hier aus sehen kann” kein Buch ist, dass einem im tiefsten trifft und Welten bewegt. Muss es aber auch nicht. Es sind nicht immer nur die umwälzenden Dramen, die wir in uns bewahren. Ganz große Lese-/Hörempfehlung!

Bewertung vom 30.12.2022
Porträt einer Ehe
O'Farrell, Maggie

Porträt einer Ehe


gut

Eigentlich ist ihre Schwester Maria de’ Medici, die Alfonso d’Este als Gattin versprochen ist. Doch als diese unerwartet stirbt, muss Lucrezia ihren Platz einnehmen, um die Bande zwischen Florenz und Ferrara zu stärken. Gerade 13 Jahre alt ist sie da. 15, als sie schließlich, nach einem längeren Auslandsaufenthalt ihres Mannes, Ferrara als Herzogin betritt. Als Tochter ihrer Zeit und ihres Standes meint sie zu wissen, was von ihr erwartet wird, muss aber schnell feststellen, dass sie für Alfonso nur einen Zweck erfüllen soll: die Sicherung seiner Machtposition durch die Geburt eines männlichen Erbens. Anders als ihr Vater Cosimo de’ Medici hat Alfonso keinerlei Interesse daran, seiner Frau irgendeine Rolle jenseits der der zukünftigen Mutter zuzugestehen, nicht einmal als seine Vertraute. Und Lucrezia begreift schnell, dass ihr Mann mehrere Gesichter hat. Und dunkle Seiten, die auch für sie zu einer Gefahr werden können.

Frei heraus gesagt: “Porträt einer Ehe” von Maggie O’Farrell hat meine Erwartungen nicht erfüllt. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich ihren Roman “Hamnet” gelesen habe und so beeindruckt war, dass ich unbedingt mehr von dieser Autorin lesen wollte. “Porträt einer Ehe” habe ich leider als ungleich blasser, stellenweise fast banal empfunden.

Ich kann nicht beurteilen, ob auch die Übersetzung für mein Empfinden eine Rolle gespielt hat. “Hamnet” habe ich im Original gelesen und es ist durchaus möglich, dass mein Sprachgefühl in einer Sprache, die nicht meine ist, gröber ausfällt. Ich folglich weniger empfindlich auf Klang und Fluss reagiere. Aber den wirklichen Schwachpunkt sehe ich vor allem in der Gestaltung der Figur Lucrezias. Farblos und undefiniert fällt mir dazu als Erstes ein.. Undefiniert über den Rahmen hinaus, der für ein junges Mädchen aufgrund seines Mangels an Lebenserfahrung zu erwarten ist. Es war ein wenig, als wäre O’Farrell sich nicht sicher gewesen, wie sie diesen Charakter anlegen soll. Freiheitsliebend und stark, oder doch eher ihrer Situation ergeben und schüchtern. Mir ist durchaus klar, dass eine Person beides vereinen kann, aber gerade das fand ich nicht gelungen.


Trotzdem gelingt es O’Farrell zu vermitteln, was es für eine junge Frau zu Lucrezias Zeit bedeutet hat, in erster Linie ein Unterpfand der politischen Schachzüge ihres Vaters zu sein. Einer Situation gerecht werden zu müssen, für die sie viel zu jung ist. Die ihr, auch unabhängig vom Alter, nie hätte zugemutet werden dürfen. O’Farrell nimmt sich ihre historischen Freiheiten, aber sie übertritt die Linie zur Unglaubwürdigkeit nie. Na ja, fast nie…

“Porträt einer Ehe” ist kein schlechtes Buch, ich habe es durchaus mit Interesse gelesen. Aber am Ende hat es dem direkten Vergleich mit dem atmosphärisch und psychologisch so dichtem “Hamnet” nicht standhalten können. Ich würde niemanden davon abraten, es zu lesen, aber mein Urteilsspruch geht leider eher in Richtung Prädikat “Kann man lesen, muss man aber nicht”.

Bewertung vom 28.12.2022
Brief an meinen Vater
Roulet, Daniel de

Brief an meinen Vater


sehr gut

97 Jahre alt ist Daniels Mutter, als sie beschließt, ihrem Leben mit “EXIT”, einem Verein für Sterbehilfe, ein Ende zu setzen. Schwer ist es geworden, die Schmerzen lassen sich auch mit Morphium nicht mehr kontrollieren, Aussicht auf Besserung gibt es keine. Zwei Wochen sind es bis zu dem Termin. Zwei Wochen, in denen Daniel seinem schon sechs Jahre früher verstorbenem Vater einen Brief schreibt. Einen Brief, in dem er über seine Mutter spricht, aber auch über die Vergangenheit, Glaubensfragen und natürlich den Tod.

Wie soll man einen Brief besprechen? Wäre “Brief an meinen Vater” von Daniel de Roulet ein Roman, dann würde ich mich jetzt versucht fühlen einzuwenden, dass mir das ganze Szenarium nicht glaubwürdig erscheint. Dass ich nicht wüsste, warum ein Sohn, der in wenigen Tagen für immer Abschied von seiner Mutter nehmen muss, seinem Vater schreibt. Und in diesen Briefen auch keine konkret fokussierten Fragen angeht. Themen, die in der Situation kaum relevant scheinen, anschneidet. Sie, fast halbherzig, dreht und wendet und wieder fallen lässt. Was will uns der Autor denn damit denn bitte schön sagen, würde ich fragen, und dabei ein klein wenig ungehalten dreinblicken.

Aber “Brief an meinen Vater” ist kein Roman. Hier hat sich ein Sohn, der zufällig auch noch Schriftsteller ist, hingesetzt, und die Verbindung zu seinem Vater, einem Pastor, gesucht, um seine Gedanken zu ordnen, oder vielleicht auch einfach nur loszuwerden. Seine Art, große Themen wie Sterben, Tod und Religion zu behandeln. Und damit bin ich all meiner Einwände entledigt. Realität kann ich nicht kritisieren, Realität ist, was sie ist, wie sie ist.

Aber muss man mit einem so persönlichen Schreiben wirklich an die Öffentlichkeit gehen? Daniel de Roulet scheint generell nicht abgeneigt, seine privateren Seiten mit der Welt zu teilen. So soll er auch einen Brandanschlag auf eine Villa Axel Springers verübt und sich in einer publizierten Schrift dazu bekannt haben - klugerweise erst, als die Tat verjährt war. Was ich aber an “Brief an meinen Vater” sehr angenehm fand, ist, dass das Buch nichts voyeuristisches an sich hatte. Weder hat man als Leser das Gefühl, in einen Bereich einzudringen, der eigentlich zu privat ist, noch hat der Autor sich oder seine Familie so weit entblößt, dass es einem Ausschlachten der Situation auch nur annähernd nah kam. Wie de Roulet diese feine Balance zwischen tiefem Einblick und respektvollem Abstand gehalten hat, fand ich beeindruckend.

“Brief an meinen Vater” ist ein dünnes Büchlein mit großem Inhalt. Ein Büchlein, das wegen seiner Thematik nicht immer einfach zu ertragen ist. Allgemeingültige Antworten und Erkenntnisse liefert es keine, kann es keine liefern. Aber Aspekte, die für jeden von uns von Relevanz sind, und eine unmittelbare persönliche Nähe, die auch kostbar ist. Und damit erklärt sich womöglich, warum es herausgegeben wurde. Und sollte.

Bewertung vom 26.12.2022
Stella Maris
McCarthy, Cormac

Stella Maris


ausgezeichnet

Wisconsin 1972. Die gerade erst 20-jährige Alicia, eine geniale Mathematikerin, weist sich selbst in die psychiatrische Klinik “Stella Maris” ein. Sie sei, so erklärt sie, auf der Flucht. Auf der Flucht vor Ärzten, die sie überreden wollen, die Maschinen abzustellen, die ihren Bruder Bobby am Leben halten. Alicia ist nicht zum ersten Mal in einer psychosomatischen Einrichtung. Ihre Diagnose: paranoide Schizophrenie. Die Gespräche, die sie mit ihrem Therapeuten führt, offenbaren nicht nur ihr Genie, sondern auch einen Geist, der über die Grenzen dessen, was wir als gegeben betrachten, hinausblicken kann. Der in der Lage ist, Blickwinkel einzunehmen, die weitab der ausgetrampelten Pfade liegen.

"Stella Maris” ist mein zweiter Roman von Cormac McCarthy. Nach “The Road”, das so viel Begeisterung und den Pulitzer Preis eingeheimst, mich aber nur halb überzeugen konnte, war ich anfänglich eher misstrauisch, dann aber schnell vollauf begeistert. Und das, obwohl McCarthy gleich zwei Regeln bricht, die ich eigentlich essentiell für einen guten Roman finde: dass eine komplexe und möglichst stringente Geschichte erzählt wird und dass der Inhalt nicht zu weit über meinen eigenen Horizont hinauswächst. Was die Handlung betrifft, so konnte ich noch ein Auge zudrücken. Da das Buch komplett aus den Protokollen von Alicias Therapiesitzungen besteht, muss man sich das Geschehen zwar aus Momentaufnahmen zusammenklauben, aber es gibt genau genommen eins, auch wenn es nicht im Mittelpunkt steht. Intellektuell war ich allerdings über lange Strecken haushoch unterlegen. Doch auch das hat nicht gestört, denn Alicia ist eine so faszinierende Person, dass man ihr nur zu gerne folgt.

Und damit wären wir bei Regel Nr. 3, die McCarthy dann, zum Ausgleich sozusagen, mehr als erfüllt: interessante, vielschichtige und überzeugende Protagonisten. Es ist eigentlich nicht fair, zwei Bücher miteinander zu vergleichen, aber da mich gerade vor kurzem “Elizabeth Finch” von Julian Barnes so gar nicht überzeugen konnte und beide eine Frau mit akademischem Hintergrund im Fokus haben, komme ich nicht drumherum. McCarthys Alicia ist einfach alles, was Barnes’ Elizabeth eben nicht ist, aber sein soll. Alicia kann den Leser zu Gedanken führen, über die er noch nie zuvor nachgedacht hat, sie ist hochgradig originell, faszinierend, aber vor allem eines: glaubwürdig. Eine Bekanntschaft mit ihr ist auch jenseits des eigenen Verständnisses lohnend.

Ein weiterer Gewinn für jene, die das Glück haben, sich für die Hörbuchversion entschieden zu haben, ist der Sprecher. Vor gar nicht so langer Zeit hätte ich noch behauptet, dass mein persönliches Universum bester deutscher Sprecher - ich denke da an Stimmen wie Hans Paetsch, Gert Westphal und Peter Matić - leider komplett ausgestorben ist. Mit der Entdeckung Christian Brückners hat sich dieser Zustand glücklicherweise geändert. Wie Brückner “Stella Maris”, das mit seinem Dauerdialog bestimmt nicht einfach zu lesen ist, durch feinste Nuancen in der Stimme zu einem klar unterscheidbaren und spannenden Gespräch macht, ist schlicht großartig. Brückner gehört zu der Kategorie, bei der es sich lohnt, ein Hörbuch nicht nach Autor oder Titel auszusuchen, sondern nach Interpreten.

Für jene, die sich jetzt noch fragen sollten, ob sie vor “Stella Maris” erst noch McCarthys erstaunlicherweise viel schlechter bewertetes “Der Passagier” lesen müssen: nein, müssen sie nicht. An “Stella Maris” wird gerne #2 angehängt, aber laut Autor handelt es sich nicht um eine klassische Fortsetzung, sondern um ein “companion book”. Ich selbst kenne “Der Passagier” bisher nicht, hatte aber nie das Gefühl, nicht ausreichend informiert zu sein. Ich bin allerdings, da beide einander negieren sollen, schon neugierig. Und da Christian Brückner auch in dem Fall als Sprecher fungiert, werde ich mir sicher noch eine erweiterte und kompetentere Meinung aneignen. Eines gibt es aber jetzt schon: Meine große Hörempfehlung!

Bewertung vom 20.12.2022
Raben
Bugnyar, Thomas

Raben


sehr gut

Preusslers kleine Hexe hat einen, Diseneys Gundel Gaukeley auch. Der Gott Odin/Wotan konnte sich in einen verwandeln und besaß gleich zwei. Bei Edgar Allan Poe bringt ein dreisilbiges Exemplar eine unliebsame Botschaft, Hitchcock lässt ungeniert gleich einen ganzen Schwarm auf die arme Tipi Hedren los.

Raben haben bei uns Menschen keinen besonders guten Stand. Sie galten als Indikatoren für Hexen und als Todesboten, wir sprechen von Unglücksraben und Rabenmüttern. Das mag zum einen an ihrer Farbe liegen (tatsächlich ist es selbst in unserer Zeit für Tierheime noch schwerer, schwarze Katzen und Hunde zu vermittelt, als ihre helleren Leidensgenossen), an der für unsere Ohren nicht gerade lieblichen Stimme, aber vielleicht vor allem an ihrer Vorliebe für Kadaver. Stichwort: ausgehackte Augen.

Dass unsere Vorurteile größtenteils ungerecht oder zumindest Zeichen einer egozentrischen Anschauung sind, zeigt der österreichische Verhaltensforscher Thomas Bugnyar in seinem Buch “Raben - Das Geheimnis ihrer erstaunlichen Intelligenz und sozialen Fähigkeiten”. Wobei ich den Titel etwas irreführend finde. Falls ein Geheimnis gelüftet wurde, habe ich es schlicht verpasst. Wie dem auch sei, interessant ist das Buch auf jeden Fall. Bugnyar bringt uns nicht nur die Tiere (vor allem Kolkraben) näher, sondern gibt uns auch einen Einblick in die Arbeit der Wissenschaftler. Wir erfahren, wie Fragen entstehen, wie diese Fragen angemessene Tests entwickelt werden und schließlich auch, wo der praktische Gewinn der aus dieser Arbeit gewonnenen Ergebnisse liegt.

Ich werde mir verkneifen, mich zu dem Thema “Haben wir Menschen das Recht, in das Leben von Tieren einzugreifen, nur weil wir sie erforschen wollen?” zu äußern, denn dann hätten wir ganz schnell eine Abhandlung mit erhobenem Zeigefinger anstelle einer Buchbesprechung. Bugnyar selbst gibt dieser Frage in seinem Buch viel Raum und bringt Argumente, die nicht ganz von der Hand zu weisen sind. Positiv überrascht war ich auch, wie bemüht er und sein Team sind, den Eingriff in das Leben ihrer Raben so gering wie möglich zu halten. Respekt und Zuneigung für Tiere und Beruf lesen sich klar aus jeder Zeile heraus.

Ob man den literarischen Wert eines eher populärwissenschaftlichen Buches beurteilen möchte, kann jeder für sich entscheiden. Mir ist nur aufgefallen, dass die meisten Bücher aus diesem Bereich klingen, als hätte derselbe Autor sie verfasst. Leicht verständlich ist “Raben” jedenfalls, vielleicht sogar ein wenig zu sehr. Etwas mehr Tiefe hätte ich mir gewünscht. Aber für einen ersten Einblick in das Wesen dieser faszinierenden Vögel eignet sich “Raben”, auch durch seine schönen Bilder, hervorragend.

Nominiert für Wissenschaftsbuch des Jahres 2023

Bewertung vom 16.12.2022
Wilderer
Kaiser-Mühlecker, Reinhard

Wilderer


ausgezeichnet

Faktisch führt Jakob den Bauernhof seiner Eltern schon, seit er ein Jugendlicher war. Den ersehnten Erfolg konnte er damit bisher aber nicht einfahren, seine Projekte gehen nicht auf, bringen kaum genug ein, um den Hof zu halten. Das ändert sich, als Jakob die Künstlerin Katja kennenlernt. Ihre Geschäftstüchtigkeit gepaart mit seinem Know-How bringen endlich die ersehnte Anerkennung und das nötige Geld. Katja und Jakob heiraten, bekommen ein Kind, bauen weiter aus. Aber was wie eine solide Erfolgsgeschichte aussieht, kann im Inneren fragiler sein, als man meint.

“Wilderer” von Reinhard Kaiser-Mühlecker bringt mich in die verzwickte Lage, wenig darüber sagen zu können, wenn ich vermeiden möchte, zu viel zu verraten. Ich habe das Buch gehasst und geliebt. Beides könnte ich erklären, aber nicht, ohne die Lektüre für zukünftige Leser weitestgehend überflüssig zu machen.

Was ich verraten kann, ist, dass mich alleine die Ambivalenz meiner Gefühle, die dieser Roman ausgelöst hat, schon in Bewunderung für den Autor versetzt hat. Nicht nur die Ambivalenz, auch die Verunsicherung, die durch diese ausgelöst wurde. Welches Gefühl ist das richtige? Wo ist mir ein Fehler unterlaufen? Oder geht womöglich beides zusammen? Was bedeutet das letztendlich für meine Gesamtbewertung? Lauter Gedankengänge, denen ich mich gewöhnlich nicht widme.

Kaiser-Mühlecker ist ein talentierter Atmosphärenerschaffer. Wir lesen das eine und fühlen doch was anderes. Etwas stimmt nicht, etwas ist leicht verschoben, unausgesprochen. Das spiegelt sich auch in den Beziehungen innerhalb der Familie wider. Jakobs Eltern, die Großmutter, Schwester und Bruder - die Familienbande scheinen von Neid, Misstrauen und Missgunst bestimmt. Gespräche sind selten, Empathie noch rarer. Die Einsamkeit der einzelnen Familienmitglieder ist greifbar. Eine Lösung eher nicht.

Ich würde gerne noch so viel mehr zu diesem beeindruckenden Roman sagen, werde es mir aber verkneifen. “Wilderer” war dieses Jahr auf der Longlist des Deutschen und auf der Shortlist des Österreichischen Buchpreises. Das ist ein großer Erfolg, aber ich hätte ihm noch mehr gegönnt. Unbedingt lesen!

Bewertung vom 14.12.2022
Elizabeth Finch
Barnes, Julian

Elizabeth Finch


gut

Neil ist über 30, ehemaliger Schauspieler, zweimal geschieden, als er beschließt zu studieren. Bei Elizabeth Finch belegt er ein Seminar zu Kultur und Zivilisation und ist augenblicklich von der charismatischen Professorin fasziniert. Eine Faszination, die sich sein Leben lang halten wird, und bei der die Grenzen zu Verliebt sein, Liebe, ja, fast schon Besessenheit, verschwimmen. In den Jahren nach dem Studium bleiben Neil und Elizabeth in lockerem Kontakt, treffen sich gelegentlich zum Essen. Bis sie eines Tages stirbt und Neil ihre Bibliothek und Aufzeichnungen vermacht. Neil spielt mit dem Gedanken, eine Biografie über Elizabeth zu schreiben, widmet sich dann aber doch einem Essay über den von dieser hochgeschätzten römischen Kaiser Julian Apostata. Doch die Idee, auch der Frau, die ihn nie losgelassen hat, ein literarisches Denkmal zu setzen, veranlasst Neil schließlich, sich mit deren Bruder und ehemaligen Studenten zu treffen. Und ganz neue Aspekte über Elizabeth in Erfahrung zu bringen.

Julian Barnes und ich - das hat bisher keine stimmige Beziehung ergeben wollen. Nach “Flaubert’s Parrot” und “Der Zitronentisch” ist “Elizabeth Finch” nun das dritte Buch von ihm, an das ich mich wage. Um wieder ratlos dazustehen. An Barnes schriftstellerischem Können liegt es nicht, der Mann kann schreiben, darüber muss man nicht diskutieren. Aber inhaltlich berühren mich seine Texte einfach nicht.

Zum einen liegt das daran, dass ich nicht verstanden habe, was an Elizabeth Finch so besonders sein soll. Sie war mir zu gewollt, zu pseudo-intellektuell, pseudo-mysteriös, wenn man es böse ausdrücken will. Und in diesem bemühten Anderssein Wollen direkt etwas langweilig. Auch Neils Faszination fand ich nicht glaubwürdig. Es wirkte eher so, als hätte er gerade nichts Besseres zu tun, als gedanklich um diese Frau zu kreisen. Dass er überhaupt zum Erben ihres geistigen Nachlasses gemacht wurde, bleibt mir ein Rätsel.

Als einen weiteren Schwachpunkt habe ich empfunden, dass ich (mal wieder) unklar fand, was Barnes eigentlich erzählen wollte. Zwischendurch hat mich der Verdacht befallen, dass der Roman eine Art Resteverwertung mit zusammengezimmerter Rahmenhandlung ist. Eine Möglichkeit, Julian Apostata einer breiteren Leserschaft bekannt zu machen und bei der Gelegenheit ein paar andere philosophische Gedanken unterzubringen. Es sei noch mal wiederholt: Barnes kann schreiben. Hätte er das Essay über Julian einzeln herausgebracht, wäre das eine solide und spannende Angelegenheit geworden. Vorausgesetzt, jemand hätte sich dafür interessiert. In dieser Hinsicht war die Unterbringung in einem Roman vielleicht nicht die dümmste Idee.

Ein großes Highlight hat das Hörbuch dann aber doch, und zwar in Form von Frank Arnold als Sprecher. Ohne ihn hätte ich das Buch höchstwahrscheinlich abgebrochen, aber seine angenehme und überzeugende Stimme konnte mich dann doch durch die Geschichte tragen und sie, wenigstens für den Moment, interessant werden lassen.

Ich und Barnes, Barnes und ich… Ich weiß nicht, ob wir einfach nicht kompatibel sind, oder ob ich schlicht in der Wahl der Bücher bisher daneben gelegen habe. Zwei von ihm stehen noch ungelesen in meinem Regal, unser gemeinsamer Weg ist also noch nicht zu Ende. Aber zu diesem Zeitpunkt kann ich leider keine begeisterte Leseempfehlung geben.

Bewertung vom 09.12.2022
Nebenan (eBook, ePUB)
Bilkau, Kristine

Nebenan (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Gut ein halbes Jahr ist es her, dass Julia mit ihrem Partner aus der Stadt in einen kleinen Ort gezogen ist, wo sie in der langsam sterbenden Innenstadt einen Keramikladen betreibt. Anschluss hat sie noch nicht in dem Maße gefunden, wie sie sich vorgestellt hatte, aber viel mehr belastet sie ihre Sehnsucht nach einem eigenen Kind. Zu lange, so scheint es, hat sie diesen Wunsch hinter ihrem Berufsleben zurückgestellt, und jetzt fressen die Kosten für Injektionen und künstliche Befruchtung die finanziellen Rücklagen auf, nagt jeder Misserfolg an der Hoffnung.
Und dann ist da noch das Haus nebenan, dessen Briefkasten überquillt und dessen Bewohner spurlos verschwunden zu sein scheinen.

Astrid befindet sich an einem ganz anderen Punkt ihres Lebens. Die Kinder sind schon lange aus dem Haus, und jetzt, mit Anfang 60, denkt Astrid langsam darüber nach, ihre Arztpraxis abzugeben und in den Ruhestand zu gehen. Seit einiger Zeit erhält sie beunruhigende anonyme Briefe, in denen sie beschimpft und bedroht wird. Sorgen macht sie sich auch um ihre Tante Elsa, die altersbedingt immer mehr abbaut.
Und dann ist da noch das Haus auf der anderen Straßenseite, dessen Briefkasten überquillt und dessen Bewohner spurlos verschwunden zu sein scheinen.

„Nebenan“ ist mein erster Roman von Kristine Bilkau und hat mich gleich zu ihrem Fan gemacht. Sie schafft es, wie es scheint ohne Mühe, eine ganz eigene Atmosphäre zu schaffen, die mich an nichts, was ich bisher gelesen habe, erinnert. Eine Atmosphäre, die so vielschichtig ist, dass man noch lange nach Beendigung der Lektüre die einzelnen Ebenen durchwandern und erforschen kann. Dieses Buch ist wie ein sorgfältig komponiertes Gemälde, in dem jedes Detail perfekt eingefügt ist. Besonders fasziniert hat mich, wie Julias und Astrids Leben sich jenseits der Wahrnehmung der beiden Frauen immer weiter verweben. Wie ein Netz entsteht, stabil und fragil zugleich.

Was mich anfangs etwas gestört hat, ist, dass Bilkau die einschneidenden Ereignisse oft ausspart. Als Leser erfahren wir vorher, was bald ansteht, aber dann überspringen wir Tage, Wochen oder Monate. Zuerst hat mich diese Vorgehensweise verwundert und frustriert, aber dann wurde mir klar, dass gerade dadurch die ruhige, etwas zerbrechliche Stimmung des Buches erschaffen und aufrechterhalten wird. Was wir als Leser mitbekommen, ist das, was bleibt, wenn sich die Emotionen kristallisiert haben. Das, was das Leben letztendlich wirklich ausmacht und gestaltet.

Ich habe, wie wohl jeder, gewisse Lesevorlieben. Werden diese nicht erfüllt, hat das betreffende Buch im Prinzip bei mir schon verloren. Anders hier. Wo ich lange geglaubt habe, dass diese oder jene Entwicklung über mein Wohlwollen und mein Endurteil entscheiden würde, habe ich im Verlauf der Geschichte festgestellt, dass ich bereit war, der Autorin und ihren Protagonistinnen zu folgen, wohin auch immer es gehen sollte. Ein weiteres Indiz dafür, wie überzeugend Handlung und Figuren sind, ohne aber dem Leser den Raum für eine eigene Beziehung zu dem Roman abzuschneiden.

„Nebenan“ hat seinen Platz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022 eindeutig verdient. Dieser Roman hat es geschafft, mich für Themen zu sensibilisieren und zu interessieren, die ich eher nicht auf meiner Liste habe. Ein kleiner, nur auf den ersten Blick unscheinbarer Juwel und ein Kandidat für meine Top Ten 2022. Eindeutige Leseempfehlung!

Bewertung vom 03.12.2022
Phlox
Schmidt, Jochen

Phlox


sehr gut

Als Kind hat Richard alle seine Ferien in Schmorgorow im Oderbruch verbracht. Doch nun ist das Ehepaar, bei dem er und seine Eltern immer gewohnt haben, gestorben, das Haus soll verkauft werden. So fährt Richard mit seiner Partnerin und seinen beiden Kindern ein letztes Mal an jenen Ort, mit dem ihn so viele Erinnerungen und Eindrücke verbinden.

Wer sich auf „Phlox“ (übrigens nominiert für den Deutschen Buchpreis 2022) von Jochen Schmidt einlassen möchte, muss vor allem eins: Das Tempo drosseln. Schmidt ist keiner, der gefällig schreibt, er fordert von seinen Lesern Konzentration und Geduld. Nicht durch einen elitären oder trockenen Stil, sondern durch eine Vorliebe für lange Sätze. So bandwurmt er sich gnadenlos durch die 478 Seiten seines Romans, schachtelt, klammert auf und wieder zu, biegt in Nebensätze ab, um erst dann wieder zum Anfang seiner Aussage zurückzukehren, wenn er den unaufmerksamen Leser abgeschüttelt hat.

Und auch an der Handlung kann man sich nicht festhalten, denn es gibt schlichtweg keine. Der ganze Roman besteht aus den oben erwähnten Erinnerungen und Eindrücken aus dem Schmorgorower Leben mehrerer Jahrzehnte. Keine chronologische Ordnung, wenig thematische. In manchen Momenten habe ich mich an einen sehr, sehr langen Diavortrag erinnert gefühlt. Den Diavortrag eines Unbekannten, mit denen einem eigentlich nur das Menschsein verbindet. Eines Unbekannten, der einem alle Dias zeigen will, die ihm je in die Hände gefallen sind, der zu jedem einen langen Vortrag hält und dem die Dias im Vorfeld runtergefallen und durcheinandergeraten sind.

Ein halbes Rätsel sind mir auch die auf dem Cover angekündigten „dunklen Züge“ geblieben. Es dauert fast 200 Seiten, bis man erfährt, dass unser Protagonist depressive Phasen zu kennen scheint. 200 weitere, bis Kriegserinnerungen einen neuen Ton einbringen. Aber den Großteil des Buches habe ich als ausgesprochen idyllisch empfunden, irgendwo zwischen Bullerbü und Tschechow, wenn man bei letzterem die Melancholie abzieht. Die fünfzehn in weiß auf schwarz gehaltenen Vignetten von Line Hoven haben mir zwar gefallen, der symbolische Wert blieb mir aber weitestgehend verborgen. Zwar spricht Schmidt die üblichen Fragen der menschlichen Existenz durchaus an, aber so integriert, dass man kaum dazu kommt, sich ihnen ernsthaft zu widmen.

Ich hoffe, dass der geneigte Leser meiner Rezension bis hierhin durchgehalten hab, denn jetzt kommt der Knaller: Ich bin ein wenig in „Phlox“ verliebt. Ja, ich weiß, was ich bis hierhin geschrieben habe und ja, es ist mir oft schwergefallen, mich zum Weiterlesen zu motivieren und bis zum Ende durchzuhalten. Aber dieses Buch hat unglaublich schöne Momente, die in einem Erinnerungen an winzige Details des eigenen Lebens erwecken, Bilder von Gegenständen aufleben lassen, die ein ganzes Lebensgefühl in sich tragen. Schmidt hat ein großes Talent für Atmosphäre und einen intelligenten Sinn für Humor und Situationskomik. Seine Figuren sind so lebensecht, dass man nicht glauben mag, dass es sie nicht in Wirklichkeit gegeben hat (hat es?). „Phlox“ gelesen zu haben hinterlässt in einem etwas wie ein Glühwürmchen, dessen Leuchten man erst bemerkt, wenn man das Buch geschlossen hat. Und darum, gegen alle Gründe der Vernunft, eine Leseempfehlung aus dem Innersten. Und ein Dankeschön für die erfreuliche Wiederbelebung des ß.