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Paragraphenreiterin

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Insgesamt 29 Bewertungen
Bewertung vom 19.09.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


ausgezeichnet

Wolf Haas hat einen neuen Roman geschrieben. Das heißt für mich nicht nur Pflichtlektüre, sondern Geburtstags- und Weihnachtsgeschenk in Einem. Pure Freude quasi. Die folgende Rezension KANN daher nicht objektiv sein, weil ich dem Autor seit den ersten von ihm gelesenen Zeilen sprichwörtlich zu Füßen liege. Aber ich gebe mein Bestes:

„Eigentum“ spielt während der letzten drei Lebenstage der Mutter des Autors. Er begleitet sie am Sterbebett, beide wartend auf den Tod, und trotzdem noch so viel zu sagen. Nicht zu seiner Mutter, sondern zu uns. Beziehungsweise zu sich selbst. Vor allem so viel aufzuschreiben. Haas möchte über das Leben seiner Mutter schreiben. Er schreibt, während sie stirbt. Ein literarischer Wettlauf mit dem Tod sozusagen.

Ich weiß nicht, ob Teile dieses Buchs autobiographisch sind, aber es würde mich wundern, wenn es nicht so wäre. Es ist eine Liebeserklärung und gleichzeitig eine Kampfansage an die eigene Mutter (Empfinden wir nicht alle ein bisschen so?). Man spürt beim Lesen viel Bewunderung und Respekt für diese Frau. Was sie geleistet hat und wie sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet und gespart hat, um sich irgendwann ein kleines Eigenheim leisten zu können. Gleichzeitig schwingt aber mindestens genauso viel Verwunderung und Genervtheit über Mutters Eigenheiten mit. Mit jedem Satz scheint Wolf Haas sich seine Mutter von der Seele zu schreiben.

Ernüchternd authentisch. Einfühlsam. Heilend. Das ist dieses Manifest.

Geschrieben mit der für den Autor sowas von einzigartigen sprachlichen Finesse und Kreativität. Hier wird kein Beistrich dem Zufall überlassen. Alles ist Ausdruck und Kunstform. Dabei wirkt jeder Text von Wolf Haas so, als wäre er so nebenbei dahin geschrieben worden. Als hätte sich der Autor eine Nacht lang vor seinen PC gesetzt und mal eben 200 Seiten runter getippt. Dabei brütet er wohl über jedem Satz stundenlang, damit er so perfekt ist und sich irgendwann in das Gesamtkonzept seines Buchs optimal einfügt.

Wolf Haas ist eben ein wahrer Künstler!

Bewertung vom 16.08.2023
Nichts in den Pflanzen
Haddada, Nora

Nichts in den Pflanzen


sehr gut

Die Newcomer-Autorin Nora Haddada hat durch ihren Debütroman "Nichts in den Pflanzen" gleich mal einen regelrechten Pageturner hingelegt. Trotzdem ich meiner Lesesucht mehr als nachgiebig fröne, ist es mir nach wie vor ein Rätsel, warum ich mich durch manche Bücher quäle und manche wiederum in Rekordzeit verschlinge. Dieser Roman gehört jedenfalls zur zweiten Sorte.

Es handelt sich um ein extrem kurzweiliges Drama, rund um eine junge Drehbuchautorin, die vom Leben zwar alle Chancen bekommt, die sie sich nur so erträumen kann, aber es leider nicht schafft sie zu ergreifen.
Die Gründe dafür sind vielfältig und mehr oder weniger verständlich. Angst vorm Versagen, übertriebener Perfektionismus, Langeweile, Hedonismus, Bindungsstörungen und nicht zuletzt ein heftiges Suchtproblem.
Je nach persönlicher Lebenserfahrung und Werthaltung schwanken die Lesenden wohl permanent zwischen tiefem Verständnis und Ekel in Bezug auf die Lebensführung und die Entscheidungen der Protagonistin.

Besonders gefallen hat mir die (offensichtliche) Metapher mit den schwarzen Fliegen, die die Autorin immer intensiver davon abhalten sich an die Arbeit zu setzen. Meiner Interpretation nach sollen sie den inneren Schweinehund darstellen, mit dem die meisten Menschen ab und an zu kämpfen haben, wenn sie an einem Projekt arbeiten. Ich kenne auch das Gefühl, dass diese innere Ablehnung immer stärker wird, je länger man das To Do vor sich herschiebt und je näher eventuelle Fristen rücken.
Dass dann irgendwann auch andere Menschen unter so einem Verhalten leiden, liegt auf der Hand und macht die Beziehungsverstrickung der Hauptprotagonistin mit den diversen anderen Figuren im Buch für mich den Reiz und die Tiefe dieses Dramas aus.

Nicht zuletzt hat Nora Haddada es geschafft viel Mitgefühl für ihre Hauptfigur in mir zu wecken. Ich denke jede:r Leser:in findet sich in der einen oder anderen negativen Eigenschaft oder schlechten Entscheidung wieder und fiebert dem Ende des Buchs entgegen, welches für mich ernüchternd realistisch und zeitgleich wahnsinnig authentisch rüber kommt.

Fazit: Klare Leseempfehlung dieses neuen großen Talents der Literatur. Lässt sich leicht und gern an einem Tag (oder eine Nacht) verschlingen. Sehr empfehlenswert für alle, die gerade bisschen "feststecken" in einem beruflichen Projekt - kann nur motivierend sein endlich seinen Allerwährtesten hoch zu bekommen und weiter zu arbeiten ;-)

Bewertung vom 03.07.2023
Wo du mich findest
Barns, Anne

Wo du mich findest


sehr gut

Rezension zu "Wo du mich findest" von Anne Barns

Hach, was war das für ein wundervolles Leseerlebnis! Kennt ihr diese Art von Büchern, die so eine schöne Stimmung und Gefühle in euch verbreiten, dass ihr irgendwie traurig melancholisch seid, wenn ihr sie fertig gelesen habt? Gleichzeitig habt ihr sie aber so schnell durch, weil ihr unbedingt wissen wollt, wie es ausgeht?
Genau so eine Art von Liebesroman ist das. Wobei es, auch wenn es wohl unter dieses Genre fällt, aus meiner Sicht viel mehr ist als ein Liebesroman - wohl eher ein "Lebensroman" (hab ich grad ein Genre erfunden? :-)).

Das Cover hat mich von Anfang an angezogen. Klar, frisch, sommerlich und die hübsche Frau im Retro-Badeanzug dazu. Es passt auch perfekt zum Schreibstil von Anne Barns. Sehr klar und deutlich. Ohne Schnörksel. Ja sogar die Kulisse in der das Buch spielt (eine deutsche Nordseeinsel) spiegelt sich im Cover wieder. Das Meer ist ein wichtiger Teil im Leben der Hauptprotagonistin und hilft ihr (wie wohl vielen anderen auch) dabei Ordnung in ihre Gedanken zu bringen.

Inhaltlich geht es um eine Frau namens Sophie, die sich nach schicksalshaften Umbrüchen in ihrem Leben auf einer Insel einquartiert, um einen Mann zu suchen, dem sie vor Monaten mal Kaffee übers Hemd geschüttet hat. Seitdem geht er ihr nicht nur nicht aus dem Kopf, sondern verfolgt sie bis in ihre Träume. Sie lebt mit ihm sogar eine Art Beziehung in ihren Träumen.
Tatsächlich kann sie ihn sogar ausfindig machen und dadurch wird eine Reihe von Veränderungen in ihrem Leben in Gang gesetzt, die einen selbst beim Lesen zum Träumen anregen.

Ein wunderschön geschriebenes Buch, das Mut macht und Lust auf Meer, Insel, Träumen und das Leben an sich!

Bewertung vom 31.05.2023
Mutterhirn. Was mit uns passiert, wenn wir Eltern werden
Conaboy, Chelsea

Mutterhirn. Was mit uns passiert, wenn wir Eltern werden


ausgezeichnet

Ich vergebe ja selten 5 Sterne. Aber dieses Buch ist mal wieder jeden einzelnen wert.

Die Autorin Chelsea Conaboy hat hier einerseits eine extrem detaillierte, fundierte und auf neuesten Erkenntnissen und Studien beruhende wissenschaftliche Abhandlung über die biochemischen, neurologischen und medizinischen Veränderungen in den Körpern von Eltern geschrieben.
Andererseits hat sie gleichzeitig (und das ist faszinierend) ihre persönliche Geschichte des Mutterwerdens erzählt und plaudert hier sehr einfühlsam und authentisch aus dem elterlichen Nähkästchen.
Diesen Spagat aus zwei verschiedenen Genres hat die Autorin für mich ganz wunderbar gemacht. Auch wenn manche Stellen aufgrund der wissenschaftlichen Tiefe etwas langatmig waren, wurde ich auf einer der nächsten Seiten wieder mit einer guten Portion Humor und Offenherzigkeit abgeholt, sodass ich doch gut dran bleiben konnte.

Besonders gefallen hat mir auch das Eingehen auf beide Elternteile (die ja meist nicht nur aus Frauen bestehen). Denn auch bei den nicht gebährenden Eltenteilen tut sich sehr viel im Gehirn und im Hormonhaushalt.
Wir werden doch alle irgendwie verrückt, wenn wir Kinder bekommen. Anfangs habe ich mich damit oft alleine gefühlt. Bücher wie dieses tragen dazu bei, dass ich mich wieder ganz normal und in bester Gesellschaft fühle :-)

Es war ungemein spannend zu entdecken welche Veränderungen in unseren Gehirnen passieren, wenn wir Kinder bekommen. Dass unser Gehirn eine zweite Pubertät durchleben muss. Mit allen Höhen und Tiefen und Verunsicherungen. All die Sorgen, Panik, Ängste und der Emotions-Wirr-Warr dienen dem alleinigen Zweck unseren Nachwuchs irgendwie durchzubringen. Wir, die Passagiere, sollten uns viel mehr Ruhe, Zeit und Nachsicht damit gönnen. Und solche Bücher am besten schon VOR dem Eltern-Werden lesen.

Leseempfehlung: Das ist nichts für den Strand oder im Zug auf dem Arbeitsweg lesen. Es ist eher was für den großen Ohrensessel und mehrere Stunden ungestörtes Drin-Versinken, denn man muss schon recht konzentriert sein. Einen Faible für die Wissenschaft sollte man auch haben. Dann ist es ein wahrer Genuss.

Bewertung vom 07.05.2023
Sieben Männer später
Vine, Lucy

Sieben Männer später


gut

Rezension zu "Sieben Männer später" von Lucy Vine


Kurz gesagt: Dieses Buch hätte ein Bestseller werden können. Soviel Potential, das leider nicht ganz auf den Punkt gebracht wurde, habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Die Story erinnert an eine Mischung aus "Bridget Jones", "Der Teufel trägt Prada" und "Ein Mann namens Ove". Nur mit viel mehr Freundinnen und Mädelsabenden. Nein, eher ganze Mädelstage. Oder sogar ein Mädelsleben, quasi.
Leider hinkt der Roman "Sieben Männer später" dann aber seinen großen Idolen ein wenig hinterher. Die Autorin wollte meines Erachtens an manchen Stellen zu viele Themen unterbringen. Themen die irrsinnig wichtig sind und unbedingt in so vielen Geschichten wie möglich vorkommen sollten, aber in ihrer Fülle hier dann doch zu unbedacht platziert wurden. Die Rede ist hier zum Beispiel von sexueller Belästigung, LGBTQI+, Missbrauch, Mobbing, Liebe und Sexualität im Alter, Dating und Liebe im digitalen Zeitalter und und und... Alles unglaublich spannend und wichtig, aber die Autorin wollte scheinbar soviel wie möglich davon unterbringen und dabei ist einerseits die notwendige Tiefe nicht erreicht worden, um sich wirklich damit zu beschäftigen. Andererseits wirkte der Weg hin zu den notwendigen SItuationen im Roman leider oft sehr konstruiert und unpassend. Überhaupt fehlt dem Roman sowas wie ein roter Faden.

Positiv aufgefallen ist mir der locker lässige Schreibstil der Autorin Lucy Vine. Eine wahre Wohltat. Sie schreibt ja regelrecht so wie andere sprechen. Sehr angenehm und auch viele witzige Stellen im Buch, bei denen ich herzhaft lachen musste! Es hätte mir gefallen, wenn das Buch kürzer, dafür ein einziges Feuerwerk dieser humorvollen Episoden wäre.
Hätte sich die Autorin dann noch auf weniger der oben genannten Themen fokussiert und dem Buch so eine eindeutigere Richtung gegeben, wäre es perfekt geworden!

Ganz grundsätzlich aber ein unterhaltsamer, kurzweiliger Roman bei dem sicher jede:r Leser:in eine:n Protagonist:in findet, mit der:dem er:sie sich identifizieren kann.

Das Cover ist extrem gut gelungen. Die ins Cover eingebaute Übersicht über die 7 Ex-Freund-Typen war gerade am Anfang des Romans äußerst hilfreich.

Sehr gemocht habe ich auch die Zeitsprünge im Buch! Und zum Schluss (was von Anfang an klar war und daher kein Spoiler) das Friede-Freude-Eierkuchen-Ende 3

Bewertung vom 05.04.2023
Melody
Suter, Martin

Melody


ausgezeichnet

Rezension zu "Melody" von Martin Suter

Der "Grand Sir" der Belletristik hat es schon wieder getan: Einen spannungsgeladenen Pageturner und gleichzeitig angenehm langsamen Roman geschrieben. Eine Geschichte kreiert, die permanent zwischen Heiterkeit und Horror wandelt. Wohlfühlmomente wechseln sich mit Gänsehaut ab. Daneben (als wäre das heutzutage noch das Selbstverständlichste der Welt) sind die Fakten, Orte und Hintergründe derart akribisch genau, von der Ursprungsquelle weg recherchiert und wahrheitsgetreu widergegeben.
Jeder Roman vom Autor Martin Suter, den ich bis jetzt lesen durfte, wies diese Eigenschaften auf. Es zeugt schon davon, dass Martin Suter sein Handwerk beherrscht - es auch als solches sieht. Hinter seinen Geschichten stehen große Konzepte und so ist es auch kein Wunder, dass er uns Leser:innen immer wieder mit den Plot-Twists und Enden seiner Erzählungen überraschen kann.

Kurz zum Inhalt:
Der spätberufene Jus-Absolvent Tom wird vom ehemaligen Politiker und mittlerweile äußerst wohlhabenden Privatier Dr. Stotz angestellt, um seinen Nachlass zu ordnen, zu verwalten und ins "rechte Licht" zu rücken. Unterkunft in der Villa des alten, leider schwer kranken Herrn und Verpflegung sowie Kamingespräche und jede Menge Alkohol inklusive. Dabei fällt Tom auf, dass es im Leben von Dr. Stotz die meiste Zeit um seine vor langer Zeit verschwundene Verlobte namens "Melody" geht. Doch nach und nach häufen sich Hinweise darauf, dass Dr. Stotz nicht immer ganz die Wahrheit sagt. Oder doch? Was steckt hinter der mysteriösen Dame Melody und wer ist Dr. Stotz wirklich?

Das Cover des Romans passt auch wirklich sehr gut! Wenngleich ich mir Melody ein bisschen anders vorstelle, so ist das Gemälde doch sehr treffend gewählt. Haptik und Größe des Buchs wie immer beim wunderbaren Diogenes-Verlag perfekt.

Zwischenzeitlich konnte und wollte ich "Melody" nicht aus der Hand legen. Am liebsten hätte ich Seiten übersprungen, um herauszufinden wie es denn ausgehen wird!
Gleichzeitig konnte ich so viele Details genießen! Die Kamingespräche mit Dr. Stotz waren so bildschön erzählt, dass ich beinahe meinte selbst dort zu sitzen. Ich habe Tom um seinen Job beneidet und im nächsten Moment Angst um sein Leben gehabt. So vermag es der Autor mit den Emotionen seiner Leser:innen zu spielen.

Besonders hervorheben möchte ich auch noch die Ausarbeitung und Beschreibung der italienischen Küche der Haushälterin und Köchin von Dr. Stotz. Am liebsten wäre mir ein begleitendes kleines Kochbuch zum Roman oder ausgewählte Rezepte am Ende des Buchs (so wie beim Roman "Der Koch"). Ich schwelge noch immer in den wunderbaren Tellern, die ich mir beim Lesen vorstellen durfte....mmmmhhh. Am Ende des Buchs gibt Martin Suter an vor allem vom Kochbuch"La mia cucina" von Patrizia Fontana mit Rezepten versorgt worden zu sein. Das werde ich mir wohl besorgen müssen :-)

Alles in allem ein unvergleichlich schöner Suter-.Roman mal wieder. Ich kann es nicht erwarten weitere zu lesen. Größte Leseempfehlung!

Bewertung vom 07.12.2022
Alle_Zeit
Bücker, Teresa

Alle_Zeit


weniger gut

Rezension zu "Alle_Zeit" von Teresa Bücker

Das Cover und der Klappentext von "Alle_Zeit" haben mich total angezogen. Ich liebe es, wenn intelligente Menschen sich über 400 Seiten mit einem Begriff beschäftigen, er uns alle nicht nur dauernd begleitet, sondern auch unser Leben zu einem großen Teil bestimmt, ohne dass wir darüber nachdenken.

Tatsächlich geht es in diesem wissenschaftlich fundierten (rund 60 Seiten bestehen rein nur aus Quellenangaben) Sachbuch um Zeitgerechtigkeit in einem feministischen beziehungsweise gendersensiblen Kontext. Es geht viel um Care-Arbeit und um die Unterdrückung desjenigen Elternteils, der mit den Kindern die meiste Zeit verbringt. Es geht um all die zig Billionen Handgriffe die täglich (nach wie vor leider vor allem von Frauen) ohne Gegenleistung getätigt werden, um unsere Gesellschaft am Laufen zu halten, unsere Kinder großzuziehen und die Alten zu pflegen. Hier muss sich etwas ändern!

Besonders einprägsam war für mich das Zitat: "Frauen könnten die westliche Gesellschaft allein dadurch in die Knie zwingen, indem sie einfach nichts tun."
Wohlbemerkt: Das könnten Männer natürlich auch! Aber die bekommen ihr Tun wenigstens bezahlt! Ausnahmen bestätigen hie wie immer die Regel.

Es handelt sich also um ein feministisches Buch. Um eine Kampfrede. Vor allem für bezahlte Care-Arbeit und für eine gerechtere Verteilung von zeitlichen Ressourcen.
Aber das habe ich mir von diesem Buch nicht erwartet. Ich hätte gehofft, dass es allgemeiner um Zeit geht.
Außerdem war es teils sehr langatmig, schwer wissenschaftlich (was super ist, wenn ich darauf eingestellt gewesen wäre) und dadurch kein Lesevergnügen, sondern eher was für Legal Gender Studies auf der Universität.

Eines der wenigen Sachbücher, das ich sofort wieder aus meinem Bücherregel aussortiert habe, nachdem ich mich durchgequält habe, nur um diese Rezension fundiert verfassen zu können.

Mir fehlen nämlich auch konkrete Lösungsmodelle im Detail. Es geht sich für mich in der wissenschaftlichen Populärliteratur (und darunter fällt dieses Sachbuch meines Erachtens) nicht aus, dass ich 90 Prozent der Seitenanzahl für einen Problemaufriss verwende und darstelle wie schrecklich alles ist, um die Leser:innen dann mit kurzen Lösungsansätzen zum Schluss abzuspeisen. Das ist für mich eher destruktiv. Kann aber dem:der nächsten Autor:in sicher als fundierte kluge wissenschaftliche Grundlage dienen, um ein anderes Buch mit Vorschlägen, Lösungsmodellen und Zukunftsvisionen zu schreiben. Das würde ich dann wieder gern lesen, denn unsere Zeit braucht mehr Lösungen und weniger Jammerei.

Bewertung vom 30.09.2022
Kochen am offenen Herzen
Strohe, Max

Kochen am offenen Herzen


ausgezeichnet

Rezension zu "Kochen am offenen Herzen" von Max Strohe

In diesem teils autobiographischen, teils fiktiven Roman erzählt der Spitzenkoch, dessen Restaurant mittlerweile sogar mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wurde, von seinen "Lehr- und Wanderjahren", wie er die verrückten und äußerst wilden Jahre seines Aufwachsens und Erlernens des Kochberufs selbst bezeichnet.
Kürzlich wurden nicht nur sein Service-Team und sein Sommelier mit begehrten Auszeichnungen geehrt, sondern auch Max Strohe selbst vom Rolling Pin zum Chef des Jahres gewählt worden. Nebenbei ist er gefühlt ständig in dem Genuss zugeneigten deutschen Fernsehformaten zu sehen - Kitchen Impossible, The Taste und andere Shows rund ums Kochen, Schmecken und Essen.

Es scheint als würde Max Strohe, dem grade mal 40jährigen aufsteigenden Stern am deutschen Kochhimmel, alles gelingen was er rund um den Herd so angreift.
Doch wie sein Buch "Kochen am offenen Herzen" vermuten lässt, war dem nicht immer so. Ganz und gar nicht nämlich. Denn selbst wenn nicht alles im Buch (wie es am Anfang erwähnt wird) tatsächlich genau so passiert ist, ist es noch immer arg genug wie ich finde und kann man nur froh sein, dass Max dann doch immer wieder noch rechtzeitig richtig abgebogen ist in seinem Leben und er sein Talent nicht in einem Straßengraben hat liegen lassen. Dort hielt er sich nämlich Zeit seines jugendlichen Lebens gern mal auf - tatsächlich UND metaphorisch.

Sehr viel Drogen, sehr viel Sex, sehr viel Faulheit und Nichtstun, gleichzeitig vielharte Knochenarbeit um sich Geld für Drogen und andere Exzesse zu verdienen. So lässt sich der Großteil des Buchs inhaltlich zusammenfassen. Warum das Lesen darüber aber überhaupt nicht fad ist und einen irgendwie in eine andere Welt entführt, die das Buch zum Pageturner werden lässt, liegt vermutlich am echt guten Schreibstil des Autors. Ich mag seine teils wirre Aneinanderreihung von Sätzen und Wörtern. Die oft manuskriptartig zusammengefassten Abschnitte seines Lebens. Die Unverblümtheit und Selbstverständlichkeit mit der er über sehr intime Momente, seelische und körperliche Tiefpunkte und miese Entscheidungen schreibt.

Max Strohe lässt die sprichwörtlichen Hosen vor seinen Leser:innen runter. Als mache er ein Geständnis vor sich selbst. Eine Art Beichte. Vielleicht musste er sich einfach alles mal von der Seele schreiben und damit gleichzeitig einen Teil seiner Persönlichkeit konservieren, der so diametral zu dem steht, was der Autor heute verkörpert.
Wer Max Strohe nur aus dem Fernsehen oder als berliner Koch kennt, wird einen ganz neuen Eindruck von ihm bekommen und nebenbei auch noch Einblicke in die verschiedenen Facetten der Gastronomie und dass Koch eben nicht gleich Koch ist.

Ein unverzichtbares Buch für alle, die sich für die gehobene deutsche Küche interessieren, für Strohe-Fans, Kitchen Impossible - Süchtige oder die auf authentische "Aus-der-Gosse-zum-Star"-Geschichten stehen.

Bewertung vom 18.09.2022
Intimitäten
Kitamura, Katie

Intimitäten


gut

Rezension zu "Intimitäten" von Katie Kitamura

Kurz zum Inhalt:
Eine erfolgreiche Dolmetscherin zieht nach Den Haag und wird dort mit allen dazugehörigen Herausforderungen konfrontiert: Neuer Job am Internationalen Gerichtshof, die Suche nach neuen Freund:innen und Kontakten, ein neuer Mann in ihrem Leben, der scheinbar einiges verbirgt und eine neue Wohnung in einer fremden Stadt, die auf den ersten Blick nicht sehr einladend wirkt. Es geht um die Suche nach Halt, nachdem der Erzählerin der gewohnte Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Die Suche nach Heimt. Nach dem Ankommen.

Es "menschelt" in diesem prosaischen Roman. Tatsächlich könnte die gesamte Geschichte ein kleiner Ausschnitt aus einem ganz normalen Leben sein. Sowas liest man nicht oft und ich bewundere die Autorin für ihren Mut, über so banale Inhalte zu erzählen. Der Schwerpunkt liegt nämlich definitiv nicht am Erzählten. Das ist recht schnell abgehandelt und erfassst. Wie der Titel "Intimitäten" schon verrät, möchte uns Katie Kitamura die intime Seite ihrer Protagonist:innen zeigen. Alles was einen Menschen "innen drin" wirklich bewegt, während er (oder in dem Fall sie) eben so durch die Höhen und Tiefen eines Alltags wandelt.
Das kann unglaublich spannend, mitreissend und berührend sein. Muss es aber nicht. Nämlich dann, wenn es nicht gelingt wirklich überraschende intime Einblicke zu schaffen. Das ist hier aus meiner Sicht leider passiert.
Es fängt stark an. Ich hatte permanent das Gefühl, dass die Geschichte in jedem Lesemoment kippen wird. In eine völlig andere Richtung. Es lag eine düstere Grundstimmung über dem Buch. Ich habe fest damit gerechnet, dass es in Richtung Krimi, Horror oder dergleichen gehen wird. Damit lag ich falsch. Dennoch habe ich dieses latente Spannungsgefühl beim Lesen sehr genossen.
Gefehlt hat mir letztendlich der Tiefgang. Die Gedanken, Emotionen und Reaktionen der vorkommenden Personen waren mir durchwegs zu vorhersehbar. Die Autorin konnte mich nicht überraschen oder schockieren oder eben sonst eine Gefühlsregung in mir auslösen, die über das Alltägliche hinausgeht. Das ist schade, denn deshalb lese ich. Die Geschichte und das Lesegefühl war mir einfach eine Spur zu gewöhnlich.