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Volker Jentsch

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Insgesamt 50 Bewertungen
Bewertung vom 11.11.2016
Zwischen Wildnis und Freizeitpark
Bätzing, Werner

Zwischen Wildnis und Freizeitpark


gut

Die Zuwanderer werden es richten.
Über die zukünftige Nutzung der Alpen streitet man. Weil die Alpen das meistbesuchte Urlaubsziel der Europäer sind, weil sie im Herzen Europas liegen und topographisch, klimatologisch und ökologisch ein herausgehobenes Gebiet sind. Prof. W. Bätzing stellt die am meisten diskutierten Entwicklungslinien vor, verwirft sie alle und bringt seine eigene Perspektive. Er will den jahrhundertealten Kulturraum erhalten, der Artenvielfalt und ökologische Stabilität garantiert. Wie? Indem die traditionelle Wirtschaftsweise wiederbelebt wird und der Wert der regionalen Erzeugnisse, insbesondere aus landwirtschaftlicher Produktion, durch moderne Vermarktung und Vernetzung gesichert wird.
Dem Büchlein hätte es gutgetan, wenn Kapitel III präziser ausfallen wäre und weniger Redundanzen enthalten hätte. Aber wichtiger ist die Frage: Ist Bätzings Konzept schlüssig? Ich glaube nicht. Ich kenne mich aus in den piemontesischen Alpen. Diese sind, um bei Bätzings Formulierung zu bleiben, durch Verwilderung gekennzeichnet. Bis etwa 1990 hatte man die Wiesen gemäht und die paar Schafe und Ziegen drauf weiden lassen. Dann starben die Alten, und die Jungen hatten längst Arbeit in der Schweiz gefunden. Es gab keinen Grund mehr, die harte Arbeit fortzuführen. Und so wird es bleiben. Solange es in Reichweite (50-100 km Fahrzeit werden in Kauf genommen) gut bezahlte Arbeit gibt, wird nichts aus Bätzings gutgemeinter Vorstellung. Im Übrigen: Die Leute verstehen auch großenteils gar nichts mehr von den Abläufen in der Natur. Das Erfahrungswissen der Vorfahren ist längst verloren und müsste mühsam zurückgewonnen werden. Wer hat daran Interesse? Im besten Fall einige Außenseiter unter den Eingesessenen.
Mein Vorschlag: es gibt viele gut situierte Zuwanderer, die vor allem aus der Schweiz und Deutschland gekommen sind, um in den alpinen Gegenden ihr Ferienhaus zu kaufen und auszubauen. Und es werden immer mehr. Diese sind hoch motiviert, dass ihre Umgebung keinen Schaden nimmt. Warum also diese wohlhabende Gruppe nicht mit einer jährlichen Abgabe von einigen hundert Euro belasten? Daraus würden die Mittel bereitgestellt, um die Bergwiesen und Bergpfade zu pflegen, zu schützen und in Stand zu halten. Das hat zur Folge, dass neben der Vermeidung der Verwilderung ein sanfter Tourismus initiiert oder so er schon besteht, aufrechterhalten wird, der der Region als ganzer zugute kommt.

Bewertung vom 08.11.2016
Das Risikoparadox
Renn, Ortwin

Das Risikoparadox


gut

Das Risiko der Langatmigkeit: Ortwin Renns voluminöses Buch über Risiken

Wer über alle möglichen Arten von Risiken unterrichtet werden will, die den Einzelnen oder die Gesellschaft, in nationalen oder globalen Rahmen bedrohen, hat mit Prof. Ortwin Renns Buch eine umfangreiche Daten- und Faktensammlung erworben. Ergänzt um eine Reihe pädagogischer Elemente, die O.Renn für geeignet hält, um dem Leser das Erkennen der wahren Risiken zu erleichtern und ihn zu dem richtigen (O. Renn: nachhaltigen) Umgang damit anzuregen.
Das Gute. Im Einzelnen wird man Prof. Renn kaum widersprechen können. Seine Unterscheidung zwischen eingebildeten und realen Risiken wird von vielen Autoren (u.a. von Prof. G.Gigerenzer) geteilt; sein Aufruf zu kritischem Umgang mit Informationen und Appell, persönlich zur Minderung der globalen Risiken beizutragen, ist das Gütezeichen des fortschrittlichen Gesellschaftswissenschaftlers. Gut finde ich, dass er auch den Risiken Raum einräumt, die durch zunehmende Segregation der Gesellschaft und haushohe Unterschiede in den Einkommen und Vermögen der Menschen angelegt sind.
Das weniger Gute. Einiges hört sich sehr Mainstream artig und brav an; alle Akteure sind laut O.Renn zumindest guten Willens, rein Interessen-basierte Verhaltensweisen und Entscheidungen sind die Ausnahme. Einige wichtige Aspekte werden nicht diskutiert, darunter die Ideologie stetigen Wachstums, die für viele Risiken verantwortlich ist, die weiter fortschreitende Urbanisierung als eines der Megaprobleme der Zukunft, oder die Sexualisierung nahezu aller Lebensbereiche, deren Folgen noch gar nicht absehbar sind. Aber vielleicht habe ich das einfach im Buch nur übersehen, angesichts der Fülle des Stoffs. Gerne hätte ich auch seine Einschätzung der Entwicklung der Risiken über die nächsten Jahrzehnte gelesen, mit denen sich verschiedene Autoren herumschlagen, u.a. im Buch von Jorgen Randers „2052“. Aber dann wäre das Buch noch dicker geworden.
Allerdings; nach 585 Seiten Text dem Leser nochmals den Sinn des Buches zu erläutern, setzt erhebliche Nachsicht beim Leser voraus. Alles davon ist vorab schon gesagt worden. Spätestens nach 300 Seiten Text hat sich mir der eminente Spruch: „weniger ist mehr“ aufgedrängt, der bei mir ansonsten kein hohes Ansehen genießt.
Vieles aus O. Renns Buch ist bereits anderweitig, insbesondere zuvor von Prof. G.Gigerenzer in seinem Buch „Risiko“ abgehandelt worden. Vergleicht man die beiden Bücher, würde ich G. Gigerenzer den Vorzug geben. Es ist angriffslustiger, mutiger und einprägsamer geschrieben. Vielleicht in dieser Reihenfolge: G. Gigerenzer zuerst und wenn das Geld reicht, in dem umfangreichen Werk von O.Renn die aufschlussreichen Seiten über „systemische“ Risiken (S. 339-473) lesen.
Leider kann ich nicht umhin, auf eine Sünde des Verlags hinzuweisen. Das Buch ist voller Fußnoten. Diese sind vom Verlag ins Internet verbannt worden. Das ist schlicht und ergreifend eine Zumutung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.11.2015
Eins im Andern
Schwitter, Monique

Eins im Andern


gut

Ich habe Vorurteile gegen preisgekrönte Bücher, insbesondere, wenn sie auch noch mit dem Portrait der Autorin illustriert sind. Beides kam in vorliegendem Roman zusammen, Buchpreis in Basel und Bild der Preisträgerin. Und doch konnte ich es nicht lassen: ich habe es gelesen. Mein Vorurteil wurde bestätigt: ich halte „Eins im Anderen“ für kein gutes Buch.
Meine Kritik beginnt mit dem Titel. Warum so rätselhaft? Vielleicht besser Eins ins Andere? Ich habe ihn auch nach 232 Seiten nicht verstanden. Den Inhalt schon eher: es ist ein Buch über die Schwierigkeiten, den Richtigen zu finden. Somit nichts Neues. Ein bißchen ungewöhnlich aber ist die Form, in der das Thema abgehandelt wird. Frau Schwitter präsentiert diverse Männer, ob real oder erfunden, sei dahingestellt, welche als Liebhaber oder Lebensgefährten der Protagonistin, die als namenloses Ich (im weiteren mit NN bezeichnet, auch wenn sich die Vermutung aufdrängt, daß es sich dabei um keine andere als die Autorin handelt) mit eben dieser ein eher triviales Alltagsleben führen. Während ich die ersten hundert Seiten flott lesen konnte und ich zeitweilig das Gefühl hatte, dies und das hat sie schön und mit hohem Einfühlungsvermögen geschrieben, wurden die letzten hundert Seiten immer mühseliger. Abstruse Einfälle, Träume, Wünsche, Halluzinationen, Reales mit Irrealem gerieten durcheinander und wurden miteinander verschnitten, um so - natürlich absichtlich - ein wenig aus der Spur zu geraten und damit dem Hang der Lektoren und Kritikaster nach Abspenstigem in Sprache und Inhalt zu frönen. Jedenfalls fand ich das Morsealphabet im Kopf von NN, das bei der Aktivierung ihrer Hormone im Kopf hämmert, wie auch den Pinguin, der ihrem Fahrrad vorauseilt, die Ratte, die das Liebespaar mit Anhang im Bett begleitet, die Stürze vom Fahrrad, die sie wiederholt heimsuchen, die Kleider, die ihr mehrmals vom Leibe gerissen werden, weil die Liebeslust der von NN betörten Liebhaber keinen Aufschub duldet, unter anderem, absolut entbehrlich.
Hier schreibt eine Frau, die die Männer mag, vorausgesetzt, sie sind wohlgestalten, geschmeidig wie eine Katze, hochgewachsen, mit schönen Augen, verheißungsvollen Lippen und geradem Rücken; da gibt es nichts zu meckern, selten, daß sich eine literarische Frau so sehr zum Männlichen bekennt. Nicht alle kommen bei ihr an, der Glattrasierte mit grauem Geschlecht zwischen den zusammengekniffenen Beinen hat das Nachsehen, aber Regisseur Tadeusz, dem sie eifersüchtig kein gutes Wort gönnt, als sie ihn mit einer vierzig Jahre jüngeren Studentin wiedersieht, kommt zum Zuge, aber da war er noch jünger. Überhaupt die Eifersucht – allgegenwärtig, denn sie wird betrogen, und sie betrügt. Das Übliche.
Ein Kapitel hat mir gefallen, es war das mit „Spielmacher“ überschriebene. Da gibt es gelungene Einfälle, mit denen sie ihre lernunwilligen Schüler („mit Migrationshintergrund“) traktiert. Natürlich auch hier mit Blick auf das Männliche: gerade so eben verdrängt sie im Buch ihre Erregung, sich lustvoll des schönen Siebzehnjährigen zu bemächtigen, bevor sie sich eine Klage wegen sexueller Handlung mit Abhängigen einhandelt. Gleichwohl, alles menschlich, alles denkbar, alles schon vorgekommen.
Fazit: Sie kann sie nicht vergessen, die Männer, mit denen sie zusammen war, und sie hinterfragt die Liebe, „wohin geht sie, wenn sie geht?“ Sie hat vergessen zu fragen: Wer ist der nächste?
Dennoch möchte ich festhalten: die Problematik von NN ist eine universelle, und einige Fragen im Roman sind unbestritten ernsthafter Natur. Mein Eindruck ist aber, daß sie der Lösung der Fragen kein Stück näher gekommen ist. Was auch daran liegen mag, daß sie - so scheint mir - Liebe mit sinnlicher Lust durcheinander bringt. Liebe hat mit letzterer nicht viel zu tun, wohl aber, zum Beispiel, mit dem Gefühl der Innigkeit und Geborgenheit.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.11.2015
Macht
Kraus, Katja

Macht


sehr gut

Katja Kraus (K.K.) ist gelungen, wovon die Presse träumt: Prominente, die Bedeutung und Macht verloren haben, man könnte auch sagen, mehr oder weniger gescheitert sind, öffnen ihr Innerstes und erzählen über sich und ihr Leben danach. Und das Buch macht deutlich, daß sie sich der Richtigen anvertraut haben. Die Ergebnisse der Gespräche enthüllen nichts Neues, enthalten keine Überraschungen, am Ende des Buches wissen wir immer noch nicht, ob Engholm seinen einstigen Feind Barschel umgebracht hat oder ob dieser selbst Hand an sich gelegt hat. Aber sie haben zutage gefördert, was vielleicht nicht so bekannt war: die Gestrauchelten sind ein Leben lang Ministerpräsident, Chefredakteur, die bessere Bundespräsidentin etc., wie z.B. Helmut Schmidt Zeit seines Lebens Bundeskanzler geblieben ist. Alle glauben sie im Übrigen unverrückbar an ihre besondere Bedeutung, mit einer Ausnahme vielleicht: Andrea Ypsilanti. Folglich ist sie mir die Sympathischste in dieser (nicht übermäßig sympathischen) Reihe.
Was mich aber besonders angesprochen hat, ist die Art und Weise, wie K.K. die Verlautbarungen der diversen Personen zusammenfaßt, vergleicht und interpretiert. Das ist hohe Kunst! Was hat sie studiert, von wem hat sie gelernt, daß sie derart gute Analysen vorzulegen imstande ist?
Ich habe das Vorwort zu diesem Buch mehrmals gelesen. Weil im Vorwort mit wenigen Worten alles vorweggenommen wird, was im Anschluß mit vielen Worten übermittelt wird. Aber auch, weil ich viele Sätze nicht auf Anhieb verstanden habe. Weil sich der Sinn mancher Formulierungen nicht erschließen will. Was mag das bedeuten: „die Zuschreibung von außen jedoch kennt keine Schnörkel und Interpretationsformen. Macht ist eindeutig.“ Oder: was ist „Wesensgrundierung“? Oder: „[Es] ist dasselbe Spektrum, das die großen mit den kleinen Karrieren vergleichbar macht.“ Wie könnte dieses Spektrum aussehen? Und so manche Sätze sind schrecklich kompliziert konstruiert. Im Haupttext folgen weitere zahllose Unerklärlichkeiten, für deren Aufzählung hier kein Platz ist. Das ist schade. Die Bedeutung des Buches wird dadurch, so scheint mir, aber nur geringfügig verringert. Es ist und bleibt ein sehr gutes, ein sehr lesenswertes und ein sehr wichtiges Buch. Und davon gibt es, wie wir alle wissen, nicht viele.

Bewertung vom 06.11.2015
Erschlagt die Armen!
Sinha, Shumona

Erschlagt die Armen!


sehr gut

Shumona Sinha schreibt über die Emigranten aus Indien. Aus Indien ist auch sie geflüchtet und hat in Frankreich Aufnahme gefunden, Frankreich gewählt der Sprache wegen, wie sie sagt. Im Zuge der aktuellen Völkerwanderung ein eher seltenes Motiv ̶ eine Syrerin oder ein Syrer, die nach Deutschland wegen der deutschen Sprache kommen? Wäre zu schön, um wahr zu sein.
In Frankreich dolmetscht Shumona für ihre Landsleute, muß notgedrungen die Sprache sprechen, die sie nicht mehr sprechen will, damit die französische Verwaltung über Asyl oder Abschiebung entscheiden kann. Inzwischen ist sie als Schriftstellerin eben dort zu Ruhm und Ansehen gekommen.
Der Titel des Buchs läßt Giftiges ahnen, und in der Tat: dies schmale Buch ist eine gereizte, wütende und zugleich traurige Abrechnung mit ihrem Heimatland, deren Männern, deren Flüchtenden, ihrer eigenen Familie auf der einen Seite und der französischen Verwaltung auf der anderen. Sie schreibt auf, was sich angesichts der in Deutschland verordneten Willkommenskultur niemand zu trauen schreiben würde. Worum es in diesem Buch nicht geht: objektiv Stellung zu nehmen, das Für und Wider der Flüchtlingsbewegung abzuwägen, Argumente zu liefern, um des Lesers schwankende Position zu dem Problem zu festigen. Im Gegenteil. Das Buch ist ein Buch über Sinhas persönliche Probleme, im Angesicht der Asylanten: über ihren Haß auf die Flüchtlinge und über ihr Mitleid mit denselben. Über ihre Aggressionen, wenn sie das Elend dieser Leute aus nächster Nähe erfährt und ihren Abscheu vor den Lügen ̶ den Lügen und Ausflüchten der Armen aus den abgeschriebenen Ländern und den Lügen und der Selbstgerechtigkeit der Entscheider aus der westlichen Welt. Und vor allem: um die Schwierigkeiten mit sich selbst.
Der Aufmacher des Buchs: sie schlägt einem Asylanten eine Flasche über den Kopf, als Folge ihrer Überreiztheit, eine Kumulation der Ereignisse, die zu einer Grenzüberschreitung führt. Auch wenn die Autorin immer wieder auf dieses Ereignis rekurriert, erzeugt das bei mir wenig Spannung, man würde sagen es war eine Handlung aus dem Affekt, einer Laune, ohne allzu große Konsequenzen.…
Das Buch überzeugt mich durch die Mächtigkeit seiner Sprache, weniger durch seinen Inhalt. Wer erfindungsreiche Verknüpfungen liebt und sich von dem Dämon ihrer Wörter mitreißen läßt, fährt mit diesem Büchlein genau richtig. Wer einen vernünftigen Beitrag zur Flüchtlingsproblematik erwartet, sollte die Hände davon lassen. Er könnte auf die (teuflische) Idee kommen, die Flüchtlinge zwar nicht zu erschlagen, aber samt und sonders in ihre Heimat zurück zu schicken.

Bewertung vom 29.10.2014
Lexikon des Unwissens
Passig, Kathrin;Scholz, Aleks

Lexikon des Unwissens


gut

Ich kenne keinen Wissenschaftler, mit Ausnahme von Harald Lesch, der wie begnadet auch immer, sich an derart vielen Themen wie in diesem Buch vorgestellt, abgearbeitet hätte. Das Buch ist eine aufwendige Recherche, eine Fleißarbeit von eigenem Wert, die ihresgleichen sucht.

Gleichwohl, meine Begeisterung hält sich in engen Grenzen. Warum?
1.) Neues wird nicht geschrieben. Aber: Das Bekannte wird, so vermute ich, im großen und ganzen richtig wiedergegeben; jedenfalls hört sich es sich, sofern mit Ernsthaftigkeit vorgetragen, recht vernünftig an. Die Glaubwürdigkeit des Textes soll durch Hinweise auf wissenschaftliche Artikel erhöht werden, darunter befinden sich auch solche von namhaften Autoren. Eine bewährte Praxis, mit dem Nachteil, daß die Literatur zum Nachlesen nur in Ausnahmefällen zugänglich sein dürfte.
2.) Wenn ich die Schlagwörter des Buches mit den Einträgen in einschlägigen Lexika, wie etwa der Encyclopaedia Britannica oder Wikipedia, vergleiche, erfahre ich bei letzteren deutlich mehr. Nehmen wir als Beispiel den Beitrag zur Kurzsichtigkeit. Dieser Artikel ist sehr mager ausgefallen; der wissbegierige aber möglicherweise unkundige Leser würde gern etwas über das gesicherte Wissen, also die Funktionsweise des Auges und den physiologischen Prozeß des Sehens erfahren, bevor er sich auf das ungesicherte Wissen einläßt. Da ist er bei den genannten Lexika deutlich besser beraten. So ist das bei vielen anderen Artikeln in diesem Buch; ein Blick in Wikipedia, zum Beispiel, gibt mehr her als das Lexikon des Unwissens.
3.) Die krampfhaften Witze des Buches. Die sind so unpassend, daß sie die schöne Ernsthaftigkeit des sonstigen Textes auszulöschen drohen. Eine blödere Erklärung zu "was ist eine Funktion" (S.170) habe ich noch nicht gelesen. Wirklich zu blöd, um sie hier wiederzugeben. Und so gibt es fast zu jedem Schlagwort gleich mehrere solcher Ausrutscher. Schade, schade. Für dieses Buch würde sich die elektronische Form eignen, wo je nach Veranlagung des Lesers, die lächerlichen Passagen ausgeblendet werden könnten. Mein Vorschlag: Frau Passig, die dem Vernehmen nach mit dem Computer umzugehen weiß, sollte dazu ein Programm bereitstellen, so daß auf Klick der Text bereinigt werden könnte.

Auch wenn das Buch, sicher nicht zu Unrecht, sich großer Beliebtheit erfreut: Lust auf ein weiteres Exemplar dieser Gattung, das sich inzwischen als "neues Lexikon" ausgibt, habe ich, entsprechend dem oben Gesagten, nicht verspürt.

Bewertung vom 28.10.2014
Im Erlebensfall
Muschg, Adolf

Im Erlebensfall


gut

Es war der Titel, der meine Neugier geweckt und mich bewogen hat, 22 Euro zu investieren: was wollte er mir sagen? Aber auch nach der Lektüre des Buches bin ich nicht klüger geworden. Vielleicht erklärt mir der Autor, was er damit hat ausdrücken wollen? Ich würde mich freuen.
Herr Muschg ist vielfach ausgezeichnet, Büchner- und Hesse-Preis sind ihm zuerkannt, den Nobelpreis für Literatur hat er vermutlich nur knapp verfehlt (aber auch der wäre noch möglich, im Erlebensfall, denn Preise, insbesondere die mit Literatur zu tun haben, sind voller Überraschungen, wie die vergangenen Ehrungen gelehrt haben).
Das Buch besteht vor allem aus Vorträgen, die Muschg im Laufe von zehn Jahren verfaßt hat. In manchem stimme ich ihm gerne zu: wenn er die Flachheit und Geistlosigkeit der veröffentlichten Kommunikation beschreibt, die Impertinenz der Meinungsmacher, die Macht des globalen Marktes, die weitverbreitete Ökonomisierung der Lebensweisen. Auch darin kann ich ihm folgen: wenn er unter "Was heißt Bildung?" intellektuelle Vielseitigkeit fordert und das überall dominierende Spezialistentum wenn nicht verwirft, so doch ein ums andere Mal in Frage stellt; den Begriff der Elite, der heute den mit Bildung Beauftragten und Befaßten so leicht über die Lippen geht, nicht widerspruchslos akzeptieren will. Und ich bin ganz bei ihm, wenn er im Zusammenhang mit dem Wissenserwerb die Frage nach dem "Was" mit dem "Wofür" und "Wie viel" koppelt, was angesichts der rapide fortschreitenden biologischen Wissenschaften und ihren lukrativen Ablegern (wie z.B. Reproduktionsmedizin und Gentechnik), ganz sicher zeitgemäß ist.
Andererseits: wie traditionell verengend auf Kulturelle beschränkt ist sein Bildungsbegriff! Er fordert die Zweckfreiheit, beruft sich auf Humboldt und Schiller, natürlich auch Goethe, redet vom reinen Wissen und wird doch wissen, daß das alles Ideologie ist; keine Wissenschaft oder Forschung je zweckfrei noch rein war; und das ist gut so. Wäre sie es gewesen, hätte die menschliche Gesellschaft keinen Fortschritt erfahren. Umfassende Bildung beinhaltet sowohl die kulturelle geisteswissenschaftliche wie die technische naturwissenschaftliche Seite, das eine ist ohne das andere nicht mehr denkbar; den Fokus allein auf Kunst und Kultur zu legen, zeugt von Einseitigkeit, die er doch zu Recht beanstandet.
Und wie konservativ sein Artikel über die Burschenschaften! Hier wünschte ich ihm, daß er seinen kritisch-jugendlichen Blick, den er sich rückblickend bescheinigt, auf das Hierarchische, Gehorsame, Patrimoniale und Nationalistische bewahrt hätte, den Klientelismus nicht schön geredet hätte, mit dem die Verbindungen bei den jungen Leuten punkten.
Wie das Publikum auf seine Reden reagiert haben mag?
All das vorweg Gesagte mag unerheblich sein, wenn nur seine Texte und Sprache gezündet hätten. Sie haben es bei mir leider nicht. Warum? Erstens: Seine Sprache fand ich auf Kunstfertigkeit und Verkomplizierung getrimmt, sie kommt nicht selten daher als gelehrte Blase, wo der Effekt den Inhalt dominiert; was sich im Übrigen im Schriftbild widerspiegelt - ich halte es, wegen der zahllosen kursiven Setzungen, für unnötig dekoriert. Zweitens: Was er dem Hörer oder Leser mitteilt, ist von vielen anderen bereits gesagt, nur eben einfacher, klarer, natürlicher, durchsichtiger und eindeutiger.

Bewertung vom 28.10.2014
Pest & Cholera
Deville, Patrick

Pest & Cholera


gut

Der Verlag beschreibt den Autor des Buches, Patrick Deville, als einen, der "dem Rauschen der Historie und dem Murmeln der Gespräche" zuhört. Wow! Also ich war sehr viel bescheidener: ich habe sein Buch gelesen. Denn ich wußte nichts über Alexandre Yersin. Deville beschreibt ihn mit Sympathie, und die kommt rüber, jedenfalls sehe ich Yersin aufgrund der Beschreibungen als eine ganz außergewöhnliche Persönlichkeit, die Vorbild sein könnte. Nicht allein wegen seiner Verdienste um das Wohl der Menschen und den Fortschritt der Bakteriologie, sondern auch und vor allem wegen seiner moralischen Integrität. Ihm fehlte nämlich, glaubt man dem Buch (und warum sollte ich das nicht tun?) eine Eigenschaft, die allen Wissenschaftlern im Übermaß gemeinsam ist: ich meine die Eitelkeit. Und er besaß, was denen (und anderen) meist fehlt: Uneigennützigkeit.
Und doch hätte mir Devilles Buch besser gefallen, wenn er etwas mehr in die Tiefe gegangen wäre, die Krankheit detailliert beschrieben, das Bakterium erklärt und den Prozess der Entdeckung wissenschaftlich nachgezeichnet hätte. Denn oft ist in der Forschung nicht das Ergebnis, sondern der Weg dahin das eigentlich Aufregende. In diesem Punkt bleibt Deville auf einer seichten Oberfläche. Schade, Yersin hätte sicher mehr verdient.

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Bewertung vom 07.09.2014
Instructions for British Servicemen in Germany, 1944

Instructions for British Servicemen in Germany, 1944


sehr gut

Das Büchlein, das wie ich annehme in der Brusttasche des englischen Soldaten steckte, als er in Deutschland einrückte, soll ihm sagen, wie er sich im verwüsteten Feindesland zu verhalten habe: hart aber fair. Der größere Teil des Buches beschäftigt sich mit dem Deutschland aus englischer Sicht – es charakterisiert in knapper, verständlicher und wie ich finde, vereinfachender und trotzdem weitgehend zutreffender Weise die Geschichte, Situation und Besonderheit Deutschlands gegen Ende des Krieges.

Sehr wohl wissen die Verfasser des Büchleins zu unterscheiden zwischen Nazideutschland und dem "besseren" Deutschland, das die Welt mit Werken aus Kunst, Wissenschaft und Technik bereichert hat. Das ist nicht selbstverständlich, angesichts der unfaßbaren Gräuel, die dieses Land den anderen Ländern angetan hat, und aus dem Text läßt sich erschließen, daß den Verfassern eine solch objektivierende Haltung auch nicht leicht gefallen ist.
Wie wäre ein ähnliche Brevier der Sowjetunion ausgefallen? Sie hatte die meisten Opfer zu beklagen, das Bild von Deutschland und den Deutschen wäre, irgendwie verständlich, vermutlich fürchterlich ausgefallen.

Aber man hält sich an die harte Linie. Deutschland soll die Strafe fühlen, die sie aus Sicht Englands verdient hat. Zurecht wird festgestellt, daß die Herrschaft von Hitler und seiner Gefolgsleuten keine unglückliche Wendung des Schicksals war, sondern sich auf die Zustimmung des Volkes berufen konnte. Es gab eine innere Verbundenheit zwischen Hitler und dem durchschnittlichen Deutschen, die auf Aggression, Militarismus und Rassismus, Gehorsam, Opportunismus und dem Drang zu herrschen und zu beherrschen, basierte. England hätte all das nicht passieren können, füge ich ein, weil, so das Büchlein, Deutsche und Engländer sich im Äußeren ähneln mögen, aber im Innern doch ganz und gar verschieden sind.

Was unsere Väter, die den Krieg überlebt oder in ihm umgekommen sind, wohl zu diesem Büchlein gesagt hätten, sagen würden? Wie auch immer: Ich bin der Ansicht, daß der Leitfaden zu Recht wieder aufgelegt worden ist.