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Rico

Bewertungen

Insgesamt 53 Bewertungen
Bewertung vom 06.09.2015
Magdalenas Garten
Gerstenberger, Stefanie

Magdalenas Garten


sehr gut

Magdalena ist Begleiterin einer deutschen Reisegruppe auf Elba. Eigentlich sucht sie dort ihren Vater. Ausgerechnet ein Italiener, hat Opa Rudi vor Jahren einmal zu seiner Frau gesagt. Opa Rudi bei dem Magdalena aufgewachsen ist, weil ihre Mutter Heidi früh verstarb. Das einzige, was Magdalena von ihrem Vater hat ist ein Foto mit der Mutti drauf. Offensichtlich in einem Lokal aufgenommen worden. Wie der Zufall so will findet Magdalena das Lokal auf Elba. Sie muss ihren Vater finden. Nach einem Verkehrsunfall kommt sie bei Nina und Matteo unter. Sie, eine fast krankhaft hilfsbereite Person, geheimnisvoll, schön und eigentlich zu klug, um in einem Club, am Tresen zu arbeiten. Er, der Nina jedes Mal genervt hilft mit den Hilfsbedürftigen und Beladenen, die sie dauernd aufnimmt. Magdalena nistet sich bei den Beiden ein. Bald will sie gar nicht wieder zurück nach Deutschland, wegen dem Papi, vielleit aber auch weil Daheim eine unglückliche Dreiecksliebesbeziehung wartet, ein strunzlangweiliger Job und ein Nest mit Namen Osterkappeln, was sicherlich für jeden Menschen ein Grund aum Auswandern wäre. Und so wird aus dem angedeuteten Spannungsroman, nach und nach, eine Entwicklungsgeschichte. Magdalena nimmt ihr Leben in die Hand, nebenbei bringt ihr ein argentinischer Gaucho das Scheibenschiessen bei, sie nimmt einen Job in der Gastronomie an. Was würde Opa Rudi von seiner Magdalena halten, wenn er von den Champagnerkelchen erfahren würde, die sich seine Enkelin vor dem Einschlafen runterkippt, als begösse sie ein trockenes Tulpenbeet mit Quellwasser.

Stefanie Gerstenberger zeichnet ihre Schauplätze ausserordentlich präzise. Zu Beginn hat mich der Schreibstil manchmal genervt, weil in Romanen nun wirklich nicht jede Badfliese beschrieben werden muss. Schieben wir es nach Sprachmacht der Gerstenberger zu, dass sie manchmal über das Ziel hinaus schiesst. Ihre Beobachtungsgabe ist enorm. Der leicht zähe Anfang gibt sich allerdings rasch und dann ist der Roman sehr unterhaltsam und richtig gut. Die Personen wirken so plastisch, als stünden sie neben einem im Raum, sie sind nie überzogen, ausgesprochen glaubhaft und haben Tiefenschärfe. Ob Nina, Magdalena oder Matteo alle haben ihre Laster, ihre guten und schlechten Seiten. Das Leben auf Elba wird in vielen Facetten liebevoll und prägnant geschildert. Aufgefallen ist mir neben dem ausgezeichneten Cover noch die gelungene Konstruktion des Romanes. Da läuft alles in der richtigen Spur, alles hat seinen Sinn, alles läuft auf einen überraschenden Ausgang hinaus. Mich hat das Buch wirklich positiv überrascht. Klasse

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.09.2015
Sieh mir beim Sterben zu / Monkeewrench-Crew Bd.5
Tracy, P. J.

Sieh mir beim Sterben zu / Monkeewrench-Crew Bd.5


weniger gut

Im Internet tauchen Videos von realen Morden auf. Das FBI ist ratlos und wendet sich an die Monkeewrench Crew, einen Haufen junger Internet Tüftler und Hacker, die sich auf die Fährte der Täter begeben.

Mich hat der Roman nicht besonders fesseln können, zu durchsichtig war mir die Story- nach etwa der Hälfte war mir der Ausgang mehr oder weniger klar- ich habe da noch auf eine überraschende Wendung beziehungsweise auf eine Überhöhung gehofft, die blieb leider aus. Was mir gefallen hat, ist die solide Sprache der Autoren und die Grundidee mit den filmenden Mördern. Auf der anderen Seite fehlte es mir deutlich an Bindung zu den Protagonisten, die wirklich zahlreich waren und vielleicht dadurch kaum an Konturen gewinnen konnten. Eigentlich bleibt das komplette Personal in den Klischees von nicht immer guten Fernsehserien verhaftet. Das Buch ist mir mit zu viel Routine und zu wenig Herzblut verfasst worden, wenn ich das einmal hausbacken formulieren darf.

Bewertung vom 06.09.2015
Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim
Coe, Jonathan

Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim


sehr gut

Maxwell Sim ist einsam, seine Frau hat ihn verlassen, die Tochter wird langsam flügge, der Vater, ein sonderbarer Verse-schreibender Lyrikkauz, dessen Geheimnisse später gelüftet werden, ist nach dem Tode der Mutter nach Australien gezogen, wo der depressiv, antrieblose Max ihn besucht. Ein ungewöhnliches Unterfangen für ihn, der eigentlich nur noch Facebookbekanntschaften pflegt, nachdem er auch seinen letzten Schulfreund vergrault hat. Nach dem fast sprachlosen Verwandtschaftsbesuch Down-Under ist Max erst einmal richtig zum Plaudern zu Mute und so labert er im Flugzeug ins heimatliche England seinen Sitznachbar zu, der daraufhin leider das Zeitliche segnet.

Daheim angekommen wird Max auf eine Werbekampagne eines Ökozahnbürstenherstellers aufmerksam gemacht. Vier Personen sollen in die entlegensten Regionen des Königreiches fahren, um das Heil biologisch einwandfreien Borstenmaterials zu verkünden. Begleitet wird Max einzig von seinem Navigationsgerät Emma, in das er sich alsbald innig verliebt. Begleitet wird er von der Vergangenheit, die er unterwegs zu klären versucht, so sie ihn denn einholt. So trifft er seine Exfrau Caroline, der es inzwischen gut wie nie geht, seiner Blackberry vertieften Tochter und einem kruden Haufen Einheimischer, unter denen sich Maxwell Sim wie ein Fremdkörper vorkommt. Einzig seine Fast-Exfreundin Alison verspricht ein bisschen Hoffnung für den frustrierten Helden...

Auf den ersten etwa einhundertfünfzig Seiten hat mich das Buch nicht besonders begeistern können. Klar, es ist sauschwer einen derart antriebsschwachen Charakter einzuführen, wie Maxwell Sim, der sich selbst sein Handy einfach widerstandslos wegklauen lässt. Aber auch der etwas hausbackene Schreibstil sorgt für weinig Unterhaltungswert in der Anfangsphase wohl gemerkt, nachher läuft der Roman wesentlich besser, teilweise brilliant. Aufregend über die gesamte Länge, ist vor allem die unglaubliche Ideenvielfalt des Autoren. Es wird nach und nach deutlich, wie die psychische Verfassung von Maxwell Sim zustande gekommen ist und tatsächlich kommt dann eine grosse Wende, die viel mit seinem Vater zu tun hat und der Kreis schliesst sich tatsächlich. Die unendlichen Ideenströme fliessen am Ende zu einem logischen ganzen zusammen. Einem Ende, vor dem der Leser mit einer Mischung aus Faszination und Achtung steht. Maxwells Sims Geschichte ist tragikkomisch, ironisch und erbarmungslos, was seinen Helden angeht. Ich bin zwar nie wirklich mit Max warm geworden, aber was die Story angeht: Hut ab!

Bewertung vom 06.09.2015
Der gefrorene Rabbi
Stern, Steve

Der gefrorene Rabbi


gut

Der pubertierende Teenager Bernie Karp findet in der Tiefkühltruhe, des väterlichen Eigenheimes einen eingefrorenen Rabbi. Laut seines Vaters handelt es sich bei dem bewohnten Eisblock um ein Familienerbstück, dass seit Generationen an die Nachkommenschaft weitergereicht wird. Bei einem Stromausfall taut der Geistliche auf und entwickelt nach kurzer Zeit eine lukrative Einnahmequelle mit dem Haus der Erleuchtung. Bernie, bis dahin eine fernsehversessene, dauernd onanierende Trauergestalt begibt sich auf eine Sinnsuche. Tatsächlich entdeckt er eine tief versteckt Spiritualität in sich, die von seiner Freundin Lou Ella bei gemeinsamen Liebesspielen offen gelegt. Vorsicht Seelenwanderung!

In einem zweiten Handlungsstrang wird die Herkunft des Rabbi erzählt. Eine hundertjährige Reise aus Osteuropa nach Memphis, tief in den Süden der USA beginnt.

Meinung:

Die Idee zu diesem Roman ist wirklich außergewöhnlich. Auch die sprachlichen Fähigkeiten des Autoren haben es mir angetan. Er nutzt einen sehr modernen bilderreichen Schreibstil. Oft hat mich der Stil an Eugenides Middlesex oder T.C. Boyles Meisterwerke erinnert, womit die Gemeinsamkeiten allerdings auch schon aufhören. Denn Steve Stern treibt den Roman zwar mit brachialer Wucht voran, doch bleibt das Buch bisweilen zähflüssig zu lesen. Was bis zur Hälfte des Buches, an den vielen jüdischen Wortschnipseln liegt, die schwer verständlich sind und oft unnötig wirken. Zudem wählt Stern seine Handlungsorte und Zeiten nicht immer klug, auch die Geschichte selbst lahmt, weil mit sehr vielen Versatzstücken anderer Romane gearbeitet wird. So ist die typische Hosenrollen Geschichte von Max und Jochebed in unendlich vielen Büchern bereits beschrieben worden. Stern hat dem nichts Neues hinzuzufügen. Nein, im Gegenteil, Steve Stern schreibt eine der üblichen amerikanischen Aufsteiger Geschichten, vom Tellerwäscher zum Millionär und bedient sich reihenweise der ebenfalls üblichen Klischees, der zupackende Mann, die geschäftstüchtige Frau. Die Figurenzeichnung bleibt dabei durchgehend an der Oberfläche, bei Ruby finde ich sie teilweise kaum für nachvollziehbar. Am Empathie befreiten Ruby möchte ich noch eine weitere Schwäche deutlich machen, die mir negativ aufgefallen ist. Die Figur ist mit einer Bedeutungslosigkeit an mir vorübergegangen, die seinesgleichen sucht. Ein Buch braucht nicht unbedingt Symphatieträger, aber ich muss mitfiebern können, die Protagonisten sollten einem Leser doch etwas bedeuten, dass ist bei keiner Person von „Der gefrorene Rabbi“ der Fall. Alles schon einmal woanders gelesen, oft bissiger und ironiereicher. Richtig lustige Passagen finde ich vorwiegend, wenn es um Bernie Karp geht und den kapitalismuserregten Rabbi, der das Botox-Wunder der Neuzeit zu schätzen weiß. Ich habe Boyle und Eugenides bereits erwähnt. Beiden ist es in der Vergangenheit wesentlich besser gelungen ihre unvergesslichen Protagonisten in ein geschichtliche Umfeld einzubetten, dass neugierig macht. Steve Stern, ist das nicht gelungen. Die Vergangenheit wird sehr stark beleuchtet. Die Gegenwart nur spärlich. In Osteuropa zu speziell, in Amerika zu wenig speziell, in Israel über das Ziel hinaus geschossen, mit einem allerdings ganz sinnstiftenden Ende für unseren Bernie Karp, der vielleicht am meisten Resonanz erzeugt. Stern hat ein ordentliche Unterhaltungsbuch geschrieben, mehr nicht, weniger aber auch nicht.

Bewertung vom 06.09.2015
Die Freundin meines Sohnes
Grodstein, Lauren

Die Freundin meines Sohnes


ausgezeichnet

Der Arzt Pete Dizinoff mischt sich in das Leben seines Sohnes Alec ein und gerät dabei an dessen Freundin Laura, die Tochter eines befreundeten Paares. Laura hat in ihrer Jugend ihr Baby getötet, wurde von Psychatern behandelt. Sie schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, die Sie durch die halbe Welt führen. Zurück Daheim trifft Sie den zehn Jahre jüngeren Alec. Endlich liebt Sie einmal jemand richtig. Alec schmeisst für Laura die Ausbildung hin und will mit ihr als Maler in Paris leben. Für Pete Dizinoff eine schreckliche Vorstellung. Für ihn ist es unmöglich von der Vorstellung loszulassen, dem Sohn eine vernünftige Ausbildung bieten zu wollen. In einem weiteren Handlungsstrang geht es um einen möglichen Kunstfehler des Arztes. Eine Patientin ist verstorben, anscheinend ist Pete Schuld. Freundschaften zerbrechen, die Familie wird zerstört. In Rückblenden zeichnet Lauren Grodstein, den Zerfall einer bürgerlichen Fassade.

Lauren Grodstein bringt ein Kunststück fertig: Sie schlüpft, als Ich-Erzähler in die Rolle eines Mannes und breitet in meisterhaften Passagen das Innenleben von Pete Dizinoff aus. Bislang habe ich lediglich von Doris Dörrie einmal ein ähnlich riskantes Buch gelesen, in dem die Autorin ebenfalls meisterlich aus der Sicht eines Mannes fabulierte. (Was machen wir jetzt) Technisch gesehen erzählt Lauren Grodstein nahe an der Perfektion, die Rückblenden lesen sich nur selten mühevoll, meist sind sie wohl dosiert in das Geschehen eingebettet und grandios ausgeführt. Lauren Grodstein gelingt es ihrem gesamten Personal Leben einzuhauchen. Die Rahmenhandlung wird ungeheuer Realitätsnah und nüchtern ausgebreitet. Über zwei Schwachpunkte muss man sicherlich sprechen: Zwar bin ich dem Roman aufgrund der Spannung, die aus den familiären Konflikten heraus entstehen gefolgt, muss allerdings anmerken, dass diese Spannung sehr linear aufgebaut ist. Um es einfacher auszudrücken: Es geschieht nichts Unvorhersehbares. Eigentlich ist alles Vorhersehbar. Wie gesagt: Mir war das genug. Ich habe mich gut unterhalten. Ein zweiter Schwachpunkt ist für mich im Verhalten von Elaine zu Pete nicht sauber aufgelöst. Sie wirkt auf mich ziemlich iloyal, sprich etwas unglaubwürdig, übertrieben angefressen vom Verhalten ihre Mannes, der ihr in schweren Zeiten beigestanden ist. Ansonsten ein gelungenes Buch mit tiefe Einblicke in die amerikanische Mittelschicht.

Bewertung vom 06.09.2015
Ein Sommer aus Stahl
Avallone, Silvia

Ein Sommer aus Stahl


ausgezeichnet

Der Stahlstandort Piombino liegt gegenüber der Insel Elba. Vom Strand aus sehen Anna und Francesca, zwei flügge werdende italienische Mädchen, die reiche Touristeninsel und träumen vom Aufstieg. Francesca möchte gerne ein Star werden. Anna will die Welt verändern, am besten gemeinsam. Freundinnen für immer, klar. Bis dahin müssen sie nur noch irgendwie das Leben der Hochhauswelt, den Staub, die Via Stalingrado und ihre Erzeuger überleben. Annas Vater ist spielsüchtig, konvertiert später auf spektakuläre Weise zu tatsächlich zu gewinnbringenden Geschäften, die bald seiner Ehefrau Kurzzeitwohlstand beschert, bis sie erneut an Rand der Verzweiflung gerät. Francescas Vater dagegen beobachtet seine Tochter auf Schritt und Tritt. Immer mit der Behauptung, er passe auf sie auf, eigentlich will er sie jedoch wohl nur zu einer Art Zweitehefrau machen. Zwei besondere männliche Exemplare? Mitnichten! In diesem Roman wimmelt es nur so von kleinen männliche Wichten, die sich nichts wichtigeres vorstellen können, als mit einer der Tänzerinnen aus dem Gilda Nachtclub Sex zu haben. Was soll man nach Feierabend auch machen? Die Ehen, meist früh geschlossene Einbahnstrassen der Tristesse, dienen meist der Frustbewältigung. Der Sinn des Lebens reduziert sich in Piombino auf die Einnahme von Drogen, Sex und Arbeit, bis zum Abwinken, nicht immer in der Reihenfolge. Alle Männer arbeiten für das Stahlwerk. Inzwischen für einen russischen Investor, der am Liebsten den Schuppen nach Polen auslagern möchte.

Italien auf dem Weg nach unten. Nicht mit Anna und Francesca, die schwören sich immer noch ewige Treue und ja, sie sind jetzt dreizehn, das wird ihr Sommer, also Brust raus, Jungs anmachen, Gas geben. Nur nimmt Anna einen falschen Abzweig auf Mattias Karre, findet Francesca zumindest. Eifersüchtig beäugt sie AnnasVerhalten ihrem neuen Freund gegenüber. Klarer Fall: das ist echte Liebe. Scheisse sie ist aus dem Spiel! Sie fühlt sich von Anna verraten und so gräbt sie sich nun in sich selbst ein, kriecht zurück in ihr Schneckenhaus und sucht sich nicht nur eine neue Freundin....

Mein Lieblingsbuch in diesem Jahr! Warum? Weil "Ein Sommer aus Stahl" richtig gute Literatur ist. Geschrieben von einer Frau die einem etwas mitzuteilen hat. Wegen solcher Bücher quält sich der geneigte Leser durch tausend schlechte Schinken.

Silvia Avallone beherrscht ihr Handwerk tadellos. Das Buch ist brilliant durchkomponiert, feurig geschrieben, realitätsnah, bis zum Wehtun, es zeigt die Arbeiterwelt in all ihren Facetten und endet in einem grossartigen Schlussspurt. Alle vorkommenden Personen werden gnadenlos und völlig unromantisch unter die Lupe genommen und fachgerecht seziert, fast spielerisch springt Silvia Avallone von dem einen Kopf in den nächsten, immer auf Spurensuche. Warum sind diese Menschen, wie sind? Warum begnügen sie sich mit einem eintönigem Leben, dass dem Leben jener Katzen gleicht, die rammelnd, fauchend, einäugig und mit verbrannten Schwänzen durch die dahin rostende Fabrik rennen um diese niemals zu verlassen? Zum Glück gibt es die Frauen in diesem Buch, denn in einigen von ihnen brennt ein Hoffnungsfunken, ganz unsentimental, ganz rational, mehr wird nicht verraten!

Bewertung vom 06.09.2015
Einmal durch die Hölle und zurück
Bazell, Josh

Einmal durch die Hölle und zurück


gut

Ex-Auftragskiller Pietro erhält ein verlockendes Angebot: Er soll für den Milliadär Rec Bill herausfinden, ob sich im White Lake ein Seeungeheuer befindet. Die Paläontologin Violet Hurst begleitet auf die Expedition. Dazu müssen sie in die tiefste Provinz der USA, ins Herz Minnesotas. Ford ist keine Bilderbuchkleinstadt eher ein urbanisierter Albtraum, voller Verlierer, Drogenfreaks und Bad Guys. Im nahe gelegenen White Lake See sind Menschen angeblichen von einem Seeungeheuer vom Leben zum Tode befördert worden. In Ford herrschen- neben selbst hergestellten synthetischen Drogen- Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Misstrauen. Pietro glaubt die Geschichte vom Nessi-verwandten Seeungeheuer natürlich nicht. Aber für 85000 Dollar ist ihm kein Weg zu weit, keine Idee zu blöd. Pietro ist Vernunft pur. Genau wie die schöne Violet. Zwischen den beiden entspinnt sich eine explosive Beziehung.

Leider hält der Roman nicht, was der Buchumschlag verspricht. Da wird ein Inferno aus Wahnsinn und Gewalt angekündigt. Ein Riesenspaß, soll da auf den Leser zukommen. Im Buch sind von davon nur homöopathische Dosen zu finden. Vor allem kommt die Spannung zu kurz. Dafür ist der „Ich“-Erzähler Pietro ein echter Pluspunkt. Ein heiliger Unheiliger mit Hang zum Nihilismus. Überhaupt hat Josh Bazell ein gute Händchen beim Figurenaufbau. Außer dem Milliardär Rec Bill, den ich als zu saftlos empfunden habe, wirkt das gesamte Personal vom Leben auf sonderbare Weise deformiert, interessant und skurril, wenn auch bezogen auf das Ende, nicht immer glaubhaft. Der Text erzeugt trotz fehlender Spannung einen gewissen Sog, weil die ironische Sichtweise des Protagonisten und der Dauerschlagabtausch mit Violet ein regelrechtes Sperrfeuer gegen aufkommende Langeweile legen. Ungemein intelligente Dialoge atmen die liberal aufgeklärte Grundhaltung des Autoren, der falschen Konservatismus und Unwissenheit seines Geburtslandes anprangert. Da wird anhand der Evolution, die wortgetreue Auslegung der Bibel zerlegt. Sarah Palin, ehemalige Präsidentschaftskandidatin der USA bekommt ihr Fett weg, wobei es allerdings nur partiell komisch zugeht. Die Leugner des Klimawandels, die gesamte neoliberale Elite des politischen Amerikas wird mit Hohn und Spott überzeugen. Was oft in unzähligen Fußnoten geschieht, die jeweils den Lesefluss unterbrechen und mit der Handlung wenig zu tun haben. Fast hat man den Eindruck, der Roman wäre lediglich wegen der Fußnoten und dem Anhang geschrieben worden. Denn inhaltlich hapert es bei dem Buch über weite Strecken. Da wäre ein läppisch abgehandeltes, unglaubwürdiges Ende zu nennen, dass ich ehrlich gesagt, schon hundert Seiten lang auf mich zukommen gesehen habe. Oder dramaturgisch durchhängende Handlungsabläufe, die in Lappalien münden, wie bei der nächtlichen Fotostory. Vieles ist einfach an mir vorbei gelaufen, manches fand ich unverständlich. Das Lustige ist: Letztlich scheitert der Roman ausgerechnet auf der Ebene auf die Josh Bazell den Leser hinführen will, es mangelt an logischer Unterfütterung der der Welt präsentierten Wahrheit, an Nachvollziehbarkeit. -Ja, an Vernunft.

Bewertung vom 06.09.2015
Nur eine Ohrfeige
Tsiolkas, Christos

Nur eine Ohrfeige


ausgezeichnet

Schlicht gesagt, geht es in dem Buch um eine Ohrfeige, die ein Erwachsener, dem kleinen Hugo verpasst, einer monströsen kindlichen „ich“-Maschine, die von einer labilen Mutter groß und größer gesäugt wird. Das ganze geschieht, während eines belanglosen Grillfestes in einem der sterilen Vororte Melbournes. Mein Haus, mein Auto, mein Job, meine Vorzeigefamilie, darüber definieren sich die unterschiedlichsten Ethnien im Schmelztiegel Australien und richten sich in ihrer Langeweile ein. Da kann so eine lapidare Ohrfeige schon Risse in den Putz des modernen Mittelschichtbürgers sprengen.

Erzählt wird die Geschichte aus acht verschiedenen Perspektiven. Der Hausherr Hector, passives Muttersöhnchen, verbeamteter Frauenschwarm in der Midlife Crises ansonsten viriler Allesvögler ist stoned, als das Ereignis eintritt, scharf auf eine anwesende Minderjährige und versucht nicht auf das Minenfeld zu treten, dass sich zwischen seiner Mutter seiner indischen Ehefrau auftut. Immerhin verschafft ihm seine griechische Abstammung die Möglichkeit einmal eindeutig Stellung zu beziehen. Der Täter muss unschuldig sein, er stammt aus der eigenen Familie. Für Anouk, eine toughe Schreiberin für schwachsinnige Fernsehserien und Jungmannschwäche ist die Sache schon komplizierter. Eigentlich will sie lieber den Roman ihres Lebens schreiben. Eigentlich will sie Klartext mit Hugos Mutter sprechen, wenn die Freundschaftsbande dreier Frauen nicht ihren Verständnistribut einfordern würden.

Harry, der hitzige Ohrfeigenverteiler, ist erfolgreicher Geschäftsmann und Macher kann es nicht fassen, wegen einer lächerlichen Backpfeife vor den Richter ziehen zu müssen. Was kann er für Rosies verzogene Göre? Das ausgerechnet Er, der unsozialste, die Morallawine los tritt ist folgerichtig. Connie, Kindermädchen der kindlichen „ich“- Maschine träumt den Traum aller Heranwachsender von der besten Party der Stadt und dem coolsten Typen, des Universums. Es ist kein leichtes Los in dem Alter zu sein, schon gar nicht ohne die verstorbenen Eltern, die keine Richtung, keinen Halt mehr geben können. Egal, in dieser Vorstadthölle übernehmen die Teenager, die eigene Erziehung, von Drogen benebelt, gleich mit. Ihre Arbeitgeberin Rosie lässt es zum Äußersten kommen, den Gerichtsprozess gegen Harry. Was einmal so schmerzvoll aus ihrem Unterleib gefahren kam, gebührt der Aufmerksamkeit einer hingebungsvollen Mutter, die allerdings mit einigen charakterlichen Schönheitsfehlern ausgestattet ist, welche nicht ganz unschuldig an dem Geschehen sind.

Manolis, Hectors Vater, betrachtet das Leben aus dem Blickwinkel eines mit sich hadernden Rentners, dessen beste Zeit schon weit zurück liegt. Irgendwie hat sich die Welt verändert, Freunde sterben weg. Alte Gewissheiten geraten ins Wanken. Vielleicht hätte er weniger Kompromisse machen sollen, sicher sogar. Zeit für Ordnung zu sorgen. Er startet einen Vermittlungsversuch. Das erwachsene Menschen, die ihr Geld als Ärzte und Geschäftsleute verdienen, nicht in der Lage sind eine Lappalie in Sekundenschnelle aus der Welt zu bringen, wenn der Qualm der ersten Ärgers einmal verraucht ist, kann er nicht glauben.

Es ist schon ein besonderes Erlebnis für mich gewesen, den Roman zu lesen. Christos Tsiolkas schaut hinter die Fassade einer total durch individualisierte Gesellschaft, in der kein kleinster gemeinsamer Nenner mehr gefunden werden kann. Zwischen gelungenen und gescheiterten Lebensentwürfen bekommen hier Bagatellen ein Hochhausgewicht. Der Lebensinn muss, gespeist durch den jeweiligen kulturellen Hintergrund, mühevoll konstruiert werden, nachdem der Broterwerb gesichert ist. Dazu dienen neben sexuellen Erlebnissen und Bedürfnisbefriedigung jedweder Couleur, überlieferte Grundüberzeugungen, die man täglich selbst mit den Füssen tritt.

Die „ich“-Maschine erreicht mit dem kleinen Hugo einen Höhepunkt. Wer immer da zuschlägt, schlägt zunächst einmal sich selbst. Schriftstellerisch ist „Nur eine Ohrfeige“ eine Meisterleistung.

Bewertung vom 06.09.2015
Der Boss
Netenjakob, Moritz

Der Boss


sehr gut

Daniel und Aylin wollen heiraten. Er, ein dauerreflektierender deutscher Sprücheklopfer, den sein Hobby in die Werbebranche geführt hat. Sie, eine smarte junge Türkin, die ihren Daniel in die Geheimnisse osmanischen Brauchtums unterweisen will. Im Reisebüro von umtriebigen bald-Schwager Kenan gerät selbst die Suche nach dem passenden Urlaubsort zu einer Odyssee über den Globus. Soll er sich für die Malediven entscheiden? Die Seychellen? Wie immer weiß Daniel das nicht so genau. Blöd, dass Aylin ihn auffordert die Entscheidung zu treffen, nicht nur der Reise wegen, sondern von nun an, für alles, für immer, unumstößlich und Beratungsresistent, wie die Männer in Anatolien eben so sind, soll er der Boss sein. Ausgerechnet Daniel. Er muss in die Rolle des Familienoberhauptes schlüpfen, wird ihm plötzlich bewusst. Wie zum Teufel macht man dass, wo Daheim noch die Barbapapa Poster an der Wand hängen? Ganz und gar aus den Fugen gerät sein Leben, als er einen neuen Job, in seiner alten Werbefirma annehmen soll. Dieses Mal, als Chef. Währenddessen zieht Aylins fundamentalistischer Onkel Abdullah zu ihm in die Wohnung und will ihn auf seine Gottesfürchtigkeit überprüfen. Das Aufeinandertreffen der Kulturen forcieren Daniels toleranzgestählten Eltern, zwei Alt-Achtunsechziger, die in ihrer intellektuellen Abgehobenheit nur noch von dem befreundeten Theaterregisseur Dimiter Zilnik- übrigens eine herrliche Heiner Müller Figur und dessen weinerliche, komplett merkbefreite Nacktmuse Ingeborg Trutz übertroffen werden. Der Weg bis zur tausendköpfigen Hochzeitsfeier in Leverkusen ist weit. Es gilt emotionale Tiefschläge wegzustecken, wilde Autofahrten zu überleben und sexuellen Entzug zu verkraften. Außerdem soll Daniel einem völlig untalentierten dickbäuchigen Brauereierben, den Weg in Deutschlands Starhimmel ebnen. Sonst ist es aus mit den fetten Aufträgen, des Herrn Papa und der Karriere.

Moritz Netenjakobs Schreibstil erinnert an Tommy Jaud. Ein wahres Gagfeuerwerk wird aneinandergereiht. Zwei Kulturen prallen aufeinander, deren Protagonisten die denkbar gegensätzlichste Haltung zum Leben einnehmen. Wie Onkel Abdullah zu Daniel. Aylins bodenständige Eltern, zu Daniels abgedrehten Bildungsbürgereltern, die partout nicht spießig sein wollen. In Wahrheit jedoch Fundamentalisten der Aufklärung sind und als solche spießiger kaum sein können. Der ein oder andere Lachanfall war bei dem Roman unvermeidlich. Das Ding sprüht nur so von Witz. Einzig die Braut hätte etwas schärfer gezeichnet werden können. Ansonsten spielt Netenjakob gekonnt mit den Klischees und Eigenheiten auf beiden Seiten. Selbst dramaturgisch ist ihm eine feine Leistung zu attestieren, was bei Romanen dieses Genres eher selten ist.

Bewertung vom 06.09.2015
Als der Regen kam
Augstburger, Urs

Als der Regen kam


sehr gut

Als Mauro Nesta zurück in den Ort seiner Kindheit zurückkommt, bekränzen die Einwohner gerade die Strasse. Die Stadt macht sich schick. Das Jugendfest wirft seine Schatten voraus. In Mauro keimen ungute Erinnerungen auf. Mauro weiss nur zu gut, was hinter der schönen Fassade steckt. Die Enge, Hartherzigkeit und Grausamkeit lauert in den Gassen, um sich alkoholschwanger Bahn zu brechen. Das ist nicht sein Fest. Das sind auch nicht, die Menschen mit denen er zusammenleben möchte. Er ist aus einem anderen Grund aus Italien in die Schweiz gereist, wo er für die Einheimischen nur ein Stück Ausländerdreck ist. Seine Mutter ist an Alheimer erkrankt. Er geht sie im Pflegeheim besuchen. Anschließend muss er ihre Wohnung auflösen. Die Situation überfordert ihn. Die Mutter wirkt verwirrter, als er es sich vorgestellt hatte. Ihre Wohnung ist ein Sammelsurium von Absonderlichkeiten. Es scheint, als hätte sie die Vergangenheit in den vier Wänden bewahrt. Auf dem Festplatz betritt Helen Nesta den Tanzboden. Plötzlich beginnt sie mit einem unbekannten Liebhaber zu tanzen. Anders kann Mauro die Situation nicht interpretieren. Sie tanz auch ganz sicher nicht mit seinem Vater, einem italienischen Einwanderer, der inzwischen verstorben ist. Hatte seine Mutter ein Geheimnis? Mauro Nesta forscht nach. Vielleicht kann ihm Pius Kobelt weiterhelfen. Schließlich scheint der alte schwerkranke Herr nicht von der Seite der Mutter zu weichen.

"Als der Regen kam" ist kein Alzheimer Roman, die Krankheit bleibt ein interessanter Nebenaspekt der Geschichte. Vielmehr ist der Roman eine tragische Liebes- und Lebensgeschichte. Hass, kleingeistige Enge und Verleumdung stürzen auf die Liebenden herab, deren ärgster Feind das Alter und der Tod wird. Bisweilen möchte man Mauro mit der Nase auf die Zusammenhänge stoßen, damit ein Happy end möglich wird. Daraus bezieht der Roman seine Größe. Urs Augstburger wählt eine etwas betuliche, manchmal lyrische, immer griffige und um Exaktheit bemühte Sprache, die zunehmend an Tempo gewinnt. Im zweiten Teil des Buches entsteht ein regelrechter Lesesog, durch die spannenden Ereignisse. Besonders positiv ist mir aufgefallen, wie gut durchdacht der Roman ist und dabei noch intensiv Gefühle herüberkommen, die völlig Kitschfrei transportiert werden. Auch die Figurenzeichnung gelingt tadellos. Gerade bei den Personen, die sich lange im Hintergrund der Geschichte aufhalten, entfalten sich geschlagene Persönlichkeiten, die man am Liebsten in den Arm nehmen möchte. Oder monströse Mächtige, die eigentlich hinter Gitter gehören. Als der Regen kam ist kein oberflächlicher Unterhaltungsroman. Urs Augstburger hat die Tiefe der Meister!