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marcialoup

Bewertungen

Insgesamt 70 Bewertungen
Bewertung vom 09.03.2024
Der ehrliche Finder
Spit, Lize

Der ehrliche Finder


sehr gut

Irgendwie krass und unerwartet berührend

Ein zartes dünnes Büchlein von 125 Seiten beeindruckt in glänzender Sprache und mit dicht gepackten Ereignissen. Lize Spit erzählt die Geschichte von Tristan, dem Kind, das mit seiner Familie aus dem Kosovo geflüchtet ist, bis nach Belgien, zu Fuß und übers Meer; sie erzählt von Jimmy, der, zurückhaltend und anders, von den Mitschülern eher ausgegrenzt, in Tristan einen echten und ersten Freund findet, und um den Jimmy sich intensiv kümmern möchte. Jimmy, der akribisch seine Flippo-Sammlung verwaltet und den man vorbehaltlos komplett ins Herz schließt.
Aus Kindersicht mit Kinderton gepaart mit brisantem Thema spricht Lize Spit die Abschiebung von Tristans Familie an. Den Brief dazu bekam Tristans Familie an dem Tag, an dem Jimmy zum ersten Mal bei ihnen übernachten sollte.
Was dann passiert ist in keiner Weise erwartbar...

Ein klug durchdachtes Cover mit blauen Kreisen sowie zwei Farbkreisen besticht durch dieses runde Loch im Schmutzumschlag, das den pinkfarbenen Kreis darunter in Szene setzt. Gegenüber der grüne Punkt auf dem papiernen Cover zeigt sich ebenfalls darunter auf dem glatt-glänzendem pinkfarbenen Buchumschlag noch einmal.

Lize Spit bekannt für klare Darstellungen, die ins Eingemachte gehen, hat es geschafft, mich neugierig auf ihre anderen Romane zu machen. Somit war dies nicht mein letzter Roman von ihr.

Bewertung vom 06.03.2024
Kosakenberg
Rennefanz, Sabine

Kosakenberg


sehr gut

Zuhause oder Heimat?
Die Eier … ein symbolisches Thema des Romans.
Das Cover scheint zunächst unbeeindruckend. Aber die Farbgebung in Grün mit blassem Rosa mit einfach nur einem Eierkarton darauf läßt einen das Buch in die Hand nehmen und neugierig erforschen wollen, was es mit dem Titel, der zunächst auch nicht zum Cover passt, denn auf sich hat. Somit also doch gelungen!
Auf die Geschichte der Eier in und aus Kosakenberg wird auch noch tiefer eingegangen.

Nicht nur, dass Kathleen’s Vater in einem Kunststoffbetrieb arbeitete, der Eierkartons herstellte … später, nach der Wende … sondern auch die Zerbrechliechkeit wird widergespiegelt, die von rohen Eiern ausgeht…, und dem Eiertanz, ja, so könnte man es nennen, der quasi aufgeführt wurde, wenn Kathleen zu Besuch nach Hause, nach Kosakenberg, kam. Um die alltäglichen Themen wird herumgetänzelt, keiner spricht direkt an, welche Welten sie trennen – ihre Eltern, ihre Freunde, ihre Kindheit, ihre Vergangenheit in Kosakenberg – Kathleen in London, zuvor in Berlin, zuvor in der nächstgrößeren Stadt um Kosakenberg herum.
Im übertragenen Sinne könnte ein Ei auch für das englische Wort für ICH = I stehen und damit für Kathleen, die aus ihrem Dorf ausbricht.
Langsam hat Kathleen sich vorangetastet, um Weltluft zu schnuppern, um einen anderen Weg als ihre Eltern zu wählen, um das Korsett abzulegen, das ihr immer wieder zugeschnürt wird, wenn sie nach Kosakenberg zu Besuch kommt.
Was dann doch alles passiert und welche Veränderungen in die dörfliche, familiär gedachte Idylle einkehren wird, anfangs noch mit jedem Kapitelende gezeigt, rutscht es später in die Erzählung, um die es geht.

Kathleens Geschichte erzählt von den Unwägbarkeiten und veränderten Bedingungen zwischen ihrer Heimat Kosakenberg, ein Dorf, und die große weite Welt. Kathleen kann weggehen soweit sie möchte, doch ihre Wurzeln sind tief verankert. Mit jeder Heimkehr stellt sie fest, dass auch Kosakenberg nicht still steht und irgendwann zu etwas wurde, das sie nicht mehr kennt. Was sie loslassen muß, obwohl sie es immer als inneren Hafen der Heimat empfand. Wenn man in einem Ort lebt, bemerkt man die Veränderungen nicht so schonungslos. Schaut man aber nach einigen Jahren von Außerhalb drauf, bemerkt man die Verfremdung. Familien brechen auseinander, Geschäfte werden geschlossen, Kinder werden geboren, Alteingessesene sterben, Häuser werden verkauft und neu gestrichen…
Kosakenberg liegt im Osten Deutschlands, der Fall der Mauer trägt auch zur Geschichte in diesem Roman bei, jedoch ist es insgesamt ein bißchen übertragbar auf jedes Dorf im Verhältnis zu jeder Stadt.

Die Autorin Sabine Rennefanz versteht es geschickt und ohne Längen in unaufgeregtem Ton, den Leser einzufangen und mit Kathleen durch Kosakenberg zu gehen, Freunde, Dorfbewohner und Familie kennenzulernen und zu erleben, welche Veränderungen in und um Kathleen geschehen.
Netter Roman!

Bewertung vom 12.02.2024
Mutternichts
Vescoli, Christine

Mutternichts


ausgezeichnet

Die Mutter war’s…
Ein melodischer Rhythmus durchklingt die Erzählung der Tochter von, über und aus ihrer Mutter, hinein in ihr Leben und ihr eigenes Leben. Ihr gemeinsames.
Aber doch getrenntes. Leben.
„Mutter starb an einem Sonntag im Mai…“ (Zitat S. 33)
Anklagende Momente, Entscheidungen, fragwürdige Vorgaben, liebevolle Gesten, Verbundenheit, Fürsorgliches, Zärtliches, Schmerzliches und Ängstliches bekleidet die Tochter und begleitet sie über den Tod hinaus in Erinnerungen und tiefer Gedankenwelt an ihre Mutter und an Fragen, deren Antworten sie nun, nach ihrem Tod, über Rückblicke zu finden hofft.
Nach wenigen Seiten schon wollte ich abbrechen, war überfordert, stellte in Frage und zweifelte – an dieser Sprache, an der Erzählerin, an mir…
Doch wenn man sich auf diesen Roman einläßt, erfährt man etwas ganz Besonderes, eine Fülle, ein Reichtum an Ausdruck und Darstellung, findet Erklärungen und Verständnis. Vielleicht sogar Trost.

Zunächst völlig anders pocht der Text der Autorin auf die lesende Person ein wie ein prasselnder Haufen ungewohnter Wörter. Wenn man darin die Melodie gefunden hat, erscheint eine gut komponierte Sin(n)fonie. Trotz teils melancholisch angehauchter Schwere strömt der Text auch etwas Erleichterndes, beinahe Dankbares aus.

Das Nichts um die Mutter herum und das Nichts der Mutter selbst im Nicht-Sein: diese Thematik hat mich angesprochen, ich kenne den Blick selbst an meiner Mutter … ins Nichts…
Es folgen Wörter, beeindruckende Sätze und unglaublich gebastelte Bilder entstehen daraus, wenn man darin plötzlich Erlebnisse eigener Mutternichts-Tochter-Momente erkennt.
Faszinierend lese ich, verstehe und vertiefe mich in die Sprache, sauge sogartig die Bedeutungen dahinter auf, die wie Aha-Erlebnisse aus den Seiten herausspringen.
Mutter-Tochter-Beziehungen sind wahrscheinlich im Grunde ähnlich aufgebaut. Man ist und bleibt Tochter. Nichts, auch Mutternichts, ändert das. Nicht.

In einem kleinen, dicht gepackten Buch findet die Autorin brillant-strahlende, ausdrucksstarke Wörter in einer teils schweren, vielleicht auch traurig anmutenden Thematik, die fast poetisch mit grenzenloser Wucht in die Tiefe strömen und Situationen heraufholen, die berühren, und das mit einer solch unfassbaren Klugheit, die einen fragend und überraschend zurückläßt mit dem Gefühl, endlich Worte gefunden zu haben, um zu beschreiben, was dieses besondere Band einer Mutter-Tochter-Beziehung ausmacht, mit dem man auf immer verbunden ist.

Das Cover präsentiert sich leise, fast zurückhaltend, aber dennoch sehr ausdrucksvoll durch das von Schwarz ins hellgraue Nichts verschwindende Wort Mutternichts. Nichts anderes hätte besser gepasst.

Ich bin völlig überraschend restlos begeistert! Danke für diesen Roman!

Bewertung vom 09.02.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


gut

Ein herzbrecherischer Roman

Man braucht Nerven und Willen, sich dem Gefüge um Faina, einer ukrainischen jungen Frau und Philipp, einem besonderen Einzelgänger, zu widmen.
Beide rothaarig und zunächst Außenseiter in ihrer Schule finden sie als ungleiches Paar zusammen, erst Schulfreunde, später mehr. Von Philipps Seite aus so viel mehr, dass es in Besitzansprüche überspringt.
Beide haben schwierige Kindheiten zu bewältigen, nicht nur wegen der roten Haare...

Philipp. Eigenbrötlerisch mit seltsamem Blick auf manche Dinge, fast unsympathisch, aber auch herzerweichend, wenn er in unangebrachten Situationen hin und wieder in die Hose macht oder mit seiner alkoholkranken Mutter Schwierigkeiten bekommt.
Faina. Sympathisch, fleißig, und immer versucht, sich den Dingen zu stellen, die das Leben ihr bietet, rutscht in traurige Abhängigkeiten.
Der Roman. Öffnet seine Seiten dem Lesenden in alle Richtungen. Aggression und Depression, Liebessehnsucht und Gewalt. Suche nach Freundschaften und Heimat, die zu Kindeszeiten nicht gegeben waren.
In mehreren Zeitebenen sehr anschaulich geschrieben, verfolgen wir den Werdegang einer toxischen Beziehung.

Philipp und Faina lernen sich in der Schule kennen, verlieren sich in späteren Jahren eine zeitlang, bis Faina Philipp wieder aufsucht, um ihn um Hilfe zu bitten, als sie unerwartet schwanger wurde. Das Drama nimmt seinen Lauf und man verfolgt gebannt die flüssige Schreibe von Lana Lux.
Das Ende ist fast überraschend und erschreckend zugleich, aber auch ein bißchen viel zu schnell erzählt.

Der Titel zeigt auf, wie jeder der Protagonisten geordnete Verhältnisse empfindet.
Das Cover mit auffälliger Schriftfarbe und großen Blättern in harmonisch getöntem Hintergrund sticht ins Auge und gefällt mir sehr gut!

Bewertung vom 04.02.2024
Leuchtfeuer
Shapiro, Dani

Leuchtfeuer


ausgezeichnet

Leuchtkraft mit Sogwirkung

Das plastisch gestaltete Cover läßt mit hellen pastell-bunten Farben tatsächlich beinahe ein Leuchtfeuer entspringen. Mit einer starken und gleichzeitig zärtlichen Erzählkraft beschreibt die Autorin Dani Shapiro die tragische Geschichte zweier Familien und hat dafür dichte charakterstarke Protagonisten entwickelt.
Der Unfalltod eines Mädchens, verschuldet durch falsches Verhalten aller Beteiligten, läßt ein erschütterndes erstes Kapitel zurück, das die Grundlagen des weiteren Verlaufs legt. Der Roman, der mit wenigen Nebenrollen auskommt, verursacht einen leisen Sog in die inneren Welten der Protagonisten. Der Zeitstrahl umfaßt 35 Jahre ab dem Zeitpunkt des dramatischen Unfalls 1985. Die beiden Geschwister Theo und Sarah, ihre Eltern Mimi und Ben, der Nachbarsjunge Waldo mit seinen Eltern Alice und Shenkman formen gleichermaßen und individuell Geschichten ihres Lebens, die, geprägt durch äußere Umstände, teils schicksalhafte Wege einschlägt.
Man nimmt intensiv an der Gedankenwelt teil, die unter den Protagonisten selbst selten ausgetauscht wird. Das vermittelt dem Leser, dass er mehr über die jeweilige Person erfährt, als die Protagonisten untereinander.

Mit Leuchtfeuer sind eigentlich die Sterne gemeint, denen Waldo sehr zugeneigt ist, da er, hochbegabt und herausgetrennt aus der Welt, den Sternbildern mehr Vertrauen schenkt als Menschen. Einzig Ben, Arzt im Ruhestand, bekommt Zugang zu Waldo, was unter anderem vielleicht mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit bei Waldo's Geburt zusammenhängt. Mimi rutscht in eine Alzheimer-Krankheit und entflieht den Geschehnissen ungewollt auf diese Art. Theo entflieht allem und sich selbst, wird ein hervorragender Koch und kehrt irgendwann über seine Schwester Sarah zurück, die zwar erfolgreiche Filmproduzentin ist, aber sich in ein Alkoholproblem geflohen hat.

Über ihnen allen leuchtet ein diffuses aber warmes Licht, in das ich immer wieder gern eingetaucht bin, wenn ich das Buch zur Hand nahm um zu erlesen, wie das Geheimnis eines einzigen Ereignisses lange Schatten in ihre Leben wirft.
Für mich war Leuchtfeuer ein besonderes Buch – fesselnd und tiefgreifend, mit bewegenden Sätzen die zwischendurch fast ein bißchen tröstend wirkten.

Bewertung vom 21.01.2024
Eine halbe Ewigkeit
Kürthy, Ildikó von

Eine halbe Ewigkeit


gut

Rendezvous mit dem eigenen Ich

Cora Hübsch, 54-dreiviertel Jahre trifft Cora Hübsch, 30-dreiviertel Jahre durch Zufall beim Altpapier entsorgen in ihrem früher geschriebenen Tagebuch wieder, in einer Situation, als ihr aktuelles Leben von Abschieden aller Art aus den Händen zu gleiten drohte.
Selbst in ähnlichem Alter wie Cora Hübsch - damals, vor der halben Ewigkeit, genauso wie heute - kann man viele Gedanken, Gefühle, Erlebnisse und Situationen gut nachvollziehen und manchmal tut es gut in alten Erinnerungen zu schwelgen. Und ja, die Art der Dankbarkeit verändert sich in 25 Jahren sehr!
Ich hätte mir mehr Ausschnitte aus dem Tagebuch gewünscht und irgendwie auch einen anderen Bezug zum jetzigen Leben der Cora Hübsch. Die gesamte Geschichte hat mich nicht richtig erreicht. Ich war aber auch kein mega-Fan von "Mondscheintarif"... Trotzdem ist dieses bunt gestylte Buch mit dem farbenfrohen Cover eine leichte Lektüre für vergnüngliche Unterhaltungsstunden! Und die Idee, die Geschichte von Cora Hübsch nach 25 Jahren weiterzuschreiben und ihr damit wiederzubegegnen, ist irgendwie romantisch.

Bewertung vom 21.01.2024
Sachen suchen: Englisch lernen
Zorell, Bea

Sachen suchen: Englisch lernen


ausgezeichnet

Here we go!

Wie eine Art Wimmelbuch aufgebaut, zeigt das Buch „Sachen suchen und Englisch lernen“ bunte Bilder, die verschiedene Situationen zeigen – in der Küche, im Zoo, auf dem Spielplatz, Kindergeburtstag, am Bahnhof usw.
Die vorkommenden Gegenstände sind thematisch im Seitenbereich mit dem jeweils deutschen und englischen Begriff dargestellt. Diese können auch im Wimmelbild gesucht werden.
Eine ganz hervorragende Art und Weise, spielerisch Englisch zu lernen. Je früher begonnen wird, desto einfacher, denn die erlernten Begriffe im Vorschulalter verinnerlichen sich besser als dass sie später „nur“ haften bleiben.

Meine Nichte ist 4 Jahre. Das Buch ist ab 2 Jahre ausgewiesen.
Tatsächlich finde ich persönlich 2 Jahre ein bißchen zu früh für das Buch. Es ist schon ziemlich umfangreich mit großem englischen Wortschatz (über 100 Wörter)!
Der Aufbau des Buchs ist pädagogisch wertvoll, wenn ich so sagen darf.
Spielerisch konnte meine Nichte ihren Wortschatz so schon mit englischen Wörtern erweitern und sie ist neugierig auf mehr. Das komplette Buch haben wir gemeinsam noch nicht durch“gearbeitet“, doch sie war schon nach den ersten 3 Seiten total angetan. Und sie schaut immer wieder gern auch allein hinein oder fragt sogar, wie dieser oder jener Gegenstand in Englisch heißt, wenn ihr außerhalb des Buches etwas auffällt, was sie gern wissen möchte. Da haben wir ja was ins Rollen gebracht! Ein ganz tolles Buch!

Bewertung vom 09.01.2024
OUTLIVE
Attia , Peter

OUTLIVE


ausgezeichnet

Für ein gesundes langes Leben

Über 600 Seiten! Ich fragte mich zu Beginn, ob ich diesen Wälzer mit einem Sachbuch gut schaffen werde, aber Dr. Attia nimmt den Leser sofort mit auf seine Reise durch die Medizin und eigentlich auch durch den Körper jedes Lesers, um jedem die Chance für ein langes gesundes Leben zu ermöglichen. Sehr anschaulich und wirklich spannend erzählt er anhand von zahlreichen Beispielen, wie man eine bessere Lebensqualität in einem längeren und damit gesünderen Leben erreichen kann. Es geht nicht darum, ewig zu leben, aber lange GESUND zu leben und nicht lange krank zu leben…

Teil 1 ist stellenweise etwas zähfließend, da man auch viel über die medizinisch-geschichtliche Entwicklung verschiedenster Methoden und Forschungen erfährt.
Teil 1 ist mehr eine Erklärung der Funktionsweise und wiederholter Einblick in die Medizin, was stellenweise langatmig anmuten kann, was aber im späteren Verlauf wichtig wird! Dr. Attia hat aber die Gabe, dies auf unterhaltsame Weise darzubieten.
Er teilt die Medizin in 2.0 und 3.0 auf, wobei 3.0 die neue Denk- und Herangehensweise sein sollte, die völlig anders strukturiert ist als 2.0. Es ist sicherlich nicht neu, dass die jetzige Medizin nur auf kurzfristige und schnelle Lösungen, oft medikamentös oder operativ eingreift, ohne die Ursache bei der Wurzel zu fassen. Medizin 3.0 beinhaltet auch ein individuelles Eingehen auf den Menschen und dessen Problem, um maßgeschneiderter helfen zu können. Das würde jedoch auch viel Engagement jedes einzelnen Patienten voraussetzen. Was jeder selbst schon im eigenen Maße und mithilfe dieses interessanten Buchs von Dr. Attia in Angriff nehmen kann…
Sehr spannend, welche Werte in einer Blutuntersuchung eigentlich viel mehr Aufschluß über die wirkliche Gesundheit eines Menschen geben können, damit man schon in einem frühen Stadium eingreifen kann, bevor die Volkskrankheiten ausbrechen! Diese werden allerdings in der heutigen Medizin nicht untersucht…
Ich bin nun so neugierig gemacht worden, dass ich meinen Arzt einmal bei der nächsten Blutuntersuchung auf weiterführende Parameter einer Blutuntersuchung ansprechen werde.

Ab Teil 2 wird es richtig gut! Sehr intensiv, sehr detailreich, teilweise wissenschaftlich-medizinisch, aber auch sehr informativ, spannend, mit Aha-Effekten und man merkt, wie die Kapitel aufeinander aufbauen.
Das metabolische Syndrom z.B. wird sehr gut durchleuchtet und auseinandergenommen.
Die 100-jährigen sind immer wieder Thema, warum sie denn gesund dieses Alter erreichen.
Was (falsche) LEBENS-Mittel mit uns anrichten (können), weiß man irgendwie, man muß aber für konsequente Umsetzung selbst sorgen.
Ein fundiertes Medizin-Wissen wird anschaulich an guten Beispielen dem Laien übermittelt. Plötzlich versteht man Abläufe im Körper! Das eigene Körperbewusstsein wird angeregt und die Neugier gefördert, Dinge darüber mehr zu beleuchten oder zu hinterfragen.
Gern überschaut man dann seine eigene Situation einmal und kann anfangen, etwas zu verbessern bzw. zu verändern.
Diese 600 Seiten (wovon über 60 Seiten auch Quellen- und Literaturverzeichnisse sind) waren manchmal spannend wie ein Thriller, sehr unterhaltsam und auf jeden Fall lesenswert.

Bewertung vom 31.12.2023
Wellness
Hill, Nathan

Wellness


ausgezeichnet

Wellness bereitet mir dieser Roman nicht...

Es ist keine leichte Schreibweise, die Nathan Hill dem Leser ans Herz legt. Ganz tief ins Geschehen versinken kann man nicht so ohne weiteres und es kostet stellenweise Mühe, am Ball zu bleiben.
Der Roman schwankt zwischen Nähe und Distanz, ich habe mich manchmal überwinden müssen, weiterlesen zu wollen. Dann wiederum war ich jedoch gefangen zwischen den Zeilen...
Titel und Cover erscheinen zunächst zusammenhanglos, und werden vielleicht erst später verstanden.
Wir lernen den Kunst-Fotografen Jack kennen und Elizabeth, die Psychologin, ganz zu Beginn, als sie noch studieren und dürfen ihren Werdegang ganz von Beginn an verfolgen. Die Entwicklung ihres eigenen und gemeinsamen Lebens und dessen um sie herum – in den 90ern, aus den 90ern, zehn Jahre später, usw. erleben wir die innerlichen und äußerlichen Veränderungen.
Von Beginn an schaut man als stiller Beobachter von gegenüberliegenden Fenstern zu, so wie Jack und Elizabeth. Anfangs wird man mitgerissen, mitten in die 90er, in die Staaten, dort wo die Musik spielt und der Grunge rockt, den man selbst kennt und liebt.

Nathan Hill hat in diesem Roman eher eine beschreibende Erzählweise und entwirft ein Bild einer Ehe, deren Details vielleicht bei dem ein und anderen ähnlich sein könnte. Passend zu ihrem Beruf als Psychologin interpretiert und integriert Elizabeth dies gern in ihren Alltag hinein.. Jack als Fotograf hinkt ein bißchen hinter seiner Frau her, könnte man meinen. Ihr Sohn Toby wird mit viel psychologischem Hintergrund erzogen … manchmal erscheint es wie eine Studie in Romanform…
Ihr Sohn Toby ist anders als sie sich wünschen oder vorstellen und so bekleiden sie ihn mit ADHS oder auch nicht, weil die Tests es nicht bestätigen...

Der Roman ist in mehrere Teile gestückelt, die jeweils mit einem Foto und einer Überschrift beginnen und damit zwischen den Zeiten hin- und her“scrollt“.
Bei diesen Kapitel-Wechseln fehlt mir ob ein Übergang, Erzählungen aus der Zwischenzeit. Den Faden vom Anfang des Buchs kann man schnell verlieren, man wird oft in ein anderes Geschehen hineinkatapultiert, aber das ist dann wiederum so intensiv und detailliert beschrieben, das alltägliche Themen fast übertrieben in Einzelteile zerlegt werden. Die „Themen“ ihrer Ehe werden analytisch genau beleuchtet, während bei den Charakteren selbst eine gewisse Distanz zum Leser bleibt.

Wellness ist das Institut für Placeboforschung, in dem Elizabeth arbeitet und an gesundheitlichen Auswirkungen von Placebo-Effekten forscht.
Wellness vertreibt raffiniert auf den Patienten bzw. Kunden zugeschnittene Präparate, die einzig durch Placeboeffekt wirken, was die Kunden jedoch nicht wissen, da ihnen verbal etwas anderes verkauft wird.
Daher der Titel?
Oder „weil Wellness ein Wort war, das bedeuten konnte, was immer man hineininterpretieren wollte“ (Zitat Seite 184).

Das Auseinandernehmen der Funktionsweise von Algorithmen anhand des sehr gut dargestellten Beispiels der facebook-Freundschaft zwischen Jack und seinem Vater zeigt Zufälle, Beeinflussungen, Anpassungen und Manipulation auf.
Gut recherchiertes Wissen, das romanartig einfließt, dadurch aber auch zu Längen beiträgt und damit wieder Distanz schürt.

Der letzte Abschnitt im Buch ist echt schön! Nicht nur, weil man über 700 Seiten geschafft hat...

Bewertung vom 04.12.2023
Die Unbestechliche
Welser, Maria von;Horbas, Waltraud

Die Unbestechliche


sehr gut

Authentisch-spannende Zeitreise in die 70er

Von marcialoup
Das Cover der „Unbestechlichen“ ist in seinen Farben der Zeit entsprechend gestaltet, in der der Roman spielt. Die schreibende (interviewende?) Frau, deren Rücken und halbes Gesicht verdeckt sind, der fragende, beharrliche Blick, das alles passt hervorragend zu der emanzipierten Alice. Nach dem Lesen erkennt man, dass der Roman kein passenderes Cover hätte bekommen können.

Schon als Kind entwickelte Alice in der Nachkriegszeit ein immenses Gespür für Sprache, Geschehnisse und Ungesagtes. Sie las immer gern mit ihrem Vater zusammen die Tageszeitung. Durch ihre Aufgeschlossenheit ist Alice ein sehr kluges und aufmerksames Kind.
Ein Zitat, das Alice beschreibt, findet sich auf Seite 31: „Sie lernte unbewusst, die Kranheitszeichen zu erkennen die die Sprache ihrer Umwelt durchsetzten. Alice hörte die leisen Zwischentöne, das Ungesagte, das sich manchmal so erschreckend zwischen den Wörtern auftat.“

Sehr authentisch sind die Zeitungsartikel, die vor die Kapitel der jeweiligen Zeit eingestreut sind und die die Ereignisse der Jahre 1968 bis 1977 als Zeitzeugen wieder aufleben lassen. Überraschend und erschreckend wie diese Zeitdokumente phragmentartig auch noch 50 Jahre später in das Geschehen der Welt passen.

Anfang der 70er-Jahren nimmt Alice eine Stelle als Volontärin in einer Zeitungsredaktion an. Diese Stellung ist alles andere als einfach, denn Alice ist eine Frau. Doch stark und zielbewußt läßt sie sich nicht unterkriegen und mischt die Arbeitswelt der Männerwelt überraschend auf.
Ihrer kleinen Tochter Elena möchte sie eine gute und moderne Mutter sein, anfangs übersieht sie dabei die Zwischentöne, die ihre Ehe flüstert. Doch auch dem muß Alice sich irgendwann stellen und gewinnt eine neue Freiheit.
Alice kämpft sich in die Welt des Journalismus, wird mit verschiedenen Themen betreut, auf die ihre männliche Kollegen entweder keine Lust haben oder hoffen, dass Alice den Themen nicht gewappnet ist – die olympischen Spiele 1972 und ihre Folgen oder ein Interview mit der Ehefrau eines kandidierenden Politikers und das darauffolgende Drama. Doch Alice läßt sich nicht einschüchtern, die ihr anvertrauten Themen werden signifikant von ihr hinterfragt und fließen manchmal provozierend in ihre redaktionellen Texte ein, womit sie ihre männlichen Kollegen oft an Grenzen der zu schuldenden Antworten bringt.

Stellenweise ist das Buch etwas anstrengend. Die Unbestechliche ist dem Leser gegenüber manchmal ein bißchen unnahbar, doch dies ändert sich im Verlauf des Romans. Die Stimmung der 70er-Jahre ist allerdings sehr gut erfasst. Geschürt von Ängsten gegenüber der Männerwelt und der Öffentlichkeit schlucken Frauen noch zu viel Unterdrückung. Einst kühl und bedeckt im Hintergrund, beginnt die Fassade der Frau zu bröckeln, aber so leise, dass der Aufbruch noch keinen Durchbruch darstellt. Langsam und zögerlich rücken Dinge in den Fokus, die noch davor unter dem Teppich verfaulten. Emanzipation und Selbstbestimmung erwachen.

Ein wirklich facettenreicher Roman, bei dem es lohnt, auch die wenigen Längen mitzulesen, die letztendlich zur Dichte des Romans beitragen!