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Benutzername: 
Gela
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Niedersachsen
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Ob Krimi, Belletristik, Biografie oder Dokumentation. Ich mag Bücher und reise gerne mit ihnen in andere Welten.
Buchflüsterer: 

Bewertungen

Insgesamt 141 Bewertungen
Bewertung vom 22.11.2022
Vilma zählt die Liebe rückwärts
Skretting, Gudrun

Vilma zählt die Liebe rückwärts


ausgezeichnet

Vilma Veierød wirkt wie aus der Zeit gefallen. Obwohl sie erst 35 Jahre alt ist, wirkt sie eigenartig mit ihrem Tick, möglichst lebenszeitverkürzende Dinge zu meiden. Ihren Vater Vilhelm Mozart Sandvik hat sie nie kennenlernt und ist um so überraschter, plötzlich mit seinem Tod und ihrer eigenen Geschichte konfrontiert zu werden. 


Gudrun Skretting hat mit diesem Liebesroman ihr erstes Werk für Erwachsene geschrieben. Vielleicht wirkt die Handlung deshalb so leicht, komisch und märchenhaft, weil der Autorin das Kindsein so nah liegt. Kinderbuch-Autoren müssen wesentlich anspruchsvollere Lesende zufriedenstellen. 
 
Die Heldin der Geschichte Vilma ist mir sofort ans Herz gewachsen. Die stille Musiklehrerin hat einen besonders ungewöhnlichen Charme. Ihre schüchterne, unbeholfene, teils skurrile Art, Dinge in Angriff zu nehmen, lassen beim Hören oft ein Schmunzeln entstehen. Sicherlich tragen auch die beiden Sprecher Felicity Grist und Wolfgang Gerber ihren Teil dazu bei. Ihre wundervollen Stimmen und ihr gemeinsames Agieren sind das Sahnehäubchen des Hörbuchs. 

Der Einblick in Vilmas Alltag ist anfänglich eher traurig als unterhaltsam. Vilma lebt allein im Haus ihrer verstorbenen Großtante Ruth in Oslo. Ihre Mutter verstarb schon früh und Vilma wuchs, ohne ihren Vater zu kennen, bei der Großtante auf. Schon fast panisch wertet sie all ihre Aktivitäten in Micromorts um. Diese Maßeinheit war mir bisher gar nicht bekannt. Wikipedia weiß Rat:

 "Ein Mikromort ist eine Maßeinheit für das Risiko und bezeichnet eine Wahrscheinlichkeit von 0,000001 (eins zu einer Million) zu sterben. Die Risikobehaftetheit von Tätigkeiten oder Umständen kann in Mikromort angegeben werden."

Obwohl sie die Musik so liebt, macht ihre Tätigkeit als Musiklehrerin sie nicht wirklich glücklich. Als eines Tages ein Bündel Briefe von ihrem verstorbenen Vater zu ihr findet und der Klavierschüler Andre ausnahmsweise an ihrem Klavier übt, ändert sich für Vilma schlagartig das Leben. 

Plötzlich ist das Leben nicht mehr grau, sondern bunt und lebendig. Jeder Tag hält eine neue Überraschung für Vilma bereit. Die Briefe ihres verstorbenen Vaters liest sie wie einen Adventskalender. Jeden Tag ein neuer Brief - der wundervoll vom Sprecher intoniert wird - und eine weitere Erkenntnis. Nach und nach erfährt Vilma mehr über ihre Vergangenheit, wie sich ihre Eltern kennengelernt haben und warum es kein Familienleben geben konnte.

Und langsam ganz langsam schleicht sich die Liebe ins Vilmas Leben. Es dauert eine Weile, bis sie ihre Gefühle richtig deuten kann, dann gibt es aber kein Halten mehr für die junge Frau. Sie genießt das Leben und entdeckt die Kraft der Musik und die Intensität der Liebe. 

Herrlich schräge, aber sympathische Charaktere untermalen die Geschichte. Robert der Pathologe, leidet unter Koprolalie und in den erdenklich unpassendsten Situationen rutscht ihm ein heftiges Schimpfwort heraus. Dank Vilma, die diese mit ideenreichen Wortfindungen lautstark übertönt, wird der ehemals ruhige Alltag Vilmas ordentlich durcheinandergewirbelt.

Pfarrer Ivar Kerkebü berührt Vilma tief im Herzen. Doch was findet sie an diesem Mann mit den warmen Händen. Lange rätselt man zusammen mit der Protagonistin, was denn ihr Herz nun wirklich will. 

Mir hat dieses gefühlvolle Hörbuch mit wunderschönen, traurigen, schrägen, witzigen und nachdenklichen Momenten sehr gefallen.

Bewertung vom 11.11.2022
Die neue Wildnis
Cook, Diane

Die neue Wildnis


sehr gut

Wohin, wenn die Stadt das eigene Kind krank macht. In der nahen Zukunft scheint Amerika nicht mehr lebenswert zu sein. Eine Forschungsstudie scheint für zwanzig ausgewählte Personen die Rettung zu sein. Geschützt und von allem abgeschirmt, soll die Gruppe allein auf sich gestellt in der Wildnis eines Nationalparks leben.

Diane Cook zeichnet ein düsteres Zukunftsbild, das sehr glaubhaft und durch und durch spürbar beschrieben wird. Smog, Überbevölkerung und ungesunde Lebensmittel bedrohen die Menschheit. Es scheint keinen Ausweg mehr zu geben, die letzten Ressourcen wurden ausgeschöpft und die wenigen Quadratmeter Natur einzig in einem Nationalpark gerettet.

Kinder sind in dieser Welt nicht mehr willkommen und wenn sie geboren werden, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie überleben, gering. Die fünfjährige Agnes kämpft täglich ums Überleben, bis ihre Eltern sich dazu entschließen, an einer einzigarten Studie teilzunehmen. Sie verlassen die Stadt und leben zukünftig ohne technische Unterstützung in der Wildnis. Zusammen mit einer kleinen Gruppe Freiwilliger müssen sie lernen, in der Natur als Nomaden zu überleben. Außer einem Handbuch mit Regeln und der Überwachung durch Ranger sind sie auf sich gestellt.

Beim Lesen ist mir die ein oder andere Gänsehaut über den Körper gelaufen. Könnte ich das? Alles aufgeben und Tiere töten, ohne Wärme im Winter überleben, Krankheiten ohne Medikamente überstehen. Wer sich nicht anpasst oder einen Fehler begeht, hat keine Chance zu überleben. Der Schreibstil der Autorin ist fesselnd trotz oder vor allem wegen der Neutralität der Worte.
Zeit zum Trauern dürfen sich die Protagonisten nicht nehmen. Persönliche Belange stehen hinten an, denn als Erstes muss das Überleben der Gruppe gesichert werden.

Besonders interessant ist es, Agnes aufwachsen zu sehen. Vom kranken Stadtkind zur starken Wildnis-Frau, die ihre eigenen Werte im Leben setzt. Die Erinnerung an die Zivilisation verblasst immer mehr, dafür kann sie wie kein anderes Gruppenmitglied das Verhalten der Tiere deuten. Sie beobachtet die Natur, sieht wann Gefahr droht und kann Wege erkennen, die sonst niemand sieht. Diese Sicht wünsche ich mir, damit uns dieses Zukunftsszenario nicht ereilt.

Der erste Teil des Romans kann durch die detaillierten Naturbeschreibungen und den Kampf der Menschen brillieren. Im zweiten Teil ist besonders die Protagonistin Bea schwierig einzuordnen. Ihr Verhalten konnte ich nicht nachvollziehen und teilweise wurde für mich auch einiges nicht sauber aufgelöst. Die Befürchtung, dass über die Jahre die Außenwelt immer mehr unter der Umweltverschmutzung zu leiden hat, bewahrheitet sich. Die daraus resultierenden Folgen für den Nationalpark scheinen unabwendbar.
So langsam und erlebbar der erste Handlungsstrang beschrieben wurde, so schnell wird das Ende in kurzen Szenen offen gelassen. Fassungslos ob der Uneinsichtigkeit der Regierung wird eine Entscheidung getroffen, die nicht nur die Naturstudie ad adsurdum führen.

Mich hat dieser Roman sehr nachdenklich zurückgelassen. Die ferne Zukunft steht schon direkt vor der Tür und ich möchte mich nicht entscheiden müssen, ob die einzige Rettung in einem zum Scheitern verurteilten Naturversuch liegt.

Bewertung vom 11.11.2022
Ein unendlich kurzer Sommer
Pfister, Kristina

Ein unendlich kurzer Sommer


sehr gut

Einem spontanen Impuls folgend packt Lale ihre Sachen und fährt ins Nichts. Sie will einfach nur weg und landet auf einem Campingplatz im Nirgendwo. Beim Rentner Gustav, dem Besitzer des Platzes, fühlt Lale sich wohl, kann endlich loslassen und den Sommer genießen. Doch dann erscheint Christophe und bringt mit seinem französischen Charme ihr Gleichgewicht heftig ins Wanken. Selbst Gustav bleibt von der Veränderung nicht verschont und muss sich seiner Vergangenheit, die er so gut verborgen hält, stellen.

Kristina Pfister hat einen sehr leichten, beschwingten Schreibstil, der gut zu diesem Sommerroman passt. Ihre Protagonisten zeigen erst auf den zweiten Blick ihr wahres Ich und wirken bis auf kleine Details sehr authentisch. Lales anfängliche Toughheit bröckelt zusehends und ihre Trauer, die sie anfänglich verbirgt, rührt selbst den grantigen Gustav. Doch auch seine harte Schale verbirgt einen sympathischen alten Mann, der, nachdem er mit der Vergangenheit konfrontiert wird, aufzublühen scheint.

Innerhalb von wenigen Sommertagen verwandelt sich das Leben so einiger Personen. Dabei ist der in die Jahre gekommene Campingplatz ein ungewöhnlicher und sehr glaubhaft beschriebener Ort. Blätternde Farbe, zugewucherte Wege und müffelnde Toiletten lassen eigentlich keinen Spielraum für Romantik und doch gibt es in diesem Ambiente kleine wunderschöne Momente.

Selbst Nebendarsteller wachsen einem ans Herz. Der junge siebzehnjährige Flo, der sich von seinen Ängsten befreien kann und auch der Althippie James, der für jeden einen weisen Spruch hat, sind gut herausgearbeitet worden.

Allein die Geschichte um eine vermeintliche archäologische Entdeckung und der Hype um ein Loch vor dem Campingplatz hätten für mich nicht sein müssen und haben die Handlung überfrachtet. Eine stillere Variante ohne künstlich inszenierten Trubel hätte mir besser gefallen.

Die Wandlung der Protagonisten hat mir gefallen. Erst in der Gruppe haben sie gelernt, sich zu öffnen, Gefühle und Trauer zuzulassen und für Neues offen zu sein.

Ein schöner Roman, um sich in der Hängematte eine kurze Auszeit zu nehmen.
Von mir gibt es 3,5 von 5 Punkten

Bewertung vom 11.11.2022
Dämmerstunde
Sok-Yong, Hwang

Dämmerstunde


sehr gut

Seiner Vergangenheit hat der erfolgreiche koreanische Architekt Bak Minu schon lange den Rücken zugewandt, bis eine Nachricht einer Jugendliebe ihn schmerzhaft an sein Leben im Armenviertel Seouls erinnert.


Hwang Sok-yongs distanzierter und pragmatischer Schreibstil erfordert Aufmerksamkeit beim Lesen. Der ruhige und fast dokumentarische Stil lässt ein besonderes Bild entstehen. Die Protagonisten treten in den Hintergrund und lassen dem gesellschaftlichen Leben in Seoul viel Raum. Der Hauptprotagonist Bak Minu hat es als einer der wenigen Slumbewohner geschafft, sich seinem vorgezeichneten Weg zu entziehen. Rückblickend wird sein Werdegang aus seiner Sicht in einem Erzählstrang dargestellt.

Parallel dazu wechselt man in die Gegenwart zur jungen Uhi, die versucht, sich als junge Frau allein als Regisseurin in der Theaterwelt zu behaupten. Ihr Dasein hat wenig Lebenswertes und es schmerzt, die nüchterne Sprache über fehlende Mahlzeiten und katastrophale Lebensbedingungen zu lesen. Sehr interessant sind die geschichtlichen Parallelen zu wahren Geschehnissen in Korea, von denen ich bisher wenig wusste.

Obwohl Bak Minu seine ganze Kindheit und Jugend in einem Armenviertel verbracht hat, zögert er keinen Moment, als er als angestellter Architekt einer Baufirma für die Umgestaltung dieser Gegend engagiert wird.

"Meine berufliche Tätigkeit bestand eigentlich im Plattwalzen, Wegräumen und Entsorgen von anderer Leute Erinnerungen."

Erst als ihm ein flüchtig zugesteckter Zettel einer alten Liebe im Alter zugesteckt wird, erinnert er sich an seine Wurzeln. Diese eindringliche Erinnerung ist sehr bewegend beschrieben. Die "Neues Dorf Bewegung" in den 70er-Jahren hat in Korea viele Orte sprichwörtlich planiert und eingeebnet. Den Bewohnern wurde gerade einmal Zeit gegeben, das Nötigste aus den Häusern mitzunehmen, bevor die Bulldozer alles zerstörten. Es gibt keinen Ort, an den man zurückkehren kann, keine Gebäude, Bäume, die einem Erinnerung an Vergangenes schenken.

"Ich hatte keine Gedanken an jene verschwendet, die sich nicht sagen konnten, dass sie jetzt ein lebenswertes Leben führten, dass sie glücklicherweise nicht auf der Strecke geblieben sind."

Besonders die kleinen Ausflüge in den Alltag der Bewohner eines solchen Viertels gehen nah. Im Nichts wird versucht zu überleben: Fischreste werden zu besonderen Delikatessen verarbeitet, Schuhputzer-Gangs kämpfen um die besten Plätze und eine kleine Romanze zwischen zwei jungen Menschen erblüht und verwelkt fast gleichzeitig. Diese trostlose Hoffnungslosigkeit, die sich beim Lesen einstellt, ist schwer zu ertragen, vor allem wenn man im westlichen Überfluss leben darf.

Die gegensätzlichen Erzählstränge von Vergangenheit und Gegenwart wollten anfangs nicht zueinander passen und mussten konzentriert verfolgt werden. Die ungewohnten koreanischen Namen und Bezeichnungen taten ihr Übriges, um im Gelesenen keinen Zusammenhang zu finden. Am Ende wurde aber klar, warum die Handlungen so lange unverknüft parallel erzählt wurden.

Dieser Roman hat mir Korea und seine Vergangenheit sehr deutlich nahe gebracht und die Sicht auf menschliche Schicksale außerhalb der europäischen Komfortzone geöffnet. Lediglich die anfänglich deutsch/österreichische Übersetzung einiger Begriffe (z. B. Treppenstiege, Pappenstiel) hat ein wenig verwirrt.

Für Lesende, die gerne über den Tellerrand herausschauen, eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 11.11.2022
In fünf Jahren
Serle, Rebecca

In fünf Jahren


gut

Als ehrgeizige junge New Yorker Anwältin ist Dannie es gewohnt zielstrebig und strukturiert zu agieren. Die Frage, wo sie sich in fünf Jahren sieht, ist für sie einfach. Erfolgreich, verheiratet und wohlhabend wird ihr Leben sein. Doch dann träumt sie nach dem ersehnten Heiratsantrag einen Traum, der mehr Realitätsnähe hat, als sie es sich wünscht. Der Traummann ist nicht ihr zukünftiger Mann und die Wohnung nicht die, die sie sich vorgestellt hat. Beängstigend wird es, als Dannie diesen fremden Mann tatsächlich viereinhalb Jahre später kennenlernt. Doch er ist bereits vergeben und zwar mit einer ihr bekannten Frau.

Der Schreibstil der Autorin Rebecca Serle ist leicht und locker. Schnell fliegt man über die Seiten und begleitet die Ich-Erzählerin Dannie, die seit ihrem verwirrenden Traum immer wieder an diesen fremden Mann an ihrer Seite denken muss. Das Setting wirkt sehr amerikanisch und das Streben nach Erfolg und Geld steht deutlich im Vordergrund. Es zählt nur, wer genug Geld hat und damit andere beeindrucken kann und will. Dannie und ihr Verlobter David sind das amerikanische Dreamteam. Erfolgreich, jung, gutaussehend ohne Ecken und Kanten.

Die Beschreibung der Handlung zeigt sich deshalb auch oft nicht auf der emotionalen, sondern auf der sachlichen Seite. Wohnungen, Dekorationen, Kleidung und teure Restaurants werden häufig und detailliert erwähnt.


Überrascht wird man dann aber doch, als sich die Handlung verändert und der Schwerpunkt anders gesetzt wird. Plötzlich werden Werte wie Freundschaft, Liebe und Unterstützung wichtig.

Dennoch konnte der Roman mich nicht ganz überzeugen. Die Charaktere wirkten zu aufgesetzt und künstlich. Die Emotionen waren schwer nachvollziehbar und besonders die Traumsequenzen, die so wichtig für Dannie waren, wirkten inszeniert.


Wer den amerikanischen Upper Class Lifestyle mag und das Leben der Schönen und Reichen verfolgt, wird in diesem Roman seine Lektüre finden.

Bewertung vom 13.05.2022
Der Hauptmann und der Mörder / Die 18/4-Serie Bd.1
Haohui, Zhou

Der Hauptmann und der Mörder / Die 18/4-Serie Bd.1


sehr gut

Nach 18 Jahren nimmt ein brutaler Serienkiller in der chinesischen Stadt Chengdu seinen Rachefeldzug gegen ungeahndete Verbrecher wieder auf. Die Sondereinsatzgruppe 18/4 muss fassungslos verfolgen, wie ein Mord nach dem anderen geschieht und sie dem Täter keinen Schritt näher kommen. Selbst Hauptmann Pei Tao, der schon die Anfänge des selbst ernannten Eumenides erlebt hat, tappt im Dunklen.

Zhou Haohui hat mit dem Auftakt der Trilogie kein neues Thema aufgegriffen. Gewitzte Täter, die die Polizei an der Nase herumführen, hat es schon häufiger gegeben. Doch der chinesische Touch ist neu. Die Charaktere für westliche Lesende ungewohnt und deshalb interessant. Glücklicherweise gibt es ein Personenverzeichnis der Einsatzgruppe. Denn Namen wie Han Hao, Yin Jian oder Xiong Yuan bleiben erst einmal nicht im Gedächtnis. Der Autor belässt es auch bei den Namen und beschreibt seine Protagonisten nur oberflächlich.

Der Schreibstil ist flüssig und man findet sich schnell in die Handlung. Der anfängliche leichte Spannungsbogen steigert sich schnell in ein rasantes Hase- und Igel-Rennen. Der Killer legt vor, indem er den Opfern durch eine Todesanzeige mitteilt, warum und wann sie sterben müssen und obwohl die Polizei alle erdenklichen Schutzmaßnahmen trifft, gelingt Eumenides der Mord. Nichts scheint ihn aufhalten zu können. Erste Vermutungen, es könnte jemand aus den eigenen Reihen sein, streut Argwohn und Misstrauen im Ermittlungsteam.

Vor allem Hauptmann Pei Tao, der nur als beteiligte Person im Fall vor 18 Jahren hinzugezogen wurde, wird kritisch betrachtet. Er kann sich am besten in den Täter hineinversetzen. Zu gut? Der Autor spielt geschickt mit Vorverurteilung und menschlichem Verhalten.

Immer mehr verstricken sich einzelne Ermittelnde in eigene Vergehen. Der Kreislauf von Abhängigkeiten, Korruption, Verbrechen und eingeforderter Schuldversprechen zeigt, wie schnell aus einem vermeintlich harmlosen Fehlverhalten ein Verbrechen werden kann.

Die Schnelligkeit der aufeinanderfolgenden Fälle hat mich kaum zu Atem kommen lassen. Kaum hat man sich von einem schrecklichen Mord erholt, taucht die nächste Todesanzeige auf, die auch sichtbar für den Lesenden auf der Buchseite prangt. An manchen Stellen sind mir die Beschreibungen der Opfer und deren Misshandlungen zu sehr ins Detail gegangen. Die Handlung hat diese Bilder nicht benötigt, um zu fesseln.

Bis auf einige Sätze, die etwas verschroben zu lesen sind und einem schwerwiegenden Namensfehler, der Polizist und Polizistenmörder vertauscht, ist die Übersetzung gelungen.

Das Ende hat mich überrascht und wurde gut gelöst; ein Versprechen auf eine spannende Fortsetzung. Ich wäre mit einem finalen Ende an dieser Stelle aber auch einverstanden.

Bewertung vom 14.04.2022
Was es braucht in der Nacht
Petitmangin, Laurent

Was es braucht in der Nacht


ausgezeichnet

Ein alleinerziehender Vater muss hilflos mit ansehen, wie sein heranwachsender ältester Sohn in rechtsextreme Kreise gerät und ihm entgleitet. Eingreifen oder schweigen, was soll er tun. Er hofft, den Jungen, den er großgezogen hat, wiederzufinden, doch ein einziger Moment verändert alles in ihrem Leben.


Laurent Petitmangin hat mit seinem Debüt ein ausdrucksstarkes beeindruckendes Gänsehaut-Leseerlebnis geschaffen. Hier spricht ein vom Schicksal geschlagener Vater und legt seine tiefsten Gefühle den LeserInnen schonungslos offen. Dieser namenlose Mann hat mich sofort in seinen Bann gezogen. Als seine Frau mit 44 Jahren an Krebs erkrankt, muss er sich um seine Söhne Fus, 10 und Gillou, 7 Jahre alt, allein kümmern. Ihr Tod lässt keine Zeit für Trauer, der Vater muss funktionieren.

Immer wenn er nicht weiter weiß, spricht er im Gedanken mit "Mutti", doch die Antwort bleibt aus. Die anfänglichen Familienausflüge werden weniger und die beiden Brüder sind sich selbst überlassen. Fus findet sich in der Schule nicht mehr zurecht; er sucht außerhalb der Familie Halt, den ihm eine rechtsextreme Gruppierung zu geben scheint. Die Scham über den fehlgeleiteten Sohn wandelt sich in Resignation, als er selbst von den Nachbarn mehr oder weniger nur ein Schulterzucken über die Nähe des Sohnes zur Front National erfährt.

Fortan schweigen Vater und Sohn, auch wenn es den Vater innerlich zerreißt.

"Die ganze Wut blieb in mir drin, schnürte mir die Brust zu, verbrannte meine Lungen, aber sie platzte nirgendwo heraus. Im Gegenteil, meine Beine fühlten sich auf einmal an wie Watte, meine Arme nutzlos und paralysiert."
Jeder weitere Leseabschnitt zieht nicht nur Fus, seinen Bruder und den Vater immer näher an den Abgrund, sondern auch die LeserInnen. Man möchte den Vater an den Schultern rütteln und rufen: "Wach doch endlich auf, tu was". Man fühlt so sehr mit den Protagonisten und ist sich der Ohnmacht der Situation bewusst.

"Das unser aller Leben, trotz seiner scheinbaren Geradlinigkeit, nur aus glücklichen oder unglücklichen Fügungen, zufälligen Begegnungen und verpassten Gelegenheiten bestand. Unser Leben war voll von diesen Nichtigkeiten, die uns, je nachdem, was uns sicher geschah, zu Königen der Welt oder Sträflingen machten."
Tatsächlich habe ich bis zum Schluss in Fus einen von den "Guten" gesehen. Seine Bemühungen um seinen Bruder Gillou sind herzlich, die ruhige Stimmung, die er verbreitet, strahlt Harmonie aus. Man kann nicht glauben, warum dieser sympathische Mann sich von offensichtlich extrem orientierten Menschen beeinflussen lässt.

Passend zur französischen Präsidentschaftswahl 2022 kann dieser Roman nicht aktueller und brisanter sein. Unterschwellig eingeflochtene gesellschaftskritische Anmerkungen zur Unzufriedenheit der ländlichen Bevölkerung und der Arbeiterklassen sowie die Ohnmacht der Parteien zeigen einen möglichen Aspekt auf, warum es zu diesem schicksalhaften Wendepunkt im Leben der Familie kam.

Dieser Roman endet nicht, nachdem man den Buchdeckel geschlossen hat. Das Warum hallt nach und hinterlässt ein flaues Gefühl. Unbedingt lesen!

Bewertung vom 06.04.2022
Der Holländer / Liewe Cupido ermittelt Bd.1
Deen, Mathijs

Der Holländer / Liewe Cupido ermittelt Bd.1


ausgezeichnet

Für Geeske Dobbenga sollte es die letzte Fahrt auf dem Patrouillenboot der niederländischen Grenzschützer sein. Doch anstatt Abschied zu feiern, stößt die Mannschaft auf die Leiche eines bekannten deutschen Wattwanderers. Deutschland und die Niederlande rangeln um die Ermittlungs-Zuständigkeit. Bis dahin ermittelt Liew Cupido ohne Auftrag aber mit um so mehr Gespür fürs Watt und deren Bewohner.

Mathijs Deen hat einen wundervoll klaren Schreibstil, der schnörkellos und atmosphärisch die Szenerie der Küste und des Watts widerspiegelt. Man spürt den salzigen Wind, hört die Wellen und ahnt, wie unheimlich das Watt sein kann, wenn man sich in ihm verliert. Seine Protagonisten könnten einem an der Küste begegnen und die behördlichen Querelen sind glaubwürdig und nachvollziehbar beschrieben.
Die fast durchgängig düsterere, melancholische Stimmung wird durch unerwartet feine und gezielte humoristische Einlagen gewürzt..

Drei Extrem-Wattwanderer mit ihrer Besessenheit, alle denkbar möglichen Strecken abzugehen, bilden die ungewöhnliche Rahmenhandlung. Bisher hatte ich Landei immer sonnige Ausflüge mit gut gelaunten Grüppchen im Kopf, wenn ich an eine Wattwanderung gedacht habe. Aber hier geht es um bis ins kleinste Detail erarbeitete Strecken, dem Wettrennen mit der Natur und ihren Gezeiten. Es sind starke, Gänsehaut erzeugende Beschreibungen, die zeigen, wie schnell eine Wanderung zum Kampf ums Überleben werden kann.

Besonders die Titelfigur "Der Holländer" alias Liew Cupido hat mir sehr gefallen. Als Kind einer Deutschen und eines holländischen Fischers ist er für diesen Fall mehr als prädestiniert. Wortkarg und voller Eigenarten muss er sich die Sympathie der Leserschar erst erarbeiten. Mich hat er aber in seinen Bann gezogen. Die taktisch geschickte Art, mit Verdächtigen zu sprechen, Vorgesetzten aus dem Weg zu gehen und der Umgang mit einem jungen Kollegen, in dem er Potenzial zum Ermittler vermutet, sind gelungen herausgearbeitet worden.

"Liewe betrachtet noch einmal den Stapel Kleidung, dieses stille Zeugnis von Plänen und Zukunftserwartungen: weiterzuleben, Erfolge zu feiern, zu triumphieren, aber auch, ganz banal, sich in weiche, warme Kleidung zu hüllen."

Mehr Roman als Krimi steigert sich der Spannungsbogen sehr langsam, doch dafür intensiv. Man lernt die Hintergründe der Protagonisten kennen, wird auf falsche Fährten geführt und hin und wieder durch unterhaltsame Momente - wie einen Pathologen, der gleichzeitig Schauspieler ist und mit Bühnenzitaten glänzt - abgelenkt.

Das Finale kommt nicht unerwartet, denn hier geht es nicht um eine Täterjagd, sondern um die Frage, warum es so weit kommen konnte. Wie so oft halten gespielte Fassaden sich nicht dauerhaft und die Wahrheit birgt manche Überraschung.

Nachdem ich meine gedanklichen Gummistiefel aus dem Watt herausgezogen habe, gebe ich eine absolute Leseempfehlung. Ich hoffe von Liew Cupido noch mehr lesen zu dürfen.

Bewertung vom 08.03.2022
Schach unter dem Vulkan / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.7
Nesser, Håkan

Schach unter dem Vulkan / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.7


sehr gut

Ein berühmter Kriminalroman-Autor verschwindet spurlos und hinterlässt ein Manuskript mit dem passenden Titel "Letzte Tage und Tod eines Schriftstellers". Fast zeitnah wird auch nach einer Lyrikerin gesucht, die ähnliche Aufzeichnungen wie Franz J. Lunde hinterlässt. Erste Untersuchungen verlaufen ins Leere und fast wären dazu cold cases geworden. Doch dann gibt es eine neue Spur.

Håkan Nesser setzt mit diesem Roman die Reihe rund um Kommissar Barbarotti erfolgreich und wortgewandt fort. Dieses Mal greift er zu einem besonderen Stilmittel und lässt die Protagonisten ihre Geschichte in einer Geschichte erzählen. Klingt verwirrend, ist es anfänglich auch. Der Einstieg wirkte selbst auf mich als eingefleischten Nesser Fan schwergängig und von der Lesbarkeit herausfordernd.

Der Autor Franz J. Lunde arbeitet an seinem Manuskript über den Tod eines Schriftstellers. Dabei sind die Parallelen zu seinem eigenen Leben offensichtlich und teilweise verwischt sich Fiktion mit Realität. Nachdem man sich an den Schreibstil gewöhnt und gefunden hat, taucht dann die Lyrikerin Maria Green auf, deren Geschichte ähnlich dargestellt wird. Hier schreibt die Protagonistin Tagebuch und Gedanken und Handlung verwischen.

Die Frage, wann wird der Roman zum Krimi, schwebt förmlich Seite für Seite über der Handlung. Aber nichts passiert. Sehr spät tritt erst Kommissar Barbarotti in die Handlung ein und diesmal auch ein wenig melancholisch und düster. Seine Kollegin und Lebensgefährtin, die ihn in anderen Fällen begleitet, weil diesmal in Australien bei ihrem Sohn. Ein angespanntes Gefühl schwebt über den beiden Personen, ohne das man es greifen könnte.

Was mich tatsächlich sehr gestört hat, sind die vielen aktuellen Hinweise auf die Pandemie. Ich kann verstehen, dass Autoren das Thema aufgreifen. Aber wir befinden uns mitten in dieser Krise, und tatsächlich hat mich die Erwähnung von Abstandsregeln, Masken und ähnlichen Dingen von der Handlung abgelenkt. Diese Ausnahmesituation ist überall so präsent, da möchte man wenigstens im Roman davor flüchten.

Trotz der dunklen Stimmung wird man in die Handlung hineingezogen, möchte den Fall lösen und findet doch keinen Ansatz, was passiert sein kann. Es gibt viele Andeutungen, doch keine Hinweise. Wieder einmal gekonnt rekonstruiert und bis ins kleinste Detail durchdacht, überrascht der Roman am Ende und fördert Erstaunliches zutage.

Für mich ist es nicht der beste Fall von Kommissar Barbarotti, auf jeden Fall aber ein gelungener Håkan Nesser Roman, den ich empfehlen kann.

Bewertung vom 05.01.2022
Barbarotti und der schwermütige Busfahrer / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.6 (1 MP3-CD)
Nesser, Håkan

Barbarotti und der schwermütige Busfahrer / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.6 (1 MP3-CD)


sehr gut

Melancholisch düster angehauchter Literaturkrimi

Ein alter Fall begegnet überraschend den Kommissaren Barbarotti und Backmann in Gestalt eines Fahrradfahrers während einer Auszeit auf Gotland. Vor sechs Jahren verschwand der ehemalige Todesbusfahrer, getrieben von Morddrohungen spurlos. Barbarotti lässt der alte Fall keine Ruhe und zusammen mit seiner Partnerin beginnt er erneut zu ermitteln.

Håkan Nesser ist erneut ein Krimi gelungen, der literarischen Romanen gleichgestellt ist. Dank der detaillierten und bildhaften Beschreibung fühlt man sich sofort nach Südschweden versetzt. Die Handlungsstränge wechseln zwischen der aktuellen Ermittlung, dem damaligen Fall und den Tagebucheinträgen des Busfahrers Albert Runge. Im Buch ist dies sicher leichter zu verfolgen wie im Hörbuch.

Einen Spannungsbogen kann man nur leicht erahnen. Dies passt aber hervorragend zur durchgehend düsteren, melancholischen Stimmung des Krimis. Besonders der Charakter Albert Runge mit seinem schrecklichen Schicksal wird gekonnt herausgearbeitet. Die Aussage seines Psychiaters, "Runge, sei schon vor langer Zeit gestorben", ist deutlich zu spüren. Hier hadert ein Mensch mit seinem Leben und dessen, was durch ihn geschehen ist.

Aber auch Barbarotti und Backmann sind herrliche Protagonisten, die man bildlich vor Augen hat. Ein Paar, das auch privat verbandelt ist und gemeinsam eine schwere Zeit meistert. Die beiden ergänzen sich beruflich wie privat ohne große Wogen zu schlagen. Die leisen Töne ihres Miteinanders haben mir sehr gefallen.

Dietmar Bär gibt diesem Hörbuch eine besondere Note und passt sich der langsamen Handlung und der stillen Spannung gekonnt an.

Dieser Roman ist nichts für Krimifans, die schnelle Ermittlungen und große Spannungsmomente erwarten. Hier wird eine langsamere Gangart eingeschlagen, die Zeit für Nebenschauplätze, Gefühle und Gedanken einräumt. Auf einen besonderen Plot am Ende muss man aber nicht verzichten. Denn diesen gelungenen Schluss habe ich so nicht erwartet.