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Benutzername: 
Batyr
Wohnort: 
Ahrensburg

Bewertungen

Insgesamt 95 Bewertungen
Bewertung vom 02.10.2022
Der Klang der Erinnerung
Browning Wroe, Jo

Der Klang der Erinnerung


sehr gut

Die Lebenden und die Toten

Ein bemerkenswertes Debüt hat Jo Browning Wroe hingelegt, führt sie doch einerseits in die bekannte Sphäre Großbritanniens in den 50ern, mit seiner Nachkriegsnot, seiner sozialen Enge, seiner kulturellen Identität. Andererseits aber gewinnt der Leser Einblick in eine vollkommen fremde Welt: das Bestattungswesen, aus dessen Tradition die Autorin selbst stammt und die sie somit authentisch darstellt. Der junge Held William sieht sich zwischen zwei Fronten. Der Bruder des verstorbenen Vaters führt gemeinsam mit seinem Lebensgefährten den Familienbetrieb der Bestattungsfirma weiter, die Witwe will ihren Sohn bewußt von diesem Beruf und dem gesellschaftlichen Tabu der Homosexualität fernhalten. Gezielt löst sie William aus der harmonischen Beziehung zu den beiden männlichen Bezugspersonen und verfolgt zäh ihren eigenen Lebensentwurf für ihren Sohn: eine künstlerische Ausbildung als Sängerknabe im renommierten Chor von Cambridge, verdrängend, in welchen Konflikt sie William stürzt. Trug die Darstellung des Kindes übermäßig die Züge einer Figur wie von Charles Dickens, so gewinnt der hin und her gerissene Jugendliche ein zunehmend prägnanteres Profil. Es kommt zu einem frustrierenden Misserfolgserlebnis, in dem die Mutter menschlich versagt, von der sich der Sohn in der Folge lossagt. Was sie hat um jeden Preis verhindern wollen, tritt ein: William gibt die musikalischen Ambitionen zugunsten einer Ausbildung im Bestattungswesen auf, und unmittelbar nach deren Ende wird William einer existentiellen Prüfung unterzogen. Ein traumatischer Einsatz bei einem, historisch realen Grubenunglück in Wales führt William an seine emotionalen Grenzen. Aber ein vielfältiger, langwieriger Reifungsprozess wird in Gang gesetzt, und der Roman bietet eine faszinierende Lektüre, bei der die Hauptfigur beständig oszilliert zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten.

Bewertung vom 01.10.2022
Simón
Otero, Miqui

Simón


weniger gut

Zurück auf Anfang, aber ganz woanders
Bei der Lektüre wird der Leser den Verdacht nicht los, dass der Autor vom Ehrgeiz beseelt ist, partout am Welterfolg von Zafons ‚Der Schatten des Windes‘ anknüpfen zu wollen.
Der Anfang des Romans weckt Erwartungen, determiniert durch die Verknüpfung der Stadt Barcelona mit der Welt der Literatur. So wird der halbwüchsige Rico für seinen jüngeren Cousin Simón zum Cicerone ins Land der Bücher. Doch bereits hier wird ein gewisses Misstrauen geweckt: allzu selbstverliebt geraten die sprachlichen Pirouetten, allzu bemüht das Streben, in der Symbiose der beiden Jungen und dem nächtlichen Streifzug durch die Stadt eine magische Stimmung zu erzeugen.
Das plötzliche Verschwinden des Älteren wird künstlich mit Bedeutung aufgeladen, erst im Laufe des Romans enthüllt sich die ganze Banalität seines Lebenswegs. Ebenso kleinschrittig entfaltet sich die Entwicklung des Jüngeren. Überfrachtet mit Details wird der dornige Weg der Qualifikation zum Spitzenkoch beschrieben, eine Vielzahl weiterer Figuren bevölkern diesen Handlungsabschnitt, ohne dass diese mit wirklich prägnanten Charakterzügen ausgestattet werden.
Eine Vielzahl von Missgeschicken, bedauerlichen Wendungen des Handlungsfortgangs befördern den Abstieg des Helden, der in penetranter Weise auch ständig so apostrophiert wird, und nachgereicht wird die Schilderung von Ricos jämmerlichem Dasein: kein Aufstieg, vielmehr ein beständiges Verharren in einem sich beständig drehenden Karussell des Elends. So treffen denn die beiden Hauptfiguren erneut am Ausgangspunkt ihrer Existenz zusammen. Die Literatur, in ihrer Jugend angeblich ein identitätsstiftendes Moment, ist zu einem bloßen name dropping herabgekommen: der weibliche Gegenpart des Duos nutzt sie allein als Sprachrohr ihrer woken Weltsicht. Die gemeinsam entwickelte Geschäftsidee verknüpft oberflächlich diese beiden Bereiche: der antiquarische Buchhandel, wie er im ersten Teil noch als typischer Bestandteil des Lebensgefühls von Barcelona behauptet wurde, mit der inzwischen untergegangenen Kneipenkultur der Elterngeneration. Gänzlich unorganisch die Einarbeitung der realen Ereignisse terroristischer Anschläge, die letztlich nur dazu dienen mögen, die Unmöglichkeit zu konstatieren, eine vergangene, magisch aufgeladene Szenerie aufrecht zu erhalten, so wie die menschlichen Schicksale gleichfalls der Tristesse anheimfallen.
Mein Urteil: 2 Sterne

Bewertung vom 26.08.2022
Sanfte Einführung ins Chaos
Orriols, Marta

Sanfte Einführung ins Chaos


gut

Kein Plan ist auch ein Plan

Mit anthropologischem Interesse richtet der Leser fortgeschrittenen Alters seinen Blick auf Dani und Marta: sind Mittdreißiger heute so jung, kindlich … infantil? Schon durch ihre Berufswahl etikettieren sich die beiden Protagonisten als typische Vertreter ihrer Generation: was mit Medien, und der Hund aus dem Tierheim soll wohl als vergleichsweise anspruchsloses Objekt für ein versuchsweises Ausagieren von Verantwortungsbewusstsein fungieren.

Doch ganz allmählich entfaltet sich ein fein ziseliertes Psychogramm. Unter der enervierenden Fassade dieser Zeitgenossen des Millennium kommen abwechselnd zwei Individuen zu Wort, die ihre Geschichte haben, Traumata, Sehnsüchte. Der Titel des Romans entpuppt sich als Titel eines Songs - dem deutschen Leser natürlich nicht geläufig - der den Schlüssel bildet, um die Gestimmtheit dieser Altersgruppe überhaupt zu erfassen.

Sehr gekonnt, das Ereignis selbst, auf das die ganze Romanhandlung zusteuert, zu guter Letzt auszusparen. Auf diese Weise vermeidet die Autorin die Darstellung eines emotionalen Höhepunkts, es bleibt dem Rezipienten überlassen, die Leerstelle zu interpolieren, entsprechend der Vorstellungen, die das Gelesene hervorgerufen hat.

Verhalten, gedämpft, resignativ das Fazit, der Ausblick auf das Leben, in das eine endgültige Entscheidung ihre Spuren eingegraben hat.

Bewertung vom 25.07.2022
Beifang
Simons, Martin

Beifang


ausgezeichnet

Blindflug
Verräterisch der Name der Ortschaft, in der dieser Ruhrpott-Clan der Zimmermanns lebte: während die junge Bundesrepublik in Zeiten des Wirtschaftswunders prosperierte, gab es auch diesen gesellschaftlichen Bodensatz, der dahinvegetierte, eine sinnlose Gewalt auslebte, auch gegenüber den eigenen Kindern, und in dumpfer Sprachlosigkeit nicht über die eigene Situation reflektieren konnte.

Allein der Ich-Erzähler hätte als erstes und einziges Familienmitglied die Chance, durch Schulbildung und Studium diesem Pandämonium zu entkommen. Doch er tritt uns entgegen als gänzlich gescheitert - als Ehemann, als Vater, als Liebhaber ebenso wie in seiner unspektakulären und sinnentleerten Berufstätigkeit.

In einem Augenblick der Hellsichtigkeit entschließt sich dieser Frank, Kontakt zu den zahlreichen Familienmitgliedern aufzunehmen, um die innere Struktur dieses familiären Konglomerats zu erforschen, wie sie wurden, was sie sind.

Und hier offenbart sich das größte Defizit dieses Textes. Ohne Trennschärfe reihen sich die Expeditionen zu den einzelnen Verwandten aneinander, kaum vermag der Leser die Individuen voneinander zu unterscheiden. Ist es intendiert, das der gleichförmige Aufbau, die variationsarme Komposition den Blindflug des Protagonisten widerspiegelt?

Entlarvend, dass es des Briefes einer dem Erzähler vollkommen unbekannten Frau bedarf, den Blick auf einen gänzlich anderen Großvater zu öffnen. Sie, gleichfalls Patientin im Krankenhaus, in existentieller Krise, erlebt den sterbenden alten Mann in seiner grenzenlosen Einsamkeit, die auch das Herausschreien der zwölf Namen seiner Kinder nicht zu lindern vermag. Der menschliche Stil dieses Briefes kontrastiert auffallend mit dem lakonischen Tonfall des Erzählers. Aufschlussreich, dass der Roman an diesem Punkt abbricht und es offen bleibt, ob Frank von jetzt an die zähe Vitalität, die ihm aus seiner Herkunft zugewachsen ist, für sich, und seinen Sohn!, nutzen kann.

Bewertung vom 16.07.2022
Die Arena
Djavadi, Négar

Die Arena


ausgezeichnet

Abseits

Die Autorin führt den Leser in ein Paris abseits der Touristenattraktionen, in dieser Härte allenfalls bekannt aus den Fernsehnachrichten.
Doch in diesem Roman sind wir hautnah dabei!

Kreuz und quer geht es durch die wenig spektakulären Arrondissements, die Viertel des Präkariats und der Kriminalität. Die kleinen Leute, die Auslandsfranzosen, die Migranten, die Dealer und Kleinkriminellen leben hier. Sie alle lernen wir kennen, wie auch die Figuren, die es angeblich geschafft haben.

Ein Angelpunkt der Handlung ist ein Jude, der zum Frankreich-Chef eines amerikanischen Streaming-Konzerns aufgestiegen ist, durch die Mutter immer noch diesem Stadtteil verbunden. Durch eine rasante Verkettung von Ereignissen wird diese Figur verknüpft mit der Szene der depravierten migrantischen Jugendlichen, einer jungen Polizistin, die aufgrund eines einmaligen Fehlverhaltens zum Bauernopfer der machthungrigen, bedingungslos zum politischen Aufstieg entschlossenen Kaste der ansonsten gänzlich charakterlosen Apparatschiks wird. Präsentiert wird das Heer der leidenden, hilflosen Mütter, die entweder, ihren Kindern weitgehend entfremdet, keine Ahnung von deren Treiben haben, oder die von der Trauer gelähmt, immer wieder mitansehen müssen, wie ihre Kinder vom Moloch dieser Stadt der sozialen Kontraste verschlungen werden.

Das sich immer weiter steigernde Tempo der Handlung gipfelt schließlich in einer Gewaltexplosion, von der der Leser allerdings weiß, dass sie letztlich ad infinitum wiederholbar und im Ablauf der Ereignisse austauschbar ist.

Souverän gestaltet Négar Djavan den Verlauf dieser wenigen Tage wie ein klassisches Musikstück, um unmittelbar am Ende noch eins draufzusetzen. Es zeigt sich, dass es ein Rondo ist, das Ende des Romans wird direkt mit dem Anfang verbunden, wenn die dramatischen Ereignisse der Wirklichkeit umgeformt werden zu einem quotenträchtigen Inhalt des Streaming-Portals.

Ein ganz großer Wurf!

Bewertung vom 25.06.2022
Der Mann, der vom Himmel fiel
Tevis, Walter

Der Mann, der vom Himmel fiel


ausgezeichnet

Hello World
Thomas Jerome Newton - während seiner Stippvisite auf unserer Erde werden ihm etliche Etiketten verpasst: der Mann vom anderen Stern, von der Venus oder vom Mars. Doch dieser Besucher, der sich für seine Mission so weit als möglich einem menschlichen Erscheinungsbild angeeignet hat, offenbart sich dem zum Freund gewordenen Mitarbeiter Bryce: er kommt vom Planeten Anthea, um seinen Landsleuten aus der nahezu unbewohnbar gewordenen Heimat auf der Erde eine Überlebenschance zu sichern. Aber der Autor belässt es nicht bei einer Variation der sattsam bekannten, oberflächlichen Science Fiction-Muster. Vielmehr ist es sein Anliegen, in seinem aus den 60iger Jahren stammenden Roman der unserer Menschheit einen Spiegel vorzuhalten. Tieftraurig die Entwicklung, die ihren Lauf nimmt: so wie Newton in seinen Verhaltensweisen sich seinen Gastgebern angleicht, so bleiben sich diese Amerikaner treu, in deren Gesellschaft Newton sein Projekt umsetzen will. Ein umfassendes Scheitern ist das Ergebnis, die Chance für die Erde wie auch den Planeten Anthea ist vertan - ja, diese beiden Lebenswelten erweisen sich geradezu als Spiegelbilder der gleichen Perspektivlosigkeit.

Bewertung vom 30.05.2022
Papyrus
Vallejo, Irene

Papyrus


ausgezeichnet

Unsere Welt!
Bereits in der Vergangenheit unterbreiteten verschiedene Werke dem Leser eine Kulturgeschichte des Buches, etwa die von unserer Autorin Irene Vallejo mit Hochachtung genannte „Geschichte des Lesens“ von Alberto Manguel. Doch ihr Werk „Papyrus“ öffnet einen wesentlich weiter gespannten Horizont. So betrachtet sie nichts geringeres als die Geschichte unserer Welt und weist nach, dass all diese auf uns gekommenen Entwicklungen, dieses Konglomerat von Fortschritt und Barbarei, allein durch diesen einen Schritt von der mündlichen Überlieferung hin zur schriftlichen Fixierung der Ereignisse, Ideen, Geschichten, mithin durch die Erfindung des Mediums Buch möglich wurde.
Als profunde Kennerin der Antike konfrontiert sie den Leser mit den feinsten Verästelungen der Historie, und durch ihren frischen Zugriff und ihre leichtfüßig-spannende Darstellung folgen wir ihr gerne, auch wenn unsere bisherigen Kenntnisse sich bisher auf bloße Schlagworte wie Papyrus, Mesopotamien oder Alexandria beschränkten. Doch geht Vallejo mit uns einen weiteren Schritt. Beherzt verknüpft sie Überliefertes von vor Tausenden von Jahren mit den Erscheinungen unseren alltäglichen Umwelt. Geschichtliche Werke öffnen die Perspektive auf die Literatur der Neuzeit, und Vallejo spricht begeisterte Leseempfehlungen aus. Unsere Autorin demonstriert eine stupende Gelehrsamkeit, die als ebenso leidenschaftliche Leser uns eine tiefe Verbundenheit mit ihr erleben lässt. „Papyrus“ ist kein Buch, das man ein einem Rutsch verschlingt und dann befriedigt beiseite legt - es wird uns begleiten, immer wieder zur Hand genommen werden. Es wird uns immer wieder vor Augen halten, dass wir in unserer ureigenen Welt der Bücher und der Geschichte zu Hause sind!

Bewertung vom 09.05.2022
Die Paradiese von gestern
Schneider, Mario

Die Paradiese von gestern


weniger gut

Zwei Welten stoßen aufeinander

In Mario Schneiders übermäßig umfangreichen Roman ist alles auf eine fundamentale Konfrontation angelegt. Da ist einmal das junge Liebespaar aus Ostdeutschland, das zu seiner ersten großen Auslandsreise in den Westen aufbricht. Und da ist die altadelige Familie, die sich als nicht anpassungsfähig an die Erfordernisse einer neuen Zeit erweist. Eigentlich eine großartige Ausgangsidee, deren Ausführung allerdings zu wünschen übrig lässt. So sind Ella und René dafür, dass sie gerade erst den größten Umbruch der deutschen Nachkriegsgeschichte live miterlebt haben, politisch erstaunlich unbeleckt und ausschließlich mit der Seelenzerfleischung innerhalb ihrer anstrengenden und doch recht pubertären Beziehung beschäftigt. Auf der anderen Seite wird Melodram pur serviert, wenn die Gräfin von eigener Hand aus dem Leben scheiden will, da die Erfordernisse einer modernen Welt auf ihren überkommenen Wertekanon keine Rücksicht nehmen. Belastet wird diese aus der Zeit gefallene Figur mit allen nur denkbaren Problemen emotionaler wie auch wirtschaftlicher Art. Der Autor betreibt einen enormen verbalen Aufwand: es wird ungemein viel gesagt, ohne dass die Figuren aus dem Zustand von Pappkameraden hinauskämen. Insgesamt leider eine Enttäuschung!

Bewertung vom 18.04.2022
Eine andere Zeit
Bürster, Helga

Eine andere Zeit


gut

Diesseits und jenseits der Grenze
Helga Bürsters Ehrgeiz ist groß, will sie doch eine Familiengeschichte ausbreiten, wie sie sich vor der Wende diesseits und jenseits der innerdeutschen Grenze entwickelte, um abschließend darzustellen, welche innerfamiliären Veränderungen die große historisch-politische Veränderung unseres Landes hervorgebracht hat. Die Anlage ihrer Familiensaga ist durchaus geschickt: wiederholte Zeitsprünge schärfen den Blick des Lesers auf das Hüben und Drüben, auf das Vorher und Nachher. Zwei Schwestern und ihre Cousine aus dem Ruhrgebiet bilden das Kernpersonal, doch genau hier beginnen Bürsters Schwierigkeiten. Während ihr die Darstellung der no future Perspektive der Christina aus dem Westen in den 70ern durchaus überzeugend gelingt, ist die intendierte Kontrastierung von Enne und Suse nicht unbedingt nachvollziehbar. Warum die versponnene Jüngere als zurückgeblieben eingestuft wird, warum die bodenständige Ältere plötzlich Schauspielerin werden will, bleibt im Dunkeln. Mehr Geschick beweist die Autorin beim Entwurf der zahlreichen Nebenfiguren. Der aufrechte Vater, die Tante in prekären Verhältnissen, die Dorfbewohner, allen voran der treue Eddy, bieten ein aufhellendes Moment in Ennes Verdüsterung, da sie über Suses Verschwinden in den Wirren der Wende nicht hinwegkommt. Allzu viele Details erscheinen nicht wirklich durchdacht, dem geschilderten Naturell der Figuren nicht angemessen - genannt sei nur die Idee einer esoterisch angehauchten Bestattung der Suse nach dreißig Jahren, um sich von diesem Schatten der Vergangenheit zu befreien. Eine derartig gestaltete Zeremonie, auf Ennes Initiative in Angriff genommen, passt in keiner Weise zu dem Menschenschlag im östlichsten Zipfel Vorpommerns. Auch die nur in Andeutungen angerissene Figur der Ilse Pohl ist nicht überzeugend. Weder die realen Lebensverhältnisse nach so langer Zeit, noch die dieser Figur auferlegte Funktion als Auslöser des Ablöseprozesses machen ihr erratisches Auftreten plausibel. Schade - ein hochinteressanter Stoff wurde aufgrund vieler vermeidbarer Defizite auf diese Weise verschenkt. Deshalb nach meinem Urteil nur 3 Sterne.

Bewertung vom 21.02.2022
Kleine Philosophie der Begegnung
Pépin, Charles

Kleine Philosophie der Begegnung


gut

Philosophische Plauderei
Der Autor bietet dem Leser in einem unaufdringlichen Parlando eine Vielzahl von Anregungen, dem Wesen der Begegnung durch die Beschäftigung mit mancherlei kulturellen Zeugnissen auf die Spur zu kommen. Wer diese Bücher, Filme, Bilder nicht kennt, wird möglicherweise angeregt, diese Werke kennenlernen zu wollen, die offenbar vom Autor als Türöffner für seine philosophischen Reflexionen intendiert sind.
Wesentlich weniger anregend, ja geradezu ärgerlich ist das wohlfeile Vorgehen, zu dieser oder jener vorgetragenen These seine Zuflucht im Menscheln zu suchen, diesen oder jenen Freund als Zeugen und Demonstrationsobjekt zu berufen, der eine Lebenssituation in dieser oder auch jener Weise bewältigt hat. Das ist allzu billig, das zieht diesen einerseits ambitionierten, andererseits aber auf Lesbarkeit angelegten Band in unstatthafter Weise hinunter auf das öde Niveau eines Rat- und Trostbüchleins.
In dem Bestreben, didaktisch und strukturiert vorgehen zu wollen, kommt es zu mancherlei Wiederholungen, die den Lesefluss und das gedankliche Vorandrängen ausbremsen, mit dem Ergebnis, dass der Leser sich unterfordert fühlt.
Alles in allem also eine Lektüre, die mancherlei Anregung bietet, letztlich aber kein rundherum befriedigendes Leseerlebnis verschafft, so dass das abschließende Urteil nur verhalten positiv ausfällt!