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Irisblatt

Bewertungen

Insgesamt 93 Bewertungen
Bewertung vom 21.10.2022
Kangal
Schentke, Anna Yeliz

Kangal


ausgezeichnet

Aktuell, brisant, beklemmend
Dilek und Tekin gehören zu derjenigen jungen türkischen Generation, die bereits 2013 in Istanbul für ihre Freiheitsrechte demonstrierte.
Der gescheiterte Putschversuch 2016 stellte eine Zäsur dar. Erdoğan konnte seine Macht kontinuierlich ausbauen, staatliche Repressionen nahmen zu. Seither ist es gefährlich geworden, das autoritäre politische System zu kritisieren oder ein Leben zu führen, in dem Allah keine Bedeutung hat.
Menschen verschwinden, werden verhaftet, Cafés, Bars und Treffpunkte geschlossen, wenn der Staat dort „unmoralisches“ Handeln oder einen Treffpunkt von Regimekritiker:innen vermutet.
Bereits seit einigen Jahren veröffentlicht Dilek unter dem Namen Kangal1210 kritische Artikel im Netz. Als eine Freundin verhaftet und ein weiterer Freund zu Verhören geladen wird, wächst in Dilek die Furcht, ihre Identität könnte auffliegen, sie die nächste sein, die im Gefängnis landet. Hals über Kopf reist sie, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen, nach Frankfurt. Sie nimmt Kontakt zu ihrer Cousine Ayla auf, mit der sie als Kind häufig die Ferien verbrachte. Ein Zerwürfnis der Mütter, dessen Ursache vermutlich auch in unterschiedlichen politischen Einstellungen zu suchen war, führte zu einem Kontaktabbruch. Kann Dilek Ayla und ihrer Familie nach all den Jahren trauen? Schließlich wurde Erdoğan von 63% der in Deutschland lebenden Türk:innen begeistert gewählt. Auch eine regierungstreue „Denunzierungsapp“ wurde massenweise heruntergeladen und ist schnell bedient; nie war es leichter Mitmenschen an den Staat zu melden.
Anna Yeliz Schentkes Debütroman erzeugte eine starke Beklemmung bei mir. Im schnellen Wechsel lässt die Autorin Tekin, Dilek und Ayla zu Wort kommen. Wem kann man trauen? Schwebt Dilek wirklich in Gefahr? Wird der zum Verhör geladene Freund die Identität von Kangal1210 preisgeben, um sich selbst zu schützen? Hat der Staat Dilek bereits im Visier? Oder ist Dilek einfach nur paranoid? Melek, eine Freundin von Ayla, die in Deutschland lebt, glaubt nicht an willkürliche Verhaftungen oder an Verhaftungen aus nichtigen Gründen. Schließlich kennt sie genügend Türk:innen, die regelmäßig den Urlaub in der alten „Heimat“ verbringen und auch kein Blatt vor den Mund nehmen. Niemandem wurde der Pass abgenommen, alle konnten zurück nach Deutschland fahren. Dilek hat diesbezüglich ihre ganz eigene Meinung, im übrigen auch darüber was der touristische Aufenthalt ihrer Landsleute in der Türkei anrichtet.
Die kurzen Monologe sind manchmal nur eine Seite lang, bringen aber viele Themen und auch die ambivalenten Befindlichkeiten der Figuren sehr nuanciert auf den Punkt. Die unterschwellige Bedrohung, der Regimekritiker:innen nicht nur in der Türkei, sondern auch außerhalb der eigenen Landesgrenzen ausgesetzt sind, vermittelt sich unmittelbar und sehr eindringlich beim Lesen dieses kurzen Romans. Politisch hoch brisant gewährt die Autorin Einblicke in die realen Ängste von Regimekritiker:innen und zeigt pointiert wie sich Stimmung und Lebensrealität seit dem Putschversuch verändert haben. Mir hat der Text in seiner Klarheit und seinen Zweifeln, die er sät, unheimlich gut gefallen. Zu Recht stand "Kangal" auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022.

Bewertung vom 21.10.2022
Linden Hills
Naylor, Gloria

Linden Hills


ausgezeichnet

Gesellschaftsportrait mit Teufel
„Linden Hills“ wurde bereits 1985 veröffentlicht, aber erst jetzt ins Deutsche übersetzt. Zum Glück - denn Gloria Naylor hat mit ihrem Roman ein sehr dichtes, zeitloses Gesellschaftsportrait geschaffen, bei dem ich mir eine wiederholte Lektüre gut vorstellen kann.
Die Struktur des Romans ist ungewöhnlich, einen stringenten Handlungsverlauf sucht man vergeblich. Trotz allem wird der Roman durch eine Art Rahmenerzählung und zwei Hauptfiguren zusammengehalten.
Linden Hills ist eine Wohngegend exklusiv für Menschen schwarzer Hautfarbe, die es zu etwas gebracht haben, die einer aufsteigenden Klasse angehören.
Die Erfolgsgeschichte Linden Hills beginnt 1820 mit dem Kauf eines Stück Lands durch Luther Nedeed. Die Weißen machen sich zunächst lustig über ihn, reiben sich die Hände, weil sie viel Geld für das unbrauchbare Land, das direkt an den Friedhof grenzt, erhalten haben. Luther baut ein Haus, bietet seine Dienste als Bestatter an und verdient gut mit seiner Geschäftsidee. Die Zeit vergeht - in jeder Generation gibt es einen männlichen Nachkommen, der den Namen Luther Nedeed erhält. Jeder prägt Linden Hills auf seine Weise, bleibt aber dem Beruf des Bestatters ebenso treu wie der Sitte, eine möglichst hellhäutige (zu 1/8 schwarze) Frau zu ehelichen und genau einen Sohn zu zeugen. Meilensteine in der Entwicklung von Linden Hills sind der Bau von Hütten, die an ausgesuchte Schwarze vermietet werden und ein ausgeklügelter Pachtvertrag, der sicher stellt, dass über die kommenden 1001 Jahre alle Häuser in Linden Hills von Schwarzen bewohnt werden, die zudem Luthers moralischen Kriterien entsprechen müssen.
Wichtig zu erwähnen ist noch, dass Naylor zahlreiche Bezüge zu Dantes Inferno herstellt: einige Hinweise sind in ihrer Bedeutung verdreht, andere sind offensichtlich wie z.B. die acht Ringstraßen, die es in Linden Hills gibt, und die mit den Höllenkreisen korrespondieren. Dabei sind die Häuser in Linden Hills luxuriöser je weiter man nach unten gelangt in Richtung der achten Ringstraße und damit in die Nähe von Luther Nedeeds Haus. Für das grundlegende Verständnis des Romans ist die Kenntnis von Dantes Inferno nicht notwendig, allerdings eröffnen sich eine Fülle weiterer Deutungsebenen, wenn der Text bekannt ist.
Willie Mason und Lester Tilson, zwei junge Männer, die beide Gedichte schreiben und lieben, sind die zwei Hauptcharaktere, die uns in den 1980er Jahren durch Linden Hills führen. Lester wohnt mit seiner Mutter und Schwester ganz oben in Linden Hills, während Willie außerhalb im angrenzenden, ärmeren Stadtteil wohnt. Beide benötigen dringend Geld für den Kauf von Weihnachtsgeschenken. Deshalb bieten sie in den Tagen vor Weihnachten, ihre Dienste in den Häusern der Reichen an. Sie erhalten unterschiedliche Gelegenheitsjobs und erleben viel Denkwürdiges in diesen Tagen. In einem Haus wird z.B. eine pompöse Trauerfeier inszeniert oder ein junger Mann geht eine Scheinhochzeit zugunsten seiner Karriere und seines gesellschaftlichen Ansehens ein. Naylor zeigt Menschen, die ihren innersten Bedürfnissen zuwiderhandeln, es aber in ihrer Verblendung nicht merken. Die Themen Rassismus, Klassismus, Sexismus sind immer im Hintergrund präsent, spielen eine Rolle - aber Naylor geht einen Schritt weiter: Ich lese ihren Roman als Plädoyer sich nicht in solchen Oberflächlichkeiten zu verlieren, sondern sich daran zu erinnern, was Menschsein bedeutet und seine Menschlichkeit sich selbst und anderen gegenüber nicht zu verlieren.
Naylor bricht mehr als einmal mit der Erwartungshaltung ihrer Leser:innen. Da es viele Brüche gibt, ist konzentriertes Lesen erforderlich, um die Zusammenhänge der einzelnen Geschichten zu begreifen. Es bleibt viel Raum für eigene Gedanken. Die Autorin liefert keine einfachen Antworten, sondern zeigt Situationen und hält der Gesellschaft einen Spiegel vor. Einige Andeutungen verlieren sich und werden nicht wieder aufgegriffen. Die Geschichte rund um Luther Nedeed ist eigenwillig, hat etwas Gruseliges und bringt eine weitere, symbolische Ebene in die Geschichte, die ein reines Gesellschaftsdrama so nicht hätte. Wenn der Teufel persönlich auftritt, darf natürlich eine Lichtgestalt nicht fehlen. In Linden Hills wird diese durch einen Priester repräsentiert, der seine ganz eigenen Probleme hat.
Mir gefallen Naylors Sprache, ihre detaillierten, ambivalenten Figurenzeichnungen, ihre Klarsicht und ihre Fähigkeit, eine ungewöhnliche Geschichte zu schreiben, in der so viel zeitlose Gesellschaftskritik steckt. Die Spannung, die die Geschichte durch die finstere Gestalt des Luther Nedeed erhält, fand ich persönlich schaurig großartig. Ich bin glücklich, diese Autorin entdeckt zu haben. Für mich ist Linden Hills ein Stück dichte, anspruchsvolle Weltliteratur.

Bewertung vom 10.10.2022
Die Stimme meiner Schwester
Vieira Junior, Itamar

Die Stimme meiner Schwester


gut

Ausbeutung und Widerstand
Die „Stimme meiner Schwester“ beginnt spektakulär mit einem Unglück. Bibiana und Belonísia, Schwestern im Alter von sechs und sieben Jahren, öffnen in einem unbeobachteten Moment den alten Koffer ihrer Großmutter. Darin finden sie ein sehr schön gearbeitetes, mit einem Elfenbeingriff verziertes Messer, eingeschlagen in einen alten Lumpen. Aus einer Laune heraus nehmen sie dieses in den Mund. Sie wollen spüren wie es schmeckt und verletzten sich beide an der scharfen Klinge - Belonísia so stark, dass sie ein Stück ihrer Zunge verliert und nie mehr wird sprechen können. Die Ausgangssituation ist dramatisch und wirft so viele Fragen auf, dass ich gebannt in diese Geschichte eingestiegen bin. Handlungsort ist eine Fazenda im Nordosten Brasiliens. Dort bewirtschaften Quilombolas, die Nachfahren afrikanischer Sklaven, die während der portugiesischen Kolonialzeit ins Land verschleppt wurden, die Felder. Auch Belonísias und Bibianas Familie sind Nachkommen schwarzer Sklaven. Offiziell wurde die Sklaverei in Brasilien 1888 abgeschafft. Faktisch wurden die landlosen ehemaligen Sklaven jedoch in neue Knechtschaftsverhältnisse gezwungen. Sie bewirtschafteten in harter Knochenarbeit die Plantagen gegen das Recht, dort eine Lehmhütte zu errichten. Haltbare Steinhäuser wurden nicht gestattet, alles sollte provisorisch bleiben. Die Familien erhielten kein Geld für ihre Arbeit, mussten aber große Teile der Ernte an die Grundbesitzer abgeben, die oftmals mehr nahmen als ihnen zustand. Itamar Vieira Junior erzählt mit großer Kenntnis von den Lebensbedingungen auf den Fazendas, den religiösen Riten der afro-brasilianischen Bevölkerung, dem Glauben an Geister und Verzauberte und dem traditionellen Heilwesen.
Der Roman gliedert sich in drei Teile, die jeweils einer eigenen Erzählstimme gewidmet ist: die Perspektiven, die sich leider sprachlich überhaupt nicht voneinander unterscheiden, sind die von Bibiana, Belonísia und im dritten Teil die einer Verzauberten namens Santa Rita Pescadeira. Der Roman erzählt von fortbestehenden Knechtschaftsverhältnissen, der Gewalttätigkeit von Ehemännern, kulturellen Veränderungen - insbesondere im Bereich der traditionellen Glaubensvorstellungen - und vor allem vom aufkeimenden Widerstand gegen die erlittenen Ungerechtigkeiten moderner Sklaverei in den 1980er Jahren und davor. Es sind im Text vor allem Bibiana und ihr Ehemann sowie Belonísia, die sich auflehnen, eine Widerstandsbewegung gründen und mit großer Stärke vorangehen.
1988 wurden zwar die Landrechte der Quilombolas in der brasilianischen Verfassung verankert, allerdings scheinen diese immer noch nicht in allen Teilen Brasiliens umgesetzt zu sein. Der im Roman eine große Rolle spielende Jâre-Kult, hat sich mir nur vage erschlossen. Hier hätte ich mir ein Glossar bzw. eine Erläuterung und Einordnung im Rahmen eines Vorworts gewünscht.
Letztendlich hat mich der Erzählton bzw. der Stil des Autors nicht durchgängig erreicht. Die Erzählweise war mir zu monoton, zu nüchtern, weshalb ich das Lesen über größere Abschnitte als zäh empfunden habe. Ich empfehle das Buch aber denjenigen, die sich für die Situation und die Geschichte der Quilombolas interessieren.

Bewertung vom 09.10.2022
Gespräche auf dem Meeresgrund
Leeb, Root

Gespräche auf dem Meeresgrund


gut

Kammerspiel auf dem Meeresgrund
Die Ozeane sind in vielerlei Hinsicht für uns Menschen von Bedeutung. Sie bieten Nahrung, dienen dem Vergnügen, sind Forschungsorte, aber auch Kriegsschauplatz, Müllkippe und Grab.
Die Autorin und Künstlerin Root Leeb nimmt uns mit, tief hinunter auf den Meeresgrund des Mittelmeers. Dort treffen wir drei Tote: zwei Männer, eine Frau - der Eine, der Andere und die Dritte. Die drei tauschen sich darüber aus, was mit ihnen geschah, wie es nun weitergehen kann, ob es überhaupt weitergeht. Die drei auf dem Meeresgrund Gestrandeten nehmen gegenseitig alle Hoffnungen, Ängste, Fragen und Erinnerungen wahr. Sie können ihre intimsten Gedanken nicht verstecken, nicht verhindern, dass die anderen sehen, was ihnen zugestoßen ist und welche Empfindungen sie dabei hatten. Auf diese Weise durchleben sie nicht nur Momente des Glücks, der Wut, des Schmerzes, der Sorge und der Trauer, sondern auch Scham und Bedauern. Schnell werden die sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Lebenserfahrungen der drei deutlich. Unterbrechungen der „Gespräche“ entstehen durch vorbeifahrende Kreuzfahrtschiffe, Suchtrupps, Explosionen, aber auch durch das Geplauder von mythologischen Wesen. Poseidon und auch eine Gruppe von Meeresnymphen haben ihre ganz eigenen Gedanken über die Menschheit, die immer wieder beiläufig in den Text einfließen.
Insgesamt reißt die Autorin viele Themen an: Kolonialismus, Rassismus, Flucht, die Schere zwischen Arm und Reich, Sexismus und die Ausbeutung der Natur sind nur einige davon. Immer geht es auch um die Würde des Menschen und seine Verantwortung. Den Beginn der nur etwa 150 Seiten umfassenden Erzählung habe ich gebannt gelesen. Die Idee, den vielen Namenlosen, die aus unterschiedlichen Gründen ihren Tod im Meer fanden, eine Stimme zu verleihen, hat mir sehr gefallen. Das Buch ist hochwertig verarbeitet und sehr schön mit Gemälden der Autorin illustriert.
Der Text bietet zahlreiche Denkanstöße in unterschiedlichste Richtungen. Root Leeb erzählt nüchtern und distanziert, spielt aber auch mit der Sprache. Als Manko habe ich empfunden, dass die Sequenzen aus dem Leben der drei Protagonist:innen sehr kurz sind. Obwohl auch dies Teil des Erzählkonzepts ist, haben mir die zahlreichen Sprünge und die sehr knappen Szenen den Zugang und eine tiefergehende Beschäftigung mit den zahlreichen wichtigen Themen erschwert. Eine Fokussierung hätte mir besser gefallen. Insgesamt zerfaserte die sehr gute Grundidee für mich an der Themenfülle. Setting und Thema der Erzählung gefallen mir außerordentlich gut, von der Umsetzung bin ich allerdings enttäuscht. Hier wurde in meinen Augen Potential verschenkt.

Bewertung vom 08.10.2022
Verbrenn all meine Briefe
Schulman, Alex

Verbrenn all meine Briefe


ausgezeichnet

Zerstörerisches Familiengeheimnis
Alex bemerkt nicht zum ersten Mal, dass etwas nicht stimmt. Warum haben seine Kinder und seine Frau offensichtlich Angst vor ihm? Er versteht es nicht, kann es nicht in Relation zu seinen Handlungen setzen. Und doch: da ist irgendetwas - etwas, das ihn seit seiner Kindheit begleitet - nur was? Eine Therapiesitzung offenbart auffällige Disharmonien in den Beziehungen seiner Familie mütterlicherseits. Doch worin liegen die Ursachen der zahlreichen Streitereien, der gestörten Beziehungen, der Kontaktabbrüche, die in dieser Regelmäßigkeit und Intensität nur die Familie seiner Mutter betreffen?
Wir begleiten Alex auf seiner Spurensuche. Akribisch und getrieben von dem Wunsch, Klarheit zu erhalten bzw. seine Frau und Kinder nicht weiterhin durch seine unterschwellige Wut zu verängstigen und seine Ehe zu retten, stürzt er sich auf den Nachlass seines Großvaters Sven Stolpe, der in Schweden als bekannter Autor, Kritiker, Übersetzter und Journalist in der Öffentlichkeit stand. Er beginnt, dessen Romane zu lesen, entdeckt thematische Gemeinsamkeiten und stößt bei seinen Recherchen auf einen weiteren Namen: Olof Lagercrantz, ebenfalls Schriftsteller und erklärter Erzfeind seines Großvaters. Nach und nach verdichten sich die Hinweise auf eine Liebe zwischen Karin Stolpe und Olof Lagercrantz mit weitreichenden Folgen auch für die Nachkommen von Sven und Karin. Alex Entdeckungen sind ungeheuerlich, lassen das Blut in den Adern gefrieren, machen wütend und traurig. Gekonnt verschränkt Schulman die Gegenwart mit Szenen aus seiner eigenen Kindheit in den 1980er Jahren und der Geschichte seiner Großeltern Karin und Sven Stolpe bzw. Olof Lagercrantz.
Beim Lesen dieses autobiographischen Romans geriet ich in einen starken Lesesog, in ein Wechselbad der Gefühle. Die erzählte Geschichte ist berührend, erschütternd, beklemmend, voller Spannungsmomente, tief traurig, drastisch und erbarmungslos. Sie besticht darüber hinaus durch das Reflexionsvermögen des Autors, der zu verstehen sucht, ohne anzuklagen. Alex Schulman zeigt einmal mehr sein literarisches Können bei der Verarbeitung autobiographischer Inhalte. Klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 01.10.2022
Schlangen im Garten
vor Schulte, Stefanie

Schlangen im Garten


sehr gut

Trauerarbeit der ungewöhnlichen Art
Familie Mohn hat einen geliebten Menschen verloren. Vater Adam, die Kinder Micha, Linne und Steve versuchen irgendwie damit zurecht zu kommen, dass ihre Mutter bzw. Ehefrau gestorben ist. Alle trauern auf unterschiedliche Art und Weise, versuchen trotz der großen Lücke irgendwie die Tage zu überstehen. Micha verliert sich in Traumwelten, Linne reagiert mit Wut, fällt in der Schule durch Gewalt auf. Der Vater befindet sich in einer Art apathischen Starre, ist den Alltagsanforderungen nicht mehr gewachsen, kündigt seine Arbeit. Der älteste Sohn Steve kümmert sich so gut es geht um den Haushalt, seinen Vater und die jüngeren Geschwister. Erlösung findet er nur in kurzen Momenten hoher Geschwindigkeit auf dem Skateboard.
„Schlangen im Garten“ beginnt mit einer überraschenden, sehr skurrilen Szene, die mich sofort fasziniert, begeistert und neugierig auf den weiteren Verlauf gemacht hat. Familie Mohn verspeist Seite um Seite Johannes Tagebücher, ohne darin zu lesen. Es gehört zu ihrem täglichen gemeinsamen Ritual, das Papier in mundgerechte Stücke zu zerreißen, es zu Gerichten zu verarbeiten oder die Schnipsel auch mal pur zu verspeisen. Das Ende des „Projekts“ ist noch nicht absehbar, schließlich war Johanne eine ambitionierte Tagebuchschreiberin.
Längst ist das Traueramt auf die Familie aufmerksam geworden, weil die Trauerarbeit der Familie Effizienz vermissen lässt. Eine Rückkehr zur Normalität soll rasch erreicht werden; Trauernde sind Störfaktoren innerhalb der Gesellschaft, laufen Gefahr zu Außenseitern zu werden. Doch die festgesetzten Maßnahmen des Traueramts laufen ins Leere, die Familie verhält sich eigensinnig und unkooperativ.

Vor Schulte fängt sehr gut die Verlorenheit der einzelnen Familienmitglieder ein, zeigt, dass Trauern ein komplexer, individueller Prozess ist, der nicht eben mal nach zwei Wochen abgeschlossen ist. Sie findet starke Bilder für die Befindlichkeiten der Trauernden. Unterstützung im Trauerprozess kommt von unerwarteter Seite. Je weiter der Roman fortschreitet, umso mehr drängen sich phantastische Elemente in die Geschichte, die nicht immer leicht zu deuten sind. Gegen Ende hat die Autorin die einzelnen Mitglieder der Familie Mohn für mich zu stark aus dem Blick verloren. Ich mag das Buch sehr, es hat mich berührt und nachdenklich gemacht. Trotzdem empfand ich es als nicht ganz so rund wie „Junge mit schwarzem Hahn“. Stefanie vor Schulte hat eine sehr besondere Art Geschichten zu erzählen. Obwohl ihre Sätze sehr kurz sind, haben sie eine eigentümliche Strahlkraft und Poesie. Die märchenhaften, phantastischen und skurrilen Elemente gefallen mir ausgesprochen gut. Ich bin jetzt schon gespannt auf das nächste Buch der Autorin.

Bewertung vom 10.09.2022
Auf See
Enzensberger, Theresia

Auf See


gut

Utopia dekonstruiert oder doch ein dystopisch anmutender Familienroman?
Es fällt mir ausgesprochen schwer, eine Rezension über Theresia Enzensbergers Roman „Auf See“ zu schreiben.
Die Handlung ist in der näheren Zukunft angesiedelt. Im Mittelpunkt steht zunächst das Leben auf der „Seestatt Vineta“, einer künstlich angelegten schwimmenden „Wohn- und Forschungsinsel“ mitten in der Ostsee. Sie wurde ursprünglich als Zufluchtsort errichtet, weil die Welt auf dem Festland durch klimatische Veränderungen und soziale Unruhen zu zerbrechen droht(e). Enzensberger greift in ihrem Roman die Idee des „Seasteading“ auf - Siedlungen, die quasi im rechts- und steuerfreien Raum in internationalen Gewässern entstehen. Auf diesen Inseln, die sich der Kontrolle durch Staaten entziehen, sind die unterschiedlichsten Modelle menschlichen Zusammenlebens möglich, niemand ist Rechenschaft schuldig und auch Forschende können frei von sämtlichen Regularien arbeiten.
Die 17-jährige Yada ist die Tochter des Seestattgründers Vineta. Sie lebt dort völlig isoliert von der äußeren Welt. Ihr Tagesablauf ist streng getaktet - die Beschäftigungen legt der Vater fest, Kontakt hat sie fast ausschließlich zu ihm und ihren Lehrern. Die ursprüngliche Idee eines autarken Seasteading-Projekts wurde aber auch nach vielen Jahren nicht umgesetzt. Noch immer werden zahlreiche Lebensmittel außerhalb gekauft, die Nachhaltigkeitsziele scheinen keine Priorität zu haben, immer wieder verlassen Wissenschaftler enttäuscht das Projekt. Über Yada hängt drohend eine möglicherweise durch ihre Mutter vererbte Krankheit. Medikamente sollen das Ausbrechen verhindern. Irgendwann kommen Yada Zweifel am Weltbild, das ihr vermittelt wurde. Warum wurde die Seestatt wirklich errichtet? Kann sie ihrem Vater vertrauen? Sie merkt, dass es viele Ungereimtheiten gibt und beginnt heimlich zu recherchieren.
Ein weiterer Erzählstrang ist auf dem Festland angesiedelt. Wir folgen Helena durch ihren Alltag. Sie ist Künstlerin, Sektenführerin und Orakel, aber in erster Linie plan-, halt- und antriebslos. Ganz zufällig wurde sie durch die Macht der sozialen Medien sowie durch den Einfluss zahlreicher Influencer:innen zum Orakel und zur Sektenführerin. Die Rollen sind ihr lästig, niemand will glauben, dass nur ein Missverständnis vorliegt, irgendwann gibt sie auf, sich zu erklären und ihren Anhänger:innen das, was diese zu erwarten scheinen. Das einzige, was Helena zu faszinieren scheint, ist ihr Archiv. Sie sammelt dort wenig bekannte historische Fakten über Visionäre, Utopisten, Sektenführer, Hochstapler und Betrüger, die ihren eigenen Staat gründen wollten oder vorgaben dies zu tun. Die Archivaufzeichnungen fand ich sehr spannend, weil sie unglaubliche, wenig bekannte Geschichten erzählen, die tatsächlich historisch belegt sind.
Insgesamt gefällt mir die Idee hinter diesem Roman und auch die Figur der Helena, bei der die öffentliche Wahrnehmung überhaupt nicht mit dem echten Menschen in Einklang steht, sehr gut. Enzensberger thematisiert Ausbeutung, alternative Wahrheiten, unterschiedliche Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens, entlarvt Projekte, die nur oberflächlich gesehen im Dienste der Menschheit stehen, als egozentrische Vorhaben.
Auf See liest sich gut, ist thematisch interessant und trotzdem merkwürdig unspektakulär. Ich empfand eine große Distanz zu den Figuren und der Erzählweise. Nach der Lektüre bleibt bei mir trotz vieler toller Ideen ein Gefühl der Unzufriedenheit zurück, ohne dass ich so genau festmachen könnte, woran das eigentlich liegt.

Bewertung vom 06.08.2022
Die Ewigkeit ist ein guter Ort
Noort, Tamar

Die Ewigkeit ist ein guter Ort


weniger gut

Sinnkrise
Elke hat Theologie studiert. Sie kommt aus einem religiösen Elternhaus - ihr Vater ist Pastor einer kleinen Gemeinde. Er hofft, dass sie schon bald seine Kirche übernehmen wird, er sich zur Ruhe setzen kann. Doch Elke kann sich noch nicht entscheiden. Sie schiebt eine Zu- bzw. Absage vor sich her mit dem Argument noch etwas Zeit zu benötigen. Ihre ehrenamtliche Tätigkeit als Seelsorgerin in einem Alten- und Pflegeheim bedeutet ihr viel. Doch eines Tages entfällt ihr ausgerechnet am Sterbebett einer alten Frau der viele tausendmal gesprochene Text des Vaterunsers. Undeutlich vor sich hinnuschelnd rettet sie sich aus dieser unangenehmen Situation. Panik erfasst sie, als sie erkennt, dass ihre Vergesslichkeit alle Texte mit Gottesbezug betrifft. Lange Gedichte und Liedtexte erinnert sie dagegen mühelos.

Obwohl ich nicht religiös bin, hat mich die Thematik angesprochen. Ich wollte erfahren, welche Auslöser es für Elkes „Gottesdemenz“ gibt, wie sie mit ihrer Situation umgeht, welchen Weg sie einschlagen wird. Zu Beginn hat mir der leichtfüßige Text, der auch immer wieder Humor durchblitzen lässt, gut gefallen.

Elkes Strategien im Umgang mit ihren Problemen haben mich nicht überzeugt. Allerdings halte ich es durchaus für möglich, dass Menschen sich so desorientiert hängen lassen, greifbare Unterstützung ablehnen, nicht gelernt haben über Probleme zu reden. Mein Schwierigkeit mit dem Roman gründet sich daher gar nicht so sehr auf den Inhalt, obwohl ich mir auch da mehr Tiefe erhofft hätte, sondern auf die literarische Umsetzung. Nach dem ersten Drittel plätscherte die Geschichte vor sich hin und Elkes Leben begann mich zu langweilen. Ich konnte ihre Verzweiflung nicht spüren. Die ungewöhnlichen Begegnungen, die Elke im Verlauf des Romans hat, hinterließen bei mir keine Resonanz. Zunehmend störte mich auch die sehr plakative Symbolik im Text. Wenn z.B. die Kirche durch einen Wasserschaden absinkt, Einsturz gefährdet ist, in Schieflage gerät, so ist mir der Bezug zu Elkes innerem Zustand zu gewollt.

Leider reicht es daher nur für 2,5 Sterne.

Bewertung vom 05.08.2022
Ach, hätte ich bloß einen Kakapo
Prochnow, Elena

Ach, hätte ich bloß einen Kakapo


ausgezeichnet

Ein Kakapo als Haustier?
Viele Kinder wünschen sich von ganzem Herzen ein Haustier - so auch der Junge aus dem neuen Bilderbuch von Elena Prochnow. Wenn er schon keine Katze oder einen Hund haben kann, dann möchte er doch wenigstens ein Meerschweinchen, ein Kaninchen oder einen Wellensittich haben. Doch die Mutter leidet unter einer Tierhaarallergie und hat darüber hinaus zahlreiche Bedenken gegen ein Haustier. Als der Junge eines Tages im Radio einen Bericht über den neuseeländischen Eulenpapagei Kakapo hört, beginnt er zu träumen: ein Kakapo wäre das ideale Haustier gegen das selbst die Mutter keine Einwände erheben könnte. Oder doch?
Mutter und Sohn informieren sich über diesen außergewöhnlichen Vogel, der vom Aussterben bedroht ist. Zahlreiche Initiativen setzten sich in Neuseeland für den bedrohten Eulenpapagei ein. Der Junge möchte den Kakapos vor Ort helfen und wünscht sich von seinen Geburtstagsgästen eine Spende für den bedrohten Vogel.
Die Illustrationen sind großflächig, klar strukturiert, haben satte Farben und setzten vor allem die Szenen, in denen der Junge von einem Leben mit dem Kakapo träumt phantasie- und humorvoll um. Der Haustierwunsch wird ernst genommen, der Blick aber auch am Beispiel des Kakapos auf unsere Umwelt und vor allem auch die bedrohten Tierarten gelenkt. Das Buch ist eine tolle Möglichkeit, bereits mit kleinen Kindern über das Thema artgerechte Tierhaltung und Artenschutz zu sprechen. Es zeigt auch Möglichkeiten auf, sich für den Umwelt- und Tierschutz in der unmittelbaren Umgebung zu engagieren. Kinder können gar nicht früh genug für umweltrelevante Themen sensibilisiert werden. „Ach, hätte ich bloß einen Kakapo“ tut dies auf kindgerechte Weise. Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung! Eine schöner Zusatz sind Malvorlagen zum Buch, die über einen QR-Code auf der Verlagsseite heruntergeladen werden können.

Bewertung vom 02.08.2022
Treue
Diaz, Hernan

Treue


ausgezeichnet

Hernan Diaz ist ein großer Erzähler
Hernan Diaz Roman „Treue“ lebt von seiner ungewöhnlichen Konstruktion, einer großartigen, immer treffenden Sprache, den zahlreichen Hinweisen und gelegten Fährten, die es zu entschlüsseln gilt, und einem Blick auf die Gesellschaft, der mit mehr als einem Klischee bricht.
Der Roman besteht aus vier Texten mit jeweils unterschiedlichen fiktiven Autor:innen.
Zunächst lesen wir den Roman „Verpflichtungen“, der von einem Autor namens Harold Vanner verfasst wurde. Der Fokus liegt dort auf der Lebensgeschichte des New Yorker Finanzgenies Benjamin Rask, der durch geschickte Transaktionen an der Börse und einer enormen Intuition sein ohnehin schon großes Vermögen bis ins Unermessliche steigern konnte. Aus den diversen Börsencrashs, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1929 die Wirtschaft erschütterten, ging er grundsätzlich als Sieger hervor. Harold Vanner erzählt zugleich die Geschichte von Helen Brevoort, die aus einer berühmten, zwischenzeitlich verarmten Familie stammt und die Ehefrau von Benjamin Rask wird. Harold Vanner beleuchtet die Ehe und versucht die Beziehung der beiden zu ergründen.
Beim zweiten Text handelt es sich um die unvollständigen Memoiren von Andrew Bevel, einem New Yorker Financier, der ebenfalls in den 1920er Jahren seinen Reichtum durch Börsenspekulationen vermehren konnte. In einer trockenen, zuweilen zäh zu lesenden Selbstbeweihräucherung berichtet Bevel von seinen Erfolgen und seiner lieben Frau Mildred. Ich bin Hernan Diaz sehr dankbar, dass er diesen Text fragmentarisch kurz gehalten hat.
Der dritte Teil nennt sich „Erinnerte Memoiren“ und wurde von Ida Partenza verfasst, die wir als alte Frau kennenlernen. Sie erzählt rückblickend von ihrer Familie und ihrer Arbeit als Privatsekretärin beim größten Financier an der Wall Street. Der Erzählstrang der Vergangenheit lässt sich zeitlich ebenfalls auf die 1920er Jahre datieren. Seit ihrer Arbeit für den New Yorker Financier beschäftigen sie Fragen, die sie nun im Alter durch die Freigabe von Archivunterlagen, die aus dem Privatbesitz eines verstorbenen Financiers stammen, zu klären hofft. Ida begibt sich auf Spurensuche und nähert sich einer ungeschönten Wahrheit an. Der letzte Text bietet uns einen Einblick in die Tagebuchaufzeichnungen von Mildred Bevel. Es sind diese letzten Aufzeichnungen, die alles in einem neuen Licht erscheinen lassen und zu diversen A-ha-Momenten führen.
Es ist unmöglich, detaillierter vom Inhalt zu erzählen. Teil der Lesefreude sind nämlich die zahlreichen Irritationen, Verbindungen, falsche und richtige Fährten, die Diaz präsentiert, die erlebt und entdeckt werden wollen. Jeder der Texte erfordert Aufmerksamkeit, ein permanentes Mitdenken und Neusortieren des Gelesenen. Ein Interesse für die Welt des Geldes ist nicht zwangsläufig nötig, um diesen Roman genießen zu können. Diaz zeichnet ein sehr lebendiges Bild der damaligen Zeit und beleuchtet Fragen, die sich um Reichtum, Macht, Moral, Geschichtsschreibung und Geschlechterverhältnisse drehen. Eine weitere Stärke des Romans liegt in der sprachlichen Umsetzung. Diaz beherrscht die Kunst, eine Geschichte zu erzählen. Seine Formulierungen treffen messerscharf, erweitern Denkräume und bescheren pures Leseglück. Ich wünsche diesem Roman viele Leser:innen.