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MarieOn

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Insgesamt 45 Bewertungen
Bewertung vom 02.11.2023
No Regrets
Falk, Dietlind

No Regrets


ausgezeichnet

Der schroffe abgefuckte Hänk und Muddy, der nicht genug Zähne im Maul hat, weil er Zahnärzte fürchtet, sind Tätowierer in Muddys Studio. Es ist kein Studio, wie man sich im allgemeinen ein solches Studio vorstellt, sondern eins, das Muddy und Hänk widerspiegelt.

Jemand mit Zwangsstörung hätte es hier jedenfalls keine drei Sekunden ausgehalten. S. 21

So denkt Luz, die mit den bunten Haaren, als sie sich im Tattoostudio No Regrets vorstellt und den Job bekommt. Mit ins Boot, steigt der junge schwule Rudolf, dessen Eltern das nicht wissen dürfen, also das mit dem Schwulsein und, dass er sein Studium geschmissen hat.

Seit Hänk von seiner Freundin verlassen wurde, kurz bevor seine Mutter starb, ist er grießgrämig. Sein Vater war ein unterkühlter Typ, zu dem er keine feste Beziehung aufbauen konnte, was ihn insgesamt ein bisschen steif wirken lässt, im Umgang mit Gefühlen.

Tja und Luz hat auch ihre Probleme, ist aber richtig gut im hineinfühlen und erkennen …

Sie fragte sich, ob es einen Ort gab, an dem er sich wohlfühlte (Rudolf), an dem er freier atmen konnte und sich der Boden unter seinen Füßen nicht anfühlte wie eine morsche Hängebrücke. Es musste schrecklich sein, dachte sie, so jung zu sein und so talentiert, ohne sich aufgehoben zu fühlen in der Welt. S. 187

Fazit: Was für eine geniale Geschichte, die fast durchgängig urkomisch ist. Allerdings ohne trivial zu sein. Der ernste Hintergrund ist, dass alle vier Menschen unter mangelndem Selbstwert leiden, wie wir fast alle. Sie haben nicht gelernt sich anzunehmen, wie sie sind. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten finden sie aber im jeweils anderen, jemanden, der sie akzeptiert und sogar liebt, mit all ihren Ängsten, Verschrobenheiten und Eigenarten. Es ist eine Geschichte von Freundschaft und Zusammenhalt, gemalt von Dietlinde Falk, die genau die richtigen Worte findet, in mir die schrillsten Bilder entstehen zu lassen und mich zutiefst mitfühlen lässt. Das ist große Kunst.

Ich bin auch deswegen so begeistert, weil ich selbst aus diesem Metier komme und bestätigen kann, dass es genau solche Typen real gibt.

Bewertung vom 01.11.2023
Wo die Geister tanzen
Osman, Joana

Wo die Geister tanzen


ausgezeichnet

Die Autorin macht sich auf die Suche, hofft die Geschichte ihrer Familie zu verstehen und, warum sie sich so zu Israel, diesem fruchtbaren Land hingezogen fühlt.

1948 verlassen die Briten desillusioniert das Gebiet und geben an die UNO ab. Zwischen Israel und Palästina bricht Krieg aus, bei dem 170.000 Palästinenser vertrieben werden. Die Juden riegeln Jaffa ab und umzäunen das ganze Gebiet mit Stacheldraht und erklären ihre Unabhängigkeit. Einen palästinensischen Staat hatte es nie gegeben. An Nakbah (arabisch) = Die Katastrophe ist Dreh- und Angelpunkt des israel-palästinensischen Gesamtproblems.

Die Ahnen von Joana Osman gehen nach Beirut, aber dort findet ihr Großvater Ahmed keine Arbeit, weil er keinen Pass hat. Ahmed irrt im weiteren Verlauf der Geschichte , mit seiner Familie, die wächst, in die Türkei, wo er für kurze Zeit Arbeit findet.

In der Hauptsache waren alle arm, vor allem in der Diaspora. Von März bis Oktober stand die Hitze in den Gassen von Beirut, ballte sich heiß und drückend an Hausecken und über Abfallhaufen zusammen um die letzten Sauerstoffmoleküle aus der Luft zu saugen, bis einem das Denken so schwerfiel wie das Atmen. S. 33

Im Grunde ist die Geschichte aller Palästinenser, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, eine traurige, weil sie überall nur geduldet werden und nirgends ankommen können. Und alle tragen die Geister derer in sich, über die nicht gesprochen wird, weil das darüber sprechen ihre Körper durchschüttelt und beben lässt. So ziehen die Verstorbenen, die ausnahmslos Opfer eines verrückten Kriegs waren, durch ihre Leben und manifestieren sich durch Traurigkeit, Schlaflosigkeit und quälende Scham.

Das Trauma ist sichtbar in unserer Art uns zu bewegen – mühevoll, als fehlte uns der innere Schwerpunkt. Das Trauma ist spürbar in der Art, wie wir uns immer ein wenig verloren und verlassen fühlen und stets nach einem Mittelpunkt suchen, nach einer Heimat, einem Zuhause, nach Geborgenheit. S. 185

Fazit: Eine erschütternde Geschichte über den schwelenden und immer aufs Neue eskalierenden Nahostkonflikt, die mit großer Leichtigkeit erzählt und an den richtigen Stellen großzügig mit Humor gewürzt wurde. Das Buch passt so ungeheuer gut in diese Zeit, weil es mir, als außenstehende Europäerin das ganze Ausmaß von An Nakbah (die Katastrophe) nachebringt. Die Autorin klagt niemanden an, sondern zeigt, wie sich die Dinge so entwickeln konnten und erlaubt sich, ein Mahnmal zu setzen, das für Vernunft und den Willen zum Frieden plädiert. Ich möchte dieses Buch nicht empfehlen, ich möchte Euch bitten, es zu lesen.

Bewertung vom 01.11.2023
Risse
Klüssendorf, Angelika

Risse


sehr gut

Die namenlose Ich-Erzählerin hat einen Vater, den schönen Egon, der ist 27 Jahre alt, Gelegenheitsarbeiter und malt Ölbilder vom Meer. Die Mutter ist schwer alkoholabhängig und 17 Jahre alt, als sie das Mädchen bekommt. Indem Elternhaus des Mädchens herrscht die Gewalt vor. Der schöne Egon versäuft das Geld, das die Mutter beim Kellnern erwirtschaftet. Sie bunkert es im Küchenschrank, doch er findet es und haut ab, macht Urlaub auf Usedom und hält Frauen aus, bis das Geld aus ist.

Die ersten Lebensjahre des Mädchens verbringen die Eltern im Gefängnis, weil sie sich angeblich der Spionage schuldig gemacht hatten. Irgendjemand vom Staatssicherheitsdienst im Osten Deutschlands hat sie angeschwärzt.

Der Vater heiratet wieder und macht sich auf Usedom mit einem Tanzlokal selbständig. Er erhält das Sorgerecht für das Mädchen. Ihre neuen Eltern sind mit sich selbst beschäftigt, das Mädchen bleibt sich die meiste Zeit selbst überlassen und baut keine Beziehung zum schönen Egon auf. Sie findet eine Freundin, die 14 ist, drei Jahre älter als sie selbst, mit der will der Vater allein sein, deshalb wartet das Mädchen draußen.

Fazit: Ich will über die Geschichte gar nicht mehr verraten. Eines ist sicher, sie zu lesen tut weh. Was die Protagonistin mit ansehen muss, wie abartig die Erwachsenen sich um sie herum benehmen, ist für mich, als Außenstehende schwer zu ertragen. Es geht um Co-Abhängigkeit, Narzissmus, Gewalt, Vernachlässigung und emotionalen Missbrauch. Wieder lese ich eine Geschichte, die vom Osten Deutschlands handelt und wieder stolpere ich über diese emotionale Kälte, die pathologisch ist. Erwachsene schaden minderjährigen Schutzbefohlenen (ihren eigenen Kindern) und es macht ihnen nicht das geringste aus, sie haben keinerlei Unrechtsbewusstsein.

Zum Ende der Geschichte kann ich nicht mehr so recht folgen. Die Autorin lässt ihre Protagonistin etwas erzählen, das erfunden ist, ich verstehe nicht warum und bin raus. Mir wird dennoch klar, warum Risse auf die Longlist des deutschen Buchpreises kam. Die Geschichte hat es absolut verdient, sie sollte gelesen werden.

Bewertung vom 30.10.2023
Simone
Reich, Anja

Simone


ausgezeichnet

Anja hatte keine Zeit für Simone. Sie feierten gerade den Geburtstag ihres kleinen Jungen und den ihres Vaters. In dem Moment, als sie sich zum Essen setzten, rief Simone an. Letztes Jahr war sie noch mit einem Kuchen vorbeigekommen, diesmal hatte sie es wohl vergessen. Wenige Tage später schrieb Anja an einem Artikel, der sie beanspruchte, den sie zeitnah abgeben musste. Auch dieses Mal vertröstete sie Simone, auf eine Woche später.

Zehn Jahre nach Simones Freitod, möchte Anja Antworten auf die vielen Fragen, die sie sich gestellt hat, aber da ist es noch zu früh. Es vergehen weitere fünfzehn Jahre und dann spricht Anja mit fast allen Menschen, die Simone gekannt hatten, liest ihre Tagebücher und nimmt alles in den Fokus, was von Simones Gedanken und ihrem Wesen geblieben ist.

Simone war so ein interessanter Mensch, sprach viele Sprachen fließend, tanzte Salsa, entwickelte eine tiefe Liebe für Lateinamerika und eine Leidenschaft für südländische Männer. Sie jobbte, studierte und war frei. Sie war so ganz anders als Anja, die vernünftiger war, größtmögliche Sicherheit wünschte und eine traditionelle Familie, Ehemann und zwei Kinder. Simones Gefühle waren ein Auf und Ab, Anja ließ sich nicht so leicht bewegen.

Simones Eltern gestanden Fehler ein bei Anjas Recherche. Sie hätten sie damals nicht in dieses Heim geben sollen, als Simone acht Wochen alt war. Montags bis Freitags war sie dort und wenn die Eltern keine Zeit fanden auch länger. Simones Mutter Dana sagt im Nachinein: “Das war unser erstes Verbrechen!” Aber was hätten sie machen sollen, waren beide berufstätig. Die Mutter ist Ungarin und floh zu ihrem Mann in den Osten Deutschlands, wo sie das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit hatten.

Fazit: Für mich ist diese Geschichte eine der lesenswertesten dieses Jahres. Ich mag den knackigen, zügigen Schreibstil der Autorin, der Bindewörter meidet und damit das Tempo erhöht. Die Geschichte an sich, ist so tragisch, wie überzeugend. Ich lerne Simone als erstaunlich begabte junge Frau kennen und entdecke nach und nach alle ihre Schattenseiten und sich wiederholenden Verhaltensmuster. Auf den ersten Blick scheint Simone alles zu haben, was wir beneiden, weil es ein glückliches Leben verspricht. Anja Reich zeichnet das Bild einer zutiefst gestörten, einsamen Frau, die sich in diverse Abhängigkeiten begeben muss, um ihre Ängste zum Schweigen zu bringen. Ein wunderbares Psychogram, das ich bedingungslos weiterempfehle.

Bewertung vom 23.10.2023
Maman
Schenk, Sylvie

Maman


ausgezeichnet

Mamans Name war Renée Gagnieux. Soviel ist wahr. Sie war die Tochter von Cécile, die vielleicht eine Seidenspinnerin war und wurde in Lyon geboren. Die Autorin macht sich auf den Weg, in den Schuhen ihrer Mutter zu laufen, zu der sie keine intensive Bindung hatte.

Maman mochte alle ihre sechs Kinder, solange sie klein waren. Solange wir abhängig von ihr waren, zauberten wir ein Lächeln auf ihr Gesicht, dann fand sie Ruhe, sonst war ihr Leben Scham und Ausgrenzung. Sie ist eine stille Frau, die mit ernstem Gesicht, leise mit sich selbst spricht. Den Vater hasst sie womöglich.

Renées eigene Maman musste sich prostituieren, weil sie von ihrem Hungerlohn und ohne Mann, keine fünf Kinder ernähren konnte. Nach Renées Geburt verblutete sie.

Renée kam in ein Pflegeheim, gefolgt von einer Pflegefamilie, einem Bauernehepaar, das sich mit einem Pflegekind ein Zubrot verdienten. Als Renée dann sprach- und verwahrlost zu einer anderen Pflegefamilie kam, war ihr soviel Unglück widerfahren, dass sie schon ganz verkorkst war.

Das, was Maman dann später an ihre Mädchen weitergab war Verachtung und Selbstverachtung, eine obskure Angst vor Männern, vor der Liebe, vor der Schande.

Alle Männer sind Schweine, dem Mann haftet die Geilheit an. Die Männer bumsten und zahlten, die Frauen entbanden und starben. S.126

Erst in Hochzeitsnacht erinnert sich Renée an den Bauern, der sie damals Bastard nannte und sich anschließend an ihr verging. Ein Umstand, der ihr nachträglich die eigene Sexualität vermieste und sie einzig den ehelichen Pflichten nachkommen ließ.

Fazit: Ich mochte diese Ich-Erzählung sehr, die ganz klar den Anspruch erhebt, aufzuzeigen, wie schwer Frauen das Leben gemacht wurde. Entweder sie waren schmückendes Beiwerk, wertlose Anhängsel, oder Huren. Die Geschichte der Autorin macht gut verständlich, wie Mütter ihre Traumen an die nächsten Generationen weitergegeben haben und macht fassbar, welche Schwierigkeiten das weibliche Geschlecht bis in meine Generation mit ihrem Selbst-Wert hat. Ein wirklich wichtiges Buch, mit einer großartigen Klangfarbe. Ungeschönt, ehrlich und auch berechtigterweise wütend. Es ist völlig zurecht auf der Shortlist des deutschen Buchpreises zu finden.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.10.2023
Rezitativ
Morrison, Toni

Rezitativ


ausgezeichnet

Twylas Mutter Mary tanzt die ganze Nacht, Robertas Mutter ist krank. Das ist der Grund warum sich die beiden Mädchen in einem Heim begegnen. Obwohl sie äußerlich unterschiedlich scheinen, eint sie die Erfahrung vernachlässigt, nicht gesehen oder gehört zu werden. Dank einem tiefen Verständnis füreinander freunden sich die beiden an. Die großen Mädchen, Gar-Girls machen den beiden Angst, sie quälen die Jüngeren, stellen Beine, rufen Ausdrücke hinterher. Das Küchenmädchen Maggie wurde auch schon von ihnen zu Fall gebracht und sie kann nicht einmal Schreien. Maggie wird für Twyla die Stellvertreterin ihrer tanzenden Mutter, taub und stumm. Kein Mensch dadrinnen, der hörte, wenn man nachts weinte.

Diese außergewöhnliche Kurzerzählung, die einzige, die Toni Morrison schrieb, hat es in sich. Nicht nur des Themas wegen, sondern weil die Autorin die Geschichte einer weißen und einer schwarzen Frau erzählt, jedoch an keiner Stelle preisgibt, wer welche Hautfarbe hat. Sie überlässt die Auseinandersetzung den Leser:innen. Rezitativ war als literarisches Experiment gedacht. Und bei mir hat es wunderbar funktioniert. Während des Lesens habe ich ständig versucht, anhand irgendwelcher Attribute einzuschätzen, wer die “Weiße” ist und welche die “Schwarze”.

Ist Twyla die Schwarze, weil sie die Hauptprotagonistin einer schwarzen Ich-Erzählerin ist? S. 51

Das sie sich nie die Haare waschen und komisch riechen. Wie Roberta, also sie roch wirklich komisch. S. 53

Die Geschichte endet auf Seite 43 und dann beginnt das Nachwort, ein Essay von Zadie Smith. (Britische Schriftstellerin) Sie analysiert die Geschichte und findet ganz großartige Worte, die nicht belehren wollen, sondern mit großer Toleranz für beide Seiten einer Schwarz-Weiß-Konstruktion, Lösungen sucht.

Geschichte wird nie vollständig wiedergegeben, viele wollen vergessen, dass die Geschichte des afrikanischen Kontinents, eben auch eine Geschichte über die lange, blutige, verworrene Begegnung mit der europäischen Bevölkerung ist.

Wenn in der Präsentation eines alten englischen Herrenhauses nicht nur berichtet wird, woher die schönen Gemälde stammen, sondern auch woher das Geld kam, mit dem sie erworben wurden – wer wie und warum leiden musste und ums Leben kam, um dieses Geld zu beschaffen, dann wird Geschichte vollständig erzählt.

Wir leben seit vielen hundert Jahren in bewusst rassifizierten, menschengemachten Strukturen – mit anderen Worten, in gesellschaftlich verankerten und mitunter gesetzlich verpflichtenden Fiktionen, die sich als unfähig erweisen, Unterschiede und Gleichberechtigung nebeneinander anzuerkennen.

Wie können wir das schmutzige Badewasser “Rassismus” jetzt plötzlich ausschütten, wo wir das Kind race jahrhundertelang so fest ans Herz gedrückt und – selbst wenn wir das ganze Grauen mitrechnen – auch so viel schönes aus ihm erschaffen haben?

Fazit: Ein wohltuendes Buch, das mich meinen eigenen Hang zu Vorurteilen erkennen lässt, ohne mich dafür zu verurteilen. Ein Buch, das an europäischen Schulen Einzug halten sollte und Schüler darüber nachdenken lassen könnte, warum wir uns in diesem System zwangsläufig an anderen bereichern, denen es schlechter geht, je besser es uns geht.

Bewertung vom 19.10.2023
Diamantnächte
Rød-Larsen, Hilde

Diamantnächte


gut

Tonje arbeitet als Übersetzerin und lebt mit ihrer 17-jährigen Tochter und ihrem zweiten Mann in einer Wohnung in Norwegen. Ihr Mann geht für einige Monate auf Dienstreise. Tonje klagt über massiven Haarausfall und versucht zu eruieren, wie es dazu kommen konnte. Sie lässt ihr Leben, mit all ihren gemachten Erfahrungen revue passieren und erinnert sich an die ersten Jahre, als junge Studentin in London.

Dort lernte sie die Engländerin Jenny kennen, die das Gegenteil von ihr war. Kess, sexy, launisch. Sie freundeten sich an und verbrachten einige Wochenenden bei Jennys Vater Alexander. Der war Psychologe und arbeitete in eigener Praxis, in einem Anbau seines Hauses. Alexander war einfühlsam, aber auch robust. Seine Lebenserfahrung und Selbstsicherheit übte auf die scheue, introvertierte Tonje eine große Anziehung aus. Er sah die junge Frau, die zu dünn war und sich auch schon einmal Schnitte mit der Rasierklinge zufügte, mit großem Interesse. Und gab ihr damit genau das, was sie sich wünschte.

Schließlich verführt Alexander Tonje. Sie treffen sich regelmäßig in seiner Praxis. Er breitet ein weißes Laken auf seiner Ledercouch aus und sie haben Sex. Es ist nicht so, als würde Tonje das gefallen, aber sie kommt aus dieser Situation nicht hinaus. Steht immer zur Verfügung, wenn er sie will, obwohl er keinen Hehl daraus macht, dass er sie benutzt.

Frauen, die unter 50 Kilo wiegen, können nie eine echte sexuelle Befriedigung erleben, sagte er einmal. Ich wog 46 Kilo. S. 179

Fazit: Die Geschichte ist in einem angenehm lockeren Erzählstil geschrieben und beginnt mit einer Ich-Erzählerin. Mittendrin wechselt die Autorin in die dritte Person und ändert die Namen der ProtagonistInnen. Wahrscheinlich, damit die Hauptprotagonistin, die die Geschichte erzählt, genug Abstand bekommt, um das Schwierige? Unaussprechliche? besser wiedergeben zu können. Dabei entstehen dann abgehackte Kleinstkapitel, die auf ihre Kindheit zurückblicken. Diese “Unordnung” und spontane Sprunghaftigkeit hat mich aus der Geschichte gerissen, so dass ich der Intention, der Autorin nicht mehr folgen konnte. Ganz am Ende erfahre ich, woran der Haarausfall tatsächlich liegt und fühle mich veralbert. Der Klappentext klang hochinteressant, genau mein Thema und ich finde die Idee eines Psychograms richtig gut, aber die Umsetzung hat mir nicht gefallen.

Bewertung vom 16.10.2023
Drifter
Sterblich, Ulrike

Drifter


ausgezeichnet

Wenzel Zahn arbeitet bei einem TV-Sender und moderiert dessen social Media Kanal. Seit Gesine sich von ihm getrennt hat, weil sie einen erfolgreichen Skiabfahrtsläufer bevorzugt, fühlt sein Herz sich wund an. Sein bester Freund Killer (Herr Killmann) steht so dicht an der Beförderung in der PR-Firma, dass er es mit Wenz Krachen lassen will. Sie fahren zur Pferderennbahn, setzen ein paar Kröten, quatschen ein paar Mietzen an und zischen Quasselwasser.

Als eine riesige dunkelbunte Wolkenformation über sie hinwegfegt, staunen sie noch ehrfürchtig. Das Rennen wird abgeblasen, die Zuschauer verlassen die Ränge, Killer und Wenzel bleiben allein. Trotz Regen hüpft Killer übermütig auf die Bahn und galoppiert ein Stück, gerade so lange, bis er von einem Blitz getroffen wird, durch die Luft schleudert und hart aufschlägt. Wenz begleitet ihn ins Krankenhaus, wo er kurz zur Beobachtung bleibt, um dann mit kleineren Blessuren und leichten Herzrhythmusstörungen entlassen wird.

Was hat die große Frau in der S-Bahn, mit dem goldenen Kleid, dem Silberblick und dem riesigen zotteligen Hund, die zu allem Überfluss, das neuste Buch von Wenz Lieblingsautor “Drifter” liest, mit all dem zu tun?

Seit der Blitzattacke hört sein Freund seltsame Geräusche. “Ein Tinnitus?”

Nein dieses rhythmische Pusten, dieses Gurgeln, als ob drei bis vier Leute a cappella was mit kleinen Pustegeräuschen machen und zwischendrin schnalzen. S. 52

Und abgesehen davon, dass Killer jetzt zunehmend den Duft von Orangen wahrnimmt, sind das nicht die einzigen Merkwürdigkeiten. Er macht Dinge, die er zu Zeiten des alten Killers niemals getan hätte, zerstört mutwillig sein Handy, zeigt sich überfordert, wenn die Nachrichten von Krieg sprechen, zieht wieder zu seiner Mutter und gibt seinen J-O-B auf.

So, dachte ich, jetzt ist es amtlich. Bei Killer hatte sich was verschoben. Es ist nicht so, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber er hat das Geschirr neu sortiert. S. 74

Die große Frau aus der S-Bahn breitet sich in Wenz Leben aus. Wenz erfährt alles und doch nichts über sie, die stets begleitet wird von Hurtebise, ihrem Chauffeur, der schrillen Jez und dem riesigen Hund, der tanzen kann.

Fazit: Die Geschichte ist voller geistreicher witziger Passagen. Ich erfahre auf eine unaufdringliche Art, dass es im Leben wichtigeres gibt, als Perfektion, dass Geld allein auch nicht glücklich macht und dass wir den Menschen, die uns wichtig sind, mit Toleranz begegnen sollten, gerade wenn sie neue Wege gehen. Der Roman ist Fun Fiction, eine bunte Mischung, voller unerwarteter Wendungen. Leider ist es nicht mein Genre, weil es so realitätsfremd ist. Das ist aber einfach eine Frage des Geschmacks, deshalb will ich es nicht in meine Bewertung einfließen lassen. Wegen der Idee, der Technik und des Wortwitzes gebe ich die volle Punktzahl. Drifter steht zurecht auf der Shortlist des deutschen Buchpreises 2023.

Bewertung vom 06.10.2023
Paradise Garden
Fischer, Elena

Paradise Garden


ausgezeichnet

Erzsébet, von allen Billie genannt ist ein junges Mädchen, das ganz selbständig ihren Alltag meistert. Billies Mama arbeitet tagsüber in einem Büro und am Abend in einer Bar. Im Sommer teilen sie sich den Laubengang des Hochhauses, in dem sie wohnen mit ihren Nachbarn. Dann verlassen sie ihre Zwei-Zimmer-Wohnung und leben die Tage draußen, sonnen sich, lesen, schlürfen Cola und Marshmallows. Billies Ma´ liebt Lippenstift und ihre weißen Cowboystiefel, die hat ihr Billies Vater geschenkt, damals. Billie kennt ihn nicht, weil sich ihre Ma´ über ihn ausschweigt.

Manchmal ist der Aufzug defekt und ihre übergewichtige Nachbarin Uta kommt in den 17. Stock geschnauft, vollgepackt mit Einkäufen. Billie ist kein Fan von Utas Mann Heinz, weil sie weiß, dass Utas Veilchen von ihm ist. Luna wohnt auf der anderen Seite. Sie ist schön, übt nächtelang Rollen ein, die ihr angeboten werden. Dann sieht Billie sie tagelang nicht und nicht selten begegnet Billie Luna Tage später, die sie mit wirrem Blick ansieht und dann pausenlos redet. Billie und ihre Ma´ wissen jetzt, dass Luna dann ihre Tabletten braucht. Ahmed läuft Luna jeden Tag über den Weg, entweder trägt er seine Trainingstasche oder seinen kleinen Gebetsteppich.

Als Billies Großmutter aus Ungarn kommt, muss sie aus ihrem Zimmer weichen. Billie kann die Frau, die ihr so gut wie unbekannt ist, nicht leiden. Sie ist ernst, spricht nur ungarisch, hängt überall Kreuze und Jesusstatuen auf und benimmt sich, als gehöre ihr die Wohnung aber kochen kann sie wirklich gut.

Das Schicksal nimmt seinen Lauf nachdem Billie ihre Oma dabei erwischt hat, dass sie ihre Tabletten in die Toilette geschüttet hat und die Gunst der Stunde nutzt, die Oma während einem Streit mit Ma´ zu verpetzen. Die Situation eskaliert, die Mutter stürzt, stirbt an subduralen Blutungen, die trotz Notoperation nicht zu stoppen sind und lässt Billie mit allem allein.

Fazit: Was für eine wundervolle Geschichte. Die Autorin schafft es Stimmungen zu erzeugen. Sie hat mich von Anfang an bis zur letzten Seite bewegt und in Schwingung versetzt. Zum Lachen gebracht, weil Billies Mutter so wunderbar ironisch ist und zum Weinen, weil Situationen so gut gezeigt werden. Ich war mittendrin, mein Herz ist gebrochen, als Billies entzwei gerissen wurde. Habe ihr Mut zugesprochen, wenn sie sich allein durchgeschlagen hat. Ganz große Erzählkunst Elena Fischer, Chapeau!

Bewertung vom 25.09.2023
Vatermal
Öziri, Necati

Vatermal


ausgezeichnet

Ardacim Kaya hat gerade die Intensivstation verlassen, was nicht zwingend etwas gutes bedeutet. Jetzt liegt er zusammen mit seiner Immunhepatitis in einem Zimmer und hofft auf ein Wunder.

Meine Leber hat beschlossen, nicht mehr mitzumachen. Das ist keine Metapher in einem Bildungsroman für Kanaken oder so. S. 16

Es sei denn irgendeine der Therapien schafft es mein Immunsystem zu überzeugen, dass ich doch ich bin. S. 19

Während Arda in seinem Krankenhausbett liegt hat er Zeit über seinen Vater Metin nachzudenken. Metin, der irgendwann abgehauen ist, zurück in die Türkei und darüber vergessen hat, dass er zwei Kinder hat. Seitdem sein Vater weg ist, hat sich seine Mutter Ümran verändert, so verändert, dass seine Schwester Aylin mit ihr gebrochen hat.

Nun sitzen sie abwechselnd an seinem Bett und erzählen ihm davon, was sie ausmacht. Ümrans Mutter, Ardas und Aylins Anneanne, hat damals in der Türkei ihren Vater geheiratet. Er fuhr für die Firma LKW als das Erdbeben kam und den ganzen Ort zerstörte. Danach gingen die Eltern nach Deutschland, um zu arbeiten, es sollten nur drei Jahre sein. Drei Jahre, die Ümran mit ihren zwei Geschwistern bei Esma Hala bleiben musste, die ihr das Leben zur Hölle machte. Als sie dann mit ihren Geschwistern in den Flieger nach Deutschland gesetzt wurde, war sie zuerst froh. Dann jedoch sah sie ihren totkranken Vater dahinsiechen. Sie heiratete einen Landsmann, der ihr Erspartes verspielte, Metin, Ardas Vater.

Als Aylin kommt erzählt sie ihrem Bruder, wie ihre Mutter immer öfter betrunken nach Hause kam und einmal lachend ins Treppenhaus gepinkelt hat, nachdem sie vor die Wohnungstür gehämmert und ihr niemand geöffnet hatte. Aylin hat dann die Lache im dunklen Flur aufgewischt, damit niemand etwas mitbekam. Ihre Anneanne wollte die Kinder mitnehmen, wegen der Tütensuppen und dem wechselnden Männerbesuch, aber Ümran schreit sie nur an.

Aylin wünscht sich, dass ihre Mutter sie nur einmal sieht. Nicht als die bessere oder schlechtere Version Ümrans, sondern als die Tochter, die sie ist. Und dass Ümran sich bei ihr entschuldigt.

Manchmal hatte Ümran Besuch von ihren Freundinnen als Arda noch ein kleiner Junge war.

Die Frauen pressen ihre fest geschminkten Backen auf mein Auge, drücken ihre nassen Lippen auf jede freie Stelle und ich schmecke Lippenstift und rieche Haarspray, bis die erste- ich kann nicht sagen wer- mich packt und zu sich zieht, und ich, um Luft ringend, inmitten einer Schar parfümierter Brüste verloren gehe. S. 101

Dann kochen sie stundenlang und essen nichts davon. Stattdessen sitzen sie auf dem Balkon rauchen und trinken Rake.

Fazit: Der Anfang hat mich an Dschinns von Fatma Aydemir erinnert. Vor allem die Szene als Arda mit seinem abwesenden Vater spricht, aber dann wurde das Buch erkennbar sein eigenes. Die ganze Geschichte ist unfassbar gut geschrieben. Necati beherrscht sein Handwerk mit Bravour. In mir hat er ein emotionales Feuerwerk ausgelöst. Die Szenen, die er mit Ardas Freunden beschreibt, als Susanna über den Platz wackelt und Dannys Herz rasen lässt waren so lustig. Er hat mich dabei zusehen lassen und ich habe mich fast totgelacht. Dann kamen zwei Szenen, die mich erschüttert und entsetzt haben. Die Idee, die Geschichte einer zwangsläufigen Einwanderung mit den Erfahrungen der Großeltern zu verknüpfen ist großartig und wichtig. Zu sehen, dass Menschen hierherkommen, die Berufe, die sie einmal gelernt haben per Urkunde an die Wand hängen, weil sie keine Anerkennung finden und stattdessen Arbeit verrichten, die wir nicht machen wollen. Menschen, die nicht zu uns kommen, weil sie das Wetter und unsere emotionale Kälte so schätzen, sondern weil sie in ihrem eigenen Land chancenlos sind. Menschen, deren Seelen verletzt sind, weil sie schwer fassbare Erfahrungen gemacht haben. Es ist das Buch, das mich in diesem Jahr am meisten bewegt hat und es ist völlig verständlich, dass diese Geschichte es auf die Shortlist des deutschen Buchpreises geschafft hat. Ich drücke Necati Öziri die Daumen für seine herrliche Arbeit.