Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Monsieur
Wohnort: 
Amorbach

Bewertungen

Insgesamt 42 Bewertungen
Bewertung vom 28.11.2024
Intermezzo
Rooney, Sally

Intermezzo


sehr gut

Ivan und Peter

In ihrem neuen Roman „Intermezzo“ widmet sich Sally Rooney der komplexen Beziehung zwischen zwei Brüdern, deren Lebenswege kaum unterschiedlicher sein könnten. Ivan, der Jüngere der beiden, ist ein introvertierter, sozial unbeholfener Schachspieler. Trotz seines Talents fehlt ihm das Selbstbewusstsein, sein Können anzuerkennen oder sich in sozialen Situationen wohlzufühlen. Peter hingegen verkörpert den selbstbewussten Erfolgsmenschen: charismatisch, aber auch überheblich und egozentrisch. Die beiden Männer, die nach dem Krebstod ihres Vaters auf verschiedene Weise mit ihrer Trauer umgehen, stehen im Mittelpunkt dieses Romans – sowohl in ihrer Gegensätzlichkeit als auch in ihrer Brüchigkeit als Geschwister.
Rooney setzt einen klaren Schwerpunkt auf die Beziehungen der Brüder zu Frauen. Ivan verliebt sich in die zehn Jahre ältere Margaret, eine Beziehung, die vor allem für sie von Unsicherheit und gesellschaftlicher Skepsis geprägt ist. Peters Umgang mit Frauen ist ebenfalls unkonventionell: Er fühlt sich gleichermaßen zu zwei Frauen, Sylvia und Naomi, hingezogen, ohne sich festlegen zu wollen. Dieser Kontrast in den Liebesbeziehungen der Brüder dient als Spiegel für ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten und Lebensansätze. Während Ivan sich seiner Gefühle rückhaltlos öffnet, bleibt Peter verschlossen und versucht, seine Zweifel allein zu bewältigen.
Der Roman ist gleichermaßen eine Analyse von modernen Beziehungen wie auch eine Studie einer unharmonischen Bruderbeziehung. Ivan und Peter kämpfen jeweils auf ihre Weise mit den Erwartungen der Gesellschaft, wobei sie sich mal anpassen, mal dagegen auflehnen. Ivan, der sich von Normen eingeschüchtert fühlt, sucht Halt in Margaret, während Peter sich in seiner Überheblichkeit unbeeindruckt von äußeren Meinungen gibt – und doch innerlich zerrissen ist.
Rooney zeigt dabei ein beeindruckendes Gespür für die Psychologie ihrer Charaktere. Ihre Beschreibungen dringen tief in die Innenwelten der Brüder ein und enthüllen, wie stark sie von ihrer Vergangenheit und ihrem Umfeld geprägt sind. Der Roman zeichnet nach, wie die Schatten der gemeinsamen Kindheit ihre Gegenwart belasten und ihre Beziehung in eine tiefe Krise stürzen. Mit präzisen Dialogen und einer facettenreichen Erzählweise gelingt es der Autorin, diese Spannungen greifbar zu machen. Besonders hervorzuheben ist die emotionale Tiefe, die Ivan in seiner Beziehung zu Margaret offenbart – ein starker Kontrast zu Peters egozentrischer Art, mit seinen Gefühlen umzugehen.
Stilistisch ist „Intermezzo“ ein zweischneidiges Schwert. Rooney setzt auf einen fragmentarischen Schreibstil, der zwar modern und populär ist, jedoch den Lesefluss gerade zu Beginn erschwert. Die zahlreichen unvollständigen Sätze mögen als literarisches Mittel gedacht sein, wirken aber mitunter wie ein Ausdruck erzählerischer Unsicherheit. Dieses Stilmittel dürfte Geschmacksache sein, doch es könnte bei manchen Lesern den Eindruck erwecken, die Autorin vermeide bewusst eine elegantere Ausdrucksweise.
Inhaltlich bleibt die Darstellung unkonventioneller heterosexueller Beziehungen nicht ganz überzeugend. Die Problematik einer Altersdifferenz von zehn Jahren oder die komplexen Gefühle in Dreiecksbeziehungen wirken im Vergleich zu realen gesellschaftlichen Herausforderungen fast trivial. Dennoch beweist Rooney ihre Stärke darin, die Ambivalenz menschlicher Beziehungen glaubhaft zu inszenieren.
Trotz kleinerer Schwächen in der erzählerischen Methodik zählt „Intermezzo“ zu Rooneys stärksten Werken. Im Gegensatz zu ihren früheren, teils mittelmäßig bewerteten Büchern wie „Gespräche mit Freunden“ gelingt es ihr hier, die Gegensätzlichkeit zweier Persönlichkeiten und ihre Beziehung zueinander auf ansprechende Weise darzustellen. Die Idee, zwei unterschiedliche Brüder ins Zentrum des Geschehens zu rücken, gibt dem Roman eine solide Grundlage, die durch die präzise Figurenzeichnung gestützt wird.

Bewertung vom 26.11.2024
Das Erwachen des Drachen / Kleine Hexe Nebel Bd.1
Pélissier, Jérôme

Das Erwachen des Drachen / Kleine Hexe Nebel Bd.1


sehr gut

Magisches Chaos

Mit dem ersten Band „Das Erwachen des Drachen“ gelingt Jérôme Pélissier und Carine Hinder ein farbenprächtiger Auftakt zu ihrer dreibändigen Comicreihe „Kleine Hexe Nebel“, die im Carlsen Verlag erscheint. Besonders Kinder ab 8 Jahren dürften von der kleinen Hexe und ihrer charmanten Welt begeistert sein.
Die Hauptfigur, Nebel, ist ein absoluter Hingucker: Mit ihrem runden Kopf, dem frechen Blick und dem spitzen Hexenhut strahlt sie jugendliche Unangepasstheit aus. Dank der wirkungsmächtigen Illustrationen von Carine Hinder wird Nebels Charakter perfekt eingefangen – ohne viele Worte. Sie ist eine Möchtegern-Hexe, wie sie im Buche steht: entschlossen, mutig und ein wenig tollpatschig. Ihr größter Traum ist es, eine echte Hexe zu sein. Doch leider fehlt ihr jegliches Talent, denn sie besitzt keinerlei magische Kräfte. Erst als ihr Vater ihr ein mysteriöses Zauberbuch schenkt, das er bei ihr als Baby gefunden hat, findet Nebel Zutritt zur Welt der Magie.
Gemeinsam mit ihrem treuen Freund Hugo und dem niedlichen Hausschwein Hubert eröffnet sie einen Zauberladen, um den Dorfbewohnern zu helfen. Doch schon der erste Auftrag endet im Chaos, und Nebel muss sich in ein aufregendes Abenteuer stürzen, um ihren Fehler wieder gutzumachen.
Das absolute Highlight dieses Comics ist zweifelsohne die Farbgestaltung, für die Jérôme Pélissier verantwortlich ist. Die Panels scheinen regelrecht zu glühen, und die geschickte Licht- und Farbwahl verleiht der Geschichte eine magische und heitere Atmosphäre. Die detailreichen Hintergründe, insbesondere Nebels Heimatdorf, wirken lebendig und fantasievoll – ein Hexendorf wie aus dem Märchenbuch, das Kinder und Erwachsene gleichermaßen in seinen Bann ziehen dürfte.
Auch die Figuren sind liebevoll gestaltet. Sie sprechen die junge Zielgruppe perfekt an, indem sie mit wenigen, klaren Details ihre Persönlichkeit ausdrücken: Nebel als freche Heldin, ihr Vater als kräftiger, gutherziger Beschützer, Hugo als treuer, etwas schusseliger Freund und Hubert als witziger Sidekick.
Während Zeichnungen und Farbgebung nahezu perfekt harmonieren, gibt es inhaltlich einige Schwächen. Die Story ist für Kinder ab 8 Jahren gut nachvollziehbar, hätte jedoch in ihren zentralen Momenten mehr Raffinesse vertragen können. Einige Dialoge wirken zu konstruiert, und häufig sind Kommentare des Schweins Hubert nötig, um das Geschehen zu erklären. Zudem fühlt sich das Abenteuer recht kurz an: Kaum wurde die Spannung aufgebaut, ist die Geschichte auch schon zu Ende.
Es scheint, als hätte Jérôme Pélissier, der sowohl für den Text als auch die Farben verantwortlich ist, den Fokus stärker auf die visuelle Gestaltung gelegt. Während diese fantastisch gelungen ist, hätte der Text von einem zusätzlichen kreativen Input profitieren können.
Im Allgemeinen ist „Das Erwachen des Drachen“ ein gelungener Auftakt für die Reihe „Kleine Hexe Nebel“, der vor allem durch seine farbenfrohe und fantasievolle Gestaltung besticht. Kinder werden die charmanten Figuren und die magische Erzählwelt lieben, auch wenn die Handlung stellenweise etwas stärker ausgearbeitet sein könnte. Magie, Drachen und ein wenig Chaos – dieser Comic hat das Zeug, junge Leser in seinen Bann zu ziehen.

Bewertung vom 24.11.2024
Antichristie
Sanyal, Mithu

Antichristie


sehr gut

Vielschichtiger Roman über ein wichtiges Thema

Die Aufarbeitung der kolonialistischen Vergangenheit ist in Großbritannien bis heute eher Mangelware – auch in der Literatur ist dieses Thema, vor allem wenn es um Romane von etablierten Autorinnen und Autoren geht, beschämend unterrepräsentiert. Diesen Mangel füllen mitunter ausländische Schriftsteller aus Indien oder Südafrika. Mithu Sanyal ist es zu verdanken, dass es 2024 mit ihrem zweiten Roman „Antichristie“ zumindest einen erwähnenswerten deutschsprachigen Titel zum Kolonialismus und seinen Folgen gibt.
Als Zeitreisende bewegt sich die Protagonistin Durga durch zwei Welten: In der Gegenwart wird sie mit Themen wie Cancel Culture und Rassismus konfrontiert, wobei der Tod der Queen die Ausgangsbasis des Geschehens bildet. In den Tagen der offiziellen Trauer ist Durga damit beauftragt, für eine Fernsehserie eine alternative Version von Hercule Poirot – dem legendären Ermittler von Agatha Christie – zu entwickeln, was unmittelbar zu tiefgreifenden Debatten über kulturelle Aneignung, Identität und Diversität führt. Und auch der Tod von Queen Elizabeth II. wird zum Anlass genommen, deren Rolle im Kolonialismus zu hinterfragen.
In der Vergangenheit taucht Durga ins Londoner India House des frühen 20. Jahrhunderts ein, wo sich historische Figuren wie Vinayak Damodar Savarkar versammeln, um mit Bombenbau und Waffenschmuggel für Indiens Unabhängigkeit zu kämpfen.
Stets von einem unterschwelligen Humor begleitet, präsentiert sich Sanyals Text als eine dynamische Abfolge steiler Thesen und provokanter Aussagen, die nicht nur historische Tatsachen hinterfragen, sondern ihnen oft auch ironisch eine neue Bedeutung verleihen; ebenso werden auch historische Figuren mitunter ziemlich entfremdet. In teilweise ellenlangen Dialogen kommt es zu scharfen Auseinandersetzungen, in denen politische und ideologische Gegensätze aufeinandertreffen. Dabei gelingt es der Autorin, das Wesen des modernen Menschen als zutiefst zwiegespalten zu zeigen: selbstbewusst in seinen Ansichten, jedoch zunehmend verunsichert durch gesellschaftliche Normen und die Frage, wie weit Meinungsfreiheit reichen darf. Dieses psychologische Porträt spiegelt die zeitgenössischen Spannungen wider, die das Denken und Handeln in einer von Cancel Culture und wachsender Diversität geprägten Welt beeinflussen.
Dass die Autorin bei dieser Vielzahl an unterschiedlichen Themen und Auslegungsarten nicht immer zu finalen Schlussfolgerungen kommen kann, ist kaum verwunderlich. So mal in den meisten Fällen unterschiedliche Sichtweisen durchaus nachvollziehbar sind. So entzieht sich auch ihre fiktive Version von Savarkar einer endgültigen Beurteilung, was im Anbetracht dessen, dass seine Reputation auch in der Realität nicht zweifelsfrei geklärt ist, nur vernünftig ist.
Die Vielschichtigkeit des Romans ist beachtlich. Sanyal geht mit großer Ambition an ihr Projekt heran und verwebt zahlreiche Ebenen – von gesellschaftspolitischen Debatten über historische Ereignisse bis hin zu Fragen der Identität und kulturellen Verantwortung. Aufgrund dieser Komplexität ist eine einmalige Lektüre kaum ausreichend, um alle Facetten angemessen würdigen zu können. Als ein Spiegel aktueller Diskurse und einer gleichzeitig tiefgründigen Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit darf „Antichristie“ aber in jedem Fall als ein mutiges literarisches Experiment angesehen werden, das Historienroman und Gesellschaftskritik auf einzigartige Weise verbindet.

Bewertung vom 23.11.2024
Carmilla
Le Fanu, Sheridan

Carmilla


sehr gut

Ein Vampir als Verführungskünstlerin

Bram Stokers „Dracula“ gilt als einer der bekannteste Vampirromane der Literaturgeschichte und ist vielen Leserinnen und Lesern ein Begriff. Weniger bekannt ist hingegen „Carmilla“, das weibliche Pendant zu diesem Werk, geschrieben von Sheridan Le Fanu und bereits Jahrzehnte vor „Dracula“ veröffentlicht. Obwohl der Roman auch in Deutschland mehrfach übersetzt wurde und bei verschiedenen Verlagen erschien, blieb er lange im Schatten seines berühmten Nachfolgers. Mit der aktuellen Ausgabe des Klett-Cotta Verlags bietet sich die Gelegenheit, dieses Frühwerk der Schauerliteratur neu zu entdecken und seine literarische Qualität sowie seine Bedeutung für das Genre zu beurteilen.
Das Setting von „Carmilla“ ist wie aus dem Lehrbuch des viktorianischen Gruselromans: Laura, die junge Protagonistin, lebt mit ihrem Vater abgeschieden auf einem Schloss in den österreichischen Wäldern. Bereits diese Kulisse ruft ein Gefühl der Einsamkeit und Melancholie hervor, unterstützt durch spärliche, aber effektive Beschreibungen, die die Atmosphäre von Isolation und unterschwelliger Bedrohung intensivieren. Zwar mag das Bild des gotischen Schlosses für heutige Leser vertraut bis klischeehaft wirken, doch in der Entstehungszeit des Romans war diese Bühne sicherlich weniger ausgelaugt als heutzutage.
Diese Inszenierung des Settings, so schlicht sie auch wirken mag, entfaltet durch ihren Minimalismus eine außerordentliche Wirkkraft. Das Schloss wird zu einer Art Mikrokosmos, in dem die Grenzen zwischen Realität und Fantastik verschwimmen – ein Element, das den Grundstein für die düstere Stimmung des gesamten Romans legt.
Mit dem Eintreffen von Carmilla, dem titelgebenden Charakter, nimmt die Handlung ihren Lauf. Le Fanu gelingt es, diese rätselhafte Figur von Beginn an ambivalent zu zeichnen. Auf der einen Seite fasziniert Carmilla mit ihrer Schönheit und Höflichkeit, die besonders Laura in den Bann zieht. Auf der anderen Seite umweht sie ein Hauch von Gefahr, der dem Leser schnell klar macht, dass sie mehr ist als nur eine charmante Besucherin.
Die Darstellung von Carmilla als Vampir unterscheidet sich erheblich vom später etablierten Bild, das durch Figuren wie Dracula geprägt wurde. Sie agiert weniger als physische Bedrohung und mehr als psychologische Manipulatorin, die ihre Opfer wie eine Sirene in der Mythologie mit Charme und Verführung umgarnt. Dieses Konzept der Vampirfigur ist in „Carmilla“ durchgehend präsent und daher die hauptsächliche Triebkraft der Geschichte. Besonders in der Interaktion mit der naiven Laura entfaltet sich dieser Aspekt in einer Mischung aus psychologischem Terror und unterschwelliger Schwärmerei, die für die damalige Zeit bemerkenswert war.
Jedoch ist der Handlungsverlauf von „Carmilla“ geprägt von einer gewissen Vorhersehbarkeit. Die nächtlichen Besuche schattenhafter Gestalten und die schleichende Offenbarung von Carmillas wahrem Wesen folgen einer klaren Linie, die moderne Leser kaum überraschen dürfte. Die Dialoge sind aufs Wesentliche reduziert und wirken mitunter etwas banal. Dennoch bleibt die Geschichte aufgrund ihrer dichten Atmosphäre und ihres altertümlichen Flairs fesselnd.
Einen großen Anteil daran hat auch die Übersetzung von Eike Schönfeld. Sie bewahrt den nostalgischen Stil des Originals, ohne dabei antiquiert zu wirken. Der Text trägt moderne Züge, die einen leichten Zugang ermöglichen, wahrt jedoch gleichzeitig den historischen Charakter des Romans. Damit vermeidet Schönfeld die meinerseits oft kritisierte vollständigen Anpassung klassischer Werke an zeitgenössische Lesererwartungen, was der Authentizität zugutekommt.
Als literarischer Vorläufer von „Dracula“ zeigt „Carmilla“ interessante Ansätze, insbesondere in der psychologischen Darstellung des Vampirs und der Thematisierung weiblicher Verführungskraft. Diese Aspekte machen den Roman auch heute noch lesenswert, besonders für Liebhaber klassischer Schauerliteratur. Gleichzeitig zeigt sich dem Werk aber auch sein Alter. Der Plot ist wenig komplex, die Figurenzeichnung bleibt oberflächlich, und sprachlich wie psychologisch fehlt es an Raffinesse, die man von moderner Literatur gewohnt ist.
Dennoch: Als kurze, atmosphärische Lektüre bietet „Carmilla“ einen faszinierenden Einblick in die Ursprünge der Vampirliteratur und überrascht durch eine unerwartete zwischenmenschliche Beziehung seiner Protagonistinnen.

Bewertung vom 22.11.2024
Über allen Bergen
Goby , Valentine

Über allen Bergen


sehr gut

Erst weiß, dann grün, dann gelb

Valentine Gobys Roman „Über allen Bergen“ hat mir etwas beschert, was ich in diesem Jahr selten erleben durfte: das Gefühl, einen echten literarischen Glücksgriff in den Händen zu halten. Der Fluchtroman über den jungen Juden Vadim aus Paris, der in den Bergen eine Zuflucht findet, entwickelt rasch eine eigene Dynamik und hebt sich deutlich von der Vielzahl zeitgenössischer Romane über den Zweiten Weltkrieg ab, die nur selten etwas Neues bieten.
Die Brillanz von Gobys Werk liegt in der klugen Erzählperspektive: Der Krieg bleibt ein fernes Echo, während die eigentliche Handlung sich in einer anderen Welt abspielt – einer Welt, die von Natur, Gemeinschaft und der Suche nach Identität geprägt ist. Vadim wird von seiner Mutter in die Berge geschickt, um den wachsenden Schikanen gegen Juden zu entkommen. Dort soll er als „Vincent“ ein neues Leben beginnen, in der Hoffnung, dass er fernab der Stadt sicher ist.
Anfangs schüchtern und unsicher, findet Vincent durch die Herzlichkeit seiner neuen Familie und der Dorfbewohner langsam Anschluss. Über mehrere Jahreszeiten hinweg – vom Winter bis zum Ende des Sommers – taucht der Leser in das einfache, aber muntere Leben in den Bergen ein. Vincent lernt Kühe zu melken, erlebt die Geburt von Kälbern und saugt wie ein Schwamm die Wunder der Natur auf. Besonders auffällig ist seine Sensibilität für Farben: Während der Winter für ihn in reines Weiß getaucht ist, empfindet er den Frühling als Grün und den Sommer als Gelb. Diese Farbempfindung erinnert an den von Goby erwähnten Maler Kandinsky, der in seinen Bildern unter anderem die Zugehörigkeit von Farben an bestimmte Formen nachzuweisen versuchte. Für Vincent haben ebenso auch die Naturspiele ihre ganz eigenen Farbwerte. Für den von Asthma geplagten Jungen wird die Welt abseits der Zivilisation zu einem Ort der Heilung – ein Ort, an dem die Zeit stillzustehen scheint, während er innerlich und äußerlich heranwächst. Gobys Stärke liegt in der einfühlsamen Darstellung von Vincents Reifeprozess, der sich in der Verbindung mit der Natur und der Gemeinschaft vollzieht. Doch nicht nur Vincent, auch die Menschen um ihn herum werden mit viel Wärme und Authentizität gezeichnet. Besonders glänzt der Roman jedoch durch die detailreiche Schilderung des Lebens in den Bergen. Mit einer fast dokumentarischen Präzision beschreibt Goby die bäuerlichen Arbeiten und den Alltag der Dorfbewohner, als wäre sie selbst Teil dieser Welt gewesen.
Stilistisch besticht „Über allen Bergen“ durch einen ruhigen, melodiösen Schreibstil. Die Übersetzerin Marlene Frucht hat diese Leichtigkeit auf beachtliche Weise ins Deutsche übertragen, ohne dabei die unterschwellige Poesie zu verlieren. Die Sätze fließen sanft, wie Blätter, die im Wind tanzen.
Obwohl ich Gegenwartsromane über den Zweiten Weltkrieg oft überdrüssig bin, schafft Goby es, diesem ausgeloteten Genre neue Facetten abzugewinnen. Indem sie den Krieg bewusst in den Hintergrund rückt, eröffnet sie Raum für die kleinen, alltäglichen Dinge des damaligen Lebens, die in vielen anderen Werken unbeachtet bleiben.
Ein kleiner Wermutstropfen bleibt jedoch: Mit knapp 340 Seiten wirkt der Roman stellenweise etwas zu langatmig. Für eine so leise und atmosphärische Erzählung hätte sich eine kürzere Form möglicherweise besser geeignet. Zudem bleibt der Roman, trotz seiner Feinfühligkeit, am Ende doch ein Werk seines Genres und kann sich nicht ganz mit den großen Meisterwerken der Kriegsromane messen.
„Über allen Bergen“ ist dennoch ein kleines literarisches Schmuckstück – ein Nebenwerk von unerwarteter Eleganz und Tiefe. Es erzählt eine Geschichte, die den Leser mit ihrer Wärme und Melancholie fesselt, und seine Veröffentlichung als stiller, poetischer Beitrag zum Genre ist allemal gerechtfertigt.

Bewertung vom 16.11.2024
Nach uns der Himmel
Buchholz, Simone

Nach uns der Himmel


gut

Kurze und oberflächliche Lektüre

Ein Flugzeug kann während eines schweren Unwetters scheinbar nur knapp einem Absturz entgehen; die Passagiere, von denen die meisten auf der Reise in den Urlaub sind, kommen knapp mit dem Leben davon. Doch die darauffolgenden Urlaubstage bringen, wie der Flug als Vorbote bereits erahnen ließ, nicht die erhoffte Erholung.
Diese Ausgangslage des Romans „Nach uns der Himmel“ von Simone Buchholz hat ohne Frage Potenzial. Der Flug als traumatischer Auftakt lässt auf eine psychologisch tiefgründige Auseinandersetzung mit den Auswirkungen eines solchen Ereignisses hoffen. Doch diese Erwartung wird enttäuscht. Stattdessen bietet Buchholz ein Kaleidoskop an Figuren und Geschichten, die jeweils nur oberflächlich beleuchtet werden. Der Roman ist mit knapp 200 Seiten schlichtweg zu kurz, um gleich acht Hauptprotagonisten und ihre individuellen Konflikte überzeugend darzustellen.
Die acht Figuren befinden sich in unterschiedlichen Lebensphasen, doch wirklich glücklich ist keiner von ihnen. Der Jugendliche Vincent steht aufgrund einer schweren Krankheit am Ende seines Lebens, seine Eltern Sara und Marc stecken in einer emotional leeren Beziehung. Die Studienfreunde Annike und Benedikt versuchen, in ihrem Urlaub Entspannung zu finden, während ihr wohlhabender Freund Claudius als großzügiger, aber distanzierter Gönner auftritt. Trotz dieser vielversprechenden Ansätze bleibt der Leser unberührt: Keine der Figuren wird ausreichend ausgearbeitet, um Empathie oder Interesse zu wecken.
Die einzige nennenswerte Entwicklung durchlebt Vincent, der durch seine Begegnung mit Heidi, einer Startup-Verkäuferin, einen Hauch von Glück in seinem düsteren Leben erfährt. Doch selbst dieser Handlungsstrang wirkt eher erzwungen als berührend. Die restlichen Figuren bleiben leblos, blass und wenig liebenswert. Ihre Geschichten verlaufen in ereignislosen Bahnen, ohne Konflikte oder Überraschungen. Das Fehlen jeglicher Dramatik macht die Lektüre langatmig und monoton.
Auch stilistisch kann der Roman nicht überzeugen. Buchholz scheint bemüht, aus dem Alltäglichen Literatur zu schaffen, doch die abgehackten Sätze und die sperrige Syntax wirken eher anstrengend als kunstvoll. Es fehlt an sprachlicher Eleganz und einem Rhythmus, der den Leser mitreißen könnte. Stattdessen entsteht der Eindruck, dass die Autorin sich in banalen Beschreibungen verliert, ohne echten Gehalt zu liefern.
Zum Ende hin erinnert das Szenario stark an „Die Anomalie“ von Hervé Le Tellier aus dem Jahr 2021, doch Buchholz gelingt es nicht, diesem Vorbild etwas Eigenes oder gar Besseres entgegenzusetzen. Während Le Telliers Roman zumindest durch seine originelle Prämisse punktet, bleibt „Nach uns der Himmel“ blass und uninspiriert. Der Vergleich mit diesem Werk zeigt vielmehr die Schwächen von Buchholz’ Roman auf.
Insgesamt hinterlässt „Nach uns der Himmel“ den Eindruck eines vernachlässigbaren Randwerks. Der Roman scheitert sowohl inhaltlich als auch stilistisch und lässt den Leser ratlos zurück, was die Beweggründe für seine Veröffentlichung betrifft. Die Figuren sind weder interessant noch sympathisch, die Handlung ist belanglos, und der Schreibstil strapaziert die Geduld. Weder in der literaturkritischen Bewertung noch in der kommerziellen Hinsicht dürfte diesem Werk ein Erfolg beschieden sein – eine enttäuschende Lektüre, die man getrost überspringen kann.

Bewertung vom 11.11.2024
Der König
Nesbø, Jo

Der König


sehr gut

Eine Krone kann man nicht teilen

Zwei Brüder, die wie Könige über eine kleine norwegische Gemeinde herrschen, das lässt schon im Vorhinein ein interessantes und außergewöhnliches Thema für einen Kriminalroman erahnen. Tatsächlich geht Jo Nesbøs neuer Bestseller „Der König“ weit über die Grenzen des herkömmliches Kriminalromans hinaus. Im Vordergrund der Geschichte stehen die beiden Brüder Roy und Carl, die alles andere als typische rechtschaffene Protagonisten sind, denn ihr Verhalten und ihre Handlungen sind moralisch fragwürdig und in vielerlei Hinsicht skrupellos. Um ihre Ziele zu erreichen, scheuen sie weder vor Manipulation noch vor Mord zurück. Was ihre Taten besonders faszinierend macht, ist die allmähliche Enthüllung ihrer düsteren Vergangenheit. Nach und nach erfahren die Leser von Roys Verbrechen, die der Autor gekonnt in die Haupthandlung einflicht, wodurch ein Spannungsbogen entsteht, der weniger auf actiongeladene Szenen als auf psychologische Tiefe und die schrittweise Enthüllung familiärer Abgründe setzt.
Als Schauplatz dient die Kleinstadt Os im Norden Norwegens, dem eine bedeutende Rolle in der Geschichte zukommt. Die Gemeinde ist nicht einfach nur Kulisse, sondern ein komplexes Gebilde, dessen Bewohner eigene, tragische Geschichten und Geheimnisse verbergen. Neben Roy und Carl werden auch die Nebenfiguren detailliert und authentisch geschildert, was dem Roman eine zusätzliche Ebene der Tiefe verleiht. Die Stadtbewohner sind keine Statisten; sie haben ihre eigenen Lebensträume, Geheimnisse und Abgründe, die Jo Nesbø in zahlreichen kleinen Anekdoten und Rückblenden kunstvoll erzählt. Themen wie Korruption, Missbrauch, Familie, Sport, Achterbahnen, Wirtschaftspolitik und Liebe verweben sich dabei zu einem vielschichtigen Bild, das weniger durch klassische Spannung als durch die Stärke seiner Charakterzeichnungen und Themen überzeugt.
Interessant ist auch die dynamische Entwicklung der Brüder Roy und Carl im Laufe der Handlung. Anfangs wirken sie wie unzertrennliche Verbündete, die gemeinsam für ihre Ziele kämpfen. Doch im Verlauf der Geschichte beginnt diese Verbundenheit zu bröckeln. Die beiden Brüder entwickeln sich in unterschiedliche Richtungen, ihre Ziele und Wertvorstellungen driften auseinander, und schon bald stehen sie sich als Gegner gegenüber. Die Beziehung der Brüder ist dabei alles andere als das Klischee einer typischen Bruderbeziehung. Auf den ersten Blick scheint vor allem Carl der wahre „König“ von Os zu sein, der charismatisch und ideenreich das Leben in der Kleinstadt dominiert. Doch hinter dieser Fassade ist es vor allem Roy, der die Fäden in der Hand hält. Der stille und loyal wirkende Bruder entwickelt sich zu einem eiskalten Vollstrecker, der keine Grenzen kennt, wenn es darum geht, seine Familie und deren Geheimnisse zu schützen. Dabei wird er jedoch nicht als gefühllose Killermaschine dargestellt. Jo Nesbø gelingt es, die Leser seine Beweggründe und inneren Konflikte verstehen zu lassen, sodass Roys Handlungen im Kontext der Geschichte beinahe nachvollziehbar erscheinen. Trotz seiner Skrupellosigkeit ist er eine komplexe Figur mit einem moralischen Kompass, der zwar verbogen, aber nicht vollständig zerstört ist. Seine Loyalität gegenüber seinem Bruder und seine tiefe Verbundenheit zur Familie machen ihn zu einem faszinierenden und zugleich verstörenden Charakter, der uns als Leser zwischen Mitleid und Abscheu schwanken lässt.
Jo Nesbø inszeniert in „Der König“ ein intensives Drama um Macht und Einfluss, das sich nicht wie so oft in Großstädten oder Metropolen abspielt, sondern in einer kleinen, überschaubaren Gemeinde unter einfachen Menschen. Gerade diese bodenständige Darstellung des Kampfes um Geld und Macht verleiht der Geschichte Glaubwürdigkeit und macht sie so eindringlich. Durch das Setting im ländlichen Norwegen gelingt es Nesbø, ein authentisches und realitätsnahes Bild der Gesellschaft zu zeichnen, das dem Leser eine ungewöhnliche Perspektive auf die Mechanismen von Macht und Korruption bietet.
Insgesamt entwirft der Autor ein finsteres Gesellschaftsbild, das zwar erschreckend ist, jedoch durch seine trostlose Darstellung eine gewisse Authentizität gewinnt und die Konsequenzen einer empathielosen Welt eindringlich darstellt.
„Der König“ weist dabei auch deutliche Züge eines Gesellschaftsromans auf, in dem Nesbø tief in die Strukturen und Geheimnisse der Kleinstadt eintaucht. Trotz dieser Schwere und Tiefe kommt jedoch auch die Spannung nicht zu kurz: Liebhaber von Kriminalromanen werden trotz der unkonventionellen Erzählweise am Ende des Tages voll auf ihre Kosten kommen.

Bewertung vom 27.10.2024
Vielleicht hat das Leben Besseres vor
Gesthuysen, Anne

Vielleicht hat das Leben Besseres vor


sehr gut

Ein Leben halt

Etwas anders als von ihr gewohnt, aber dennoch typisch für diese Autorin, legt Anne Gesthuysen mit „Vielleicht hat das Leben Besseres vor“ einmal mehr eine Art Familienroman vor, der von den Menschen einer kleinen Dorfgemeinde am Niederrhein erzählt. Dabei verwebt sie Elemente unterschiedlicher Genres miteinander, teilweise trägt die Geschichte kriminalistische Züge, dann wieder erzählt sie vom einfachen Leben normaler Menschen, und ab und zu wird es sogar ein wenig politisch und gesellschaftskritisch.
Im Fokus des Romans steht das Mädchen Raffaela, die aufgrund eines Unfalls in ihrer frühen Kindheit geistig behindert ist, und seither den Mittelpunkt des Lebens ihrer Mutter Heike bildet. Raffaela ist im ganzen Dorf bekannt, nicht verwunderlich also, dass sogleich die Gerüchteküche ins Brodeln gerät, als das Mädchen plötzlich reglos auf der Straße liegend aufgefunden wird, und monatelang nicht aus dem Koma erwacht. Da man ein Verbrechen wittert, werden schnell die ersten Schuldigen ausgemacht. Raffaelas weiteres Schicksal ist eng mit dem Alltag des gesamten Dorfes verknüpft, gleichzeitig hat jedoch auch jeder seine eigenen Probleme und Sorgen. Mit dieser Basis kreiert Gesthuysen das Porträt einer kleinen Gemeinde, in der getratscht und spekuliert, sich gegenseitig verleumdet, aber auch geholfen wird. Mitunter schleicht sich das eine oder andere Klischee über das Landleben in den Text, aber generell gelingt der Autorin eine anschauliche Beschreibung des Dorflebens zur Spargelzeit. Und durch die vielen unterschiedlichen Charaktere, allen voran Anna und Heike, die mit ihren familiären Problemen zu kämpfen haben, kann die Geschichte an der einen oder anderen Stelle sogar mit Tiefgang punkten, ohne je kitschig zu werden. Mit einem guten Gespür für die Kleinigkeiten im Leben ihrer Protagonisten gelingt der Autorin ein facettenreicher Roman, der ansonsten keine Ansprüche auf herausragende Originalität stellt. Nicht unerwähnt bleiben sollte jedoch, wie spießig dieses Buch in seiner Gesamtheit wirkt, was allerdings im Anbetracht dessen, dass das Cover und die generelle literarische Einordnung der Autorin auch nichts anderes suggerieren, nicht als Kritikpunkt verstanden werden soll; als Leser wird man genügend darauf vorbereitet, und sollte sich demzufolge auch nicht beklagen.
Ein frischer Text, trotz aktueller Themen, ist „Vielleicht hat das Leben Besseres vor“ nicht, wen das nicht stört, dem ist eine kurzweilige Unterhaltungslektüre garantiert.

Bewertung vom 18.09.2024
Das große Spiel
Powers, Richard

Das große Spiel


sehr gut

Eine kleine Insel im Pazifik

In seinem neuen Roman „Das große Spiel“ widmet sich Richard Powers wieder einmal zentralen Themen des Planeten Erde. Anstelle von Bäumen wie in „Die Wurzeln des Lebens“ steht diesmal der Ozean im Mittelpunkt, aber auch die Geschichte der Informatik, von den frühesten Anfängen bis hin zu aktuellen Trends wie Social Media und Künstlicher Intelligenz. Ein ambitioniertes Projekt, das Powers mit gleich vier wesentlichen Protagonisten zu bewältigen versucht. Diese sind in unterschiedlichen Bereichen beheimatet, zum einen gibt es da eine Künstlerin, die auf der Pazifikinsel Makatea an ihren Skulpturen arbeitet, einen vielversprechenden Informatiker, eine berühmte Taucherin, sowie ein Büchernarr. Zudem springt der Roman zwischen den Zeitlinien, denn bei der Nacherzählung des Werdegangs der Hauptfiguren wird mitunter auch die Kindheit und Jugend nicht ausgespart. Im Falle der Taucherin und Meeresforscherin Evie Beaulieu versetzt Powers den Leser sogar bis in die Fünfzigerjahre des vorangegangenen Jahrhunderts zurück, als ihr Vater den Keim für ihre außergewöhnliche Karriere säte. Im Anbetracht der Vielzahl an Figuren und Handlungssträngen ist es kaum verwunderlich, dass der Roman Schwierigkeiten hat, in die Gänge zu kommen. Die ersten knapp Siebzig Seiten lesen sich recht holprig, was auch an den kurzen Szenen liegen mag. Anfangs widmet Powers seinem Personal jeweils nur einige Seiten, es folgt Sequenz auf Sequenz; vermutlich wird damit der Zweck verfolgt, möglichst viele Figuren in kurzer Zeit einzuführen. Nachdem diese holprige Art des Einstiegs überwunden ist, und Powers den Charakteren längere Erzählstränge zubilligt, nimmt der Roman an Fahrt auf. Genaugenommen konnte mich der Autor mit der Kindheitsbeschreibung von Rafi Young zum ersten Mal tief in die Geschichte hineinsaugen. Ungefähr Zweihundert Seiten lang darf der Leser sich daraufhin auf vielschichtige Figuren freuen, die mehr und mehr ihren Platz in der Welt entdecken, und bei aller Eigensinnigkeit gewillt sind, dem Planeten ihren Stempel aufzurücken. Gerne hätte Powers es bei dieser Art der Erzählung belassen können, solange seine Charaktere den Mittelpunkt der Geschichte bilden, kann „Das große Spiel“ in vielerlei Hinsicht überzeugen. Leider jedoch genügt es dem Pulitzerpreisträger nicht, auf einer Mikroebene zu verbleiben. Vor allem im letzten Drittel übernimmt der Autor sich bei dem Versuch, aktuelle Trends und Entwicklungen der Gegenwart zu thematisieren. Zu den Themen Maschinelles Lernen, Social Media, Klimakrise und Meeresökologie kann er jedoch keinen neuen Gedanken beisteuern. Längst braucht es keinen Richard Powers mehr, um die Gefahren unkontrolliert agierender Computersysteme zu erkennen. Dennoch ist ihm ein durchaus lesenswerter Roman gelungen, der zwar kein Meisterstück in seinem Genre ist, aber solide erzählt wird.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.09.2024
Sing, wilder Vogel, sing
O'Mahony, Jacqueline

Sing, wilder Vogel, sing


gut

Auswanderungsgeschichte

In „Sing, wilder Vogel, sing“ entführt die irische Autorin Jacqueline O‘Mahony den Leser an die Westküste Irlands, wo in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine erbarmungslose Hungersnot herrscht. In dieser schwierigen Zeit versucht die Außenseiterin Honora gemeinsam mit ihrem Ehemann zu überleben. Unlängst ist jedoch der Wunsch in ihr aufgekeimt, nach Amerika zu reisen, wo sie auf ein besseres Leben hofft. Nach einem verheerenden Schicksalsschlag in ihrer Heimat Doolough wandert Honora wenig später tatsächlich in das Land ihrer Träume aus. Im amerikanischen Westen findet die Odyssee ihres Lebens jedoch ohne Rast ihre Fortführung.
Auswanderungsgeschichten sind keine Seltenheit, auch von irischen Autoren liest man dergleichen immer wieder, die thematisch gerne den Hunger und das Elend ihrer Vorfahren literarisch aufarbeiten. Die treibende Feder von „Sing, wilder Vogel, sing“ ist vor allem seine alles in allem außergewöhnliche Hauptfigur. Die verschlossene und schweigsame Honora hat Schwierigkeiten, sich in ihrem sozialen Umfeld zu integrieren. Im Laufe der Geschichte muss sie jedoch eine Herausforderung nach der nächsten meistern, wobei sie über sich selbst hinauswächst. Wenngleich sie an sich ein interessanter Protagonist ist, hätte sie von der Autorin an der einen oder anderen Stelle besser ausgearbeitet werden können. Ihre wesentlichen Charakterzüge werden leider nur unzureichend durch die Erzählung an sich transportiert, jedenfalls hatte ich beim Lesen selten die Empfindung, dass sie sonderlich zurückhaltend oder wortkarg agiert, das geht im Grunde nur aus den Dialogen zwischen den Figuren hervor. Nichtsdestotrotz ist Honora eine äußerst sympathische Person, die man gerne durch die Geschichte begleitet. Und deutlich besser gelingt der Autorin die Chronik ihres Leidensweges, man fühlt sich als Leser mit ihr verbunden und fragt sich voller Sorge, wie es ihr wohl gelingen wird, den widrigen Umständen ihrer momentanen Lebenslage zu entkommen. Im letzten Drittel des Romans hätte jedoch auf eine zunehmend filmreife Zuspitzung der Situationen verzeichnet werden können: Schießereien, Raubüberfälle und Verfolgungsjagden, das ist nicht gerade der Stoff, aus dem gute Literatur gemacht ist, und es schadet der Geschichte, die durchaus leise, zarte und stimmungsvolle Momente zu bieten hat. Vor allem der erste Teil des Romans, mit Irland als Schauplatz, hat mehrere feinfühlige Momente zu bieten und bildet den stärksten Teil des Romans.
Interessant zu lesen ist „Sing, wilder Vogel, sing“ allemal. Ein wichtiges irisches Thema wurde von O‘ Mahony ordentlich umgesetzt, wenngleich das Buch in vielerlei Belangen Schwierigkeiten hat, sich selbst treu zu bleiben, sowohl was die Figuren, als auch die Geschichte betrifft.