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gst
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pirna

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Insgesamt 201 Bewertungen
Bewertung vom 11.04.2023
Das Bücherschiff des Monsieur Perdu
George, Nina

Das Bücherschiff des Monsieur Perdu


sehr gut

Seelenbuch

Nachdem ich vor Jahren Nina Georges „Lavendelzimmer“ ins Herz geschlossen habe, war klar, dass ich mich unbedingt noch einmal auf Monsieur Perdus Bücherschiff begeben wollte. Zu gern folgte ich seinen Empfehlungen, die er in seiner „Großen Enzyklopädie der kleinen Gefühle: Nachschlagewerk für Buchhändlerinnen und Buchhändler und andere literarische Therapeuten“ zusammengefasst hat.

Das vorliegende, zweite Buch über das Bücherschiff, das nun von seinem Liegeort wieder nach Paris zurückkehrt, kann man gut und gerne auch ohne Kenntnis des ersten lesen. Wichtige Details aus der Vergangenheit werden durchschaubar. Monsieur Perdu, ehemals wegen des Todes seiner geliebten Frau sehr traurig, hat wieder neue Lebensfreude gefunden, was ihn dazu animiert, das Leben anderer auszubessern. Doch nicht das Geschehen an sich steht im Mittelpunkt, sondern die Einstellung zu Büchern – egal in welchem Genre.

Wer Monsieur Perdu auf seiner Reise begleitet, lernt Leser und Nichtleser, sowie glückliche und unglückliche Menschen kennen. Dabei kommt eine Zartheit zum Tragen, die mich sehr angesprochen hat. Die Liebe zum Lesen steht im Mittelpunkt, es wurden Bücher erwähnt, die ich bereits kenne und andere, auf die ich nun neugierig bin.

Allerdings fiel es mir schwer, über zehn Stunden der warmen, getragenen Stimme von Philipp Schepmann zuzuhören. Ohne Pausen ging das nicht, da meine Gedanken nach einer gewissen Zeit abschweiften.

Fazit: Eine Reise voller Gefühle, Lebensfreude, Menschenkenntnis und Zugewandtheit.

Bewertung vom 23.03.2023
Melody
Suter, Martin

Melody


gut

Hoffnung, die am Leben hält

Dr. Peter Stotz. 84 Jahre alt und schwer krank, sucht jemanden, der sich um das Archivieren seiner Erinnerungen kümmert. In Tom Elmer, einem ewigen Rechtsstudenten, der nach dem Tod seines Vaters vor einem finanziellen Desaster steht, findet er genau den Richtigen.

Unmengen von Papier müssen durchforstet werden und gleichzeitig wird von Tom erwartet, dass er seinem Arbeitgeber jederzeit ein Ohr schenkt. Bei einem respektablen Gehalt sowie Kost und Logis scheint das kein schlechter Job zu sein.

Überall im Haus gibt es Bilder einer schönen jungen Frau: Melody. Die wollte Dr. Stotz einst ehelichen, doch wenige Tage vor der Hochzeit war sie verschwunden. Ob sie geflohen oder entführt worden ist, soll Tom im Laufe seiner Tätigkeit herausfinden.


Die italienischen Köstlichkeiten, die in diesem Buch verspeist werden, können dem Lesenden das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Die zusätzlichen, hochprozentigen Getränke vernebeln einem schon beim daran Denken den klaren Verstand. Vielleicht habe ich mich deshalb schnell gelangweilt in diesem Roman? Zumindest die Arbeitsstelle und der Auftrag, die sich zu Beginn recht interessant ausnahmen, bedeuteten neben den Köstlichkeiten vor allem Papier von einer Stelle zur anderen zu schaufeln und dadurch bald Langeweile. Erst als die Geschichte mit Melody deutlicher wurde, fand ich, dass das Buch nicht mehr ganz so vor sich hin plätscherte. Fahrt nahm es jedoch nach dem Tod von Dr. Stotz auf, als Tom zusammen mit der Großnichte seines Arbeitgebers dem Rätsel auf den Grund geht.


Fazit: Wer davon träumen will, wie es sich mit sehr viel Geld leben lässt, ist in diesem Roman gut aufgehoben.

Bewertung vom 12.02.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


ausgezeichnet

Vergleichende Erinnerungen

Sabrina Janesch ist deutsch-polnischer Abstammung, was ihr Schreiben maßgeblich beeinflusst. In ihren Romanen bezieht sie sich mehrmals auf die Familiengeschichte, schaut sich im Osten um, erzählt von ihren Vorfahren.

Auch in diesem Buch greift sie in die Geschichtsschublade und erzählt, was Deutsche in Sibirien erlebt haben. Das ist interessant, weil es für mich manches Unbekannte enthält. Nicht gelungen sind dagegen die Erinnerungen an die Kindheit der Protagonistin. Mit denen versucht sie Vergleiche anzustellen zwischen der Kindheit eines Deutschen, der nach Sibirien verschleppt wurde und seiner Tochter, die in Deutschland unter Aussiedlern aufwuchs. So manches wurde ähnlich empfunden.

Während die Erlebnisse in Russland wegen der Fremdheit und der großen Weite noch das Kopfkino anregten, ließ mich die Kindheit der Erzählerin kalt, löste kaum Gefühle in mir aus. Ganz im Gegenteil, manche Schilderung langweilte mich so, dass mir immer wieder die Augen zufielen.

Ich bin zwiegespalten zurück geblieben: Angetan von der angenehmen Sprache und der gelungenen, auf Recherche beruhenden Geschichte aus Sibirien, doch enttäuscht von dem Kindheitsstrang in Deutschland vergebe ich drei Sterne.

Bewertung vom 02.01.2023
Das glückliche Geheimnis
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


ausgezeichnet

Geständnisse eines Schriftstellers

Woher bekommen Schriftsteller ihre Inspirationen? Arno Geiger ist mutig und gesteht: „Ein Vierteljahrhundert war Weggeworfenes Teil meines Lebens“. Zu einer Zeit, als er noch „im Zwischenbereich der Erfolglosigkeit“ lebte, begann er in Altpapiercontainern nach Brauchbarem zu suchen. Er fand Bücher, Tagebücher und Briefe, durch die er unterschiedlichstes menschliches Denken kennenlernte. Mit dem Weiterverkauf auf dem Flohmarkt bestritt er ebenso wie mit seinem Sommerjob auf der Bregenzer Seebühne mehrere Jahre seinen Lebensunterhalt. Nebenbei versuchte er zu schreiben, doch er fühlte sich wie „ein Junge, der ein Wörterbuch verschluckt hat“.

Erst durch die Zufallsfunde wurde er „mit den Vorfahren anderer Menschen besser vertraut“ als mit seinen eigenen. Die Offenheit, die er in fremden Briefen und Tagebucheinträgen fand, beeinflusste schließlich sein Schreiben.

Als dann der Erfolg einsetzte, und die vielen Lesereisen und Anfragen ihn überforderten, suchte er weiterhin Halt in seinen Runden. „Die Straßen Wiens waren für mich Rückzugsraum, Teil meiner Privatsphäre.“

Neben seiner Sammelleidenschaft berichtet der 1968 geborene österreichische Schriftsteller in dieser Autobiografie auch von seinen Beziehungen und seiner Familie.


Besonders angesprochen haben mich seine Gedanken im zweiten Teils des Buches, als ihm bewusst wurde, wie sich die Welt im Laufe der Zeit verändert hat. Die Offenheit, mit der er berichtet, hat mich sehr berührt und das Buch nicht mehr aus der Hand legen lassen.


Fazit: Wer wissen will, wo man die nötige Menschenkenntnis als Schriftsteller herbekommt, wird hier fündig.

Bewertung vom 30.12.2022
Rote Sirenen
Belim, Victoria

Rote Sirenen


ausgezeichnet

Ein sehr persönliches Zeugnis

Schien die Ukraine vor zehn Jahren noch weit weg und unbekannt zu sein, weiß spätestens seit Putins Angriffskrieg jeder, wo sie sich befindet. Viele wollen mehr über das Land und die Menschen erfahren, die sich so tapfer gegen den Übergriff verteidigen. Da kommen Bücher wie dieses gerade recht. Victoria Belim erzählt von ihrer Familie und der Vergangenheit des Landes in den letzten 100 Jahren.


„Wenn ich das Manuskript jetzt lese, erkenne ich viele Parallelen zwischen vergangenen Kriegen und dem gerade andauernden. Und so traurig es auch ist, werden meine Leserinnen und Leser, die sich mit meiner Heimat auseinander setzen, die Bedeutung dieses Krieges hoffentlich besser verstehen. So ungewiss die Zukunft auch sein mag, lässt mich die Widerstandskraft der Ukraine hoffen, dass sie diesen Krieg gewinnen wird.“, erwähnt die Autorin im Vorwort.


In 5 Teilen und 17 Kapiteln erzählt die Frau, deren väterliche Wurzeln russisch und mütterlichen ukrainisch sind, vom Leben ihrer Familie. Mit fünfzehn Jahren hatte sie zusammen mit ihrer Mutter ihr Heimatland verlassen. Zuerst lebte sie in den Vereinigten Staaten, später zog sie mit ihrem Mann nach Brüssel. Ab 2014, als Putin die Krim annektierte, reiste sie regelmäßig zu ihrer Großmutter Valentina, die im Osten der Ukraine lebte. Sie bringt den Lesern nahe, was die Menschen zwischen 2014 und 2019 (Ende dieses Jahres stellte sie die Besuche wegen der Corona-Pandemie ein und nahm sie wegen des Krieges nicht mehr auf) im Alltag beschäftigte und macht sie mit den Bräuchen des Landes vertraut. Sie spricht die Korruption an und ihre Sicht auf die Sowjetunion:


„Ich habe immer schon gedacht, dass Verlogenheit eine der zerstörerischten Folgen des sowjetischen Systems war. Jeder sagte das eine und dachte etwas anderes. Es war die vernünftigste Art, sich zu verhalten, wenn man überleben wollte.“ (Seite 262)


Der Flug MH17, der am 17.Juli 2014 (in den Anfängen des Krimkrieges) auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur mit russischen Luftabwehrraketen über der Ukraine abgeschossen wurde und 298 Tote zu beklagen hatte, wird ebenso erwähnt wie die Tschernobylkatastrophe, die die Autorin als Kind ganz aus der Nähe erlebte.

Ein großer Teil des Buches befasst sich mit der schwierigen Suche nach ihrem Großonkel Nikodim, der einst spurlos verschwunden war und über den in der Familie nicht gesprochen wurde. Dabei wird deutlich, wie wichtig es ist, Erinnerung zu bewahren.

Manche Episoden sind so ergreifend, dass es für mich gut war, das Buch zwischendurch auf die Seite zu legen und das Gelesene sich setzen zu lassen. Insgesamt bekam ich einen guten Einblick in das Denken der Menschen und ihr Leben. Das Buch, das sich wie ein Roman liest, erläutert nicht nur die Nachrichten, die uns täglich ins Haus flattern, sondern zeigt auch den Reifeprozess der Autorin, deren Verhältnis zur Familie in der Ukraine immer tiefer wurde.


Fazit: Ein Buch, das ich jedem ans Herz lege, der mehr über das Land und die Leute erfahren will.

Bewertung vom 25.12.2022
Als die Welt zerbrach
Boyne, John

Als die Welt zerbrach


ausgezeichnet

Das Trauma der Kriegskinder

Bisher hatte ich von John Boyne nur „Das Vermächtnis der Montignacs“ gelesen, was mich mäßig begeisterte. Doch inzwischen habe ich so viele begeisterte Stimmen zu dem Autor vor Augen bekommen, dass ich mich noch einmal an ihn heranwagte. Diesmal jedoch als Hörbuch, da meine Lesezeit etwas knapp war und das Zuhören auch mal nebenbei geht. Nun kann ich die begeisterten Simmen verstehn!


In diesem Buch erzählt Gretel aus ihrem Leben. Geboren kurz vorm zweiten Weltkrieg verbrachte sie zusammen mit ihren Eltern einige Zeit in Auschwitz. Allerdings nicht als Jüdin, sondern als Tochter eines Lagerkommandanten. Nach dem Krieg floh sie zusammen mit ihrer Mutter nach Frankreich, wo sie aber entlarvt wurden. Immer wieder versuchte sie, festen Boden unter den Füßen zu bekommen, reiste von einem Ort zum nächsten und rechnete damit, aufs Neue entlarvt zu werden.

Inzwischen lebt die über neunzigjährige Witwe in einer feudalen Wohngegend in London und erinnert sich an ihr von Angst geprägtes Leben. Ihr Sohn würde gerne die Wohnung verkaufen, um mit dem Erlös seine Schulden zu begleichen. Doch sie weigert sich, in eine Seniorenresidenz zu gehen. Stattdessen freundet sie sich mit dem Sohn ihres neuen Nachbarn an. Mit Entsetzen bemerkt sie, dass der Neunjährige misshandelt wird und setzt sich für das Kind ein – was sie letztlich in große Bedrängnis bringt …


Der Aufbau dieses Buches in mehreren Zeitebenen ist äußerst gelungen. Wie ein Puzzle setzt sich die Geschichte zusammen. Die Charaktere sind gut herausgearbeitet, so dass ich Gretels Schuldgefühle angesichts ihrer Vergangenheit gut nachvollziehen konnte - obwohl sie damals ein Kind von zwölf Jahren war. Dass das Grauen aber nicht nur damals stattfand, sondern bis in die heutige Zeit reicht, wurde auch deutlich.


Elisabeth Günter als Sprecherin war eine gute Wahl. Sie intoniert mit angenehmer Stimme Gretels Gedanken und Erinnerungen ebenso wie die anderer Redner, mit denen Gretel zu tun hatte.


Dieses Buch hat mich neugierig gemacht auf „Der Junge im gesteiften Pyjama“, in dem das gleiche Thema behandelt wird und für mich wie ein Vorgänger zu diesem Buch wirkt.

Gerade zu einer Zeit, in der Hochbetagte wegen ihrer lang zurückliegenden Vergangenheit vor Gerichte gezerrt werden, finde ich es gut, die Welt aus deren Sicht erzählt zu bekommen.

@gst

Bewertung vom 17.12.2022
Die Bücher, der Junge und die Nacht
Meyer, Kai

Die Bücher, der Junge und die Nacht


sehr gut

Auf der Suche nach der Vergangenheit

Nachdem mich viele begeisterte Stimmen zu Büchern von Kai Meyer neugierig gemacht hatten, wagte ich mich an dieses Hörbuch. Auch wenn es an manchen Stellen nicht ganz einfach war dem Geschehen zu folgen, habe ich die Zeit mit den Stimmen von Simon Jäger, Maria Koschny und Johann von Bülow sehr genossen. Die unterschiedlichen Sprecher verdeutlichten drei Zeitebenen, auf denen das Buch aufbaut: 1933, 1943 und 1971. Wobei mir besonders bei Viktor von Bülow auffiel, wie gut es ihm gelang, mich mit diversen Dialekten an unterschiedliche Schauplätze zu versetzten.

Doch von vorn: Da begleitet man einen Zehnjährigen, der lange Zeit in einer Bibliothek eingesperrt war, auf seiner Flucht durch das brennende Leipzig. Schon früh hatte er das Lesen gelernt, doch Menschen kannte er kaum. Zusammen mit ihm macht sich der Leser/die Leserin auf den Weg durch die Stadt und das Land, wo er von seinem Retter die Aufgabe erhält, Bücher vor dem Untergang zu retten.

Knapp dreißig Jahre später hat sich Jakob Steinfeld zum Bücherfachmann gemausert und kümmert sich um Sammlungen, die aufgelöst werden sollen. Dabei lernt er eine junge Kollegin kennen, mit der er sich auf die Suche nach seiner Vergangenheit und einem bestimmten Buch macht. Über Bayreuth gelangen sie nach Leipzig, wo 1933 eine kurze Liebesgeschichte zwischen seinem Vater und der jungen Julia Pallanth stattfand. Immer mehr wird der Zuhörende in die Welt des beginnenden Nationalsozialismus hineingezogen, erlebt die Gräuel mit und erschrickt über die Menschen, die sich so feindselig verhielten.

Viele der insgesamt knapp fünfzehn Stunden blieb mir der Zusammenhang zwischen den einzelnen Erzählebenen verborgen, obwohl jede für sich interessant, wenn auch manchmal etwas langatmig war. Zum Schluss ergibt sich allerdings ein rundes, zusammenhängendes Bild.

Auch wenn das Buch alles enthält, was ich mir von ihm erhofft hatte (Spannung, diverse Schauplätze, etwas Liebe, Geschichten über Bücher und Einbeziehung der zeitgenössischen Politik) vergebe ich „nur“ vier Sterne. Das liegt daran, dass es dem Autor nicht gelungen ist, meine Aufmerksamkeit vom Beginn bis zum Schluss durchgehend zu bannen.

Bewertung vom 03.11.2022
Die Sehnsucht nach Licht
Naumann, Kati

Die Sehnsucht nach Licht


ausgezeichnet

Geschichte einer Bergmannsfamilie im Erzgebirge

Luisa Steiner ist Fremdenführerin im erzgebirgischen Schlema. Damit blieb sie der Familientradion treu, im Bergbau zu arbeiten. Allerdings liegt ihre heutige Aufgabe eher darin, die Vergangenheit aufzuarbeiten: Schon vor hundert Jahren entstand in dem Bergmannstädtchen wegen des radonhaltigen Wassers ein Kurort, der während der DDR-Zeit allerdings dem sowjetischen Uranabbau zum Opfer fiel. Erst nach der Wiedervereinigung wurde der Kurbetrieb wieder zur Lebensader des Ortes.


Kati Naumann, bekannt dafür, Geschichte und Geschichten lebendig werden zu lassen, hat sich in ihrem geschichtsträchtigen Roman dem Bergbau im Erzgebirge gewidmet. In einem Erzählstrang behandelt sie die Vergangenheit Schlemas und der Bergmannsfamilie Steiner ab 1908; in einem zweiten, parallel verlaufenden, beobachtet sie Luisa Steiner im Jahr 2019, die nach dem Verbleib ihres Großonkels Rudolf Steiner forscht.


Für mich war dies der dritte Roman von Kati Naumann, die 1963 in Leipzig geboren wurde und einen Großteil ihrer Kindheit in Sonneberg/Thüringen verbrachte. Der studierten Museologin gelingt es darin wie gewohnt, alte Bräuche und Traditionen mit einer Familiengeschichte zu verweben. Auch wenn ich diesmal eine Weile brauchte um im Buch zu anzukommen, weiß ich nach Vollendung der Lektüre wieder, weshalb ich diese Autorin so schätze.

Selbst aus dem Westen zugezogen, interessiert mich sehr, wie es in meiner Wahlheimat früher zuging. Den Spalt, der sich nach dem zweiten Weltkrieg zwischen Ost und West auftat, weiß Kati Naumann spannend in Szene zu setzen. Die Lebensweise in der sowjetisch beherrschten Zone war in vieler Hinsicht konträr zum Westen. In Naumanns Büchern lerne ich das Warum und Wieso zu verstehen. So kann ich die Orte, die ich inzwischen mit eigenen Augen gesehen habe, ganz anders einschätzen.

Bewertung vom 27.10.2022
Der Fußgänger
Boning, Wigald

Der Fußgänger


gut

Über das Wandern

Wandern im Herbst verspricht goldene Zeiten. Ebenso wie dieses Buch, das mit viel Gold zum 300. Geburtstag des Gräfe und Unzerverlages erschienen ist.

Schon im Prolog geht es humorvoll zu: „Ich bin dafür, das Gehen wieder als das zu begreifen, was es ist: Zum einen eine pfiffige Idee, um ohne fremde Hilfe vom Bett zum Kühlschrank, in fremde Länder oder auf hohe Berge zu gelangen und zum anderen ein Akt der Liebe.“

Danach freute ich mich auf 176 Seiten voller humorvoller Gedanken zum Wandern: womit, mit wem, wohin und wie schnell. Doch das, was ich mir erhofft hatte, ging nur zum Teil in Erfüllung. Ich musste leider feststellen, dass ich mit Wigald Bonings Humor wenig anfangen kann. Was interessiert mich, wo er überall Blasen an den Füßen bekam, als er in Holzschuhen von Köln nach Düsseldorf wanderte?

Dabei war ich anfangs begeistert, das Buch in Händen zu halten: Allein die Haptik ist phänomenal. Auch die Buchtipps für Wanderer hatten mir gefallen. Das verwendete dicke, schwere Papier und die im Text verstreuten Fotos versprachen mir reinstes Nutzungsvergnügen. Die vergrößerten Schriften mit Auszügen aus dem Text , die versprachen, schnell die gesuchten Seiten wiederzufinden, sprachen mich ebenfalls an.

Vielleicht hätte ich mich mit Wigald Boning beschäftigen sollen, ehe ich mir das Buch zulegte? Ich hatte nämlich noch nie bewusst etwas von ihm gehört, sondern nur das Wort Wandern auf dem gelungenen Cover gesehen.

Für alle, die ihn auch nicht kennen, habe ich mich bei Wikipedia umgesehen und erfahren, dass er Jahrgang 1967 und Komiker, Synchronsprecher, Musiker und Fernsehmoderator ist. Bundesweite Bekanntheit soll er als festes Ensemblemitglied der Comedy-Sendung RTL Samstag Nacht erlangt haben, der er von 1993 bis 1998 angehörte. Privat ist er Vater von zwei Kleinkindern und erwachsenen Zwillingen. Der Tausendsassa lebt in München und machte sich Anfang der 2000-Jahre auch sportlich einen Namen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.09.2022
Isidor
Kupferberg, Shelly

Isidor


sehr gut

Biografische Recherchen

Mit „Isidor“ setzt Shelly Kupferberg ihrem Großonkel ein Denkmal. Akribisch suchte sie in Archiven und Museen nach Hinweisen auf sein Leben. Fündig wurde sie vor allem in Briefen, die sie auf dem Speicher der Wohnung ihres Großvaters in Israel fand.
Geboren 1876 und aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen in einem galizischen Kaff hat sich Israel, wie Isidors Taufname lautete, zu einem Multimillionär in Wien hochgearbeitet. Er unterstützte seine vier Geschwister, war begeistert von der Kunst und lebte wie ein Dandy. Bis am 11. März 1938 die Hakenkreuzfahne auf dem Wiener Rathaus aufgezogen und Isidor nur drei Tage später verhaftet wurde. Nach und nach wurde sein Vermögen beschlagnahmt, besonders wertvolle Kunstgegenstände konfisziert. Während Kupferbergs Großvater Walter, der viel Zeit mit seinem Onkel verbrachte, noch rechtzeitig nach Palästina ausreisen konnte, verpasste Isidor den Absprung und starb am 16. November völlig entkräftet mit nur 52 Jahren. Er war zuerst materiell, dann physisch ausgelöscht worden.

Shelly Kupferberg (*1974 in Tel Aviv geboren und in Berlin aufgewachsen) ist eine bekannte Moderatorin. In ihrem Buch hat sie das Wiener Leben zu Beginn des 20.Jahrhunderts plastisch beschrieben. Sie macht uns mit jüdischen Bräuchen und Lebensgewohnheiten bekannt, bevor sie die Stimmung beschreibt, die sich während des Nationalsozialismus gegen die Juden aufbaute und in unvorstellbaren Grausamkeiten mündete.

Diese Biografie lässt sich gut lesen und gibt einen Einblick in die damalige Zeit. An manchen Stellen kam sie mir wie eine Abrechnung vor, in der die Wut über das Schicksal ihrer Ahnen größer war als der Schmerz darüber.