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Eternal-Hope
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Österreich

Bewertungen

Insgesamt 41 Bewertungen
Bewertung vom 01.10.2024
Intermezzo
Rooney, Sally

Intermezzo


gut

Langweilig und schwierig zu lesen:

"Intermezzo", der neue Roman der gefeierten Autorin Sally Rooney, ist im Hardcover wunderschön gestaltet, mit wertigem, neugierig machendem Cover und Farbschnitt. Es war mein erstes Buch der Autorin, doch was ich bisher von ihr gehört habe, hat mich neugierig auf ein wirklich gutes, spannendes Buch mit tiefgehenden Charakterisierungen der Personen gemacht.

Vielleicht ist es ja wirklich ein gutes Buch... aber ich persönlich habe den Zugang dazu nicht gefunden. Es wird aus der Sicht der beiden Brüder Ivan, Anfang 20 und professioneller Schachspieler, Peter, zehn Jahre älter und Anwalt, und der Frau Margaret geschrieben.

Das Buch beginnt mit einem Kapitel aus Peters Perspektive und da hätte ich schon fast abgebrochen, so mühsam war das zu lesen, wie ein aneinandergereihter Strom an Gedanken, manchmal auf eigenwillige Art interessant, überwiegend aber sehr mühsam zu lesen, sodass wenig Lesefreude aufgekommen ist. Die Peter-Kapitel im Buch sind alle in diesem Stil geschrieben.

Stilistisch sehr anders und deutlich einfacher zu lesen, für mich aber inhaltlich trotzdem nicht packender, waren die Kapitel aus Ivans und Margarets Perspektive.

Insgesamt geht es um den Tod des gemeinsamen Vaters, den die beiden Brüder, die sich sonst im Leben nicht viel zu sagen haben, verarbeiten, sowie deren schrägen Blick auf die Welt und diverse Beziehungen. Das hätte interessant sein können, hat mich aber emotional überhaupt nicht gepackt, sodass für mich das Buch überwiegend sehr zäh und langatmig zu lesen war.

Drei Sterne, weil man am Stil der Autorin merkt, dass sie durchaus schreiben kann, spannende Gedanken hat und treffende, interessante Metaphern findet, z.B. als Margaret über die Beziehung zum deutlich jüngeren Ivan nachdenkt (S. 199): "Margaret wird daran erinnert, wie sie sich fühlte, als sie Ivan kennenlernte: als hätte sich das Leben aus einem Netz befreit."

Solche tiefgründigen und philosophischen Betrachtungen finden sich einige im Buch, und diese sind, wie die Autorin im Anhang anmerkt, auch bewusst eingebaut. Daran merkt man die umfassende Bildung der Autorin, die das Buch sehr bereichern hätte können, wenn es mich inhaltlich mehr gepackt hätte und mich die Charaktere emotional nicht so gleichgültig gelassen hätten.

Bewertung vom 22.09.2024
A Song to Drown Rivers
Liang, Ann

A Song to Drown Rivers


ausgezeichnet

Alte chinesische Mythologie neu interpretiert:

Das Buch "A song to drown rivers" der chinesisch-australischen Autorin Ann Liang fällt zuerst durch sein wunderschönes Cover mit Farbschnitt auf. Ich habe schon lange kein so wunderschön und liebevoll gestaltetes Buch mehr gesehen, die Hardcover-Ausgabe ist absolut edel, fühlt sich angenehm an und es macht Freude, das Buch in der Hand zu haben. Unter dem Schutzumschlag befinden sich zwei Referenzen auf etwas, was im Buch vorkommt.

Der Inhalt des Buches steht der äußeren Form in nichts nach: es ist von Anfang an spannend erzählt, mit detailliert ausgearbeiteten, authentischen Charakteren und einer Geschichte, die tatsächlich auf eine der Legenden der Vier Schönheiten des Antiken Chinas zurückgeht und modern interpretiert wird.

Wir erleben diese Geschichte durch die Augen von Xishi, einer außergewöhnlich schönen und zugleich intelligenten, mutigen und bescheidenen jungen Frau aus einem armen Dorf im ländlichen China, die auserwählt wird (und sich bewusst dafür entscheidet), als Konkubine ins Reich des verfeindeten Herrschers, ins Nachbarland Wu, zu gehen, ihn zu bezaubern, sein Herz zu gewinnen und für ihr Heimatland zu spionieren. Das Buch nimmt sich Zeit, diesen Weg ausführlich zu schildern, und zwar nicht nur die Zeit am Hof des Feindes, sondern auch die ausführliche Vorbereitungszeit, in der Xishi nicht nur die bei Hof erwartete Etikette erlernen muss, sondern auch das Verbergen ihrer Gefühle. Im Hintergrund gibt es dann noch eine aufkeimende Liebesgeschichte zwischen ihr und dem jungen Militärstrategen Fanli, der sie für ihre Mission schult. Und auch im fremden Reich ist nicht alles so, wie Xishi es erwartet hätte...

Für einen historischen Roman weist dieses Buch eine besondere Erzählqualität auf und schafft es außerdem, nicht nur so spannend zu sein, dass man es in einem Zug durchlesen möchte, sondern auch zum Nachdenken über Feindbilder, Polarisierungen und die Natur des Krieges anzuregen. Damit ist das Buch gleich auf mehreren Ebenen wertvoll und ich empfehle es allen, die sich für chinesische Geschichte und Mythologie interessieren und auf intelligentem Niveau gut unterhalten werden möchten.

Nur mit Vorbehalt empfehle ich es allen, die sehr mitfühlend sind, und insbesondere Schwangeren und Eltern von kleinen Kindern: es werden nämlich nicht nur, wie in vielen historischen Romanen, diverse Kriegsgräuel an erwachsenen Menschen detailliert beschrieben geschildert, sondern leider auch die bestialische Ermordung eines Kleinkindes durch Soldaten, und diese Schilderung wiederholt sich gleich mehrmals im Buch, ganz am Anfang und später wieder (in Xishis Erinnerungen, es handelt sich dabei um ihre kleine Schwester und es soll damit gezeigt werden, was für einen tiefen Grund sie hat, das verfeindete Königreich Wu zu hassen). Diese Schilderungen haben mir als Mutter eines kleinen Kindes im Herzen sehr weh getan, selbst wenn es sich um eine fiktive Geschichte handelt.

Davon abgesehen handelt es sich aber um ein sehr gut geschriebenes, spannendes Buch, das ich definitiv empfehlen kann!

Bewertung vom 20.09.2024
Glück
Thomae, Jackie

Glück


ausgezeichnet

Wer sind wir als erfolgreiche Frauen ohne Kinder?

"Glück", das neue Buch von Jackie Thomae, polarisiert. Das zeigt sich schon in den bisherigen Rezensionen. Vorab, wie man auch an den 5 Sternen sieht: ich bin sehr froh, das Buch gelesen zu haben! Ein tolles Buch, das mit einer schönen und treffenden Sprache den Zeitgeist eines ganz bestimmten sozialen Milieus in Bezug auf unerfüllten Kinderwunsch sehr genau einfängt!

Es geht um Frauen, die sich beruflich verwirklicht haben. Sehr erfolgreiche Frauen mit Karrieren, die sich sehen lassen können, und mit genug Geld für einen sehr angenehmen Lebensstil. Marie-Claire (MC) Sturm, die als Radiomoderatorin arbeitet. Und Anahita Martini, aus einer erfolgreichen persischen Ärztefamilie stammend, die es nach einem kurzen Abstecher in die Schullaufbahn nun zur erfolgreichen Regionalpolitikerin gebracht hat.

Was diesen Lebensbereich angeht, ist es für die beiden Frauen also wirklich gut gelaufen. Nun sind sie 39, partnerlos und kinderlos, und schon seit einigen Jahren quält sie dieses Thema: der aufkommende Kinderwunsch und die Frage, ob und wie sie sich diesen nun noch schnell erfüllen können, bevor "der Zug endgültig abgefahren ist".

Das Buch beginnt mit einer Szene, bei der MC Sturm sich bei ihrer Gynäkologin befindet, die ihr mitteilt, dass ihre fruchtbaren Jahre fast vorbei seien: "Sie hatten 25 Jahre Zeit, Mutter zu werden, sehen Sie's mal so. Das ist ein Vierteljahrhundert."

Schon da habe ich Leserin sehr stark mit Marie-Claire Sturm mitgefühlt! Was für ein Hohn diese Aussage doch ist, einer 39-jährigen gegenüber! Als ob Frauen wirklich realistisch so viel Zeit hätten, ihren Kinderwunsch zu realisieren!

In dieser Zeit, in der es scheinbar noch zu früh bis in Bezug auf die Umstände schwierig gewesen wäre, Mutter zu werden, war Marie-Claire auch, wie wir schon früh im Buch erfahren, zwei Mal ungeplant schwanger, und hat die Schwangerschaften abgebrochen, was sie jetzt hinterfragt bis bereut.

Auch mit Anahita Martini kann ich mitfühlen: lastet auf ihr doch der starke Erfolgsdruck ihrer Familie und hat es einige Zeit gedauert, bis sie in diesem Bereich in den Augen ihrer Familie bestehen konnte... so lange, dass währenddessen kaum Raum war, sich überhaupt damit zu beschäftigen, ob sie auch eine Seite in sich hätte, die sich Kinder wünschte!

Wir begleiten also diese beiden Frauen im Buch innerlich durch diesen Konflikt, erleben mit, wie sie sich begegnen, und machen nach ca. 2/3 des Buches einen Zeitsprung um drei Jahre in das Alter 42. Zwischendurch gibt es immer wieder kürzere Kapitel, aus der Sicht weiterer Frauen im Leben der beiden, was für mich interessante weitere Perspektiven auf das Thema einbringt - natürlich aus demselben sozialen Milieu, in dem das ganze Buch spielt, es handelt sich ja um Verwandte oder Bekannte der beiden Hauptcharaktere.

Was mag ich an diesem Buch? Ich finde es sehr authentisch. Und zwar für ein ganz bestimmtes soziales Milieu, das ich ebenfalls gut kenne.

In anderen Rezensionen wird teilweise kritisiert, wie privilegiert die beiden Frauen seien. Ja, das sind sie, aber das ist für mich noch kein Kritikpunkt am Buch. Gute Literatur darf für mich alle sozialen Milieus schildern und es dürfen darin alle möglichen Charaktere vorkommen - ob diese Milieus nun sonderlich sympathisch und die darin vorkommenden Charaktere Sympathieträger sind oder nicht.

Klar sind MC Sturm und Anahita Martini nicht repräsentativ für die Gesamtheit der Frauen mit Kinderwunsch. Aber durchaus für ihr bestimmtes soziales Milieu - das der sehr privilegierten, beruflich erfolgreichen Karrierefrauen.

Um von der Lektüre profitieren zu können, braucht es ein tiefes, emotionales Sich-Einlassen auf das soziale Milieu des Buches und ein Mitfühlen mit privilegiert wirkenden Frauen, die aber dennoch an ihrer Situation leiden. Wenn man das in der eigenen Lebenssituation kann, dann ist es ein sehr gewinnbringendes Buch, wie ich finde. Dann lässt sich Einblick in ein Milieu gewinnen, das man vielleicht aus eigener Erfahrung nicht so gut kennt und auch nicht unbedingt nur schätzt, aber das dennoch interessant ist. Und es lässt sich mit den Charakteren im Buch mitfühlen, auch wenn sie nicht nur sympathisch sind.

Damit erfüllt das Buch eines der Hauptkriterien, die ich an gute Literatur stelle: uns soziale Milieus samt der darin lebenden Menschen so authentisch nachfühlen zu lassen, als wären wir Teil dafür. Dadurch unsere Empathie zu schulen und unseren Horizont zu erweitern.

Auch ein weiteres Kriterium guter Literatur erfüllt es für mich: es regt sehr zum Nachdenken und Diskutieren an. Über die verschiedenen Schattierungen von Feminismus, darüber, was Erfolg im Leben ist, über Partnerwahl und Familie, konservative und progressive Familienmodelle, das Wesen eines Kinderwunsches, die Erwartungen an Frauen, die Schattenseiten mancher feministischer Forderungen usw. Bei mir wird das Buch emotional und gedanklich sicher noch einige Zeit nachwirken.

Bewertung vom 17.09.2024
Die Kunst des InnSæi
Gunnsteinsdóttir, Hrund

Die Kunst des InnSæi


ausgezeichnet

Das innere Meer - nach innen blickend sieht man auch im Außen mehr:

Innsaei - das innere Meer

Innsaei - nach innen sehen

Innsaei - von innen heraus sehen

Das alles ist das isländische Konzept Innsaei... und noch so viel mehr... und darum geht es in diesem besonderen Buch.

Für mich ist es etwas zutiefst Natürliches, in Kontakt mit meiner Intuition, meinem Bauchgefühl, meinem inneren Kompass zu sein. Doch begegne ich oft Menschen, denen das schwer fällt oder die gar nicht wissen, was damit gemeint sein könnte. Die sich hauptsächlich daran orientieren, was sie denken, und oft verwirrt sind, weil das logische Denken für alles unendlich viele Pro- und Kontra-Argumente finden kann. Schon lange frage ich mich, wie man diesen Menschen eine Brücke hin zu mehr Kontakt mit der eigenen Intuition bauen könnte, wenn sie sich das wünschen.

Dieses schöne Büchlein bietet mir diese Brücke. "Die Kunst des InnSaei" holt Menschen, die überwiegend im Mainstream-wissenschaftlichen Denken geprägt sind, genau dort ab und führt sie über Geschichten, kreatives Schreiben, Achtsamkeitsübungen und vieles mehr hin zu mehr Kontakt mit dem eigenen inneren Kompass.

Es ist kein komplett esoterisch-spirituelles Buch - zum Glück, denn sonst würde es auch niemanden abholen können, der oder die nicht eh schon sehr im Kontakt mit dem eigenen Fühlen ist - und die Autorin hat selbst studiert und ist mit modernen wissenschaftlichen Ansätzen sehr vertraut.

Im ersten Kapitel geht die Autorin darauf ein, was überhaupt InnSaei sein könnte und bezieht sich dabei auch auf aktuelle wissenschaftliche Studien zum Thema Intuition mit ein, die z.B. belegen, dass Fachwissen plus Erfahrung kombiniert mit Intuition in den meisten Bereichen die besten Ergebnisse erzielen. Dadurch zeigt sich auch, dass gute Intuition eben nicht nur aus dem Blauen heraus kommt, sondern durchaus oft in langjähriger Erfahrung verwurzelt ist, aus der das Unbewusste dann Erkenntnisse ableitet.

Im zweiten Kapitel geht es um die heilende Kraft der Intuition. Dabei bezieht sich die Autorin nicht nur auf wissenschaftliche Erkenntnisse und ihre persönliche Geschichte sowie die Geschichten anderer Menschen, sondern auch auf antike Mythen wie z.B. die der Göttin Inanna und ihrer dunklen Schwester und Schattenseite Ereshkigal.

In den folgenden Kapiteln geht es um das innere Meer, das Meer in uns, und die Verbindung von allem auf dieser Welt miteinander sowie darum, von nach innen und dann wieder von innen nach außen zu blicken.

Insgesamt lädt das Buch dazu ein, uns wieder mehr mit unserem Inneren zu verbinden und zu erkunden, wer wir tief im Inneren wirklich sind, wer wir sein möchten und welche Spuren wir auf dieser Welt hinterlassen möchten. Sich darauf einzulassen, kann zutiefst Sinn stiftend sein und auch dabei unterstützen, dunkle Zeiten und tiefe Krisen zu überwinden.

Das hat die Autorin selbst erlebt, als sie in ihrer beruflichen Laufbahn und auch privat an einem Punkt angekommen war, an dem sich alles sinnlos anfühlte, und es aber geschafft hat, diesen zu überwinden, sich wieder mehr mit sich selbst zu verbinden, zu spüren, was ihr Weg ist und diesen mutig zu gehen. Dass sie das so ehrlich mit den Lesenden teilt, macht das Buch noch sympathischer und authentischer für mich.

Ich mag auch die vielen Journaling- und Achtsamkeitsübungen, die im Buch vorgestellt werden. Da ich mich mit diesen Themen schon ausführlich beschäftigt habe, kannte ich schon so einige, dennoch war noch einiges Neues dabei, z.B. das Aufmerksamkeits-Journal, in dem wir eingeladen sind, alles zu notieren, was unsere Aufmerksamkeit erweckt, darüber dann zu reflektieren, wiederkehrende Themen zu entdecken und so mehr über uns und unseren momentanen Blickwinkel auf die Welt zu lernen.

"Die Kunst des Innsaei" ist ein schönes Buch, geschrieben von einer in vielfältigen Feldern tätigen und umfassend gebildeten Autorin, die zeigt, dass sie weiß, wovon sie spricht. Im Buch wird auch ein Film zu dem Thema erwähnt, den sie gedreht hat und den ich mir nun unbedingt anschauen möchte. Ich kann das Buch also allen, die sich für Intuition, Kreativität, Sinnfindung und Persönlichkeitsentwicklung interessieren, wärmstens empfehlen.

Bewertung vom 11.09.2024
In den Wald
Vaglio Tanet, Maddalena

In den Wald


ausgezeichnet

Atmosphärisch, emotional und nachdenklich machend:
Das Buch "In den Wald" von Maddalena Vaglio Tanet heißt im italienischen Original "Tornare dal bosco", also "Aus dem Wald zurückkehren".

Genau darum geht es in diesem atmosphärischen Buch: über das metaphorische und tatsächliche Verschwinden in den Wald, nachdem etwas Schreckliches passiert ist. Und die Möglichkeit, irgendwann wieder zurück zu kehren in die Gesellschaft - oder nicht.

Das Buch spielt in ländlichen Gebieten im Piemont, im Nordwesten Italiens, und in den 1970er Jahren. Hier lebt und arbeitet die engagierte Lehrerin Silvia, sie ist zwar durch Verwandte sozial gut eingebunden im Ort, aber selbst unverheiratet, ohne Partner und kinderlos. Umso mehr steckt sie all ihre Energie in ihren Beruf und die Förderung und liebevolle Begleitung ihrer Schülerinnen und Schüler ist ihr ein Herzensanliegen.

Besonders am Herz liegt ihr die elfjährige Giovanna, die es noch nie leicht hatte im Leben, aus einer eher armen, kinderreichen Familie stammt, wenig gefördert wird, piemontesischen Dialekt spricht und sich mit Standarditalienisch sehr schwer tut und generell jedes Schuljahr darum kämpfen muss, dieses zu bestehen. Silvia fördert und unterstützt ihre Schülerin schon seit vielen Jahren zusätzlich zum Unterricht. Frühzeitig in der Pubertät angekommen, beginnt Giovanna gegen alles und jeden zu rebellieren, nimmt die Schule nicht mehr ernst... und dann geschieht das Unglück.

Zutiefst bestürzt über diese Nachricht, gibt sich die Lehrerin Silvia eine Mitschuld daran und verschwindet, von Emotionen überwältigt, in den Wald. Die Menschen aus dem Ort stellen Suchtrupps zusammen, um ihre geschätzte Lehrerin wieder zu finden, doch Silvia will nicht gefunden werden und bleibt unauffindbar. Je länger dieser Zustand andauert, umso unwahrscheinlicher scheint eine Rückkehr zu sein...

Das Buch ist sehr leicht und angenehm zu lesen. Es ist in kurze Kapitel unterteilt und die Autorin schreibt auf eine Art und Weise, die einen sofort packt und den Lesenden das Gefühl gibt, tatsächlich im Piemont der 70er Jahre dabei zu sein. Nebenbei lernt man noch so einiges über diese Region und diese Zeit, zum Beispiel über die immer noch spürbaren Nachwirkungen des 2. Weltkrieges, über soziale Unterschiede und solche zwischen Stadt und Land und vieles mehr.

Neben Silvia werden auch einige weitere Personen vorgestellt und es wird auch aus deren Perspektive erzählt, etwa der etwa 11-jährige Martino, der wegen seines Asthmas gemeinsam mit seiner Mutter aus Turin in diese ländliche Gegend mit besserer Luft ziehen musste und die Großstadt und seine Freunde sehr vermisst.

Ich mag auch die Metaphern sehr, mit denen dieses Buch spielt. Es lässt sich einerseits auf der Ebene des tatsächlichen Geschehens lesen. Andererseits ist das "in den Wald gehen" und "sich aus der Gesellschaft rausnehmen" aber auch eine sehr treffende Metapher für das Trauma und die grenzenlose Überforderung, die Menschen nach einem plötzlichen Todesfall völlig überwältigen können, umso mehr, wenn es ein Kind ist, das gestorben ist.

Thematisiert wird auch die Rolle der Lehrerin und was von einer solchen erwartet wird - und der Bruch, der damit einhergeht, diesen auf einmal nicht mehr zu entsprechen, nicht mehr für die Schülerinnen und Schüler da zu sein, sondern ohne Erklärung spurlos in den Wald zu verschwinden.

Sehr interessant sind auch die verschiedenen sozialen Rollen in den 70er Jahren, die dargestellt werden: es gibt verheiratete Frauen, die mehr oder weniger glücklich und mehr oder weniger treu sind... eine ältere Frau, die auf die baldige Legalisierung der Scheidung hofft, um sich endlich offiziell von ihrem Mann trennen zu können... und eben die Lehrerin Silvia, die ein unabhängiges Leben ohne Mann an ihrer Seite und ohne Kinder führt, und sich nur ihrem Beruf verschrieben hat.

Das Buch regt also auf vielen Ebenen zum Nachdenken und Mitfühlen an. Besonders spannend ist, dass es, wie man im Nachwort erfährt, auf einer wahren Geschichte aus der Familie der Autorin beruht. Ich kann es allen, die sich für gute Literatur interessieren, wärmstens empfehlen.

Bewertung vom 09.09.2024
Die Abschaffung des Todes
Eschbach, Andreas

Die Abschaffung des Todes


gut

Ich lese aus verschiedenen Gründen: um mich weiterzubilden und meinen Horizont zu erweitern, meine Empathie zu schulen und natürlich auch zur Freude und Unterhaltung.

Von einem Buch, das wie "Die Abschaffung des Todes" eindeutig als Thriller beworben wird, wünsche ich mir gute Unterhaltung und Spannung. Wenn ich dann noch etwas dabei lerne, ist das ein zusätzlicher Bonus.

In diesem Buch hat sich dieses Verhältnis leider umgekehrt: ich habe sehr viel über wissenschaftliche und philosophische Überlegungen zum Thema Abschaffung des Todes und ewiges Leben gelernt und das war durchaus interessant. Hätte ich ein Sachbuch zu dem Thema gelesen, würde ich für diese Ausführungen fünf Sterne geben.

Aber: vom Unterhaltungsaspekt her war das Buch für mich sehr mühsam zu lesen. Über weite Teile ist absolut keine Spannung aufgekommen und selbst die Kapitel, die etwas thrillermäßiger waren (mit Verfolgungsjagden etc.) waren sehr langatmig geschrieben, mit vielen unnötigen Details (z.B. dazu, welches französische Gebäck die Protagonisten gerade essen, ohne dass dies für die Handlung relevant war).

Das Buch hat insgesamt über 600 Seiten und nach meiner Beurteilung hätte ihm ein Kürzen auf die Hälfte gut getan. So war es über weite Strecken sehr langatmig und ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wann die Handlung endlich voranschreitet. Selbst die Auflösung am Ende war für mich relativ unbefriedigend. Hier würde ich also nur einen Stern geben.

Die Charaktere sind unterschiedlich detailliert ausgearbeitet, manche sehr detailliert, andere Figuren, die durchaus Potential gehabt hätten, wie etwa die Partnerin des Hauptcharakters, sind sehr blass gezeichnet. Insgesamt ist Charakterentwicklung keine der Stärken des Buches. Drei Sterne dafür.

Ich kann das Buch also nur mit Vorbehalt empfehlen. Für typische Krimi- und Thrillerfans ist es eher nichts, dafür ist es bei weitem nicht spannend genug. Es beinhaltet aber durchaus interessante Aspekte für die, die sich für den momentanen Stand von Wissenschaft und philosophischen Debatten zu den Themen Abschaffung des Todes und ewiges Leben und etwaige soziale Konsequenzen davon interessieren.

Bewertung vom 06.09.2024
Die Frauen von Maine
Sullivan, J. Courtney

Die Frauen von Maine


sehr gut

Die Frauen rund um das Haus auf den Klippen:

"Die Frauen von Maine" von J. Courtney Sullivan ist im englischsprachigen Original unter dem Titel "The Cliffs" (Die Klippen) erschienen. Beide Titel sind treffend und beschreiben, worum es geht: um ein jahrhundertealtes Haus direkt an den Klippen von Maine, mit Blick auf das Meer. Und um die Frauen, die dieses Haus bewohnten oder damit in Verbindung stehen.

Der überwiegende Teil des Buches spielt in der heutigen Zeit, in der wir die knapp 40-jährige Jane miterleben. Jane stammt aus sozial benachteiligten Verhältnissen, ist gemeinsam mit ihrer Schwester bei der alkoholkranken Mutter aufgewachsen und hat es dennoch geschafft, zu studieren, einen interessanten Beruf im akademischen Umfeld auszuüben und eine langjährige Beziehung zu führen. Aber die Vergangenheit holt sie immer wieder ein, in vielerlei Hinsicht.

Wir erleben Janes Entwicklung, aber auch ihre Herausforderungen, mit ihrem familiären Erbe umzugehen und gleichzeitig ihre Faszination für das Haus an den Klippen, das sie als Jugendliche zufällig entdeckt und das sie nicht mehr los lässt.

Während also etwa 80 Prozent des Buches aus Janes Sicht erzählt werden, sind zwischendurch immer wieder kleinere Kapitel aus der Sicht weiterer Frauen eingeschoben, auch aus der ferneren Vergangenheit des Hauses. Das hat mir sehr gut gefallen, weil wir dadurch ein umfassenderes Bild bekommen. Und Schritt für Schritt zeigen sich die Verbindungen zwischen diesen Frauen und zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf.

Sprachlich ist das Buch solide geschrieben (kein Meisterwerk voll von wunderschönen Metaphern, aber gut und angenehm zu lesen) und die Küste Maines und das Leben dort, jetzt und in der Vergangenheit, wird beim Lesen vor dem inneren Auge lebendig. Überwiegend war es ein Vergnügen, das Buch zu lesen und die Handlung hat mich neugierig gemacht, wie es weitergeht.

Wer in Betracht zieht, das Buch zu lesen, sollte offen für die Themen familiärer Alkoholismus, Geschichte und Leid der Native Americans sowie Geister und Okkultismus sein - all diese Themen ziehen sich stark durch das Buch.

Für mich, die ich diese Themen interessant finde, war das eine der Stärken und ich habe auch geschichtlich einiges Neues gelernt, wenn auch das Alkoholismus-Thema mir ein bisschen zu präsent war (das ist sehr oft in amerikanischen Büchern der Fall, es scheint dort ein besonders großes Thema zu sein) und sich die Geschichte insgesamt vielleicht auch ohne all die Geister erzählen hätte lassen (vielleicht aber auch nicht oder nur sehr anders).

Ich glaube, dass es auch für Männer eine bereichernde Erfahrung sein kann, Bücher von Frauen zu lesen, in denen es hauptsächlich um Frauen geht. Wer dieses Buch lesen will, dem sollte aber klar sein, dass der Titel dem Inhalt durchaus gerecht wird: es geht zu 99 % um Frauen und deren Perspektive und Männer kommen nur sehr am Rande und immer nur mit Bezug zu diesen Frauen, aber nie als eigenständige Erzähler vor.

Insgesamt ist es eine spannende und schön zu lesende Geschichte und auch ein Buch, das zum Nachdenken über Benachteiligung und Diskriminierung anregt und dazu, uns zu fragen, ob überhaupt, und wenn ja, wie historisches Leid wieder gut gemacht werden kann und welche Geschichten auch im akademischen Bereich und in Museen bis heute erzählt werden und wie diese Narrative diverser und damit fairer gestaltet werden können.

Bewertung vom 01.09.2024
Lernen, den Tiger zu reiten
Levine, Peter A.

Lernen, den Tiger zu reiten


ausgezeichnet

Wer sich mit Traumaforschung beschäftigt, kommt an dem Namen Peter A. Levine nicht vorbei. Der berühmte Traumaforscher hat schon viele Bücher über seinen innovativen Ansatz des Somatic Experiencing geschrieben. In diesem Buch geht es nun nicht vorrangig um die Details dieser Methode, sondern um ausgewählte Kapitel seines eigenen Lebens und wie er dadurch auf seinem privaten und beruflichen Weg beeinflusst wurde.

Es beginnt mit seiner Familiengeschichte, die stark unter dem Einfluss eines New Yorker Mafiaclans stand, wodurch der jugendliche Peter A. Levine auch selbst eine schlimme Traumatisierung erlitt. Wir lernen das soziale Milieu kennen, in das Peter A. Levine hineingeboren und in dem er aufgewachsen ist - materiell immer wieder beschränkt, aber sehr offen für Bildung und Interesse, was sich daran zeigt, dass neben ihm auch die beiden Brüder studiert haben und Experten auf ihrem jeweiligen Gebiet (im Bereich Medizin und Heilung) geworden sind.

Peter A. Levine schreibt über die vielfältigen Wissenschaftsdisziplinen, die ihn beeinflusst haben und wie er diese in seiner Dissertation interdisziplinär verbunden hat, was ihm zuerst Widerstand einbrachte, schließlich aber Respekt von Experten aus all diesen Disziplinen. Besonders beeindruckend fand ich beim Lesen, dass er aber nicht nur für das universitäre Umfeld offen war, sondern auch ein Mensch, der sich ganzheitlich beeinflussen inspirieren ließ.

So hat er beispielsweise einen guten Zugang zu seinen Träumen und lässt sich von diesen neue Wege aufzeigen, er hat über längere Zeit Gespräche beim Abendessen mit dem imaginierten Albert Einstein geführt (der damals längst tot war, aber seinen Eltern begegnet war, als seine Mutter mit ihm schwanger war), mit diversen psychedelischen Substanzen zur Bewusstseinserweiterung experimentiert, sich von verschiedensten Kulturen beeinflussen lassen - sehr interessant auch deren überlieferte Weisheit und Traditionen zum Umgang mit Traumata, von denen der Westen durchaus einiges lernen kann - und vieles mehr.

Es zeigt sich also auch hier wieder - wie mir auch schon in den Lebensläufen anderer berühmter Forscher aufgefallen ist - wie bereichernd eine große Offenheit gegenüber verschiedensten Erfahrungen für das Entdecken neuer Zusammenhänge sein kann.

Sehr sympathisch geschrieben sind auch die Kapitel zu den vier wichtigsten Frauen und den vier wichtigsten Männern, die ihn beeinflusst und inspiriert hätten. Erstere hätten ihm insbesondere eine besseren Zugang zum eigenen Körper vermittelt, zweitere zu diversen wissenschaftlichen Ansätzen.

Es findet sich also sehr viel Interessantes in diesem Buch. Warum dann 4 Sterne und nicht 5? Während Anfang und Ende für mich sehr spannend zu lesen waren, gab es in der Mitte einige Teile, die für mich schwieriger zu lesen und ein bisschen zusammenhanglos wirkten. Es wurden Erklärungen und Zusammenhänge, insbesondere in Bezug auf die eigenen Eltern und deren Einfluss auf sein Leben, postuliert, die für mich nicht sehr nachvollziehbar waren.

Und für eine Autobiographie insgesamt fehlt mir ein bisschen der rote Faden: es werden sehr viele interessante Einzelaspekte aneinandergereiht, aber das ganze Leben und insbesondere die genaue Entwicklung der beruflichen Laufbahns, aber auch des privaten Lebens von Peter A. Levine, insbesondere in der Zeit nach seiner abgeschlossenen Dissertation, ist für mich dadurch nicht wirklich greifbar geworden. Vielleicht auch so von ihm beabsichtigt, es ist ja das Recht jedes Menschen, zu entscheiden, was er in welcher Form und wie intensiv von sich teilen möchte.

Insgesamt kann ich das Buch allen, die sich für die Persönlichkeit und das Leben des berühmten Traumaforschers interessieren, sehr empfehlen. Wer hingegen mehr über seine Methoden lernen möchte, ist vermutlich mit seinen anderen Büchern besser bedient.

Bewertung vom 29.08.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


ausgezeichnet

Über die Abgründe in Familien:

Wenn man die Beschreibung von "Kleine Monster" liest, wird man verleitet, zu glauben, es gehe in dem Buch hauptsächlich um einen 7-jährigen Volksschüler, dem ein "Vorfall mit einem Mädchen" vorgeworfen wird, und um den Umgang der Eltern und der Gesellschaft damit. Darum geht es schon auch, aber nur zu einem kleinen Teil. Einen viel größeren Teil nimmt eine andere Geschichte ein, und zwar die von Pia, der Mutter des Buben, ihrer Kindheit und wie sie zu der Persönlichkeit geworden ist, die sie heute ist - was auch ihre Beziehung zu ihrem Sohn stark beeinflusst.

Kunstvoll und sprachlich eloquent, dabei spannend und in kurzen Kapiteln, führt uns Jessica Lind in die psychologischen Abgründe von Familiendynamiken ein... es geht um Unausgesprochenes, Tragisches, Schuld, Abweisung und Gewalt.

Dabei zeigt die Autorin sehr gut auf, wie auch scheinbar erwachsene Menschen speziell im Umgang mit den eigenen Kindern stark von ihren eigenen Kindheitserfahrungen geprägt sind und wie diese die Beziehung beeinträchtigen können. Was diese Aspekte angeht, ist es also ein tolles Buch.

Dennoch gibt es andere Aspekte, die mich das Buch eher unzufrieden zuklappen haben lassen. Es werden viele offene Fragen gestellt und auch die wichtigsten davon, auf die das ganze Buch hingeführt hat, am Ende in keiner klaren und für mich zufriedenstellenden Form beantwortet.

Das Buch endet auch an einer eher ungewöhnlichen Stelle, an der man sich wünschte, die Autorin hätte noch ein paar Seiten weiter geschrieben. Das mag stilistisch so geplant sein und passt wiederum zum Thema des Ungesagten - auch uns als Lesende lässt die Autorin mit dem Ungesagten zurück. Einerseits kann uns das die Erfahrung verschaffen, selbst zu spüren, wie es einem damit geht. Andererseits ist es etwas, was ich bei Büchern dennoch nicht sehr schätze, und wofür ich einen Stern abziehe.

Insgesamt ist es aber auf jeden Fall ein spannendes und psychologisch vielschichtiges Buch, das viele interessante Denk- und Diskussionsanregungen zu den Themen Kindheit, Erziehung, Eltern-Kind-Beziehung, Ehrlichkeit vs. Verschweigen, transgenerationale Weitergabe von Themen und Traumata und vielem mehr anregt.

Bewertung vom 25.08.2024
Am Himmel die Flüsse
Shafak, Elif

Am Himmel die Flüsse


ausgezeichnet

Wasser zeigt die Verbindungen zwischen Orten und Zeiten:

"Am Himmel die Flüsse", das neue Buch der britisch-türkischen, international aufgewachsenen und mit vielen Literaturpreisen ausgezeichneten Schriftstellerin Elif Shafak, ist ein ganz besonderes literarisches Werk.

Es geht um die Verbundenheit von allem und allen auf dieser Welt, metaphorisch dargestellt durch das Wasser, das in seinen vielfältigen Formen, ob als Wassertropfen, unterirdischer Fluss oder überwältigende Sturzflut, menschliche Schicksale und Zeiten miteinander verknüpft.

Beginnend mit der Geschichte des Herrschers Assurbanipal im antiken Ninive begleiten wir schließlich den hochbegabten, aber in bitterste Not hineingeborenen Arthur, den "König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere", auf seinem Lebensweg in der Zeit der Industrialisierung, genauso wie im Jahr 2014 die 9-jährige Narin auf dem Weg zu ihrer Taufe ins Lalischtal, begleitet von ihrer liebevollen, geschichtenerzählenden Großmutter, sowie eine junge Hydrologin in London im Jahr 2018... und einen Wassertropfen auf seiner Reise durch die Weltregionen und die Jahrtausende.

Was macht für mich ein literarisches Meisterwerk aus?

Erstens die ganz besonders schöne, poetische Sprache: ein Buch, das schon mit seiner Wortwahl ein besonderer Lesegenuss ist und mit treffend gewählten Sprachbildern die Fantasie anregt. Davon findet sich ganz viel in diesem Buch, zum Beispiel:

"Die Kinder entwurzelter Eltern sind in den Stamm des Erinnerns hineingeboren."

Mit solchen Sprachbildern ist das Buch voll.

Zweitens die komplexen, gut recherchierten und miteinander verbundenen Themen:

Beim Lesen dieses Buches kann man nebenbei sehr viel lernen. Zwar sind die Figuren fiktiv, doch das, was diese erleben oder ihnen zustößt, beruht überwiegend auf sehr sorgfältig recherchierten historischen Tatsachen (wie die Autorin im Nachwort auch selbst detailliert beschreibt). Dieses Buch hat mir Wissen über so unterschiedliche Gebiete wie das alte Mesopotamien, London zur Zeit der beginnenden Industrialisierung, das Wassergedächtnis, die vergrabenen unterirdischen Flüsse von London, Paris und vielen weiteren Metropolen (auch in Wien gibt es solche), den Völkermord an den Eziden in der Geschichte des osmanischen Reiches sowie durch den IS, Organhandel, die Klimakrise auch als Wasserkrise, die Problematik des Verschleppens von Kunstschätzen in ferne Museen und vieles mehr vermittelt, einfach so nebenbei beim Lesen.

Drittens das Bewusstsein für soziale und kulturelle Unterschiede, Benachteiligungen und Privilegien und wie sie die Möglichkeiten der einzelnen Menschen und ihre Weltsicht prägen. Das Buch zeigt etwa an vielen Beispielen auf, wie die eigene soziale Schicht und der eigene kulturelle und familiäre Hintergrund Türen öffnet oder schließt, wie schwierig es sein kann, diesem Hintergrund zu entfliehen und wie wenig Bewusstsein auf Seiten der Privilegierten dafür oft besteht, sowohl historisch als auch in der heutigen Zeit. Damit bietet das Buch viel Stoff zum kritischen Reflektieren und auch für Diskussionen mit anderen und eignet sich dadurch auch besonders gut für gemeinsame Leserunden.

Viertens authentisch gezeichnete, tiefgründige und facettenreiche Figuren und eine spannend erzählte Geschichte. Dieses Buch hat mich gepackt, wie schon länger keines mehr, und als ich die liebevoll gezeichneten Figuren einmal kennen gelernt hatte, war ich sehr schnell emotional tief mit ihnen und ihrem Schicksal verbunden, habe mitgefiebert und wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht. Bis zum Ende, das die verschiedenen Handlungsstränge noch einmal geschickt miteinander verwebt, war das Buch absolut fesselnd.

Es handelt sich hierbei also um ein literarisches Meisterwerk, wie ich schon länger keines mehr gelesen habe.

Empfehlen kann ich das Buch allen, die sich für wirklich gute Literatur und/oder für die angesprochenen Themen interessieren, dieses Buch ist wirklich ein besonderer Lesegenuss.

Nötig ist allerdings, sich innerlich auch für sehr schwierige Themen menschlicher Grausamkeit zu wappnen: diese hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, es gibt sie leider bis heute, und sie kommen auch detailliert im Buch vor.

Das macht beim Lesen gerade deshalb emotional besonders betroffen, weil es aufgrund der gut recherchierten wahren Hintergründe eben nicht möglich ist, sich mit der Vorstellung, es sei nur eine Geschichte, davon zu distanzieren: schreckliche Dinge werden Menschen, Tieren und der Natur durch andere Menschen angetan, bis zum heutigen Tag, und Elif Shafak spricht das klar und mutig an.

Es ist also trotz der schönen, poetischen Sprache und der spannenden Geschichte nicht nur ein reiner Lesegenuss, sondern macht auch sehr nachdenklich und sensibilisiert für das Leid der Welt und für das, was Menschen, Tieren und Natur angetan wird, bis zum heutigen Tage. Damit kann es aber auch aufrütteln, sich im Rahmen der eigenen Möglichkeiten für eine bessere Welt einzusetzen.