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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Batyr
Wohnort: 
Ahrensburg

Bewertungen

Insgesamt 104 Bewertungen
Bewertung vom 04.11.2023
Wellenkinder
Bahrow, Liv Marie

Wellenkinder


gut

Weniger wär mehr
Menschliche Schicksale vor historischem Hintergrund: eigentlich die beste Voraussetzung für einen packenden Roman, der dem Leser einen Einblick verschafft in die politischen Verstrickungen eines untergegangenen Staates. Im Zentrum von Bahrows „Wellenkindern“ steht die allgemein gültige Wahrheit, dass Kinder der bedingungslosen Liebe und Fürsorge der Erwachsenen bedürfen. Solange die drei Geschichten getrennt voneinander erzählt werden, bieten sie hervorragendes Anschauungsmaterial für diese im Roman abgehandelte Grundwahrheit: das Flüchtlingsmädchen aus Königsberg, das aus einem Impuls heraus Verantwortung für ein fremdes Kind übernimmt; das junge Mädchen aus der DDR, das in blinder Liebe zum Spielball des Regimes wird und ihres Kindes beraubt wird; der verstörte Mann in mittleren Jahren, dem auf der Zeitebenen der Gegenwart in seiner Ehekrise das Erlebnis seiner Vaterschaft Halt vermittelt. Wenn die Autorin allerdings beginnt, diese drei Geschichten zu verzwirbeln, wird die Geduld des Lesers auf eine harte Probe gestellt, die Glaubwürdigkeit immer neuer Wendungen arg strapaziert. Schade! Eine derartig verwickelte Handlungskonstruktion ist typisch für die Schauerromane des viktorianischen Zeitalters, in einem zeitgeschichtlichen Roman ist sie deplatziert. Weniger wär mehr.

Bewertung vom 04.11.2023
Das Pferd im Brunnen
Tscheplanowa, Valery

Das Pferd im Brunnen


ausgezeichnet

Sowjetisches Frauenleben
Vor den Augen der Leser entfaltet sich das Leben von drei Generationen sowjetischer Frauen, geschildert von der Erzählerin, die ihre Heimat bereits in der Kindheit verlassen hat und nun als Erwachsene sich behutsam herantastet, die Verflechtungen innerhalb ihrer Familie aufzudecken. Auf diese Weise ergibt sich eine hochartifizielle Komposition. Gelegentlich tritt das personale Erzählen in den Vordergrund, wenn die namenlos bleibende Erzählerin ihre subjektive Perspektive, ihre Außensicht verbalisiert. Dann wiederum konzentrieren sich die Kapitel auf jeweils eine Protagonistin: Tanja, Nina, Lena - Urgroßmutter, Großmutter und Mutter. Jede Generation verkörpert jeweils eine Phase weiblichen Selbstverständnisses im historischen Kontext der Sowjetunion. Die Lektüre vermittelt diese Einsichten in einer ungemein poetischen Sprache, stilistisch bieten diese in sich abgeschlossenen Kapitel eine große Variationsbreite. Ein Buch, das ebenso ambitioniert wie erhellend ist, emotional berührend und atmosphärisch dicht.

Bewertung vom 21.08.2023
Sekunden der Gnade
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


sehr gut

Zeitgeschichtlicher Roman oder Krimi?
Ungeheuer spannend ist dieser Roman, keine Frage.

Der Leser wird zurückversetzt in eine brisante Phase der amerikanischen Geschichte. Ein Ergebnis der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre war die Erscheinung des ‚busing‘, das den Hintergrund dieses Romans bildet.

Im Zentrum des Geschehens steht im Boston des Jahres 1974 die irisch-stämmige Unterschicht, repräsentiert durch die zähe Mary Pat, die gewillt ist, mit allen Mitteln das Verschwinden ihrer Tochter Jules aufzuklären. Flankiert wird diese singuläre Frauengestalt durch die vielgestaltigen Vertreter des lokalen Kleinkriminellentums wie auch der organisierten Kriminalität.

Im Kontrast steht dazu das Leid einer schwarzen Familie, die ihrerseits ihren Sohn im diesem Wirrwarr der aufgeheizten Atmosphäre verliert, ein stilleres, verhaltener erlebtes Leid als Mary Pats herausgeschrienes Unglück.

Die von Dennis Lehane erzählte Geschichte hat den Ehrgeiz, zwei literarische Genres zu verknüpfen: den zeitgeschichtlich grundierten Roman und den Krimi. Über weite Strecken gewinnt der Leser den Eindruck, dass die Krimihandlung gegenüber der Schilderung des historischen Hintergrunds die Oberhand gewinnt. Wie dieser Tatbestand beurteilt wird, hängt von der individuellen Erwartungshaltung bei der Lektüre ab!

Bewertung vom 15.07.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


sehr gut

Bigottes Klima
Die junge Frieda tritt dem Leser in ihrem beengenden Umfeld im frommen Holland der Sechzigerjahre als erstaunlich sinnliche Frau entgegen, die ihr heimliches Liebesglück mit einem verheirateten Mann frappierend rückhaltlos genießt. Als sie jedoch trotz der begrenzten damals verfügbaren Verhütungsmittel schwanger wird, erlebt sie die Unmenschlichkeit der Verhältnisse, die ihr sowohl in ihrer eigenen Familie wie in der gesamten Gesellschaft entgegenschlägt. Eindringlich wird die Bigotterie der katholischen Sphäre, ihre Verlogenheit, die Lebens- und Menschenfeindlichkeit einer Religion geschildert, die weder Verständnis, geschweige denn Trost oder Hilfe zu spenden bereit ist. Im Bewusstsein der alten Frieda, am Ende ihres Erdendaseins angelangt, kämpfen sich die Erinnerungen an die Oberfläche, und ihre schroffen Charakterzüge, die stets eine Belastung für ihre Familie gewesen sind, werden verständlich und gemildert, wenn Frieda sich der Wucht des Erlebten und Verdrängten öffnet. Der Roman stellt eine subtile Abrechnung dar mit einer Zeit, einer Gesellschaft, einer religiös begründeten Unterdrückung. Allein der inneren Stärke der Heldin ist es geschuldet, dass all diese negativen Kräfte sie nicht zu brechen vermochten.

Bewertung vom 25.02.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


ausgezeichnet

Geschichte und Geschichten

Ein Kapitel deutscher Geschichte, das die meisten Leser reichlich ratlos zurücklassen dürfte, wird Gegenstand eines Romans.

Wer ist denn schon während des Schulunterrichts, geschweige denn später mit der deutschen Besiedelung des Ostens, mit der grausamen Verfolgung dieser Minderheit durch das Sowjetregime während des 2. Weltkriegs, mit dem bundesrepublikanischen Angebot der Rückkehr ins Land der Väter in Berührung gekommen?

Sabrina Janesch gelingt es, in einem feinen Geflecht alle Aspekte dieser Thematik zu verknüpfen. Souverän springt sie zwischen den Zeitebenen hin und her, was bei der Lektüre höchste Aufmerksamkeit erfordert.

So bemüht sich die erwachsene Protagonistin, die verschütteten Erinnerungen des in der Demenz versinkenden Vaters wieder ans Tageslicht zu befördern, wozu sie als Teenager, in vertrautester Bindung zu ihm, die Jugendjahre in der sozialen Isolation in der norddeutschen Provinz erneut durchlebt. Die enge Beziehung zum Jugendfreund, mit ähnlichem biographischen Hintergrund wiederum weist zurück auf die vergangene Freundschaft des Vaters zum kasachischen Freund während der Deportation.

Janesch legt eine ungeheure Sprachartistik an den Tag, die alle zeitlichen Ebenen dieses Romans ungemein plastisch hervortreten lässt. Die Kontraste der unterschiedlichen Lebenserfahrungen der einzelnen Personen ziehen den Leser in ihren Bann, historische Momentaufnahmen schaffen schroffe Gegensätze. Gekonnt, wie kleinste Mosaiksteinchen der Autorin den Anlass bieten, wieder und wieder einen rasanten Szenenwechsel zu vollziehen.

Ein lohnendes Lektüreerlebnis für Leser, die sich von Geschichte ebenso wie von Geschichten fesseln lassen!

Bewertung vom 05.02.2023
Unsre verschwundenen Herzen
Ng, Celeste

Unsre verschwundenen Herzen


sehr gut

Lebensthema der Autorin in neuem Gewand
Celeste Ng bleibt ihrem Thema treu: selbst betroffen, lotet sie immer wieder die Lebenssituation der asiatisch-stämmigen Minderheit in den USA aus. In ihrem letztem Buch allerdings wendet sie sich einem neuen literarischen Genre zu: der Dystopie. Die Gesellschaft lebt unter dem Gesetz PACT, das unamerikanische Tendenzen und Gefährdungen unterbinden soll, die in erster Linie den Mitbürgern asiatischer Herkunft unterstellt werden. Der zwölfjährige Bird, dessen Mutter einer aus China eingewanderten Familie entstammt, führt mit seinem WASP-Vater eine depravierte Existenz, da das Misstrauen der Umgebung auch nach dem Verschwinden der Ehefrau und Mutter nicht beschwichtigt wird. Die Autorin bemüht allerlei aus der literarischen Tradition bekannten Motive und Versatzstücke, die beim Leser durchaus Erinnerungen an bekannte Werke der Weltliteratur wachrufen. Manche Figuren erscheinen in ihrer Gestaltung psychologisch überzeugend, so der seine wahren Überzeugungen verbergende Vater, dessen vorrangiges Lebensziel ist, seinen Sohn zu schützen. Andere Protagonisten geraten allzu plakativ. So leidet insgesamt die Plausibilität unter dem intendierten Effekt, manche Wendungen sind allzu melodramatisch. Lesenswert ist Ngs „Die verschwundenen Herzen“ jedoch allemal, da immer wieder ungemein poetische Momente aufscheinen, die den Kampf um Menschenwürde und Existenzberechtigung in einer bornierten und intoleranten Gesellschaft illustrieren.

Bewertung vom 09.01.2023
Für euch
Sayram, Iris

Für euch


sehr gut

Am Rand - und darüber hinaus
Die Autorin schont weder sich selbst noch ihre Leser, sie erspart sich und uns nichts, sie spart nichts aus. Ein kleines Mädchen wächst in prekären Verhältnissen auf: der Vater spielsüchtig, die Mutter übermäßig lebenslustig, woran bereits ihre beiden ersten Ehen scheiterten. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille: unverbrüchlich ist die Liebe, die diese Eltern ihrer Tochter entgegenbringen. Und dieses Band verschafft der Protagonistin eine Startposition ins Leben, die sich als viel gewichtiger erweist als die Handicaps, die sie aller Erwartung nach hätten ausbremsen müssen: die nicht vorhandenen Erziehungsprinzipien, der Tochter werden keinerlei Grenzen gesetzt, weder hinsichtlich ihrer materiellen Wünsche, noch im Ausleben ihrer Willensstärke. Alle Defizite dieser häuslichen Umgebung treten zurück hinter der bedingungslosen mütterlichen Bindung, die Mimi zu ihrer Tochter aufbaut, für die ihr kein Opfer zu groß ist, in der aus Selbstaufgabe Stärke wird. Aus der Erschütterung über die Lebensverhältnisse, die dem Kind zugemutet werden, erwächst die Erschütterung über die innige Beziehung, die Mutter und Tochter Jahrzehnte später immer noch vereint, wenn der Leser über das ganze Ausmaß des ertragenen Leides orientiert ist. Ein Dasein am Rande der Gesellschaft - und außerhalb von ihr!

Bewertung vom 11.10.2022
People Person
Carty-Williams, Candice

People Person


weniger gut

Too Much
Eine wilde Herzjagd durch Themen, Handlungselemente, Charaktere, Stilebenen erwartet den Leser.

Im Eingangsteil glaubt er noch, es mit einer Familiengeschichte der dysfunktionalen Provenienz zu tun zu haben, mit einer Vaterfigur, die nicht einmal den Mindestanforderungen für diese Rolle genügt.

Dann allerdings schlägt die Handlung nach einem beträchtlichen Zeitsprung jäh um in eine toxische Beziehungsgeschichte der mittleren Tochter, die umgebogen wird zu einer parodistischen Krimistory, burlesk etwa im Stil von der „Ehre der Prizzis“ oder „Blues Brothers“.

Erneut wird ein Haken geschlagen, und es folgen endlose Ausführungen in Küchenpsychologie, in der alle fünf Geschwister mit Knacks den Weg der Läuterung beschreiten, gipfelnd in dem schlichten Happy Ending des Ich-bin-okay-du-bist-okay, abgerundet durch das Abtreten der nunmehr entbehrlichen Generationen.

Wes Geistes Kind die Autorin ist, erweist sich in der 6(!)seitigen Danksagung, die in bemühtem Witz einer ungezählten Anzahl von Unterstützern und Weggefährten ihre Reverenz erweist.

Weniger wäre mehr gewesen: die Entwicklung von Resilienz in allen fünf Geschwistern darzustellen, um den Mangel an Verantwortungsbewusstsein, Interesse und Fürsorge vonseiten ihres Erzeugers zu kompensieren, hätte einen höchst befriedigenden Familienroman ergeben können.

Bewertung vom 08.10.2022
Verbrenn all meine Briefe
Schulman, Alex

Verbrenn all meine Briefe


sehr gut

Polyperspektive
Auch in seinem zweiten Roman wendet Schulman das Kompositionsprinzip mehrsträngigen Erzählens an. So rezipiert der Leser insgesamt drei gänzlich unterschiedliche Romane, je nachdem, auf welchen Bereich sich gerade der Fokus richtet.
Zu Beginn haben wir es mit einer modernen Betroffenheitsgeschichte zu tun. Der Ich-Erzähler registriert, wie dysfunktional sein Familienleben ist, kommt durch Reflexion zu dem Schluss, dass die Schuld bei ihm liegt, und nimmt therapeutische Hilfe in Anspruch. So weit, so gut - und so breit ausgewalzt, wie man auch leider zu Protokoll geben muss.
In einer ersten Ebene des Rückblicks konzentriert sich dieser Protagonist sodann auf eine frühe Zeit eigenen Erlebens, Figuren und Ereignisse aus der Kindheit treten aus dem Schatten der Vergangenheit, um bei genauer Betrachtung ganz neu bewertet zu werden.
Diese gewonnenen Erkenntnisse schließlich führen dazu, dass in detektivischer Kleinarbeit Zeugnisse und Hinweise aus dem Leben der Großeltern ans Tageslicht gefördert werden, die den Autor dazu motivieren, in einem schöpferischen Akt den Roman der toxischen Beziehung zwischen Sven, Karin und Olof zu imaginieren.
Der Leser hat die Freiheit, diese drei Teile jeweils einem bestimmten Genre zuzuordnen: also zunächst dem introspektiv angelegten autobiografischen Roman, sodann der Gattung der Familiengeschichte als ‚memoir‘, sowie zuletzt dem Eheroman mit historisch-gesellschaftlich-psychologischem Schwerpunkt.
Wie allerdings die Qualität dieser drei Teile bewertet wird, welches Interesse ihnen jeweils entgegengebracht wird, ist absolut subjektiv!

4 von 8 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.10.2022
Der Klang der Erinnerung
Browning Wroe, Jo

Der Klang der Erinnerung


sehr gut

Die Lebenden und die Toten

Ein bemerkenswertes Debüt hat Jo Browning Wroe hingelegt, führt sie doch einerseits in die bekannte Sphäre Großbritanniens in den 50ern, mit seiner Nachkriegsnot, seiner sozialen Enge, seiner kulturellen Identität. Andererseits aber gewinnt der Leser Einblick in eine vollkommen fremde Welt: das Bestattungswesen, aus dessen Tradition die Autorin selbst stammt und die sie somit authentisch darstellt. Der junge Held William sieht sich zwischen zwei Fronten. Der Bruder des verstorbenen Vaters führt gemeinsam mit seinem Lebensgefährten den Familienbetrieb der Bestattungsfirma weiter, die Witwe will ihren Sohn bewußt von diesem Beruf und dem gesellschaftlichen Tabu der Homosexualität fernhalten. Gezielt löst sie William aus der harmonischen Beziehung zu den beiden männlichen Bezugspersonen und verfolgt zäh ihren eigenen Lebensentwurf für ihren Sohn: eine künstlerische Ausbildung als Sängerknabe im renommierten Chor von Cambridge, verdrängend, in welchen Konflikt sie William stürzt. Trug die Darstellung des Kindes übermäßig die Züge einer Figur wie von Charles Dickens, so gewinnt der hin und her gerissene Jugendliche ein zunehmend prägnanteres Profil. Es kommt zu einem frustrierenden Misserfolgserlebnis, in dem die Mutter menschlich versagt, von der sich der Sohn in der Folge lossagt. Was sie hat um jeden Preis verhindern wollen, tritt ein: William gibt die musikalischen Ambitionen zugunsten einer Ausbildung im Bestattungswesen auf, und unmittelbar nach deren Ende wird William einer existentiellen Prüfung unterzogen. Ein traumatischer Einsatz bei einem, historisch realen Grubenunglück in Wales führt William an seine emotionalen Grenzen. Aber ein vielfältiger, langwieriger Reifungsprozess wird in Gang gesetzt, und der Roman bietet eine faszinierende Lektüre, bei der die Hauptfigur beständig oszilliert zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten.