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Bücherbummler

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Insgesamt 104 Bewertungen
Bewertung vom 16.12.2022
Wilderer
Kaiser-Mühlecker, Reinhard

Wilderer


ausgezeichnet

Faktisch führt Jakob den Bauernhof seiner Eltern schon, seit er ein Jugendlicher war. Den ersehnten Erfolg konnte er damit bisher aber nicht einfahren, seine Projekte gehen nicht auf, bringen kaum genug ein, um den Hof zu halten. Das ändert sich, als Jakob die Künstlerin Katja kennenlernt. Ihre Geschäftstüchtigkeit gepaart mit seinem Know-How bringen endlich die ersehnte Anerkennung und das nötige Geld. Katja und Jakob heiraten, bekommen ein Kind, bauen weiter aus. Aber was wie eine solide Erfolgsgeschichte aussieht, kann im Inneren fragiler sein, als man meint.

“Wilderer” von Reinhard Kaiser-Mühlecker bringt mich in die verzwickte Lage, wenig darüber sagen zu können, wenn ich vermeiden möchte, zu viel zu verraten. Ich habe das Buch gehasst und geliebt. Beides könnte ich erklären, aber nicht, ohne die Lektüre für zukünftige Leser weitestgehend überflüssig zu machen.

Was ich verraten kann, ist, dass mich alleine die Ambivalenz meiner Gefühle, die dieser Roman ausgelöst hat, schon in Bewunderung für den Autor versetzt hat. Nicht nur die Ambivalenz, auch die Verunsicherung, die durch diese ausgelöst wurde. Welches Gefühl ist das richtige? Wo ist mir ein Fehler unterlaufen? Oder geht womöglich beides zusammen? Was bedeutet das letztendlich für meine Gesamtbewertung? Lauter Gedankengänge, denen ich mich gewöhnlich nicht widme.

Kaiser-Mühlecker ist ein talentierter Atmosphärenerschaffer. Wir lesen das eine und fühlen doch was anderes. Etwas stimmt nicht, etwas ist leicht verschoben, unausgesprochen. Das spiegelt sich auch in den Beziehungen innerhalb der Familie wider. Jakobs Eltern, die Großmutter, Schwester und Bruder - die Familienbande scheinen von Neid, Misstrauen und Missgunst bestimmt. Gespräche sind selten, Empathie noch rarer. Die Einsamkeit der einzelnen Familienmitglieder ist greifbar. Eine Lösung eher nicht.

Ich würde gerne noch so viel mehr zu diesem beeindruckenden Roman sagen, werde es mir aber verkneifen. “Wilderer” war dieses Jahr auf der Longlist des Deutschen und auf der Shortlist des Österreichischen Buchpreises. Das ist ein großer Erfolg, aber ich hätte ihm noch mehr gegönnt. Unbedingt lesen!

Bewertung vom 14.12.2022
Elizabeth Finch
Barnes, Julian

Elizabeth Finch


gut

Neil ist über 30, ehemaliger Schauspieler, zweimal geschieden, als er beschließt zu studieren. Bei Elizabeth Finch belegt er ein Seminar zu Kultur und Zivilisation und ist augenblicklich von der charismatischen Professorin fasziniert. Eine Faszination, die sich sein Leben lang halten wird, und bei der die Grenzen zu Verliebt sein, Liebe, ja, fast schon Besessenheit, verschwimmen. In den Jahren nach dem Studium bleiben Neil und Elizabeth in lockerem Kontakt, treffen sich gelegentlich zum Essen. Bis sie eines Tages stirbt und Neil ihre Bibliothek und Aufzeichnungen vermacht. Neil spielt mit dem Gedanken, eine Biografie über Elizabeth zu schreiben, widmet sich dann aber doch einem Essay über den von dieser hochgeschätzten römischen Kaiser Julian Apostata. Doch die Idee, auch der Frau, die ihn nie losgelassen hat, ein literarisches Denkmal zu setzen, veranlasst Neil schließlich, sich mit deren Bruder und ehemaligen Studenten zu treffen. Und ganz neue Aspekte über Elizabeth in Erfahrung zu bringen.

Julian Barnes und ich - das hat bisher keine stimmige Beziehung ergeben wollen. Nach “Flaubert’s Parrot” und “Der Zitronentisch” ist “Elizabeth Finch” nun das dritte Buch von ihm, an das ich mich wage. Um wieder ratlos dazustehen. An Barnes schriftstellerischem Können liegt es nicht, der Mann kann schreiben, darüber muss man nicht diskutieren. Aber inhaltlich berühren mich seine Texte einfach nicht.

Zum einen liegt das daran, dass ich nicht verstanden habe, was an Elizabeth Finch so besonders sein soll. Sie war mir zu gewollt, zu pseudo-intellektuell, pseudo-mysteriös, wenn man es böse ausdrücken will. Und in diesem bemühten Anderssein Wollen direkt etwas langweilig. Auch Neils Faszination fand ich nicht glaubwürdig. Es wirkte eher so, als hätte er gerade nichts Besseres zu tun, als gedanklich um diese Frau zu kreisen. Dass er überhaupt zum Erben ihres geistigen Nachlasses gemacht wurde, bleibt mir ein Rätsel.

Als einen weiteren Schwachpunkt habe ich empfunden, dass ich (mal wieder) unklar fand, was Barnes eigentlich erzählen wollte. Zwischendurch hat mich der Verdacht befallen, dass der Roman eine Art Resteverwertung mit zusammengezimmerter Rahmenhandlung ist. Eine Möglichkeit, Julian Apostata einer breiteren Leserschaft bekannt zu machen und bei der Gelegenheit ein paar andere philosophische Gedanken unterzubringen. Es sei noch mal wiederholt: Barnes kann schreiben. Hätte er das Essay über Julian einzeln herausgebracht, wäre das eine solide und spannende Angelegenheit geworden. Vorausgesetzt, jemand hätte sich dafür interessiert. In dieser Hinsicht war die Unterbringung in einem Roman vielleicht nicht die dümmste Idee.

Ein großes Highlight hat das Hörbuch dann aber doch, und zwar in Form von Frank Arnold als Sprecher. Ohne ihn hätte ich das Buch höchstwahrscheinlich abgebrochen, aber seine angenehme und überzeugende Stimme konnte mich dann doch durch die Geschichte tragen und sie, wenigstens für den Moment, interessant werden lassen.

Ich und Barnes, Barnes und ich… Ich weiß nicht, ob wir einfach nicht kompatibel sind, oder ob ich schlicht in der Wahl der Bücher bisher daneben gelegen habe. Zwei von ihm stehen noch ungelesen in meinem Regal, unser gemeinsamer Weg ist also noch nicht zu Ende. Aber zu diesem Zeitpunkt kann ich leider keine begeisterte Leseempfehlung geben.

Bewertung vom 09.12.2022
Nebenan (eBook, ePUB)
Bilkau, Kristine

Nebenan (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Gut ein halbes Jahr ist es her, dass Julia mit ihrem Partner aus der Stadt in einen kleinen Ort gezogen ist, wo sie in der langsam sterbenden Innenstadt einen Keramikladen betreibt. Anschluss hat sie noch nicht in dem Maße gefunden, wie sie sich vorgestellt hatte, aber viel mehr belastet sie ihre Sehnsucht nach einem eigenen Kind. Zu lange, so scheint es, hat sie diesen Wunsch hinter ihrem Berufsleben zurückgestellt, und jetzt fressen die Kosten für Injektionen und künstliche Befruchtung die finanziellen Rücklagen auf, nagt jeder Misserfolg an der Hoffnung.
Und dann ist da noch das Haus nebenan, dessen Briefkasten überquillt und dessen Bewohner spurlos verschwunden zu sein scheinen.

Astrid befindet sich an einem ganz anderen Punkt ihres Lebens. Die Kinder sind schon lange aus dem Haus, und jetzt, mit Anfang 60, denkt Astrid langsam darüber nach, ihre Arztpraxis abzugeben und in den Ruhestand zu gehen. Seit einiger Zeit erhält sie beunruhigende anonyme Briefe, in denen sie beschimpft und bedroht wird. Sorgen macht sie sich auch um ihre Tante Elsa, die altersbedingt immer mehr abbaut.
Und dann ist da noch das Haus auf der anderen Straßenseite, dessen Briefkasten überquillt und dessen Bewohner spurlos verschwunden zu sein scheinen.

„Nebenan“ ist mein erster Roman von Kristine Bilkau und hat mich gleich zu ihrem Fan gemacht. Sie schafft es, wie es scheint ohne Mühe, eine ganz eigene Atmosphäre zu schaffen, die mich an nichts, was ich bisher gelesen habe, erinnert. Eine Atmosphäre, die so vielschichtig ist, dass man noch lange nach Beendigung der Lektüre die einzelnen Ebenen durchwandern und erforschen kann. Dieses Buch ist wie ein sorgfältig komponiertes Gemälde, in dem jedes Detail perfekt eingefügt ist. Besonders fasziniert hat mich, wie Julias und Astrids Leben sich jenseits der Wahrnehmung der beiden Frauen immer weiter verweben. Wie ein Netz entsteht, stabil und fragil zugleich.

Was mich anfangs etwas gestört hat, ist, dass Bilkau die einschneidenden Ereignisse oft ausspart. Als Leser erfahren wir vorher, was bald ansteht, aber dann überspringen wir Tage, Wochen oder Monate. Zuerst hat mich diese Vorgehensweise verwundert und frustriert, aber dann wurde mir klar, dass gerade dadurch die ruhige, etwas zerbrechliche Stimmung des Buches erschaffen und aufrechterhalten wird. Was wir als Leser mitbekommen, ist das, was bleibt, wenn sich die Emotionen kristallisiert haben. Das, was das Leben letztendlich wirklich ausmacht und gestaltet.

Ich habe, wie wohl jeder, gewisse Lesevorlieben. Werden diese nicht erfüllt, hat das betreffende Buch im Prinzip bei mir schon verloren. Anders hier. Wo ich lange geglaubt habe, dass diese oder jene Entwicklung über mein Wohlwollen und mein Endurteil entscheiden würde, habe ich im Verlauf der Geschichte festgestellt, dass ich bereit war, der Autorin und ihren Protagonistinnen zu folgen, wohin auch immer es gehen sollte. Ein weiteres Indiz dafür, wie überzeugend Handlung und Figuren sind, ohne aber dem Leser den Raum für eine eigene Beziehung zu dem Roman abzuschneiden.

„Nebenan“ hat seinen Platz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022 eindeutig verdient. Dieser Roman hat es geschafft, mich für Themen zu sensibilisieren und zu interessieren, die ich eher nicht auf meiner Liste habe. Ein kleiner, nur auf den ersten Blick unscheinbarer Juwel und ein Kandidat für meine Top Ten 2022. Eindeutige Leseempfehlung!

Bewertung vom 03.12.2022
Phlox
Schmidt, Jochen

Phlox


sehr gut

Als Kind hat Richard alle seine Ferien in Schmorgorow im Oderbruch verbracht. Doch nun ist das Ehepaar, bei dem er und seine Eltern immer gewohnt haben, gestorben, das Haus soll verkauft werden. So fährt Richard mit seiner Partnerin und seinen beiden Kindern ein letztes Mal an jenen Ort, mit dem ihn so viele Erinnerungen und Eindrücke verbinden.

Wer sich auf „Phlox“ (übrigens nominiert für den Deutschen Buchpreis 2022) von Jochen Schmidt einlassen möchte, muss vor allem eins: Das Tempo drosseln. Schmidt ist keiner, der gefällig schreibt, er fordert von seinen Lesern Konzentration und Geduld. Nicht durch einen elitären oder trockenen Stil, sondern durch eine Vorliebe für lange Sätze. So bandwurmt er sich gnadenlos durch die 478 Seiten seines Romans, schachtelt, klammert auf und wieder zu, biegt in Nebensätze ab, um erst dann wieder zum Anfang seiner Aussage zurückzukehren, wenn er den unaufmerksamen Leser abgeschüttelt hat.

Und auch an der Handlung kann man sich nicht festhalten, denn es gibt schlichtweg keine. Der ganze Roman besteht aus den oben erwähnten Erinnerungen und Eindrücken aus dem Schmorgorower Leben mehrerer Jahrzehnte. Keine chronologische Ordnung, wenig thematische. In manchen Momenten habe ich mich an einen sehr, sehr langen Diavortrag erinnert gefühlt. Den Diavortrag eines Unbekannten, mit denen einem eigentlich nur das Menschsein verbindet. Eines Unbekannten, der einem alle Dias zeigen will, die ihm je in die Hände gefallen sind, der zu jedem einen langen Vortrag hält und dem die Dias im Vorfeld runtergefallen und durcheinandergeraten sind.

Ein halbes Rätsel sind mir auch die auf dem Cover angekündigten „dunklen Züge“ geblieben. Es dauert fast 200 Seiten, bis man erfährt, dass unser Protagonist depressive Phasen zu kennen scheint. 200 weitere, bis Kriegserinnerungen einen neuen Ton einbringen. Aber den Großteil des Buches habe ich als ausgesprochen idyllisch empfunden, irgendwo zwischen Bullerbü und Tschechow, wenn man bei letzterem die Melancholie abzieht. Die fünfzehn in weiß auf schwarz gehaltenen Vignetten von Line Hoven haben mir zwar gefallen, der symbolische Wert blieb mir aber weitestgehend verborgen. Zwar spricht Schmidt die üblichen Fragen der menschlichen Existenz durchaus an, aber so integriert, dass man kaum dazu kommt, sich ihnen ernsthaft zu widmen.

Ich hoffe, dass der geneigte Leser meiner Rezension bis hierhin durchgehalten hab, denn jetzt kommt der Knaller: Ich bin ein wenig in „Phlox“ verliebt. Ja, ich weiß, was ich bis hierhin geschrieben habe und ja, es ist mir oft schwergefallen, mich zum Weiterlesen zu motivieren und bis zum Ende durchzuhalten. Aber dieses Buch hat unglaublich schöne Momente, die in einem Erinnerungen an winzige Details des eigenen Lebens erwecken, Bilder von Gegenständen aufleben lassen, die ein ganzes Lebensgefühl in sich tragen. Schmidt hat ein großes Talent für Atmosphäre und einen intelligenten Sinn für Humor und Situationskomik. Seine Figuren sind so lebensecht, dass man nicht glauben mag, dass es sie nicht in Wirklichkeit gegeben hat (hat es?). „Phlox“ gelesen zu haben hinterlässt in einem etwas wie ein Glühwürmchen, dessen Leuchten man erst bemerkt, wenn man das Buch geschlossen hat. Und darum, gegen alle Gründe der Vernunft, eine Leseempfehlung aus dem Innersten. Und ein Dankeschön für die erfreuliche Wiederbelebung des ß.

Bewertung vom 27.11.2022
Lincoln Highway
Towles, Amor

Lincoln Highway


ausgezeichnet

Nebraska 1954. Als der 18-jährige Emmett aus dem Jugendgefängnis nach Hause kommt, ist nichts mehr, wie es vorher war. Sein Vater ist mittlerweile gestorben und Emmett ist nun für seinen kleinen Bruder Billy verantwortlich. Ein Neuanfang in Kalifornien, wo auch die Mutter der Brüder lebt, scheint die beste Lösung, und so beschließen die Brüder, sich auf den Weg zu machen, immer den Lincolen Highway entlang, der sich von San Francisco bis New York zieht.

Aber Emmett und Billy haben ihre Rechnung ohne Duchess und Wooly gemacht, zwei Freunden aus dem Gefängnis, aus welchem sie gerade ausgebrochen sind. Ihr Weg führt genau in die entgegengesetzte Richtung, nämlich nach New York, wo Woolys wohlbetuchte Eltern ihr Anwesen und auf diesem jede Menge Geld haben. Und um an dieses heranzukommen, brauchen Duchess und Wooly Emmett. Oder zumindest dessen Auto…

Wenn ich der deutschen Hörbuchversion von Amor Towles’ „Lincoln Highway“ etwas vorwerfen kann, dann, dass sie gekürzt ist. Ja, es ist nicht das schlankeste Buch und ja, 15 Stunden und 20 Minuten sind auch schon nicht wenig, aber ich hätte problemlos noch mehr davon ausgehalten. Ich wage sogar zu behaupten: mit Begeisterung. (Update: eine ungekürzte Lesung ist ebenfalls bei Hörbuch Hamburg erhältlich. Warum man allerdings für knapp zwei Stunden mehr fast das doppelte zahlen muss, erschließt sich mir nicht so ganz.)

Das liegt vor allem an Towels’ Charakteren. Ich habe mich quasi viermal schockverliebt. Erst in Emmett, den vernunftbegabten Traumbruder, dann in den intelligenten kleinen Billy. Aber noch mehr in Duchess, der auf konsequente Weise seine Lebenseinstellung als politisch korrekter Kleinverbrecher durchzieht, und in Wooly, den Sohn aus reichem Hause, bei dem das Denken nicht ganz so schnell funktioniert, der dafür aber ein Herz aus Gold hat. Und auch in den Nebenfiguren lässt Towels eine Schar auftreten, die durch (fast) nie überzogene, glaubwürdige Originalität besticht.

Dass die Geschichte durch diese Stärke der Personen an Bedeutung verliert, stört dabei nicht weiter. Im Prinzip hat Towels hier eine Schar Menschen erschaffen, die auch einfach nur 600 Seiten lang hätte Tee trinken können, ohne langweilig zu werden. Und, so viel sei vorsichtig verraten, er hält für den Leser durchaus ein paar Überraschungen bereit.

Auch die Besetzung der Sprecher fand ich sehr gelungen. Uve Teschner höre ich sowieso gerne, da war es mir eine Freude und ein Vergnügen, dass er den Großteil des Romans eingelesen hat. Logisch plausibel hat der Verlag für Duchess und Sally (eine Nachbarin Emmetts, mit, wie es scheint, einst amourösen Hoffnungen. Sie gerät in der Geschichte ein wenig ins Abseits, ob als Opfer der Kürzung vermag ich nicht zu sagen), die einzigen, die aus der Ich-Perspektive erzählen, Julian Greis und Lisa Hrdina verpflichtet. Beide haben mich absolut überzeugt.

Man ahnt es vielleicht, meine Rezension läuft auf eine dicke, fette Hörempfehlung hinaus. Nicht von der Länge abschrecken lassen! Anschaffen! Hören/Lesen! Lieben!

Bewertung vom 23.11.2022
Candy Haus
Egan, Jennifer

Candy Haus


sehr gut

Unsere Erde in sehr naher Zukunft. Und wenn ich sehr nah sage, meine ich sehr nah, wir sprechen hier von in zwei bis zehn Jahren. Bix Boutons Ruhm baut sich auf einer technischen Erfindung auf. Dank seiner können Menschen jetzt den gesamten Inhalt ihres Gedächtnisses in einen externen Speicher herunterladen, der dann allen anderen zur Verfügung steht. Allen anderen, die ebenfalls bereit sind, ihre Erinnerungen, Gedanken und Gefühle mit der Allgemeinheit zu teilen… Was erst für praktische Zwecke, wie das Aufklären von Kriminalfällen und Hilfe für Demenzerkrankte, gedacht war, wird schnell zum viralen Trend. Gleichzeitig erobern weitere Entwicklungen den Markt. Das Hinauszögern der Entdeckung einer verschwundenen Person, indem man sie durch einen Proxy ersetzt. Die daraus entstehende Sparte von darauf Spezialisierten, genau diese Proxys auffliegen zu lassen. Elektronische Asseln, die im Kopf implantiert werden, und damit Zuschauern erlauben, live bei den eigenen Erlebnissen dabei zu sein. Chips, Knöpfe, Kameras… Das Repertoire an Gadgets, die dem Körper hinzugefügt werden können, scheint unerschöpflich. Die mentale Stärke des Menschen ist es nicht...

Nach dieser Beschreibung würde man sich unter „Candy Haus“ von Jennifer Egan wohl einen dystopischen Roman vorstellen, aber ich habe ihn nicht wirklich als solchen empfunden. Dazu war das Thema nicht präsent genug, standen menschliche Beziehungen und Psyche zu sehr im Vordergrund. Ich habe mich des Öfteren gefragt, ob gerade das ein geschickter Schachzug der Autorin ist. Ob sich darin spiegelt, wie schleichend die Technik in unser Leben eindringt und alles übernimmt. Mit welcher Selbstverständlichkeit wir uns ihr anpassen. Aber letztendlich fand ich die ganze Konstruktion zu schwammig. Ich hätte mir hier mehr Handfestigkeit und Fokussierung gewünscht.

Auch ob der Begriff „Roman“ hier greift, kann man diskutieren. Ich würde es eher als eine Sammlung geschickt verflochtener Erzählungen beschreiben. Egan wechselt konsequent die Erzählperspektive, als Leser erfahren wir oft erst spät im Kapitel, bei wem wir uns gerade befinden. Klingt kompliziert, aber für mich war das der größte Teil des Vergnügens, wie ein kleiner Detektiv meine Puzzleteile zu sammeln und in das große Personennetz einzufügen. Jedenfalls den größten Teil des Buches. Irgendwann hat mich die Komplexität überfordert und ist in Sättigung umgeschlagen. Hier wäre weniger vielleicht besser gewesen (das gilt besonders für das letzte Kapitel, liebe Frau Egan. Das vorletzte wäre ein wunderbarer Abschluss gewesen, warum nur haben Sie das zerstört? Zu viele Ideen, die unbedingt untergebracht werden mussten?).

Wer sich fragt, ob man, um „Candy Haus“ verstehen zu können, „Der größere Teil der Welt“ gelesen haben muss: nein, muss man nicht. „Candy Haus“ ist keine Fortsetzung, sondern, wie die Autorin es beschreibt, ein „companion book“. Meines Wissens finden einige Personen in beiden Werken Erwähnung, aber ansonsten stehen sie völlig für sich.

Im Endeffekt befürchte ich, dass „Candy Haus“ in meinen Erinnerungen den gleichen Weg gehen wird, wie „Der größere Teil der Welt“ (Pulitzer-Preis 2011), den Weg ins Schnelle Vergessen. Der Roman ist ohne Frage gut geschrieben, die Themen sind interessant, die Figuren charakterstark, aber dem ganzen mangelt es an einer Struktur, an der man sich festhalten kann. Es hat mir Spaß gemacht, ihn zu lesen, aber am Ende überwiegt bei mir das Gefühl, nichts in den Händen zu halten. Das ist bedauerlich, weil das Potenzial eindeutig vorhanden war.

Bewertung vom 17.11.2022
Miss Kim weiß Bescheid
Cho, Nam-joo

Miss Kim weiß Bescheid


ausgezeichnet

Vor zwei Jahren habe ich „Kim Jiyoung, geboren 1982“ von Nam-Joo Cho gelesen. Und das, so verrät mir ein Blick auf meine damalige Rezension, durchaus nicht ungern, immerhin vier von fünf Sternen, aber mit Einschränkungen. Der Stil (oder die Übersetzung?) hatte mich gestört, die dramaturgische Entwicklung nicht überzeugt. Außerdem musste ich feststellen, dass mir zwei Jahre später absolut nichts davon im Gedächtnis geblieben ist, weder Inhalt noch einzelne Bilder oder Gefühle. Genug Gründe, um zu zögern, bevor ich zu einem weiteren ihrer Bücher gegriffen habe.

Ohne es zu bereuen. Auch in „Miss Kim weiß Bescheid“ greift Cho wieder die Rolle der Frau in ihrem Heimatland Südkorea auf, stellt sich aber thematisch noch mal breiter auf. In acht Geschichten begegnen wir acht Frauen unterschiedlichsten Alters und einem Themenspektrum, das unter anderem das Älterwerden (und trotzdem noch Wünsche für sich selbst haben), Hass im Internet, Gaslighting, Übergriffigkeit in der Schule und erste Liebe zu Zeiten von Corona umfasst. Mit einem ganz entscheidenden Unterschied: Chos Frauen sind keine bloßen Opfer mehr. Sie erdulden und zerbrechen nicht, sondern sie beginnen, ihre Positionen zu verteidigen und zum Gegenschlag auszuholen, werden durchaus auch in gewisser Weise zu Tätern.

Auch meinen Kritikpunkt zur sprachlichen Umsetzung kann ich dieses Mal fast komplett fallen lassen. Vielleicht liegt es daran, dass dieser Erzählband eine andere Übersetzerin hatte, als der Roman, aber es gab nur ein oder zwei Stellen, an denen mich eine Formulierung aus dem Lesefluss geholt hat, weil ich sie überraschend schlecht gelungen fand. Ansonsten konnte ich Chos nach wie vor klarem und nüchtern schilderndem Ton viel abgewinnen. Als Leser hat man viel Freiraum, sich seine Urteile selbst zu bilden, zu entscheiden, wie Recht und Unrecht verteilt, oder überhaupt gerechtfertigte Begriffe sind.

Somit ist „Miss Kim weiß Bescheid“ für mich ein gelungener Erzählband, der wieder beides schafft, sowohl einen Einblick in die südkoreanische Kultur zu gestatten, als auch Themen aufzugreifen, die uns alle angehen und nach wie vor nichts an ihrer Aktualität und Dringlichkeit verloren haben. Eine komplett uneingeschränkte Leseempfehlung von mir und Cho wandert von „könnte ich vielleicht noch etwas von lesen“ in die „von ihr möchte ich alles lesen“ Kategorie.

Bewertung vom 13.11.2022
Wie die einarmige Schwester das Haus fegt
Jones, Cherie

Wie die einarmige Schwester das Haus fegt


ausgezeichnet

Der Baxter’s Beach auf Barbados ist oberflächlich betrachtet ein Touristen-Paradies. Weißer Sand, blaues Meer, Kokosnusspalmen – ganz, wie man sich die Karibik vorstellt. Auch die Reichen haben hier ihre Urlaubsdomizile. Für die Einwohner der Unterschicht sieht die Realität allerdings anders aus. Ihr Leben ist von Armut, häuslicher und außerhäuslicher Gewalt geprägt, von Prostitution und Kriminalität.

Auch Lala ist in diese Spirale des Überlebens am Limit hineingeraten. Mit ihrem Mann Adan lebt sie in dessen heruntergekommenen Haus direkt am Strand, wo sie ein wenig Geld mit dem Flechten von Zöpfen für Touristinnen hinzuverdient. Adan, offiziell als Reparateur tätig, beschafft das zum Überleben Notwendige durch Drogenschmuggel und Einbrüche.

Es ist ein unglücklicher Zufall, der dazu führt, dass Adan just in der Nacht, als Lala ihre Tochter zur Welt bringt, vom Kleinkriminellen zum Mörder wird. Und als dieses Kind kurze Zeit später auch noch ums Leben kommt, löst sich eine Welle aus angestautem Zorn, die alles zu verschlingen droht.

Aus neun Blickwinkeln erzählt Cherie Jones in ihrem eindrucksstarken Romandebüt „Wie die einarmige Schwester das Haus fegt“ eine Geschichte des Überlebens. Des Überlebens auf mehreren Ebenen, von der physischen Bedrohung durch Armut und Gewalt, aber auch von den Auswirkungen dieser Belastungen auf Seele und Geist. Den Schwerpunkt legt Jones dabei auf Lala, aber auch Mrs. Whalen, Ehefrau des von Adan ermordeten Peter Whalens, wird als eine, die es vom „Inselmädchen“ zur Gattin eines wohlbetuchten Langzeittouristen gebracht hat, mehr Raum eingeräumt.

In ihrer Sprache bleibt Jones, selbst Opfer und Überlebende häuslicher Gewalt, nüchtern und undramatisch. Ebenso verzichtet sie weitestgehend auf Bewertungen. Sie erzählt einfach und schafft es dabei auf faszinierende Weise, das Bedrückende und Trostlose ihrer Geschichte nicht nur intellektuell, sondern auch atmosphärisch verdichtet auf den Leser zu übertragen.

Zeitlich befinden wir uns in den 1980ern, bewegen uns aber auch immer wieder zurück, bis in die 1940er, erfahren mehr über Vorbedingungen und Ereignisse, die schließlich dazu geführt haben, dass die Figuren zu dem wurden, was sie sind. Eine Kausalität, die aber nie eine Entschuldigung oder ein Freispruch ist. Und auch heute nach wie vor ihre traurige Aktualität hat.

„Wie die einarmige Schwester das Haus fegt“ befand sich auf der Shortlist für den Women’s Prize for Fiction 2022 und hat es im selben Jahr auch bis in das Halbfinale des Booktube Prizes geschafft. Beides mehr als verdient. Mich hat dieses Buch tief beeindruckt und hat mich für Fragen geöffnet, ohne sie konkret zu stellen. Ich warte gespannt auf den nächsten Roman von Cherie Jones und gebe derweil eine ganz klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 11.11.2022
Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit
Pulley, Natasha

Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit


gut

London 1898. Joe findet sich an einem Bahnhof ohne jede Spur einer Erinnerung an seine Vergangenheit wieder. Man weist ihn in ein Hospital ein, wo sich schnell herausstellt, dass er Leibeigener eines Franzosen ist. Dass überhaupt ganz England zu Frankreich gehört.
Langsam findet er sich in seinem alten/neuen Leben zurecht, bis eines Tages eine Postkarte für ihn eintrifft. Eine Postkarte mit einem Leuchtturm darauf und den Worten „Liebster Joe, komm nach Hause, wenn du dich erinnerst. M.“. Das merkwürdigste ist aber, dass dieses Postkarte vor 90 Jahren abgeschickt wurde, viele Jahrzehnte, bevor Joe überhaupt geboren wurde.
Lange versucht Joe, das Rätsel um diese Postkarte zu vergessen, und sein eigenes Leben zu führen, aber dann macht er sich doch auf den Weg zu jenem Leuchtturm. Auf den ersten Blick scheint dieser seine Geheimnisse nicht preiszugeben. Bis Joe eines Tages einen fremden Mann aus dem Meer rettet. Ein Mann, der aus einer anderen Zeit zu stammen scheint.

„Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“ von Natasha Pulley ist eines jener Bücher, zu denen ich nicht wirklich viel zu sagen weiß. Die Thematik „Zeitreisen“ finde ich nicht uninteressant, vor allem den Aspekt, wie kleinste Änderungen in der Vergangenheit die Gegenwart beeinflussen. Aber die Umsetzung in diesem vorliegenden Fall war… mittelmäßig. Im Prinzip kann ich weder groß kritisieren, noch irgendeinen Aspekt begeistert hervorheben. Alles plätscherte gefällig vor sich hin, ohne große Höhen und Tiefen, ohne mich zu überraschen oder zu fesseln. Aber auch, ohne mich so zu langweilen, dass ich gerne abgebrochen hätte. Es war okay.

Das gilt auch für die Einlesung durch Jonas Minthe. Sie hat mich nicht mitgerissen, sie war aber auch nicht schlecht. Okay eben.

Von meiner Warte aus hätte der Roman einiges gewonnen, wenn er mehr in die Tiefe gegangen wäre. Etwas mehr psychologisches Spektrum jenseits der Verwirrung, etwas weniger Vorhersehbarkeit und eine kleine Kürzung der Seitenzahl würde er gut vertragen. Vielleicht würde man dann auch das Gefühl, dass die Autorin gerne hier und da das Geschehen ein wenig so zurechtrückt, dass es, auch gegen die Gesetze der Logik, passt, vergessen. Aber Freunde von Abenteuerromanen und Fantasy sollten sich nicht abschrecken lassen und ihr eigenes Urteil bilden.

Bewertung vom 30.10.2022
Spitzweg
Nickel, Eckhart

Spitzweg


gut

Schon länger ist der namenlose Ich-Erzähler heimlich in seine Klassenkameradin Kirsten verliebt. Darum ist er, als diese von der Kunstlehrerin so gekränkt wird, dass sie aus der Klasse rennt, gleich dabei, als der neue charismatische Mitschüler Carl beschließt, dass Kirsten gerächt werden muss. Carls Plan beinhaltet, Kirsten bei sich zu verstecken und den Eindruck zu erwecken, der Kommentar der Lehrerin hätte sie womöglich in den Selbstmord getrieben. Doch dann verschwindet Kirsten aus dem Versteck und aus der gespielten wird eine echte Suche.

„Spitzweg“ von Eckhart Nickel hat mich in vielfältiger Hinsicht verwirrt. Da wäre zum einen die Sprache, die aus einem anderen Jahrhundert zu stammen scheint. Rein von ihrem Klang her wäre Carl als erstes in Form eines junger Stutzers aus besserem Hause vor meinem inneren Auge erschienen. Einem intelligenten, aber besserwisserischen jungen Mannes, der durch die Salons des 19. Jahrhunderts schlendert, und seine Zuhörer amüsiert oder entsetzlich nervt. Aber man findet schon bald heraus, dass sich nicht nur Carl, dem man es noch zugetraut hätte, dieses Tonfalls bedient, sondern schlicht jede Figur des Romans über das gleiche Maß an antiquiertem Wortschatz und, zu meinem großen Erstaunen, einem beeindruckenden Grundwissen auf allen Kunstgebieten, zu verfügen scheint. Und sich diesen ununterbrochen bedient.

Ein anderes Rätsel ist das permanente Gefühl, sich in einer surrealen Atmosphäre zu bewegen, ohne dass etwas in letzter Konsequenz surreales passieren würde. Sicher liegt es zum einen an der oben schon erwähnten Ausdrucksweise, aber auch an den Situationen und den Verhaltensweisen der Handelnden an sich, die einem nur selten ein Gefühl von Realitätsnähe geben.

Und dann wäre da die Handlung, die völlig im stilistischen Enigma versinkt. Man könnte meinen, der Autor hätte vor lauter Auslebung seiner künstlerischen Ader vergessen, was er eigentlich erzählen wollte. Für den Stringenz liebenden Leser, wie ich einer bin, kein leichtes Spiel.

In der Konsequenz habe ich das Buch mit gespannter Begeisterung begonnen, um am Ende ernüchtert, irritiert und leicht gelangweilt zurückzubleiben. Wenn dieser Roman ein symbolisches Rätsel war, dann hat es bei mir nicht den Ehrgeiz, es zu lösen, wach kitzeln können. Ich war nicht mal in der Lage, die angekündigte „Kritik an der Bildvergötterung der sozial verwahrlosten Digitalgesellschaft“ zu entdecken. Was ich allerdings entdeckt habe, ist ein Interesse für Spitzwegs Werk.

So gesehen war die Zeit, die der Roman und ich zusammen verbracht haben, dann doch keine ganz verlorene Liebesmüh. Nickel hat mir nicht nur die Augen für noch unentdeckte Kunstbereiche geöffnet, er hat auch meinen Respekt als Schriftsteller. Zwar konnte ich mit der Diskrepanz zwischen oder dem Spiel mit Schein und Sein nicht umgehen, aber andere Leser werden gerade das sicher zu schätzen wissen. Eine Nominierung für die Shortlist des Deutschen Literaturpreises kriegt man ja auch nicht grundlos.