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Benne

Bewertungen

Insgesamt 43 Bewertungen
Bewertung vom 30.08.2020
Zugvögel
McConaghy, Charlotte

Zugvögel


ausgezeichnet

Lasst euch mitnehmen auf eine einzigartige Reise…

Jetzt sitze ich hier, es ist Sonntagnacht, ich habe gerade „Zugvögel“ beendet und versuche meine Meinung aufzuschreiben. Ich versuche. Denn es ist gar nicht einfach, eine klare Stimme für ein Buch zu haben, das mir derart aus der Seele spricht wie dieser Roman. Ich hätte ihn locker innerhalb einiger Stunden suchtartig beinahe einatmen können, aber habe mich gezügelt, um den Lesespaß auf so viele Tage wie möglich zu strapazieren – es sind leider nur fünf geworden.

Und in diesen fünf Tagen hatte ich Spaß mit Franny, die zum Glück eine Crew findet, die Platz auf ihrem Fischerboot hat, damit Franny es soweit wie möglich in die Antarktis schafft, um die Migration der letzten Küstenseeschwalben zu verfolgen. Eine gemischte Truppe aus sieben Personen, die man selten antrifft, mit einem zynischen Kapitän, der das Sagen hat. Dadurch wird „Zugvögel“ zu einem Abenteuer, einem Gefühlserlebnis und einer geographischen Reise. Ja, man ist sogar selbst Teil des Teams, ob an der Seite von Franny oder davon losgelöst kann selbst entschieden werden.

Ich war gerne bei Franny – durch die Erzählung der Ich-Perspektive sogar in Franny. Diese Frau kann man am besten durch eine lange Aufzählung von Adjektiven beschreiben: Engstirnig, eigenwillig, egoistisch, tough, mutig, mitfühlend, liebend, selbstzerstörerisch, impulsiv, aufopfernd. Durchaus sind darin Gegensätze enthalten, die machen einen Menschen nun mal aus. Und selbst der Roman spielt deutlich mit Gegensätzen. Ich war hingerissen zwischen der realistischen Hoffnung, dass Franny das Artensterben der Zugvögel bremsen oder verlangsamen könnte und einem Nihilismus, sogar Pessimismus (Das hat doch alles keinen Sinn!), den ich ansonsten selten gefühlt habe. Was haben mir Passagen innerhalb dieser 400 Seiten das Herz gebrochen, erwärmt, zerrissen und zusammengeflickt. Wie in aller Welt kann man als Autorin einen perfekten Roman schreiben? Großartige Recherche, hochaktuelles Thema und ein Schreibstil zum Niederknien. Selbst der Spannungsbogen und die nichtlineare Erzählweise sind ungewöhnlich spannend für einen Roman, der äußerlich leider sehr unscheinbar anmutet.

Das sind meine Worte zu „Zugvögel“, kurz nach Beenden des Buches. In den nächsten Tagen bleiben mir möglicherweise die Worte weg oder aber mein Kopf sortiert alles und ich kann es klarer artikulieren. Aber nie wieder wird die Erfahrung so frisch, impulsiv und wahr sein wie jetzt gerade.

Bewertung vom 16.08.2020
Und auf einmal diese Stille
Graff, Garrett M.

Und auf einmal diese Stille


ausgezeichnet

Unglaublich in allen Facetten

Dieses Buch ist ein Werk der Extreme. Auf „nur“ 514 Seiten lässt der Journalist Garrett M. Graff aus mehr als 2000 Zeitungsartikel, Tonaufnahmen, Dokumentationen uvm. Hunderte Menschen zu Wort kommen, die wirklich etwas zu sagen haben. Am 11.09.2001 wurden die Zwillingstürme und das Pentagon in den USA von entführten Flugzeugen getroffen. Ein weiteres Flugzeug stürzte in Shanksville ab. Dieser terroristische Akt prägte nachfolgend die Politik, die Sicherheitsbestimmungen, Angstgefühle und Gedanken tausender Bewohner der Vereinigten Staaten und der ganzen Welt.

Es ist kaum zu glauben, dass der Autor solch unterschiedlichen Menschen eine Stimme gibt. Es tauchen Polizist*innen und Feuerwehrkräfte auf, die hautnah bei den Anschlägen dabei waren und dutzende Kolleg*innen verloren haben. Mitarbeiter*innen der Firmen im WTC, deren Angehörige, Lehrer*innen und Kinder aller Altersklassen, Fluglots*innen, Journalist*innen, Politiker*innen aller Ränge, Moderator*innen u.Ä. kommen zu Wort. Bei dem/der Leser/in bildet sich ein breit gefächertes Bild, welches stark von den Meinungen, Ansichten und Eindrücken aller Aussagen geprägt ist. Im Vergleich zu gewöhnlichen Dokumentationen erfährt man deutlich mehr Persönliches. Obwohl dieses Buch ein Sachbuch (bzw. genauer gesagt eine Oral History) rührte es mich einige Male zu Tränen. Zu wissen, dass diese wahren Geschehnisse ein Land in so einem großen Ausmaße erschütterte, ist grausam. Zum einen ist man sprachlos und fragt sich, wie viel Realitätsverlust und Hass in den Terroristen stecken muss, dass sie einen solchen Anschlag verüben. Auf der anderen Seite weckte das Buch einen großen Hoffnungsschimmer. Der 11. September war nämlich auch ein Tag der Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft und Solidarität. Und genau das soll einem dieses Buch zeigen. Es dokumentiert, zählt Ereignisse chronologisch auf, verknüpft Meinungen gekonnt, aber letztenendes ist es ein Zeugnis der Menschlichkeit, das dem/der Leser/in vor Augen gehalten wird. Es zeigt, dass wir stärker sind als der Hass, und Gemeinschaft, Toleranz und Nächstenliebe immer siegen wird.

Bewertung vom 03.05.2020
Das wirkliche Leben
Dieudonné, Adeline

Das wirkliche Leben


ausgezeichnet

Schmerzhaftes, einmaliges Buch

Dies ist das Buch der Stunde, welches sich noch unter dem Radar bewegt und gerade aus diesem Grund sich einer großen Beliebtheit erfreuen wird. Nicht wirklich ein Geheimtipp, aber auch noch kein Bestseller in Deutschland.

„Das wirkliche Leben“ ist Angst, Mut, Verzweiflung und Stärke in einem. Ein Buch, welches Intensität versprüht, sobald man es öffnet. Es ist die Geschichte einer dysfunktionalen Familie und mittendrin befindet sich ein Mädchen, welches darin aufwächst. Man darf nicht zu viel über den Inhalt verraten, da das Buch seine komplette Wirkung erst bei einem unvoreingenommenen Leser entfalten kann.

Beachtenswert ist die Tatsache, dass es am Ende viel spannender ist als angenommen. Dieudonné weiß den Leser über 239 Seiten hinweg mit einem immersiven Schreibstil zu fesseln und ihn zu einem Begleiter des namenlosen Mädchens zu machen, der aus der Geschichte selbst nach dem Zuklappen der Buchdeckel nicht mehr fliehen kann.

Es macht den Leser sprachlos, es macht traurig. Dennoch ist man begeistert von dem Mädchen, welches für seine Träume eintritt und ihre Meinungen verteidigt!

Bewertung vom 15.04.2020
Miracle Creek (eBook, ePUB)
Kim, Angie

Miracle Creek (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

So dermaßen vielschichtig

„Miracle Creek“ mutet an wie der typische Gerichtsroman, 464 Seiten gefüllt mit Verhandlungen, Befragungen, hoffentlich Geständnissen und allem, was zum Rechtswesen gehört. Der Inhalt offenbart sich jedoch erst einmal mit einem großen Knall, es gibt eine Katastrophe ohne Schuldigen.

Stück für Stück ergründet man anhand verschiedener Sichtweisen und einer Menge Charakteren, die eigene Kapitel bekommen, wie es zu der Explosion kommen konnte. Dabei entfalten sich Familienschicksale, die sehr ans Leserherz gehen. Man fühlt mit vielen – bei weiten nicht allen - Personen mit, leidet an Schicksalsschlägen und steckt mit ihnen gemeinsam in der ein oder anderen Klemme. Es kommt leider häufig zu Verwirrungen bezüglich der Personenkonstellationen im Laufe der Handlung; Es passiert viel, was unwichtig erscheint und dem nachher eine größere Bedeutung zugeschrieben wird. Dadurch verliert der Leser den Bezug zu den Verhältnissen: Wer fühlt was? Wer macht wem Anschuldigungen? Wer ist auf wen böse?

Meiner Meinung nach hätte man insgesamt 20-30 Seiten rauskürzen können, in denen „Belangloses“ passiert, was die Handlung nicht vorantreibt und den Spannungsbogen stark abflachen lässt. Dennoch ist „Miracle Creek“ ein beachtenswerter, durchaus lesenswerter Debütroman, aus dem man als Leser einige Lebensweisheiten herausziehen kann.

Bewertung vom 06.03.2020
Milchmann (eBook, ePUB)
Burns, Anna

Milchmann (eBook, ePUB)


weniger gut

Nur für die ganz Speziellen

Die Handlung des Buches spielt irgendwann, es wird aber nicht gesagt wann und irgendeiner Frau, deren Namen wir nicht erfahren wird vorgeworfen eine Affäre mit dem namenlosen Milchmann zu haben. Nichts hat in diesem Roman eine Bezeichnung, keine Substanz, absolut nix was greifbar sein kann, sondern am Leser vorbeizieht.

Tja, was soll man zu diesem Buch sagen, das so viel Lob erfährt, tagtäglich überschlagen sich die großartigen Meinungen, Man Booker Prize, „stilistisch vollkommen unverwechselbar“, das Buch der Stunde. Preis hier, Preis da. Das alles gewährt mir als Leser aber kein unmittelbares Lesevergnügen, sondern viel zu hohe Erwartungen bevor man überhaupt die erste Seite aufschlägt. Der Roman muss mir nicht gefallen, einzig und allein meine Meinung fällt negativ aus, eine Leseempfehlung gebe ich nur sehr beschränkt. „Milchmann“ ist distanziert, nüchtern und ruft beim Lesen absolut keine Gefühle hervor. Das literarische Äquivalent zu trockenem Brot.

Bewertung vom 19.09.2019
Der größte Spaß, den wir je hatten
Lombardo, Claire

Der größte Spaß, den wir je hatten


sehr gut

Großartiges Familienleben auf 719 Seiten

„Der größte Spaß, den wir je hatten“ ist das moderne Aushängeschild einer Dynamik zwischen Geschwistern. Es erzählt mehr über die Tücken des Älterwerdens, die Abhängigkeit von den Eltern und vor allem Zwischenmenschlichkeit als jeder Ratgeber es könnte.

Es ist die Geschichte von vier Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein können und dennoch eine große Gemeinsamkeit haben: Ihre in glücklicher, scheinbar problemloser Ehe lebenden Eltern. In der Essenz dreht sich die Handlung nämlich um Marilyn und David: Vom ersten Kennenlernen bis in die Gegenwart begleitet man die beiden, erlebt Geburten mit, schmerzhafte Trennungen, unerwartete Enttäuschungen, aber vor allem die größte Liebe, die man füreinander empfinden kann.

Der Roman lebt eindeutig vom Gefühl, das sich durch die geschriebenen Worte zum Leser windet. Claire Lombardo hat in ihrem Debüt bewiesen, dass sie weiß, wie man eine Geschichte schreibt, die nicht durch eine weltbewegende Prämisse Anklang findet, sondern von fein gezeichneten Charakteren und deren Wechselspiel lebt. Es bietet keine nie da gewesene Handlung, es wird auch nicht total schockieren. 719 Seiten sind dabei keineswegs zu viel, der Schreibstil Lombardos macht die Story leicht zugänglich.

Die Gestaltung des Buchs ist simpel, aber ein echter Hingucker. Das Cover zieren vier Ginkgo Blätter verschiedenen Alters in leichter Farbabstufung. Selbstverständlich liegt die Annahme nah, diese vier Blätter als Symbolik für die vier Schwestern zu sehen, das letzte Blatt deutlich kleiner als die restlichen, wie Grace mit einem großen Altersunterschied zu den älteren Geschwistern. Durch das harmonische, nicht allzu aufregende, ansehnliche Design bekommt man das richtige Bild vom Inhalt: Leicht verspielt, aufregend, abwechslungsreich, aber ohne Nervenkitzel.

„Der größte Spaß, den wir je hatten“ ist und bleibt eine Familiengeschichte. Als Leser kann man die tiefe Verbundenheit innerhalb der Familie spüren, das Knistern, das Blitzen, die Nähe. Wer Celeste Ngs „Kleine Feuer überall“ oder Chloe Benjamins „Die Unsterblichen“ mochte, wird auch Gefallen an diesem Familienporträt finden.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.08.2019
Wir von der anderen Seite (eBook, ePUB)
Decker, Anika

Wir von der anderen Seite (eBook, ePUB)


sehr gut

Hype, Hype, Hype – aber um was?

Schauspieler, Regisseure, Drehbuchautoren, Autoren, Buchhändler. Alle spielen verrückt. Was ist passiert? Anika Decker ist passiert! Die Drehbuchautorin und Regisseurin Anika Decker veröffentlichte im Juli 2019 ihren Roman „Wir von der anderen Seite“. Das Cover ziert ein kleines, quirlig buntes Eichhörnchen. Im kleinen und überraschend kompaktem Hardcover-Format, welches #ohnefolie verkauft wird, lädt es quasi dazu ein, geöffnet und angelesen zu werden. Nach einem Blick auf die Rückseite und ins erste Kapitel ist meine Entscheidung gefallen: Das. Muss. Ich. Lesen.

Vor der Lektüre hätte ich niemals gedacht, dass der Inhalt derart persönlich und gefühlvoll werden könnte. Es scheint häufig, als ob die Hauptfigur Rahel in Wahrheit Anika sei, nur eine falsche Haut übergezogen hat. Die Autorin betont, dass dem nicht so sei. Dennoch steckt viel Recherche in eigenen Krankenhausordnern in dem Buch, was ihm eine ehrliche, greifbare Seite verleiht. Manchmal etwas überzogen, auf die komödienhafte Spitze getrieben, klang es realitätsfern. Wahrscheinlich steckt selbst da eine feste Absicht hinter. Wem ist das denn überhaupt schon einmal passiert, dass man dem Tod so nahekommt? Ich wage zu vermuten, dass die wenigsten in so eine Extremsituation kamen. Und gerade aus diesem Grund zieht es so viele Leser an: Es ist ein Einblick auf eine andere Seite, auf das was passieren kann, aber mit dem man womöglich nie gerechnet hätte.


Solch ein Buch ist mir noch nie untergekommen. Der Schreibstil von Anika Decker ist so dermaßen witzig, dass ich mehrere Male laut auflachen musste, wenn zum Beispiel beschrieben wird, dass Rahel sich wie Mr. Burns fühlt. Ihr Talent als Drehbuchautorin und Regisseurin diverser deutscher Komödien kommt ihr hier zu gute. Ihr Humor wird nicht auf der großen Leinwand laut ausgesprochen, keine Bilder, die dazu geliefert werden und trotzdem verliert er nicht an Wirkung.


Danke Anika Decker, dass ich einen so persönlichen Einblick haben durfte, in das, was in deinem Autorenkopf vorgeht, aber auch womit du jahrelang zu kämpfen hattest. Auf eine amüsante Art brachtest du mir als Leser bei, wie man als Betroffener mit Veränderungen im Leben umgeht oder solchen Menschen im Umfeld zur Seite stehen kann.

Bewertung vom 19.07.2019
Die Nickel Boys
Whitehead, Colson

Die Nickel Boys


ausgezeichnet

Die Grausamkeit der 60er Jahre

Wie geschickt Colson Whitehead die Rassismus-Situation zur Sklavenzeit aber auch in den 60er Jahren in den Vereinigten Staaten in Form von Romanen verpackt ist jedes Mal beeindruckend. Mit „Underground Railroad“, einem mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten – und ansonsten wirklich ausgezeichnetem – Buch hat er sich in die Geschichtsbücher der aktuellen Belletristik geschrieben. Selbst wenn man seinen neuen Roman „Die Nickel Boys“ nicht mit dem vorherigen Roman vergleicht, steht er ihm meiner Meinung nach in einigen Punkten nach und konnte mich weder in seinen Bann ziehen noch ein einzigartiges Leseerlebnis vermitteln. Woran liegt das?

Der Autor behandelt ein wahres Thema, welches eine „Besserungsanstalt“ in den USA beleuchtet, in die der Protagonist Elwood gerät, nachdem er zur falschen Zeit am falschen Ort – einem gestohlenen Wagen – von einer Polizeistreife entdeckt wird. Darauf folgt eine lange Zeit in der Nickel Academy, die für mich nicht greifbar war. Die Schilderungen Elwoods schienen entfernt, als sei es eine andere Welt, die vor meinem geistigen Auge keine Form annahm. Es gab Momente, in denen man als Leser geschockt ist, die man nicht zu glauben vermag und dann passiert eine Weile erst einmal nichts Verstörendes, Ungewöhnliches.

Allen voran fehlte mir der emotionale Bezug zu Elwood, auf den sich Whiteheads Geschichte nicht stark genug konzentriert. Eine klare Hauptfigur ist hier zwar vorhanden, wird jedoch häufig von zahlreichen Nebencharakteren überschattet, denen deutliche Charaktertiefe fehlte. Die letzten Seiten des Romans hätten mich beinahe umgestimmt, dazu waren sie doch zu wenig. 50 zusätzliche Seiten hätten dem Buch meiner Meinung keinen Abbruch getan.

Dem Schreibstil kann ich nichts Schlechtes anhängen, aber auch nicht in den Himmel loben. Flüssig zu lesende Sätze, die Brutalität wird mehr deutlich, vermehrt sogar zwischen den Zeilen und trotz der geringen Seitenanzahl braucht man doch eine Weile, um das Buch und die Thematik lesen zu können und zu verdauen.

Große Achtung vor Colson Whitehead, der zum wiederholten Male ein sensibles Thema aufschnappt und es in einen Roman wandelt, der die Massen begeistern kann und Bestsellerpotenzial hat. Mich hat das Buch an sich nicht begeistern können, aber einige Fragen auf den Weg gegeben, die es wert sind zu bedenken und somit seine eigene Meinung zu reflektieren.

Bewertung vom 07.04.2019
Das Verschwinden der Stephanie Mailer
Dicker, Joël

Das Verschwinden der Stephanie Mailer


ausgezeichnet

Absolute Begeisterung! Dicker schreibt grandios

Es beginnt mit dem zentralen Ereignis, welches eine Kleinstadt im Staate New York in den Grundfesten erschüttert: 1994 wird während eines Theaterfestivals in der Kleinstadt Orphea die Familie des Bürgermeisters und eine Joggerin vor deren Haus getötet. Der Fall scheint abgeschlossen, bis Stephanie Mailer Zweifel am damaligen Täter Ted Tennenbaum hegt und die Ermittler zwanzig Jahre nach Abschluss des Falls Hinweise entdecken, die ein neues, erschreckendes Licht auf den Vierfachmord von 1994 werfen.

„Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ ist nur der Eisberg, der über der Oberfläche sichtbar ist, der Titel und die ersten Kapitel des Romans. Danach folgt eine Charakterstudie, die sich zur Studie einer kompletten Kleinstadt entwickelt. Nie zuvor hat sich eine Gemeinde so greifbar angefühlt, so echt als lese man reale Tatsachenberichte, die einen Sog entwickeln, dem man nicht entkommen kann. Dicker lässt den Leser zum Zeitreisenden werden: Unzählige Male wird man zwischen 1994, dem ersten Theaterfestival in Orphea, und 2014, dem zwanzigjährigen Jubiläum im Jahr des Verschwindens der Stephanie Mailer, hin und her geschickt. Hierbei sind die Zeitstränge sauber getrennt, eine Verwirrung findet nicht statt. Dennoch spinnen sich Fäden dazwischen, die Zusammenhänge bilden, die man nie erwartet hätte. Klug und feinfühlig schafft es der Autor jedes kleinste Ereignis in beiden Episoden einzigartig herauszustellen. Kleine, aber entscheidende Wendungen wirken genauso tiefgreifend und verändernd, wie drastische Plottwists, die alles anzweifeln lassen, was bisher geschehen ist. Der Roman ist vielschichtig und mehrdimensional, was ihm einige Male sogar zum Verhängnis wird. Zahlreiche Personen, deren Schicksale, Lebensgeschichten, Probleme und Beziehungen einfühlsam erzählt werden legen immer eine Schippe drauf. Es fällt schwer in den letzten Kapiteln zu rekapitulieren, was anfangs stattgefunden hat. Es gerät nicht in Vergessenheit, aber in den Hintergrund.

Das Alleinstellungsmerkmal dieses Romans ist definitiv Joel Dickers Schreibstil. Er liefert mit „Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ eine episodische Erzählung im Jahr 2014 gespickt mit Retrospektive, die sich ausgezeichnet mit der Gegenwart verbindet. Ein intensiver, unterschwelliger Ton bringt die nötige Dramatik hinein. Besonders hervorzuheben ist Dickers Kunst, die Regel „show, don’t tell“ meisterlich zu beherrschen. Man stelle sich ein Gespräch zwischen den Ermittlern und einer Zeugin vor, welche von einem Konflikt im Jahr 1994 berichtet. Der Autor lässt sie einleiten, setzt dann einen scharfen Schnitt und setzt den Leser 20 Jahre zurück. Es folgen also Geschehnisse, die sich viel näher und präsenter anfühlen, als eine simpel erzählte Geschichte der Zeugin. Eine solche Dynamik im Erzählstil trifft man selten an.

Joel Dickers Roman sei jedem ans Herz gelegt, der die Atmosphäre und den Handlungsverlauf in Eugene Chirovicis Romanen mag. Findet man als Leser Gefallen an beziehungsreichen, verflochtenen Geschichten, die sich sowohl zeitlich als auch räumlich erheblich aufspannen, dann hat man auf jeden Fall Spaß mit diesem Buch. Ach, lange Rede, kurzer Sinn: Jeder sollte diesen Roman lesen: Er ist herausfordernd, grandios erzählt, schockierend und echt!

Bewertung vom 16.02.2019
Das Echo der Wahrheit
Chirovici, Eugene

Das Echo der Wahrheit


ausgezeichnet

Trügerische Erinnerungen, große Lügen und die Suche nach der Wahrheit

Eugene Chirovici (zuvor E.O. Chirovici) ist ein rumänisch-ungarisch stämmiger Autor, der 2017 mit seinem ersten ins Deutsche übersetzten Werk „Das Buch der Spiegel“ zumindest bei mir einen bleibenden Eindruck und ein Jahreshighlight hinterlassen hat. „Das Echo der Wahrheit“ steht seinem Vorgänger in nichts nach.

Wieder konstruiert Chirovici einen tiefgründigen, komplexen Plot, dessen Inhaltsangabe nur 10% der gesamten Geschichte wiedergibt. Das fasziniert mich jedes Mal aufs Neue. Man beginnt das Buch zu lesen, findet Stücke der Synopsis im Gelesenen und in den ersten Kapiteln wieder, dann endet das, was man zuvor bereits grob erwartet hat. Plötzlich öffnen sich zahlreiche Hintertüren, Nebencharaktere treten auf, man reist an zahlreiche Orte und hätte nie gedacht, dass so dermaßen viel hinter diesem Buch steckt. Denn „Das Echo der Wahrheit“ ist definitiv mehr als ein Psychiater, der einen Multimillionär besucht, um seine Erinnerungen an eine schreckliche Nacht vor vielen Jahren wiederherzustellen. Dabei enthält der Roman genau den richtigen Anteil an Handlung, nichts unnötig lang Erklärtes oder gar fehlende Stellen, die zum Verständnis beitragen würden. Manche Abschnitte sind dabei komprimiert, andere wiederum stark gestreckt: Die Mischung machts!

Sein Schreibstil erzeugt eine nicht näher definierbare Sogwirkung auf mich. Einmal aufgeschlagen, klebt das Buch an meinen Händen und ich bin versunken in die Geschichte. Selbstverständlich gibt es Bücher, die schockierender und aufwühlender sind, dennoch schaffen es nicht viele davon mit jedem Satz ins Schwarze zu treffen und mich vollständig zu überzeugen.

Besonders die Mischung der Erzählstile kann stark punkten. Zahlreiche Kapitel des Romans bestehen aus Tagebucheinträgen, andere aus Gesprächen, manche enthalten Briefe. Die verschachtelte Story wird durch Dokumente und Nachforschungen erzählt, in diesem Fall ähnelt es dem Debüt Chirovicis. Im Gegensatz zu diesem, begleitet der Leser in „Das Echo der Wahrheit“ nur einem Erzähler, jedoch vielen involvierten Personen, die den Fortgang der Handlung maßgeblich beeinflussen, aber auch Steine in den Weg legen.

Großen Respekt an Eugene Chirovici, der in seinem neuesten Werk gekonnt Wahrheit mit Fiktion vermischt und die Vergangenheit gegen die Gegenwart antreten lässt. Nicht nur die Charaktere fragen sich, ob ihre Erinnerungen sie nicht doch trügen, sogar ich frage mich dies nach dem Lesen. Ich hoffe, es wird noch viel von diesem Autor veröffentlicht, der Geschichten schafft, die ich jedem ans Herz legen kann!