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Monsieur
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Amorbach

Bewertungen

Insgesamt 35 Bewertungen
Bewertung vom 27.10.2024
Vielleicht hat das Leben Besseres vor
Gesthuysen, Anne

Vielleicht hat das Leben Besseres vor


sehr gut

Ein Leben halt

Etwas anders als von ihr gewohnt, aber dennoch typisch für diese Autorin, legt Anne Gesthuysen mit „Vielleicht hat das Leben Besseres vor“ einmal mehr eine Art Familienroman vor, der von den Menschen einer kleinen Dorfgemeinde am Niederrhein erzählt. Dabei verwebt sie Elemente unterschiedlicher Genres miteinander, teilweise trägt die Geschichte kriminalistische Züge, dann wieder erzählt sie vom einfachen Leben normaler Menschen, und ab und zu wird es sogar ein wenig politisch und gesellschaftskritisch.
Im Fokus des Romans steht das Mädchen Raffaela, die aufgrund eines Unfalls in ihrer frühen Kindheit geistig behindert ist, und seither den Mittelpunkt des Lebens ihrer Mutter Heike bildet. Raffaela ist im ganzen Dorf bekannt, nicht verwunderlich also, dass sogleich die Gerüchteküche ins Brodeln gerät, als das Mädchen plötzlich reglos auf der Straße liegend aufgefunden wird, und monatelang nicht aus dem Koma erwacht. Da man ein Verbrechen wittert, werden schnell die ersten Schuldigen ausgemacht. Raffaelas weiteres Schicksal ist eng mit dem Alltag des gesamten Dorfes verknüpft, gleichzeitig hat jedoch auch jeder seine eigenen Probleme und Sorgen. Mit dieser Basis kreiert Gesthuysen das Porträt einer kleinen Gemeinde, in der getratscht und spekuliert, sich gegenseitig verleumdet, aber auch geholfen wird. Mitunter schleicht sich das eine oder andere Klischee über das Landleben in den Text, aber generell gelingt der Autorin eine anschauliche Beschreibung des Dorflebens zur Spargelzeit. Und durch die vielen unterschiedlichen Charaktere, allen voran Anna und Heike, die mit ihren familiären Problemen zu kämpfen haben, kann die Geschichte an der einen oder anderen Stelle sogar mit Tiefgang punkten, ohne je kitschig zu werden. Mit einem guten Gespür für die Kleinigkeiten im Leben ihrer Protagonisten gelingt der Autorin ein facettenreicher Roman, der ansonsten keine Ansprüche auf herausragende Originalität stellt. Nicht unerwähnt bleiben sollte jedoch, wie spießig dieses Buch in seiner Gesamtheit wirkt, was allerdings im Anbetracht dessen, dass das Cover und die generelle literarische Einordnung der Autorin auch nichts anderes suggerieren, nicht als Kritikpunkt verstanden werden soll; als Leser wird man genügend darauf vorbereitet, und sollte sich demzufolge auch nicht beklagen.
Ein frischer Text, trotz aktueller Themen, ist „Vielleicht hat das Leben Besseres vor“ nicht, wen das nicht stört, dem ist eine kurzweilige Unterhaltungslektüre garantiert.

Bewertung vom 18.09.2024
Das große Spiel
Powers, Richard

Das große Spiel


sehr gut

Eine kleine Insel im Pazifik

In seinem neuen Roman „Das große Spiel“ widmet sich Richard Powers wieder einmal zentralen Themen des Planeten Erde. Anstelle von Bäumen wie in „Die Wurzeln des Lebens“ steht diesmal der Ozean im Mittelpunkt, aber auch die Geschichte der Informatik, von den frühesten Anfängen bis hin zu aktuellen Trends wie Social Media und Künstlicher Intelligenz. Ein ambitioniertes Projekt, das Powers mit gleich vier wesentlichen Protagonisten zu bewältigen versucht. Diese sind in unterschiedlichen Bereichen beheimatet, zum einen gibt es da eine Künstlerin, die auf der Pazifikinsel Makatea an ihren Skulpturen arbeitet, einen vielversprechenden Informatiker, eine berühmte Taucherin, sowie ein Büchernarr. Zudem springt der Roman zwischen den Zeitlinien, denn bei der Nacherzählung des Werdegangs der Hauptfiguren wird mitunter auch die Kindheit und Jugend nicht ausgespart. Im Falle der Taucherin und Meeresforscherin Evie Beaulieu versetzt Powers den Leser sogar bis in die Fünfzigerjahre des vorangegangenen Jahrhunderts zurück, als ihr Vater den Keim für ihre außergewöhnliche Karriere säte. Im Anbetracht der Vielzahl an Figuren und Handlungssträngen ist es kaum verwunderlich, dass der Roman Schwierigkeiten hat, in die Gänge zu kommen. Die ersten knapp Siebzig Seiten lesen sich recht holprig, was auch an den kurzen Szenen liegen mag. Anfangs widmet Powers seinem Personal jeweils nur einige Seiten, es folgt Sequenz auf Sequenz; vermutlich wird damit der Zweck verfolgt, möglichst viele Figuren in kurzer Zeit einzuführen. Nachdem diese holprige Art des Einstiegs überwunden ist, und Powers den Charakteren längere Erzählstränge zubilligt, nimmt der Roman an Fahrt auf. Genaugenommen konnte mich der Autor mit der Kindheitsbeschreibung von Rafi Young zum ersten Mal tief in die Geschichte hineinsaugen. Ungefähr Zweihundert Seiten lang darf der Leser sich daraufhin auf vielschichtige Figuren freuen, die mehr und mehr ihren Platz in der Welt entdecken, und bei aller Eigensinnigkeit gewillt sind, dem Planeten ihren Stempel aufzurücken. Gerne hätte Powers es bei dieser Art der Erzählung belassen können, solange seine Charaktere den Mittelpunkt der Geschichte bilden, kann „Das große Spiel“ in vielerlei Hinsicht überzeugen. Leider jedoch genügt es dem Pulitzerpreisträger nicht, auf einer Mikroebene zu verbleiben. Vor allem im letzten Drittel übernimmt der Autor sich bei dem Versuch, aktuelle Trends und Entwicklungen der Gegenwart zu thematisieren. Zu den Themen Maschinelles Lernen, Social Media, Klimakrise und Meeresökologie kann er jedoch keinen neuen Gedanken beisteuern. Längst braucht es keinen Richard Powers mehr, um die Gefahren unkontrolliert agierender Computersysteme zu erkennen. Dennoch ist ihm ein durchaus lesenswerter Roman gelungen, der zwar kein Meisterstück in seinem Genre ist, aber solide erzählt wird.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.09.2024
Sing, wilder Vogel, sing
O'Mahony, Jacqueline

Sing, wilder Vogel, sing


gut

Auswanderungsgeschichte

In „Sing, wilder Vogel, sing“ entführt die irische Autorin Jacqueline O‘Mahony den Leser an die Westküste Irlands, wo in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine erbarmungslose Hungersnot herrscht. In dieser schwierigen Zeit versucht die Außenseiterin Honora gemeinsam mit ihrem Ehemann zu überleben. Unlängst ist jedoch der Wunsch in ihr aufgekeimt, nach Amerika zu reisen, wo sie auf ein besseres Leben hofft. Nach einem verheerenden Schicksalsschlag in ihrer Heimat Doolough wandert Honora wenig später tatsächlich in das Land ihrer Träume aus. Im amerikanischen Westen findet die Odyssee ihres Lebens jedoch ohne Rast ihre Fortführung.
Auswanderungsgeschichten sind keine Seltenheit, auch von irischen Autoren liest man dergleichen immer wieder, die thematisch gerne den Hunger und das Elend ihrer Vorfahren literarisch aufarbeiten. Die treibende Feder von „Sing, wilder Vogel, sing“ ist vor allem seine alles in allem außergewöhnliche Hauptfigur. Die verschlossene und schweigsame Honora hat Schwierigkeiten, sich in ihrem sozialen Umfeld zu integrieren. Im Laufe der Geschichte muss sie jedoch eine Herausforderung nach der nächsten meistern, wobei sie über sich selbst hinauswächst. Wenngleich sie an sich ein interessanter Protagonist ist, hätte sie von der Autorin an der einen oder anderen Stelle besser ausgearbeitet werden können. Ihre wesentlichen Charakterzüge werden leider nur unzureichend durch die Erzählung an sich transportiert, jedenfalls hatte ich beim Lesen selten die Empfindung, dass sie sonderlich zurückhaltend oder wortkarg agiert, das geht im Grunde nur aus den Dialogen zwischen den Figuren hervor. Nichtsdestotrotz ist Honora eine äußerst sympathische Person, die man gerne durch die Geschichte begleitet. Und deutlich besser gelingt der Autorin die Chronik ihres Leidensweges, man fühlt sich als Leser mit ihr verbunden und fragt sich voller Sorge, wie es ihr wohl gelingen wird, den widrigen Umständen ihrer momentanen Lebenslage zu entkommen. Im letzten Drittel des Romans hätte jedoch auf eine zunehmend filmreife Zuspitzung der Situationen verzeichnet werden können: Schießereien, Raubüberfälle und Verfolgungsjagden, das ist nicht gerade der Stoff, aus dem gute Literatur gemacht ist, und es schadet der Geschichte, die durchaus leise, zarte und stimmungsvolle Momente zu bieten hat. Vor allem der erste Teil des Romans, mit Irland als Schauplatz, hat mehrere feinfühlige Momente zu bieten und bildet den stärksten Teil des Romans.
Interessant zu lesen ist „Sing, wilder Vogel, sing“ allemal. Ein wichtiges irisches Thema wurde von O‘ Mahony ordentlich umgesetzt, wenngleich das Buch in vielerlei Belangen Schwierigkeiten hat, sich selbst treu zu bleiben, sowohl was die Figuren, als auch die Geschichte betrifft.

Bewertung vom 29.08.2024
Zwei in einem Leben
Nicholls, David

Zwei in einem Leben


sehr gut

Zwei auf Wanderschaft

David Nicholls ist mit seinen Romanen, auch wenn sie vorrangig das Ziel der Unterhaltung verfolgen, immer wieder eine gute Wahl, denn sein Gespür für Charaktere und Dialogwitz machten bereits Bücher wie "Zwei an einem Tag" oder "Drei auf Reisen" zu einem besonderen Leseerlebnis.
Bei Fischer Krüger erscheint nun sein neuer Roman "Zwei in einem Leben", wobei bereits beim deutschsprachigen Titel abzusehen ist, dass der Versuch unternommen wird, an frühere Erfolge anzuknüpfen. Die Konstruktion der Geschichte ist typisch für Nicholls, alles dreht sich um zwei Hauptcharaktere, eine Frau und einen Mann, Marnie und Michael. Beide befinden sich in ihren mittleren Jahren und durchleben derzeit eine Art Krise. Marnie, die als selbstständige Lektorin arbeitet, ist seit der Trennung von ihrem Ehemann vereinsamt und verbarrikadiert sich zunehmend in ihrer kleinen Wohnung, trifft kaum noch Freunde oder Bekannte, und erwischt sich hin und wieder dabei, wie sie mit ihren Einrichtungsgegenständen spricht. Ihre Lebenssituation wird wunderbar spezifisch geschildert, es werden nicht nur banale Klischees formuliert, mehr noch wird ihre Einsamkeit mit vielen zutreffenden Details ausgeschmückt.
Der zweite Protagonist Michael, ein Erdkundelehrer, lebt ebenfalls getrennt von seiner Lebensgefährtin, doch das Leben als Alleinlebender stellt für ihn eine Herausforderung dar, weil auch er von Einsamkeit und Zweifeln geplagt wird.
Bei einer gemeinsamen Gruppenwanderung treffen diese beiden Einzelgänger zufällig aufeinander. Ihr ersten Konversationsversuche sind zögerlich und unbeholfen, doch mit einer zunehmenden Zahl gewanderter Meilen beginnen sie, sich einander zu öffnen, und vertrauen sich schon bald sogar ihre Sorgen an. Je vertrauter der Umgang miteinander wird, desto stärker werden auch die Gefühle, die sie füreinander hegen. Der Aufbau des Romans lässt ihrer Beziehung viel Raum zur Entwicklung, die beiden Hauptfiguren nähern sich einander nur langsam an, und nicht zu jedem Zeitpunkt der Geschichte ist abzusehen, wer von den beiden, wenn überhaupt, sich einen weiteren Schritt voran wagen wird.
Vieles von dem, was man an David Nicholls Romanen schätzt, lässt sich in "Zwei in einem Leben" wiederfinden. Zum einen sein Händchen für die Protagonisten, immer wieder gelingt es ihm, bei der Beschreibung ihres Innenlebens den Nagel auf den Kopf zu treffen, ihre Gefühle und Gedanken werden so glaubhaft dargestellt, dass beim Lesen nahezu der Eindruck entsteht, der Autor habe reale Menschen porträtiert. Vor allem zu Beginn der Geschichte sind die Dialoge spritzig, pointiert und teilweise komisch, hier sticht Nicholls‘ Erfahrung als Drehbuchautor durch. Zudem ist er in der Lage, die Stimmungslage zu variieren, denn je näher Marnie und Michael sich kommen, desto tiefsinniger werden auch ihre Gespräche, anstatt einer Prise Humor, sind ihre Unterhaltungen dann von einer untergründiger Melancholie durchzogen, ebenso von neu erweckter Hoffnung. Nur die wenigsten von Nicholls‘ Autorenkollegen können Dialoge auf diesem Niveau schreiben, das ist zu würdigen.
An "Zwei an einem Tag" oder "Drei auf Reisen" kann Nicholls neuer Roman jedoch nicht heranreichen, das mag zum einen am Thema liegen. Die Chronik einer Wanderung bei englischem Wetter birgt zwar viel Potenzial für ruhige Momente, jedoch bietet der Wechsel zwischen englischen Ortschaften weniger Abwechslung als eine Tour quer durch Europa wie in "Drei auf Reisen". Und die Themen Alleinsein und Einsamkeit sind vom Autor an sich zwar gekonnt umgesetzt worden, jedoch fehlt vor allem in der zweiten Hälfe des Romans an einigen Stellen die Interaktion mit weiteren Figuren, weil Marnie und Michael zunehmend nur noch mit sich selbst beschäftigt sind. Womöglich hätte die Einführung eines zweiten Themengebiets die Geschichte noch etwas abwechslungsreicher gestaltet und somit für den letzten Rest Tiefgang gesorgt, den Nicholls Vorgängerromane nicht vermissen lassen. Dennoch bietet "Zwei in einem Leben" als Unterhaltungslektüre eine gelungenen Mischung aus Humor und Welterfahrenheit, nach der auf der Suche nach einer Romanze bevorzugt gegriffen werden sollte, als nach manch anderem Machwerk dieses Genres.

Bewertung vom 19.08.2024
Die Gräfin
Nelles, Irma

Die Gräfin


gut

Gräfin Diana

In ihrem Romandebüt "Die Gräfin" webt Irma Nelles eine kurze Erzählung rund um Diana von Reventlow-Criminil. Die mittlerweile achtzigjährige Gräfin lebt zurückgezogen auf der Hallig Südfall, ihrer Wahlheimat, wo sie vom Zweiten Weltkrieg weitestgehend unbehelligt bleibt. Im Sommer 1944 jedoch stürzt der englische Pilot John Philip Gunter während eines geheimen Flugauftrags ins Wattenmeer. Die Gräfin quartiert den Verletzten bei sich ein, versteckt ihn, wohl wissend, dass es ein schweres Vergehen ist, einen Feind zu beherbergen. Dank Dianas Englischkenntnissen findet sie schnell Zugang zu dem fremden Piloten, und ihre gemeinsamen Interessen verbinden sie miteinander. Jedoch sind sie unfähig, einander vollends zu vertrauen. Und auch an Dianas Hausbediensteter Meta findet der Pilot gefallen.
Wie dem Autorentext zu entnehmen ist, waren Anekdoten über die Gräfin Diana in Irma Nelles‘ Kindheit keine Seltenheit. Nun hat die Autorin ihr ihren ersten Roman gewidmet, ebenso hat sie die auftretenden Figuren nach realen Vorbildern gestaltet. Wahre Begebenheiten zu beschreiben, das scheint der Autorin zu liegen, denn vor allem in der Ausarbeitung der Protagonisten kann der Roman überzeugen. Diana als Heldin ist in vielerlei Hinsicht interessant. Auf der einen Seite sehnt sie sich nach Zurückgezogenheit, verbarrikadiert sich auf ihrer Hallig vor der Außenwelt. Sie verbringt ihre Tage lieber mit ihren Büchern, als mit ihren Mitmenschen. Gleichzeitig ist sie jedoch voller Empathie und setzt sie sich für Verfolgte ein. Trotz aller Gefahren verhilft sie Flüchtlingen nach Dänemark, um sie vor den Nazis zu retten. Ebenfalls gut gelungen sind der Autorin Dianas Bedienstete. Maschmann zum Beispiel, der im Gegensatz zu seiner Arbeitgeberin aus armseligen Verhältnissen stammt und seit seiner Jugend hart schuften musste. Erst bei ihr auf der Hallig ist er zufrieden mit seinem Leben, denn er fühlt sich wertgeschätzt und gerecht behandelt. Dass er ausschließlich plattdeutsch spricht, stellt jedoch die Nervenstärke des Lesers auf die Probe.
Während die Charaktere und ihr Beziehungsgeflecht gekonnt umgesetzt werden, lässt die Erzählweise jedoch auf eine gewisse Unerfahrenheit schließen. Vor allem zu Beginn hat die Autorin sichtlich Mühe, die Geschichte in Gang zu bringen und die Figuren in die Handlung einzuführen. Wenig galant wird die Wesensart der Figuren gleich bei ihrem ersten Auftreten umfänglich beschrieben, anstatt ihre Eigenschaften durch ihr Verhalten im Fortlauf der Handlung zu illustrieren. Zudem wirkt der Schreibstil insgesamt unausgereift. Die Autorin ist um eine präzise Sprache bemüht, allerdings fehlen dabei häufig fließende Übergänge zwischen den Sätzen, die dadurch teilweise wie lieblos aneinandergereiht wirken. Hier wird viel Potential verschenkt. Nicht auszudenken, was dieser kurze Roman leisten könnte, wenn er besser geschrieben wäre.
Hinsichtlich des Themas und der Protagonisten ist "Die Gräfin" trotzdem ein charmanter kleiner Roman. Auch die Länge ist von knapp 160 Seiten ist gut gewählt. Diese Geschichte auszudehnen hätte nur geschadet.

Bewertung vom 19.08.2024
Reise nach Laredo
Geiger, Arno

Reise nach Laredo


sehr gut

Ehemaliger König auf Wanderschaft

Nach langem Warten erscheint wieder einmal ein Roman des österreichischen Schriftstellers Arno Geiger, dessen Werk im Allgemeinen als vielseitig angesehen werden kann. Mit "Reise nach Laredo" veröffentlicht er jedoch seine bisher ungewöhnlichste Geschichte, die im 16. Jahrhundert spielt.
Die ersten knapp vierzig Seiten, eine Art längerer Prolog, erinnern beinahe an Bücher von Gabriel García Márquez, etwa "Der Herbst des Patriarchen" oder "Der General in seinem Labyrinth", in denen ein bejahrter Regent auf seine einstige Herrschaft zurückblickt. Geigers Protagonist Karl, ein ehemaliger Kaiser und König, hat sein Amt niedergelegt und sich in ein Kloster zurückgezogen. Alt und krank erwartet er nicht mehr viel vom Leben. Literarisch bildet dieser Einstieg in den Roman den stärksten Teil des Buches, sowohl sprachlich, als auch inhaltlich. Karl wird als ein altersschwacher Mensch dargestellt, der ohne seine einstige Macht nur noch ein Schatten seiner selbst ist, und mit seinem gebrechlichen Körper kämpft. Seit der Niederlegung der Krone unterscheidet ihn nichts mehr von anderen Männern seines Alters, mit dem Verlust der Macht sind auch seine angeborenen Privilegien entschwunden, und seine Mitmenschen verhalten sich ihm gegenüber nicht mehr mit der zeitlebens gewohnten Ehrerbietigkeit.
Eines Nachts entschließt sich Karl zur Flucht. Gemeinsam mit dem elfjährigen Jungen Geronimo begibt er sich auf eine Reise, dessen erklärtes Ziel die Stadt Laredo ist. Ähnlich wie in Stephen Kings "Der dunkle Turm" ist der eigentliche Zweck des Zielorts kaum definiert. Vielmehr geht es um die Reise an sich, und um die Abenteuer, die Karl und Geronimo währenddessen erleben. Begleitet werden sie schon recht bald von dem Wegführer Honza, sowie dessen Schwester.
Mit dem Antritt der Reise verlässt der Roman nicht nur das Kloster, sondern weitestgehend auch ein sattelfestes literarisches Gebiet. Magische Reisebeschreibungen sind vor allem in der Fantasyliteratur zu finden oder Bestandteil locker fröhlicher Roadmovies- bzw- bücher, beides Genres, die mir persönlich nicht im mindesten zusagen. Auch Arno Geiger bedient sich üblicher Komponenten dieser Genre, thematisch geht es um Freundschaft, Zusammenhalt, der Suche nach Glück, aber auch Tod und Verlust.
Wie bei nahezu allen Romanen Geigers bleibt am Ende der Lektüre die Frage offen, was der Autor dem Leser mitzuteilen versucht. Der Text ist flüssig zu lesen, phasenweise unterhaltsam, und das Zweigespann aus Karl und Geronimo kann verzaubern. Darüber hinaus ist jedoch nur wenig Mehrwert zu erkennen, vor allem in literarischer, wenn gar intellektueller Hinsicht. Als Kunstwerk ist die Geschichte durchaus vielversprechend angelegt, die Handlungswelt wirkt magisch aufgeladen, das Lesen bereitet Freude, und die einzelnen Stationen der Reise werden bildreich beschrieben; nur wirkt die Handlung dabei vor allem im Mittelteil äußerst inhaltsleer und belanglos. Das Niveau der ersten Seiten kann nicht gehalten werden und entwickelt sich zu einem Abenteuerroman für ein breites Publikum.
Weiterhin ist "Unter der Drachenwand" Arno Geigers stärkster Roman. Wie die restlichen Bücher seines Werks ist "Reise nach Laredo" zwar durchaus lesbar und vergnüglich, aber als Beitrag zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vernachlässigbar.

Bewertung vom 01.08.2024
Die Legenden der Albae - Dunkles Erbe
Heitz, Markus

Die Legenden der Albae - Dunkles Erbe


weniger gut

Mit "Die Legenden der Albae: Dunkles Erbe" ergänzt Markus Heitz seine Geschichte des finsteren Volks um einen weiteren Band. Es ist mein erstes Buch von diesem Autor und womöglich auch mein letztes, denn es konnte mich überhaupt nicht abholen. Womöglich ist es sogar der Grund, dass ich mich fortan endgültig von dem Fantasygerne fernhalte. Auch Autoren wie Terry Pratchett etc. konnten mich wenig begeistern; den Gipfel bildet nun jedoch Markus Heitz. Vor allem sein Schreibstil ist gewöhnungsbedürftig, viel zu simpel in der Satzstruktur und dialoglastig wie ein Drehbuch, wobei die Figuren sich äußerst gestelzt und unglaubwürdig ausdrücken. Manche Diskussionen drehen sich im Kreis und werden unnötig in die Länge gezogen. Problematisch sind auch die Charaktere, die mich nicht in ihren Bann ziehen konnten. Womöglich ist es für Leser, die bereits mit den Vorgängerromanen vertraut sind, um einiges leichter, sich mit den Figuren zu identifizieren. Mir als Neuling war es jedoch unmöglich, nur ansatzweise in ihre Gefühlswelt einzudringen, jeder von ihnen blieb bis zum Ende leblos und eindimensional. Somit muss die Notwendigkeit dieses Fortsetzungsbandes in Frage gestellt werden, denn offenbar gelingt es dem Autor nicht, neue Aspekte seiner Figuren zum Vorschein zu bringen.
Einsteigern in die Fantasyliteratur ist dieses Buch nicht zu empfehlen. Wer mit der Erzählwelt rund um die Albae bereits vertraut ist, wird der Geschichte vielleicht das ein oder andere abgewinnen können.

Bewertung vom 27.07.2024
Man sieht sich
Karnick, Julia

Man sieht sich


gut

Über fünfzig Jahre

Über eine längere Zeitspanne hinweg, vom Jungsein bis zum Älterwerden, erzählt Julia Karnick die Geschichte von Friederika (genannt Fri) und Robert. Als Schüler treffen sie sich zum ersten Mal, doch nach ihrem Abschluss gehen die beiden unterschiedliche Wege. Die Autorin beschreibt das Leben von zwei Menschen, die wohl gemeinhin als gewöhnlich angesehen werden dürfen, denn ihr Werdegang ist keinesfalls einzigartig. Fri möchte nach der Schule schnellstmöglich von zuhause weg. Nach einem längeren Auslandsaufenthalt ist sie als alleinerziehende Mutter dazu gezwungen, ihr Jurastudium abzubrechen. Robert indes schlägt sich als Musiker durch, doch der erhoffte Erfolg lässt auf sich warten. Beide sind verstrickt in ihre alltäglichen Probleme, kaum etwas läuft nach Plan. Unerwartete Schwierigkeiten ereignen sich, aber auch die eine oder andere glückliche Fügung, vor allem für Robert.
Sich ein Leben wie das von Fri und Robert auszumalen ist nicht schwierig, denn es unterscheidet sich in seinen Eckpunkten kaum von dem eines beliebigen Passanten, dem man auf der Straße begegnet. Beim Leser stellt sich demnach die Frage, weshalb man über 458 Seiten hinweg den Alltag zweier derart gängigen Charaktere mitverfolgen sollte. Der Großteil der Leserschaft dieses Romans entstammt womöglich derselben Generation wie die beiden Protagonisten, die somit ihr Vergnügen damit haben werden, sich selbst in Fri und Robert wiederzufinden - vor allem in der Erzählung der Teenagerjahre in den Achtzigern und Neunzigern. Somit bietet der Roman jenen einen vergnüglichen Trip zurück in die Vergangenheit. Für Leser anderer Generationen fehlt dieser Nebeneffekt der Nostalgie, weswegen sich das Hauptaugenmerk auf die Handlung an sich legt. Alltagsromane als Genre will ich keineswegs in Frage stellen, es kann äußerst interessant und lehrreich sein, Romanfiguren durch ihre Routine zu begleiten, dafür muss der Leser sich jedoch mit den Charakteren identifizieren können. Und mir persönlich gelang das mit Fri und Robert nicht, sie sind keine Menschen, die ich persönlich im echten Leben näher kennenlernen wollte. Das ist natürlich Ansichtssache. Leser, bei denen das Gegenteil der Fall ist, werden mit diesem Buch sicherlich mehr Freude haben. Ansonsten ist der Text unterhaltsam geschrieben, leicht verständlich und verdaulich. Für gewöhnlich sollte ein Buch wie „Man sieht sich“ nichts weiter als ein Anhängsel im Verlagsprogramm sein, wenngleich der Roman derzeit wohl doch einigermaßen erfolgreich wird.

Bewertung vom 13.07.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


gut

Für das "Das Lied des Propheten" erhielt der irische Schriftsteller Paul Lynch 2023 den Booker Prize. Vielerorts angepriesen als das zentrale Buch über unsere Gegenwart, sind die Erwartungen vor der Lektüre selbstredend hoch. Lynch entwirft eine Art Dystopie, in der Form eines autoritären Regimes, das in Irland plötzlich an der Macht ist, woraufhin sich nicht nur für die Wissenschaftlerin Eilish Stack und ihre Familie vieles von jetzt auf gleich ändert. Zuerst wird ihr Mann Larry von der Polizei abgeführt, weil er als Gewerkschafter als ein Risiko für den Staat angesehen wird. Dann besteht auch noch für ihren ältesten Sohn Mark die Gefahr, von der Regierung zum Krieg eingezogen zu werden, was die Mutter jedoch um jeden Preis zu verhindern sucht. Neben diesen beiden dramatischen Ereignissen sind es jedoch vor allem die Kleinigkeiten, die der Familie den Alltag erschweren. Die Kontrolle über das eigene Leben schwindet, denn die unsichtbare Hand des Regimes tastet sich in sämtliche Bereiche vor, Recht und Freiheit existieren nicht mehr. Irland wird vom Rest der Welt abgeschnitten.
Das Szenario, das Paul Lynch beschreibt ist nicht neu, viele Autoren haben sich bereits an der Schilderung des Lebens unter einem autoritären Regime versucht. Bisweilen ist dafür jedoch nicht einmal die Erfindungsgabe des Autors gefragt, denn die Vergangenheit und mitunter auch die reale Gegenwart bieten reichlich Stoff dafür. Insofern musste Lynch für die Gestaltung seiner Erzählwelt weniger tief in die Tasche greifen, als mancher Science-Fiction-Autor, sondern konnte sich an historischem und aktuellem Material bedienen. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, an der einen oder anderen Stelle zu übertreiben - ein häufiges Manko dystopischer Romane. Zugunsten des Spannungsbogens steuert Lynchs fiktives Irland nämlich unglaubwürdig rasant auf eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes zu, wobei die dorthin führenden Etappen äußerst vorhersehbar sind. Allerdings legt die Geschichte ohnehin das Hauptaugenmerk auf das Einzelschicksal der Familie Stack, ihren Freunden und Verwandten, demnach sollte der Roman vor allem hier mit Finesse punkten. Diesbezüglich gelingt es dem Autor, Eilishs Gefühlswelt glaubhaft zu schildern, ihr Bangen um die Zukunft ihrer Kinder unter der neuen menschenverachtenden Regierung wird in mehreren Szenen dargestellt. Um zu überleben, arrangiert sie sich notgedrungen mit den neuen Rahmenbedingungen, gleichwohl in ihrem Inneren weiterhin der Wille zu einem selbstbestimmten Leben brennt. Sie trotz den Bestimmungen des Regimes, etwa, indem sie ihren ältesten Sohn versteckt, damit dieser nicht vom Militär eingezogen wird. Die von Angst und Verunsicherung beeinflussten Dialoge zwischen Eilish und ihren Freunden bzw. Verwandten sind dem Autor gut geraten: hier ist ein Schwanken zu erkennen, zwischen dem, was die Figuren aus ideeller Überzeugung kommunizieren möchten, und dem, was sie in Zeiten der Ungewissheit tatsächlich mitzuteilen wagen, ohne eine Verhaftung zu riskieren.
Aber auch in der Charakteristik der Protagonisten ist der Roman oftmals vorhersehbar, mitunter greift der Autor auf gendertypische Klischees zurück. Die Männer wie Eilishs Mann Larry und ihr Sohn Mark sind in diesen unruhigen Zeiten scheinbar unfähig, ihren angeprägten Starrsinn zu überwinden: Trotz der Verwarnung durch die Polizei ist Larry zu dickköpfig, seine Tätigkeit als Gewerkschafter einzustellen, woraufhin er spurlos verschwindet. Und Sohn Mark verbietet es der Stolz, sich von seiner Mutter verstecken zu lassen, um dem Einzug in einen sinnlosen Krieg zu entgehen - lieber läuft er geradewegs ins offene Messer. Hingegen wächst Eilish als Frau in der Not über sich hinaus, hält die Familie zusammen, und auch der Verlust ihres renommierten Berufs als Wissenschaftlerin hindert sie nicht daran, für sich und ihre Kinder zu kämpfen. Womöglich liegt der Autor mit dieser Verteilung der Rollen richtig, erfrischend wäre jedoch eine unerwartete Konstellation der Verhaltensmuster gewesen.
Ein meisterhafter Roman - wie der Verleger das Buch bewirbt - ist "Das Lied des Propheten nicht", zu sehr hat man als Leser das Gefühl, ähnliches bereits in anderen Dystopien gelesen zu haben. Manchmal gelingen dem Autor schön geschriebene Passagen, dann wiederum verliert er sich in vorhersehbaren Klischees. Wie häufig bei den großen Literaturpreisen wurde anscheinend wieder einmal das Thema an sich ausgezeichnet, gepaart mit der Intention, eine Mahnung an die momentanen Zustände auszusprechen. So kann auch ein durchschnittlicher Roman zum Buch der Stunde werden.

Bewertung vom 25.06.2024
Wir waren nur Mädchen
Jackson, Buzzy

Wir waren nur Mädchen


sehr gut

Widerstand
An sich ist über den Zweiten Weltkrieg fast alles gesagt, allerdings beschäftigte sich die Nachkriegsliteratur vorrangig mit der männlichen Sichtweise. Vor allem in den letzten Jahren werden Historische Romane über den Zweiten Krieg jedoch vorrangig von Autorinnen geschrieben, um einer weiblichen Hauptfigur eine Stimme zu geben. Viele dieser Texte wie "Stay away from Gretchen" oder "Wir sind doch Schwestern" etc. sind jedoch eher dem Trivialen zuzuordnen.
"Wir waren nur Mädchen" von Buzzy Jackson ist ebenfalls nicht frei vom Anspruch der Unterhaltung, behandelt jedoch ein selten angesprochenes Thema. Hannie Schaft, eine zurückhaltende Jurastudenten wird in Amsterdam geradewegs in den Widerstand hineingezogen, nachdem sie ihre beiden jüdischen Freundinnen bei sich Zuhause vor den Nazis verstecken muss. In den nächsten Jahren ist sie Mitglied in einer Gruppe von jungen Leuten, die mit allen erdenklichen Mitteln die deutsche Besatzung sabotieren. Auch der Mord an Befehlshaber gehört fortan zu Hannies Aufgaben.
Auf plausible Art und Weise gelingt es Jackson, Hannies Weg in den Widerstand zu beschreiben. Ein Mädchen, das anfangs schüchtern und zögerlich agiert, wird durch die Nazis dazu gezwungen, über sich selbst hinauszuwachsen. Als "Das Mädchen mit den roten Haaren" wird sie zu einer der meistgesuchten Personen der Besatzer. Auch ihr Leben innerhalb der Widerstandsgruppe wird anschaulich dargestellt — angefangen mit Schießübungen, bis hin zu ihrem ersten Mord und weiteren Sabotageakten. Aber auch das Menschliche steht im Fokus der Geschichte: die Liebe, Hoffnung und das Leid der Widerständler finden immer wieder Einzug in den Text. Allerdings unternimmt der Roman dadurch keine literarischen Höhenflüge. Um eine möglichst große Zielgruppe zu erreichen, liest sich der Text beinahe so rasant wie ein Thriller. Den Zweiten Weltkrieg in einem Unterhaltungsroman zu verarbeiten ist grundsätzlich eine schlechte Idee, doch zum Glück gelingt der Autorin in der Gesamtheit mehr als das. Ihre Figuren sind authentisch ausgearbeitet und sensible Zwischentöne bieten Mehrwert. Jacksons offensichtliches Ziel, das Bild einer starken Frau während der Wirrungen der Kriegsjahre zu zeichnen, wurde erreicht.