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Eternal-Hope
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Österreich

Bewertungen

Insgesamt 76 Bewertungen
Bewertung vom 14.03.2025
Bis die Sonne scheint
Schünemann, Christian

Bis die Sonne scheint


ausgezeichnet

Sensibel erzählte Geschichte von sozialem Abstieg:

Christian Schünemann, bisher eher für Krimis bekannt, hat sich mit diesem Roman in den Bereich der autofiktionalen Literatur begeben, und das gleich in hoher Qualität. In "Bis die Sonne scheint" erzählt er einen Ausschnitt aus seiner eigenen Familiengeschichte, basierend auf seinen Jugenderinnerungen sowie auf vielen Briefen, die die mittlerweile verstorbene Mutter mit ihrer in Amerika lebenden Schwester ausgetauscht hat.

Überwiegend spielt die Handlung in den 1980er Jahren, doch es gibt auch immer wieder Rückblenden in frühere Zeiten, sodass wir erfahren, woher die väterliche und die mütterliche Seite der Familie kommen, wie die Eltern aufgewachsen sind und was sie geprägt hat. Das schafft nochmal mehr Verständnis und Mitgefühl.

Durch die Augen des jugendlichen Daniels, der jüngste von vier Geschwistern und kurz vor der Konfirmation stehend, erleben wir, wie eine ehemals erfolgreiche und sehr fleißige Familie in immer größere finanzielle Schwierigkeiten gerät, vor denen die Eltern jedoch die Augen verschließen. Die unternehmerische Tätigkeit des Vaters läuft aufgrund veränderter wirtschaftlicher Bedingungen und eigener kurzfristiger Planung nicht mehr so wie früher, und auch die Versuche der Mutter, Geld zu verdienen, sind nicht dauerhaft erfolgreich, sodass bald der Exekutor vor der Tür steht und "Kuckuck-Pfändungsmarken" auf Klavier und Fernseher klebt.

Daniel muss sich für seine Konfirmation mit einer viel kleineren Feier und bescheidenerer Kleidung zufrieden geben, auch der ersehnte Frankreich-Trip mit der Schule ist nicht mehr möglich... und doch schmeißen die Eltern auch immer wieder impulsiv für scheinbar sinnlosen Konsum das Geld zum Fenster heraus, während die finanzielle Misere immer größer wird. Man will sich schließlich belohnen. Und man lebt in einer Zeit und einem sozialen Umfeld, in dem es extrem wichtig ist, zu zeigen, wer man ist und was man hat.

Aus der Nachkriegsarmut kommend haben die Eltern sich mit harter Arbeit und Fleiß ihren Wohlstand und Status bitter erarbeitet... umso schwieriger ist es, den Tatsachen des immer größer werdenden finanziellen Ruins ins Auge zu sehen... da fährt man lieber noch schnell ein letztes Mal auf Urlaub, dorthin, wo die Sonne scheint - während daheim das Haus demnächst zwangsversteigert wird und die Kaufinteressenten schon im Garten stehen.

Es ist eine Familiengeschichte von sozialem Aufstieg, Abstieg und Verleugnung. Ein Zeitporträt der 1980er Jahre in der BRD und der damals weit verbreiteten Werte. Dabei gelingt es dem Autor, seine Familie keineswegs vorzuführen oder zu verurteilen, sondern durch die vielschichtige und mehrere Jahrzehnte umfassende Betrachtungsweise und die sensible Charakterisierung der einzelnen Figuren auch Mitgefühl und Verständnis für sie zu schaffen.

Sprachlich liest sich das Buch angenehm, locker und unterhaltsam, ist vom Stil her zugänglich und interessant, und regt bei aller Leichtigkeit doch zum Nachdenken über sozialen Aufstieg und Abstieg, Ehrlichkeit vs. Verschweigen in der Familie und in der Gesellschaft und generell die gesellschaftlichen Werte in der BRD im 20. Jahrhundert an. Wer zu dieser Zeit gelebt hat, wird einiges wieder erkennen. Wer jünger ist, kann einiges lernen, was zum besseren Verständnis älterer Generationen beitragen kann. Damit ist es ein empfehlenswertes Buch für eine breite Leserschaft.

Bewertung vom 11.03.2025
Lebensschlenker
Meierhenrich, Nova

Lebensschlenker


gut

Die letztlich unerfüllte Kinderwunschreise einer eher unreflektierten Frau:

Die bekannte Schauspielerin und Moderatorin Nova Meierhenrich teilt in diesem Buch ihren sehr persönlichen Kinderwunschweg. Ein Wunsch, der sich nicht erfüllt hat.
Wir lernen schon ganz am Anfang des Buches eine sehr disziplinierte, planungs- und zielorientierte Frau kennen, die meint, im Leben alles kontrollieren und steuern zu können. Nova weiß, sie will Mutter werden, und zwar am besten von einer Tochter, die sie "Luka" nennen will, nach dem Lied von Suzanne Vega. Diese Vision von ihrem Leben trägt sie seit ihrer Jugend jahrzehntelang in sich: "Und wie an allen anderen Plänen meines persönlichen Lebens-Moodboards hatte ich auch keinerlei Zweifel daran, dass irgendwann Luka zu meinem Leben gehören würde." (S. 13) Was wäre eigentlich, wenn sie mit einem Sohn schwanger geworden wäre? Wäre sie dann eine der Frauen gewesen, die beklagen, wie sehr sie unter "Gender Disappointment" leiden?
Auch ist sie bereit, diesen Weg, wenn nötig, ohne einen Partner an ihrer Seite zu gehen. "Es mag befremdlich klingen, aber ich habe schon in meinen Zwanzigern gewusst: Im Zweifel mache ich es allein. Mein Kind und ich." (S. 20). Doch noch nicht "jetzt", jetzt ist erst einmal die berufliche Karriere dran, reisen, feiern, Selbstverwirklichung. In dem Weltbild der Autorin sollte Kinder-Kriegen kein Problem sein, solange alle biologischen Parameter stimmen.
Um das sicherzustellen, lässt sie schon ab ihren frühen 30ern regelmäßig gynäkologisch ihren Anti-Müller-Hormon-Wert bestimmen. Dieser ist bei ihr ausgezeichnet, sie habe die Werte einer 10 Jahre jüngeren Frau, meinen die Ärzte, deshalb wiegt sie sich in Sicherheit, noch sehr lange problemlos Kinder bekommen zu können. Sie wartet bis zum reifen Alter von 42 Jahren, bis sie überhaupt ihre Kinderwunschreise startet, mangels passenden Partners an ihrer Seite als Solo-Mutter und mit Samenspende in Dänemark, da dieser Weg zu dieser Zeit in Deutschland rechtlich noch nicht erlaubt ist.
Sie wählt aus der riesigen Samenspenderbank den ihr am idealsten erscheinenden Spender aus, "Gordon", und unternimmt mit dessen Samen mehrere Versuche, erst einmal einer Insemination, in der Kinderwunschklinik. Schwanger wird sie nicht. Zwischenzeitlich muss sie weitere Samenhalme besorgen, doch jener von "Gordon" ist ausverkauft, was sie erst einmal in eine Krise stürzt, da sie sich innerlich schon so auf "Gordon" eingestellt hat. Doch schließlich entscheidet sie sich für einen weiteren Spender, und später noch einen weiteren, da auch dieser ausverkauft ist, und weitere Versuche. Irgendwann probiert sie dann IVF und ICSI aus, das klappt aber auch alles nicht, bis sie dann schließlich mit Mitte 40 bei einer Reise zum Nordkap mit ihrem unerfüllten Kinderwunsch abschließt.
Das macht drei Viertel des Buches aus. Danach folgen noch ein paar kurze Beiträge anderer Frauen - meist aus dem beruflichen und privaten Umfeld der Autorin - und Statements zu deren Leben als freiwillig Kinderfreie, nach einer Fehlgeburt oder als lesbische Frau im Co-Parenting mit einem schwulen Mann.
Was mich meisten geärgert hat an dem Buch, weil es Lesende, die sich noch nicht viel mit dem Thema auseinandergesetzt haben, in die Irre führen könnte, ist der geringe Wissensstand der Autorin über den Faktor Alter beim Kinderwunsch. Nicht nur am Anfang ihrer Kinderwunschreise, sondern auch noch beim Verfassen des Buches. So ist es ihr bis heute unerklärlich, warum sie letztlich kinderlos geblieben ist, obwohl sie erst mit 42 gestartet ist.
Der gute AMH-Wert lässt sie daran glauben, viel länger als andere Zeit zu haben mit dem Kinder-Kriegen. Dabei lässt sie außer acht, dass dieser nur wenig über die (mit dem Alter meist stark abnehmende) Qualität der Eizellen aussagt, sondern nur über die Quantität, und auch stark schwanken kann. Dieses Thema wird im Buch überhaupt nicht behandelt oder kritisch reflektiert, stattdessen meint sie, an unerklärter Sterilität zu leiden.
Hoffnungslos naiv war schon der Beginn der Kinderwunschreise: selbst, als sie schon den Entschluss dazu gefasst hatte, hat sie noch weitere zwei Jahre gewartet (gerade zwischen 40 und 42 gibt es einen enormen Fruchtbarkeitsabfall), um alles medizinisch und finanziell genau zu planen, bevor sie dann mit 42 überhaupt den ersten Versuch unternimmt, schwanger zu werden.
Sprachlich ist das Buch sehr umgangssprachlich geschrieben, so schreibt die Autorin beispielsweise immer wieder vom "Loslaufen", wenn es um den Start ihrer Kinderwunschreise geht: "Und so stießen wir an Weihnachten 2015 gemeinsam an, als ich ihr erzählte, dass ich losgelaufen bin. 2016 sollte DAS Jahr werden. Ich war bereit.".
In meinem Umfeld habe ich viele Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch. Diesen empfehle ich dieses Buch ausdrücklich nicht, denn sie könnten sich über einige der erwähnten Themen und die mangelnde Selbstreflexion der Autorin sehr ärgern, vor allem aber auf nicht hinterfragte Fehlinformationen stoßen, so wie die Autorin selbst.

Bewertung vom 10.03.2025
Stromlinien
Frank, Rebekka

Stromlinien


ausgezeichnet

Tiefgründige und spannende Familiengeschichte in wunderschönem Natursetting:

"Stromlinien", hat ein wunderschönes Cover: ein Boot mit einer paddelnden jungen Frau darin. Hinter ihr ist das Wasser türkisblau, also seicht und ungefährlich, während vor ihr tieferes, dunkelblaues Wasser liegt, ein Bild für die Reise ins Unbekannte, das gefährlicher sein kann. Dazu noch die Stromlinien, die haptisch eingezeichnet sind.

Dieses Cover beschreibe ich so genau, weil es für mich sinnbildlich für dieses Buch steht: es ist eine atmosphärische, vielschichtige und tiefgründige Familiengeschichte, die so spannend erzählt wird, dass es auch auf über 500 Seiten keine Sekunde langweilig ist. Ein Buch, das ich geliebt und verschlungen habe, und nach dessen Lektüre ich zwei Sachen sicher weiß: demnächst besorge ich mir auch das erste Buch dieser talentierten Autorin. Und ich würde am liebsten eine Reise in die Elbmarsche buchen, so schmackhaft hat mir das Buch diese Gegend gemacht!

Die Elbmarsche, die Gegend an der Elbe und an ihrem Nebenfluss Lühe, zwischen Hamburg und der Nordsee, dorthin spielt dieses Buch. Es versetzt uns so eindrücklich dorthin, dass ich auch nach dem Zuklappen der Buchdeckel immer noch die Bilder lebhaft in meinem Kopf habe und mit Enna die Elbe und Lühe im Boot auf- und abfahre. So viel habe ich über diese mir unbekannte Gegend gelernt: wie sehr die Gezeiten des Meeres noch weit in diese Flusslandschaft hineinwirken, sodass mehrmals täglich die Strömung des Wassers ihre Richtung ändert. Wie die Menschen diese Landschaft verändert haben, sodass der ursprünglich relativ flache Fluss Elbe nun eine bis zu 17 Meter tiefe Fahrrinne in der Mitte hat, in der die riesigen Containerschiffe zum Meer fahren oder von dort zurückkommen können, während der Fluss an den Rändern nach wie vor recht flach ist. Wie sich das auf das Ökosystem dort auswirkt und den Fluss aber auch gefährlicher macht, da dadurch zusätzliche Strömungen und Strudel entstehen.

Meine Begeisterung für dieses Buch geht tief, dabei habe ich noch gar nicht begonnen, die eigentliche Geschichte kurz zu schildern: da gibt es die 17-jährigen Zwillinge Enna und Jale, die bei ihrer Oma Ehmi aufwachsen, da ihr Mutter Alea im Gefängnis sitzt. Alea ist dort seit 38 Jahren, und die Zwillinge wissen nicht einmal, was ihr vorgeworfen wird, es hat ihnen niemand gesagt, in der Familie herrscht Schweigen über dieses Familiengeheimnis.

Enna und Jale haben, wie viele Zwillinge, eine extrem enge Bindung zueinander, erzählen sich alles, haben eigentlich keine Geheimnisse voreinander, verstehen sich ohne Worte... bis es auf einmal nicht mehr so ist. Denn an dem Tag, an dem die Mutter aus dem Gefängnis entlassen werden soll und auf den die Zwillinge so hingefiebert haben, taucht nicht nur die Mutter Alea nicht auf... nein, auch Jale verschwindet in der Nacht davor spurlos, sodass Enna alleine vor der Gefängnispforte steht.

Besonders macht das Buch, neben den tollen Naturbeschreibungen, dass wir die Familie aus verschiedenen Perspektiven kennen lernen: über jedem Kapitel steht, in welcher Zeit wir gerade sind, und es gibt neben vielen Kapiteln aus der Jetzt-Zeit im Sommer 2023 auch solche aus der Zeit, als Alea jung war und es zu ihrer Inhaftierung kam (1984/85), aus der Zeit danach, aber auch aus Ereignissen in der Familiengeschichte, die weit früher zurückreichen, bis zu 100 Jahre, und dennoch bis heute ihre Auswirkungen haben.

Psychologisch interessant sind die Persönlichkeitsmuster, die sich durch die Familie ziehen und bisher nicht reflektiert und aufgearbeitet wurden, aber von außen gut zu erkennen sind: fast alle Familienmitglieder neigen zu Distanziertheit und Verschlossenheit in ihren Beziehungen zueinander und zu anderen, aber auch zu einer aufbrausenden Impulsivität, die zu Übersprungshandlungen mit manchmal drastischen Konsequenzen führen kann. Dieser Persönlichkeitszug eint sie, doch ansonsten sind es ganz unterschiedliche Charaktere, die authentisch gezeichnet werden, sodass man sie sich gut vorstellen kann, mit ihnen mitfiebert und sich ihnen verbunden fühlt.

Insgesamt ist "Stromlinien" also ein Meisterwerk, das auf so vielen Ebenen überzeugt: Familiendynamik, Charakterdarstellung und -entwicklung, Dramaturgie und Spannungsaufbau, Multiperspektivität und authentisches Hintergrundsetting in den bezaubernden Elbmarschlandschaften. Wie im Nachwort ersichtlich wird, hat die Autorin für das Buch akribisch recherchiert, und so kann man bei der Lektüre auch einiges über verschiedene Themen lernen, denn auch, wenn die Figuren fiktiv sind, haben so einige Hintergrundinformationen einen wahren Hintergrund.

Ich empfehle dieses Buch allen, die anspruchsvolle Literatur und tiefgründige Familienromane mögen, aber auch denen, die sich einfach gut unterhalten lassen möchten, dieses Buch bietet das alles! Besonders mögen werden es außerdem alle, die die Natur lieben und insbesondere Flüsse und Wasser lieben.

Bewertung vom 04.03.2025
Russische Spezialitäten
Kapitelman, Dmitrij

Russische Spezialitäten


ausgezeichnet

Zerrissen zwischen der Liebe zur Mutter und den eigenen Prinzipien:

Dmitrij Kapitelmans neues Buch "Russische Spezialitäten" macht nachdenklich, sehr, sehr nachdenklich. Über die Zeiten, in denen wir gerade leben. Über Desinformation, der doch so viel Glauben geschenkt wird und gegen die selbst Fakten und eigene Erfahrungen nicht ankommen.

In diesem sehr persönlichen, vermutlich autofiktionalen Roman, lernen wir den Ich-Erzähler kennen, der mit seiner Familie seit Jahrzehnten in Leipzig lebt. Geboren ist der Autor in Kyjiw, hat dort aber nur wenige Jahre gelebt, bevor er gemeinsam mit den Eltern in den 90er Jahren nach Deutschland gekommen ist. Russisch ist die gemeinsame Mutter-Sprache der Familie, die Mutter ist ursprünglich in Sibirien geboren, hat dann ihre Kindheit in Moldawien verbracht und ist schließlich in die Ukraine gezogen, während der Vater jüdisch ist. Geschäftstüchtig haben die Eltern in Leipzig einen Laden für russische und ukrainische Spezialitäten aufgemacht und betreiben diesen 25 Jahre lang, auch der Sohn hilft dort aus. Der Laden ist auch ein Treffpunkt für die ukrainisch-russisch-jüdische Diaspora in Leipzig... bis er 2020 im Zuge der Coronakrise geschlossen wird.

Das Buch ist zweigeteilt, im ersten Teil geht es um den Alltag der Familie rund um diesen Laden. Im zweiten Teil reist der Ich-Erzähler in der heutigen Zeit, also schon während des tobenden Ukrainekrieges, in seine Geburtsstadt Kyjiw. Er möchte alte Bekannte treffen und ein paar Besorgungen machen, aber vor allem will er sich ein eigenes Bild der Lage dort machen und seine Mutter davon überzeugen, dass ihre von den russischen Propagandamedien geprägte Sicht der Dinge nicht stimmt.

Dieses Unterfangen wird leider erfolglos bleiben, zumindest an der Oberfläche. Die Mutter beruhigt den Sohn, ihm werde dort als Zivilist nichts passieren, denn Russland, das die Ukraine von bösen Mächten befreien wolle, beschieße ausschließlich militärische Ziele. Vielleicht beruhigt sie sich damit aber auch selbst, denn nach der Rückkehr des Sohnes aus der Ukraine gibt sie doch zu, wie erleichtert sie ist, dass er wohlbehalten heimgekehrt ist. Und wer weiß, vielleicht bringen die Erzählungen des Sohnes - er spricht mit vielen ukrainischen Freunden und Bekannten, muss selbst bei Bombenalarm in den Schutzbunker des Hotels, in dem er dort wohnt, und besucht auch selbst die Orte der Massaker wie z.B. Butscha, ihr nur von den russischen Medien geprägtes, verzerrtes Weltbild ja doch ein bisschen ins Wanken.

Es ist ein großartiger Roman, dem es gelingt, die Zerrissenheit des Autors zu zeigen: zwischen der tiefen Liebe zu seiner Mutter und seiner Fassungslosigkeit darüber, wie sehr sie ins Netz der russischen Propaganda geraten ist und noch die absurdesten Lügen über den Krieg nicht nur glaubt, sondern auch überzeugt weitererzählt. Damit zeigt der Autor auch etwas Bemerkenswertes auf: wie es möglich ist, mit den uns lieben Menschen in Verbindung zu bleiben, ohne all ihre Meinungen zu teilen... und wie wir Stück für Stück versuchen können, diese zu hinterfragen und unser Gegenüber zum Nachdenken zu bringen.

Auch sonst lernt man durch dieses Buch viel Interessantes, Berührendes und Nachdenklich-Machendes über die Ukraine heutzutage: über junge Männer, die nach nur wenigen Wochen im Krieg völlig verstümmelt zurückkehren, auf der Straße betteln und von fast allen ignoriert werden... über nicht mehr sehr fitte 50-jährige, die fürchten müssen, zwangsrekrutiert zu werden... über Mariupol, das dem Erdboden gleichgemacht wurde... und über Menschen in der Ukraine, für die Russisch bisher die Muttersprache war und die nun bewusst aus Abscheu vor dem russischen Aggressionskrieg und aus Solidarität mit der als Heimat angesehenen Ukraine Ukrainisch lernen und ihre Kinder in dieser Sprache aufziehen möchten.

Nachdenklich machen auch die Privilegien, die ein deutscher oder österreichischer Pass nach wie vor verleiht... nur dieser - und die Tatsache, dass er zusätzlich keinen ukrainischen Pass mehr besitzt - macht es dem Ich-Erzähler möglich, während des Krieges als junger Mann nicht nur in die Ukraine einreisen, sondern auch wieder ausreisen zu können, ohne zwangsrekrutiert zu werden.

Ja, dieses Buch macht sehr nachdenklich. Über das Glück des Zufalls und der Geburtslotterie, das es immer noch bedeutet, in Mitteleuropa zu leben, wo es (bis jetzt) keinen Krieg gibt. Über die Schrecken des Krieges, über Propagandageschichten und die, die auf diese hereinfallen (davon gibt es ja leider auch in Mitteleuropa genug Menschen, und nicht nur russischstämmige). Über die Verbindungen zwischen einzelnen Menschen, die wir uns nicht nehmen lassen müssen. Und über den Mut, für das einzustehen, was wir als wahr erkannt haben.

Ein großartiges Buch, ein wichtiges Buch, gleichzeitig humorvoll und spannend geschrieben: Leseempfehlung für alle, die am aktuellen Zeitgeschehen in Europa interessiert sind!

Bewertung vom 03.03.2025
Der Pinguin, der fliegen lernte
Hirschhausen, Eckart von

Der Pinguin, der fliegen lernte


gut

Selten war ich bei einem Ratgeber so zwiegespalten in der Beurteilung wie bei diesem. Wunderschön ist die Aufmachung, schon das Titelbild des aus dem Wasser springenden Pinguins ist total inspirierend und macht Freude beim Ansehen. So geht es auch im Buch weiter, es gibt viele traumhaft schöne Bilder von Pinguinen, diese stammen von dem deutschen Naturfotografen Stefan Christmann. Diese Bücher anzusehen macht viel Freude! Interessant sind auch die eingestreuten Informationen über die Lebensweise der Pinguine, über ihr Paarungsverhalten, die gemeinsame Fürsorge beider Elternteile für die Jungen, aber auch über die Bedrohung ihres Lebensraumes durch den fortschreitenden Klimawandel. Was das angeht, habe ich also aus diesem Buch so einiges gelernt und diese Ebene würde 5 Sterne verdienen.

Die andere Ebene allerdings, der persönliche Ratgeber, ist für mich eine glatte Enttäuschung. Ich habe schon andere Bücher von Eckart von Hirschhausen gelesen, etwa sein Buch über Glück oder "Die Leber wächst mit ihren Aufgaben". Immer habe ich darin die fundierten Informationen, die praxisnah und humorvoll an ein breites Publikum vermittelt wurden, sehr geschätzt.

Aber hier, in diesem Pinguinbuch, was gibt es auf dieser Ebene Neues? Leider kaum etwas. Die altbekannte Pinguingeschichte, die der Autor schon an vielen anderen Stellen erwähnt hat und die für sich gesehen durchaus inspirierend ist, wird am Anfang kurz erwähnt. Klar, es ist wichtig, dass wir die richtige Umgebung für uns finden... soooo eine neue Botschaft ist das aber auch nicht mehr und es gibt schon genug andere und deutlich fundiertere und ausführlichere Bücher zu diesem Thema.

Ansonsten bewegt sich der Ratgeber aber auf einem absoluten Anfängerniveau für Menschen, die sich absolut noch nie mit Persönlichkeitsentwicklung beschäftigt haben. Alle anderen werden dort kaum etwas Neues finden. Die Lesenden werden aufgerufen, eine Standortanalyse zu machen, also sich zu fragen, wo sie sich gerade befinden in ihrem Leben. Fundiertere Übungen oder Anleitungen dazu gibt es aber nicht. Dann geht es um Themen wie "Was macht dir Freude?" oder "Wer ist dir wichtig?", aber auch diese eigentlich sehr essenziellen Fragen werden nur ganz kurz auf oberflächliche Art und Weise abgehandelt. Immer wieder wird zu banalsten Erkenntnissen abgeschweift, z.B. dazu, dass man beim Beobachten zweier sich datender Menschen im Café schnell an der Körpersprache erkennt, ob die beiden eine gemeinsame Basis haben. Verweise auf Studien oder Quellen sucht man übrigens im ganzen Buch vergebens.

Weiter geht es mit dem Kapitel "Wann haben andere Freude mit dir?", hier wird so gut wie gar nicht auf die gestellte Frage eingegangen und es werden gleich irgendwelche Anekdoten über Pinguine erzählt. Ganz nette Informationen, aber auf den Transfer in die Welt der Menschen wurde vergessen. Danach fordert das Buch natürlich - wie tausende andere Selbsthilferatgeber auch - zum "Sprung ins kalte Wasser" auf. Natürlich, und nichts Neues, und auch hier kaum weitere Informationen oder gar eine kritische Reflexion dieses Themas - als ob die Welt so eindimensional wäre und Mut das einzige, was allen fehlen würde (braucht nicht gerade in diesen Zeiten voll impulsiver Trumps, Musks und Co die Welt mehr Menschen mit Bedacht, die etwas länger nachdenken und nachspüren, bevor sie springen, und ob sie überhaupt springen möchten?).

Am Ende gibt es noch kurze "Pinguingeschichten" von Menschen, die unzufrieden mit ihrem Leben waren, etwas geändert haben und jetzt zufriedener sind. Auch die Geschichten nach diesem Strickmuster finden sich in der Selbsthilfeliteratur zuhauf.

Für den Persönlichkeitsentwicklungsteil gebe ich also nur einen Stern, hier habe ich absolut nichts Neues gefunden und hätte mir gewünscht, der Autor hätte sich etwas mehr Mühe gegeben, die doch interessanten Erkenntnisse zu den Pinguinen mit neuen, wissenschaftlich fundierten und auf nachweisbaren Quellen basierenden, Ergebnissen zu Persönlichkeitsentwicklung zu verbinden, doch leider Fehlanzeige. Mir kommt es vor, hier war es für jemanden mal wieder an der Zeit, ein Buch rauszubringen, doch es fehlte an Zeit, Energie und Liebe, sich diesem wirklich ausführlich zu widmen, schade.

Empfehlen kann ich das Buch also nicht wirklich, die wunderschönen Pinguinbilder alleine rechtfertigen für mich den Preis nicht, denn wer nur an diesen interessiert ist, ist besser beraten, sich gleich ein Buch mit ausschließlich Naturfotografien zu kaufen.

5 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.03.2025
Mickey und Arlo
Dick, Morgan

Mickey und Arlo


gut

Eine gute Idee, aus der man mehr hätte machen können:

Michelle, genannt "Mickey", und Charlotte, genannt "Arlo" sind Halbschwestern, die sich nicht kennen. Mickey ist die ältere, sie hat mit ihrer Mutter und ihrem Vater einige schöne und viele schlimme Momente erlebt - denn der Vater ist Alkoholiker und unter Alkoholeinfluss zeigt er ein anderes Gesicht und wird zum "Angry Dad", der Frau und Tochter demütigt und beschimpft. Als Mickey etwa sieben Jahre alt war, hat der Vater die beiden von heute auf morgen für immer verlassen und ihnen dabei einen Riesenberg Schulden hinterlassen. Mickey und ihre Mutter haben alles verloren, nie wieder vom Vater gehört und ihnen wurde fast alles aus der Wohnung gepfändet und weggenommen, selbst Mickeys Kinderbett. Das hat Mickey bis heute traumatisiert. Sie versucht zwar, ihr Leben einigermaßen zusammenzuhalten, hat einen Job als Vorschullehrerin, den sie liebt (Kinder mag sie, während sie Erwachsenen nicht über den Weg traut und sie für böse und nicht vertrauenswürdig hält), aber keinen Partner, keine Kinder, kaum Freunde und ein Problem mit Alkohol, das sie sich nicht eingestehen will. Jeden Tag zählt sie die Stunden, bis es 17 Uhr ist, ihre Verpflichtung als Lehrerin beendet ist und sie aus dem mitgebrachten Flachmann auf der Toilette Wodka trinken kann.

Der verschwundene Vater hat eine neue Frau gefunden und mit ihr wieder eine Familie gegründet. Zwar hatte er sein Alkoholproblem sein Leben lang, doch insgesamt hat er nun sein Leben deutlich mehr auf die Reihe gebracht, ist zu viel Wohlstand gekommen und hatte zu seiner zweiten Tochter Arlo, die er über alles geliebt hat, eine wesentlich liebevollere Beziehung. Diese ist somit weitaus behüteter aufgewachsen als ihre ältere Halbschwester Mickey. Insbesondere Geld war kein Thema: Arlo konnte an einer renommierten Uni Psychologie studieren und arbeitet nun als Psychologin. Ihre Mutter kleidet sich in Designerware und führt auch sonst einen gehobenen Lebensstil.

Nun ist der Vater verstorben, Arlo hat ihn in seinem letzten Lebensjahr aufopfernd gepflegt und ist zutiefst bestürzt über den Verlust. Noch größer wird ihr Schock, als sie erfahren muss, dass der Vater ihr nichts vererbt hat: er hat all sein Geld seiner ersten Tochter, ihrer unbekannten Halbschwester Michelle, vererbt.

Auch Mickey hätte nie mit so einer Entwicklung gerechnet und weiß gar nicht so recht, was sie damit anfangen soll, dass der Vater, der nie wieder etwas von ihr wissen wollte, sie in seinem Testament bedacht haben soll. Noch dazu ist die Auszahlung des Geldes an eine Bedingung geknüpft: Mickey muss sieben Therapiestunden in Anspruch nehmen, und zwar bei einem vom Vater ausgewählten und vorab bezahlten Therapieinstitut. Da sie das Geld dringend brauchen kann und aufgrund einer Verfehlung gerade auf unbestimmte Zeit von ihrer Tätigkeit als Vorschullehrerin beurlaubt ist, lässt Mickey sich darauf ein... und landet ausgerechnet bei Arlo, ihrer unbekannten Halbschwester, als Therapeutin.

Anfangs wissen beide Frauen nicht, wen sie da jeweils vor sich haben. Dann findet Arlo es heraus, verschweigt es aber ihrer Halbschwester/Klientin und behandelt diese weiter. Auch in der Hoffnung, sie zu überzeugen, das Erbe nicht in Anspruch zu nehmen... so eine verkrachte Existenz wie Mickey würde das Geld eh nur sinnlos durchbringen, ist Arlo überzeugt.

Doch auch Arlos Leben ist bei weitem nicht perfekt, innerlich verfolgt sie nach wie vor der Fall einer Klientin, die unmittelbar nach der Therapiestunde bei ihr Suizid begangen hat. Zwar wurde sie vor Gericht freigesprochen, doch selbst kann sie es sich nicht verzeihen. Und auch ihre Kindheit und Jugend war weit weniger perfekt, als es auf den ersten Blick scheint.

Von der Themenkonstruktion her handelt es sich also um ein sehr spannendes Buch, das abwechselnd aus den Perspektiven der beiden Halbschwestern geschildert ist. Dennoch hätte ich mir aufgrund der Beschreibung und der Leseprobe mehr erwartet.

Es tat beim Lesen fast weh, immer und immer wieder mitzukriegen, auf wie vielen Ebenen Mickey völlig kaputt ist und vor kaum etwas zurückschreckt in ihrer Sucht und ihrem problembehafteten Leben, in dem sie sich immer weiter in Schwierigkeiten verstrickt. Dennoch war Mickey für mich noch der glaubwürdigere und facettenreichere Charakter. Arlo wirkte auf mich seltsam blass, perfektionistisch und nicht wirklich erreichbar und ich habe mich bis zum Ende des Buches kaum in sie einfühlen können.

Grundsätzlich also ein ganz nettes Buch zu einer interessanten Idee, das man lesen kann, aber nicht unbedingt muss.

Bewertung vom 28.02.2025
Die Fletchers von Long Island
Brodesser-Akner, Taffy

Die Fletchers von Long Island


sehr gut

Stellenweise langatmige Geschichte einer sehr reichen Familie:

Die Fletchers, eine jüdische Familie auf Long Island, haben richtig viel Geld. Selbst in der reichen Gegend auf Long Island, auf der sie wohnen, stechen sie noch durch ihren besonderen Reichtum unter den anderen Familien hervor.

Dabei ist Gründungsvater Zelig Fletcher mit nichts als einer Formel zur Herstellung von Styropor in den 1940er Jahren mit dem Schiff nach Amerika geflüchtet, hat es hier aber mit Intelligenz, Taktik und Glück zu einem wahren Vermögen gebracht. Sein Sohn Carl wächst also schon reich auf, dessen Frau Ruth heiratet in die reiche Familie ein, und die beiden bekommen drei Kinder: Nathan, Bernard ("Beamer") genannt und Jenny. Während der Schwangerschaft mit Jenny wird Carl entführt und fünf Tage gefangen gehalten, bis es durch die Zahlung von Lösegeld gelingt, ihn scheinbar ohne dauerhafte Schäden freizubekommen. Aber nur scheinbar... sowohl Carls Psyche als auch die seiner Frau und der Kinder werden durch diese Erfahrung lebenslang beeinträchtigt sein, wie man im weiteren Verlauf des Buches mitbekommt.

Das Buch beginnt mit der Schilderung der Entführung und der Versuche der Familie, Carl zu finden und schließlich freizubekommen. Schon da lernen wir das sehr reiche Umfeld der Familie, inklusive einer Selbstverständlichkeit zu Schönheitsoperationen, kennen.

Danach widmet sich je ein knappes Drittel des sehr umfangreichen Buches je einem der drei Kinder von Carl und Ruth: zuerst geht es um Beamer, dann um Nathan und schließlich um Ruth. Beamer ist ein erfolgloser Drehbuchautor, der in jedem Drehbuch die Entführung seines Vaters reinszenieren möchte, indem es immer nur um Entführungen geht. Verheiratet ist er mit Noelle, einer Nicht-Jüdin, was seiner Mutter ein Dorn im Auge ist, und die beiden haben miteinander zwei Kinder, die ausgerechnet Liesl und Wolfi heißen. Treu ist er aber nicht, er hat diverse Affären und geht außerdem wöchentlich zu einer Domina und nimmt Drogen.

Nathan ist Anwalt, aber ebenfalls als solcher nicht sonderlich erfolgreich und zum Partner wird er es wohl nie schaffen. Er ist ebenfalls verheiratet und hat nach Intervention der Kinderwunschklinik mit seiner Frau nach langem Probieren doch noch zwei Kinder bekommen. Geprägt ist sein Leben von starken Ängsten und dem Wunsch, absolut alles unter Kontrolle zu haben und abzusichern, so schließt er etwa eine Unzahl an Versicherungen ab.

Und dann gibt es noch Jennifer, die jüngste und in der Schule als hochbegabt und Wunderkind gehyped, die aber im Studium daran scheitert, sich festzulegen und für ein Fach zu entscheiden, sehr einsam ist und schließlich bei der Gewerkschaft arbeitet, um ihre inneren Schuldgefühle aufgrund ihrer privilegierten Herkunft zu bekämpfen.

Drei verkorkste, im Leben wenig erfolgreiche, reiche Kinder also, die mit viel innerem Ballast zu kämpfen haben und die wir in diesem Buch ausführlich kennen lernen. Und was passiert eigentlich mit diesen erwachsenen Kindern und ihrem Leben, wenn überraschend der finanzielle Wohlstand nicht mehr durch die Mittel der Familie gesichert ist?

Das Buch bietet einigen Stoff zum Nachdenken über soziale Ungleichheit, Klasse und darüber, was es psychologisch mit Kindern macht, sehr privilegiert aufzuwachsen. Die Entführung Carls habe ich eher nur als Aufhänger wahrgenommen - viel von der psychologischen Dynamik der Familie hätte sich problemlos auch ohne diese erzählen und erklären lassen können, alleine durch das so privilegierte Aufwachsen der Kinder und die anderen Familienthemen, die sich über Generationen ziehen, z.B. das Aufwachsen in Armut und sich selbst etwas schaffen bzw. das Einheiraten in eine reiche Familie mit deutlich ärmerem eigenem familiärem Hintergrund.

Denn das ist das übergreifende Thema des Familienromans: was macht es mit Menschen, so privilegiert aufzuwachsen? Wie wirkt es sich auf ihre Persönlichkeit, ihre Weltsicht, ihre Sozialbeziehungen aus? Und woran liegt es, dass so viele Kinder und Enkel aus sehr reichen Familien sich schwer tun, beruflich ihren Platz im Leben zu finden und sich für etwas zu entscheiden?

Mit diesen Hintergrundthemen ist es ein spannendes Buch. Allerdings hat es fast 600 Seiten, von denen man nach meiner Beurteilung locker ein Drittel kürzen hätte können, z.B. hätte ich die endlosen Schilderungen von Beamers Besuchen bei der Domina und seinem Drogen- und Medikamentenmissbrauch nicht in dieser Ausführlichkeit lesen müssen, genauso wie einiges andere - Verknappung und Reduktion auf das Wesentliche hätte diesem Buch also gut getan und dazu beigetragen, die Kernbotschaften prägnanter rüberzubringen und das Leseerlebnis interessanter zu gestalten.

Bewertung vom 25.02.2025
Ginsterburg
Frank, Arno

Ginsterburg


ausgezeichnet

Die "ganz normalen Menschen" & der Nationalsozialismus:

Noch ein Buch über die NS-Zeit? Ist über diese Zeit nicht längst schon alles gesagt und erzählt worden in den letzten 80 Jahren? Kann noch etwas Neues dazu gezeigt werden?

Ich gebe zu, ich habe gezögert, mich für dieses Buch zu entscheiden, denn ich war des Themas schon etwas müde, hatte schon dutzende, wenn nicht hunderte, Bücher dazu gelesen in meinem Leben... doch einige Empfehlungen haben den Ausschlag gegeben, es lesen zu wollen. Ich bin so froh darüber, es getan zu haben!

Ja, dieses Buch schafft es - nach all den bestehenden eindringlichen Werken zum Thema - etwas grundlegend Neues zu schaffen und damit die Menschen noch einmal anders als bisher zum Denken anzuregen. Es geht um eine schreckliche Zeit, doch die allseits bekannten Schrecken werden nur subtil angedeutet: ein Kalendereintrag hier, eine kleine Bemerkung da... und doch wissen wir alle, worum es geht, und das macht es noch beklemmender zu lesen.

Die fiktive deutsche Kleinstadt "Ginsterburg" wird im Roman zu drei Zeitpunkten beschrieben: ausführlich im Jahr 1935 und 1940 sowie knapp am Ende im Jahr 1945. Wir erleben die Stadt und das Zeitgeschehen durch die Augen ihrer Bewohner. Im Jahr 1935 gibt es einen Wanderzirkus mit altem Tiger, Motorradkünstler und Wahrsagerin... diese tauchen später nicht mehr auf, so etwas wird aus dem Zeitbild verschwunden sein. Es gibt die Buchhändlerin Merle, eine überzeugte Sozialistin, die wird es weiterhin geben... mit angepasstem Buchsortiment... und kritische Worte wird man von ihr nur mehr sehr spärlich vernehmen, und schon gar nicht öffentlich... es überwiegt die Sorge um sich und ihren Sohn Lothar.

Ja, Lothar, den habe ich ins Herz geschlossen am Anfang des Buches. Ein sensibler, ruhiger, stiller, intelligenter Junge. Einer, der lieber für sich alleine ist und die Natur erforscht, der keinem Verein und keiner Gruppe beitreten will, von anderen gemobbt wird und vom Fliegen träumt. Das Fliegen, das wird dann auch sein Schicksal und gibt seinen Weg vor, denn Flieger werden kann er nur im vorherrschenden System und das ist nationalsozialistische... also findet auch er zur HJ und wird später Kampfflieger, einer der besten, geehrt und bewundert. Der Redakteur Eugen, so stolz auf seinen Intellekt, seine Bildung und seine kritischen Glossen... auch er wird sich dem System anpassen und hoffen, dass seine scharfen Worte von früher unentdeckt bleiben und ihm nicht zum Nachteil geraten. Weitere Menschen, auch solche in scheinbaren Machtpositionen, die sich aber auch erpressbar machen, etwa durch abweichende sexuelle Neigungen, von denen keiner wissen darf und für die sie verfolgt werden könnten...

Alle diese und viele weitere, sind "ganz normale Menschen", wie es sie auch heute in jeder Kleinstadt zu finden gibt. Menschen mit Wünschen, Hoffnungen und Träumen, die individuell das Beste aus ihrem Leben machen möchten unter den vorherrschenden Bedingungen. Auch einige Menschen mit starken politischen Überzeugungen - aber kaum welche, die bereit sind, dafür in der Diktatur Leib und Leben zu opfern... da passen sie sich doch lieber an... würden wir unter diesen Bedingungen wirklich anders handeln und uns und unsere Familien gefährden? Viele kritische und auch unbequeme Fragen wirft das Buch auf.

Natürlich gibt es auch richtig unsympathische Menschen in dem Buch, solche, die voll von der vorherrschenden Ideologie überzeugt sind, und ihr alles opfern, selbst das eigene Kind. Blockwarte, Denunzianten und Sadisten hat es natürlich auch immer gegeben... doch auf diesen ist nicht das Hauptaugenmerk des Buches, sondern auf den "normalen", Menschen wie wir alle.

Das Jahr 1940... die Euphorie über den erfolgreichen Blitzkrieg und der Glaube, dass der Krieg nun vorbei und alles gewonnen sei... und die Desillusionierung 1945. Und all die Gräuel des Nationalsozialismus und die menschenverachtende Ideologie dahinter, mit der insbesondere die Kinder und Jugendlichen zutiefst indoktriniert wurden.

Wer hätte etwas dagegen machen können? Wann hätte man noch etwas machen können? Wann war es zu spät? Und was hätte es gebraucht, damit sich nicht alle (oder fast alle) so dermaßen angepasst und mitgemacht hätten?

Es ist ein wertvolles, ein besonderes Buch, das zum Nachdenken anregt. Der Autor hat extrem sorgfältig recherchiert, sein Wissen über die damalige Zeit zeigt sich in vielen Details. Auch sprachlich zeichnet sich das Buch aus. Ganz besonders mochte ich die vielfältigen Perspektiven, die subtilen Andeutungen, die Einladungen, selbst zu hinterfragen und nachzudenken und wie es dem Autor gelingt, die Atmosphäre zunehmender Bedrohlichkeit und Vereinnahmung durch das System durch stilistische Mittel zu zeigen.

Bewertung vom 19.02.2025
Der große Riss
Henríquez, Cristina

Der große Riss


ausgezeichnet

Gut recherchierter und vielperspektivischer historischer Roman:

Es ist die Zeit um 1900 und nach einem missglückten Versuch der Franzosen, einen Kanal zu bauen, der Atlantik und Pazifik verbindet, haben sich nun die US-Amerikaner entschlossen, dies zu tun. Gleich am Anfang des Buches finden wir eine Anzeige, in der um 4000 tüchtige Arbeitskräfte für den Bau des Panama-Kanals geworben wird, und auch sonst spricht sich schnell nicht nur in Panama, sondern auch in vielen anderen Regionen in der Nähe herum, dass man hier leicht Arbeit finden und Geld verdienen könne. Das lockt verschiedenste Menschen an, sich am Bau zu beteiligen, doch die Arbeit ist anstrengend, kräftezehrend und gefährlich, gilt es doch, förmlich einen Riss durch das Gebirge zu bauen, um die beiden Ozeane miteinander zu verbinden.

Besonders gut hat mir an diesem Buch gefallen, dass wir es aus so vielen Perspektiven erleben. Es gibt einige Hauptfiguren, die immer wieder vorkommen, doch zwischendurch gibt es immer wieder kleinere Abschnitte, in denen wir das Geschehen auch aus dem Kopf einiger Nebenfiguren betrachten können. Das schafft insgesamt ein vielseitiges Bild der damaligen Zeit und Gesellschaft. Dabei gelingt es der Autorin, die Perspektiven geschickt so aufeinander aufzubauen und miteinander zu verweben, dass das Lesen angenehm und vergnüglich ist und man sich immer gut auskennt, worum es gerade geht.

Wir lernen zum Beispiel die jugendliche Ada kennen, die mit ihrer Mutter und ihrer Schwester auf der Insel Barbados lebt und sich kurzentschlossen als blinde Passagierin auf einem Schiff auf den Weg nach Panama macht, um hier Geld zu verdienen. Denn ihre Schwester ist schwer krank und kann nur durch eine ärztliche Behandlung geheilt werden, die die Familie sich jedoch nicht leisten kann.

Dann gibt es den Malariaforscher John und seine Frau Marian aus den Vereinigten Staaten. John hat ein ehrgeiziges Ziel: er möchte die Malaria nicht nur erforschen, sondern auf Panama auch ausrotten, ähnlich wie es gelungen ist, das Gelbfieber zurückzudrängen. Aus Vorsicht rät er seiner Frau, das Haus während der Regenzeit nicht zu verlassen, doch diese hält die monatelange Einsamkeit nicht aus und schlägt seinen Rat in den Wind. Als sie daraufhin erkrankt, sucht John nach einer Pflegerin für sie und findet Ada, die sich gerade tapfer dafür einsetzt, dass ein auf der Straße liegender Kranker ins Spital kommt und ärztlich versorgt wird. Beeindruckt von ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit stellt er sie ein.

Der gerettete Kranke wiederum ist Omar, der Sohn eines Fischers, der selbst keine Zukunft als Fischer für sich sieht und das Meer scheut, nachdem seine Mutter dort verschwunden ist, als er klein war. Er sucht Arbeit im Panamakanal, was zu einem heftigen Konflikt mit seinem Vater Francisco und monatelangem Schweigen zwischen den beiden führt. Denn Francisco ist gegen den Bau des Kanals und fühlt sich und sein Leben auch von seinem Sohn durch dessen berufliche Entscheidungen abgewertet.

Und dann gibt es noch weitere Menschen, die zum Beispiel davon betroffen sind, dass ihre Stadt umgesiedelt oder geflutet werden soll, um den Bau des Kanals zu ermöglichen und die versuchen, sich dagegen zu wehren.

Nebenbei erfährt man in dem gut recherchierten Buch auch historisch so einiges, was ich vorher noch nicht wusste, z.B. dass Panama bis kurz vor dem Bau des Kanals Teil von Kolumbien war. Interessant zu lesen und gleichzeitig traurig ist auch, wie sehr die damalige Gesellschaft noch nach Klassen und Hautfarben geteilt war, so gibt es z.B. in der Apotheke eine gut bestückte Abteilung für "Gold" (für die Menschen mit heller Hautfarbe) und eine weniger gut bestückte Abteilung für "Silber" (für alle, die dunklere Haut haben). Und auch sonst erleben wir an vieler Stelle die Diskriminierung speziell benachteiligter Menschen und Gruppen, aber auch ihren Mut, zusammenzustehen, sich gegenseitig zu unterstützen und für ihre Rechte zu kämpfen, auch gegen eine gewaltige Übermacht.

Ich kann das Buch allen, die ein tiefgründiges, nachdenklich machendes und gleichzeitig unterhaltsames Buch über das wenig bekannte Thema der Zeit des Baus des Panamakanals lesen möchten, ausdrücklich empfehlen.

Bewertung vom 16.02.2025
Die Tochter der Drachenkrone
Qunaj, Sabrina

Die Tochter der Drachenkrone


ausgezeichnet

Konnte mich nicht so wirklich überzeugen:

Dieses Buch wurde mir von mehreren Bekannten empfohlen, entsprechend hoch waren meine Erwartungen daran. Diese haben sich aber nicht wirklich erfüllt: ich hatte beim Lesen nicht wirklich das Gefühl, glaubhaft in einem Setting im 12. Jahrhundert zu sein, dazu fühlten sich die Figuren für mich nicht authentisch genug gezeichnet an. Sehr grausam gefunden habe ich, dass Gwennlians gleichaltriger Halbbruder als Kind als Geisel genommen und ihm offenbar als Racheakt das Augenlicht genommen wurde. So etwas ist schon schlimm genug, wenn es in der Realität passiert, aber noch weniger mag ich so etwas in historischen Romanen, die manchmal wegen der Spannung unnötig grausam konstruiert sind. Dennoch ist für mich beim Lesen lange nicht wirklich Spannung aufgekommen, es gibt viel Vorgeplänkel, das sich hinzieht. Insgesamt kein Buch, das mich wirklich begeistert hat, wobei ich sagen muss, dass meine Ansprüche an Bücher, auch an historische Romane, hohe sind.