Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Desiree
Wohnort: 
Wanne-Eickel

Bewertungen

Insgesamt 115 Bewertungen
Bewertung vom 08.04.2024
James
Everett, Percival

James


ausgezeichnet

Mark Twains Huckleberry Finn erzählt aus der Perspektive des Sklaven Jim - so könnte man „James“ von Percival Everett in einem Satz zusammenfassen, doch gerecht würde es dieser Neuerzählung des Klassikers nicht werden. Ich gebe zu, ich habe Mark Twain nicht gelesen, kann also keinen Vergleich ziehen, allerdings handelt es sich bei diesem Roman keineswegs um ein Abenteuerbuch für Kinder.
Kurz zum Inhalt: Als Jim nach New Orleans verkauft und somit von seiner Frau und seiner Tochter getrennt werden soll, flieht er. Dabei trifft er Huckleberry, der von seinem gewalttätigen Vater geflohen ist. Sie versuchen, sich zusammen durchzuschlagen, werden getrennt, finden sich wieder.
Jim schildert sehr eindrücklich, was ihm als Sklave von seinen Weißen Massas angetan wird. Er wird behandelt wie ein Gegenstand, wie ein Tier, wie Sklaven nun mal behandelt worden sind. Jegliche Menschlichkeit, selbst Schmerzempfinden wurde ihnen abgesprochen. Zu sagen, dass sie ausgebeutet wurden, ist zu schwach für das Leid, das ihnen von den Weißen zugefügt wurde.
Percival Everett schafft es, diese Grausamkeiten so zu verpacken, dass es gerade so erträglich ist und spickt die Begebenheiten mit Humor, was eigentlich unvorstellbar scheint, ihm aber sehr gut gelingt. Die Dummheit liegt dabei bei den Weißen, die denken, sie wären die Schlauen. Sie erkennen nicht, dass die Sklaven nur so tun, als seien sie einfältig, weil sie sonst mit Strafen oder sogar dem Tod rechnen müssen. Widerworte, Nachfragen, selbst Blicke sind gefährlich.
Jim macht eine tiefgreifende Veränderung durch. Anfangs ist er vorsichtig, zurückhaltend, aber im Verlauf hat er immer weniger zu verlieren und in ihm erwacht ein Zorn, der nur allzu menschlich ist in dieser Ungerechtigkeit.
„James“ ist ein Roman, der unbedingt neben Huckleberry Finn als Schullektüre stehen sollte, denn wir müssen endlich die Stimme derer hören, die so lange zum Schweigen gebracht wurden. Ein absolutes Muss für jede*n, die*der sich mit amerikanischer Geschichte auseinandersetzen will.

Bewertung vom 01.04.2024
Sieben Sekunden Luft
Milsch, Luca Mael

Sieben Sekunden Luft


ausgezeichnet

Selah hat sich verloren, eigentlich hat Selah sich noch nie gehabt. Früher hat ihre Mutter ihr alles vorgegeben, dann die Gesellschaft und irgendwann konnte sie nicht mehr. Selah ist aus- und aufgebrochen, um sich selbst zu finden, und tat sich trotzdem schwer damit. Als endlich ein Licht mit Namen Ava zu sehen ist, wird Selah wieder zurückgerissen, denn erneut fordert die Mutter die Aufmerksamkeit.
„Sieben Sekunden Luft“ von Luca Mael Miltsch gehört zu den intensivsten Romanen, die ich jemals gelesen habe. Selahs Geschichte wird zu verschiedenen Zeiten erzählt: 1995, 2006, 2017 und 2023. Jede Zeit hat die passende Perspektive, dahingehend, wie nah Selah sich selbst ist, was sehr spannend ist und den Zugang zu Selah verstärkt, das Leid noch ein Stück greifbarer macht.
Sie merkt schon früh, dass sie nicht in die festgefahrenen Rollenbilder passt, kann dies aber nicht einordnen und wird damit auch noch komplett alleingelassen. Sie versucht, ihren Schmerz zu betäuben, was so atemlos, so intensiv beschrieben wird, dass es mich japsen ließ. Erst spät erkennt Selah, dass sie sich keinem Geschlecht zugehörig fühlt und es kostet nochmal Zeit, es richtig zu begreifen. Über allem schwebt die Mutter, die mich wahnsinnig wütend gemacht hat, denn auch wenn sie es schwer hatte, Selah konnte am wenigstens dafür und ich hätte mir einen richtigen Befreiungsschlag gewünscht, aber Mutter-Kind-Beziehungen sind nie leicht und im Nachhinein hat Selah genauso gehandelt, wie es zur Figur passt.
Luca Mael Miltsch hat ein wahnsinnig eindringliches und sprachlich hervorragendes Debüt abgeliefert, was herausfordernd ist, aber auch den Blick öffnet. Luca schreibt über etwas, was nicht beschrieben werden kann und aus vielerlei Gründen am Puls der Zeit ist.

Bewertung vom 22.03.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


ausgezeichnet

Issa ist schwanger und weiß nicht, was sie tun soll. Sich selbst darüber klar zu werden, ist schwierig, wenn man von allen Seiten Meinungen aufgedrückt bekommt. Also flieht sie in ihr Geburtsland Kamerun und widmet sich dort längst überfälligen Ritualen, die sie zur Erwachsenen und Mutter machen sollen.
Das ist nur ein Erzählstrang von „Issa“ von Mirrianne Mahn. Nicht nur Issas Geschichte wird erzählt, sondern auch die ihrer Vorfahrinnen, angefangen bei Ururgroßmutter Enanga, die von einem Deutschen vergewaltigt wurde, wodurch Marijoh gezeugt wird, die eine zentrale Rolle im Buch und in Issa Leben spielt, und zu meiner liebsten Figur geworden ist. Auch Issas Mutter und Großmutter bekommen eigene Kapitel, die sich traurigerweise alle ähneln.
Im Mittelpunkt stehen die Frau aus Kamerun, die durch die Gemeinschaft untereinander, sei es nun zwischen Müttern und Töchtern, Schwestern oder Ehefrauen (denn dort ist die Vielehe ein Zeichen von Macht und Reichtum) Halt finden und sie die Grausamkeiten überstehen lassen. Auch das sich fremd fühlen, spielt eine große Rolle, denn Issa ist zwar in Kamerun geboren, aber früh mit ihrer Mutter nach Deutschland gezogen und eckt in beiden Ländern an.
Der Roman ist auf vielfältige Weise wundervoll. Er gibt Einblicke, auch historische, in das Leben Schwarzer Frauen in Kamerun, wo die patriarchalen Strukturen noch mal anders greifen. Er zeigt, was Europa, speziell Deutschland mit der Kolonialisierung getan hat, was wir niemals vergessen sollten! Ich habe viel gelernt über die Kultur, über die Erziehung und das Mindset Schwarzer Frauen, was darauf fusst sich selbst zu schützen.
Der Wechsel der Perspektiven schenkt immer neue Sichtweisen. Mirrianne Mahns Stil ist szenisch mit erläuternden Passagen, teilweise Rückblenden, was die Konturen der Geschichte noch mal verschärft und ich sehr gelungen finde.
„Issa“ hat mich in vielerlei Hinsicht berührt und das Ende ist wunderschön und traurig zugleich. Ich möchte diesen Roman wirklich allen ans Herz legen.

Bewertung vom 10.03.2024
Gestehe
Faber, Henri

Gestehe


gut

Jacket liebt das Rampenlicht und weil er vor vier Jahren durch die Blutnacht, in der er einen Organhändlerring im Alleingang ausgeschaltet und das letzte Opfer gerettet hat, zum Helden wurde, sonnt er sich bis heute in der Öffentlichkeit. Polizist ist er nur noch auf dem Papier bis er an einen Tatort stolpert, der ihm bekannt vorkommt - aus seinem Manuskript, welches eigentlich niemand kennt. Nun muss er nicht nur herausfinden, wer ihn in eine blutige Mordserie hineinziehen will, sondern auch noch seinen engagierten Kollegen Mo bremsen.
„Gestehe“ von Henri Faber hat mir am wenigstens von seinen drei Thrillern gefallen, wahrscheinlich, weil die anderen beiden mich wirklich sehr überzeugt habe. Auch hier ist der Plot durchdacht, es gibt Wendungen, falsche Spuren und Charaktere, die eine solide Entwicklung durchmachen. Doch es ist stellenweise, gerade am Anfang und am Ende langatmig. Sehr viele Informationen werden anfangs eingebracht, die später zwar wichtig werden, aber auch viel Raum einnehmen. Und dann geht es plötzlich Schlag auf Schlag, ein Showdown jagt den nächsten, bis zum großen Finale, welches ich ein bisschen übertrieben fand. Damit endet der Thriller aber nicht, sondern er plätschert noch ein wenig weiter und gibt die letzten Lösungen, allerdings sind diese für mich nicht absolut stimmig, zumindest was Mo angeht.
Gut hat mir gefallen, dass auch politische Themen wie der gegenwärtige Rassismus, speziell in Österreich thematisiert werden und wie PoC alltäglichen Anfeindungen ausgesetzt sind. Schade fand ich allerdings, dass das Wienerische nicht durch kam, immerhin spielt „Gestehe“ in Wien und Henri Faber ist gebürtiger Österreicher. Vielleicht hat er das aus Rücksicht auf die deutsche Leserschaft getan, aber ich mag solchen Lokalkolorit sehr und so hätte auch eine deutsche Stadt als Schauplatz dienen können.
Alles in allem war es spannend und ich habe es nicht zur Seite gelegt, doch an die anderen beiden Bücher kommt „Gestehe“ für mich nicht ran.

Bewertung vom 06.03.2024
Frau Putz
Hoch, Julia

Frau Putz


ausgezeichnet

Kerstin Wischnewski ist Reinigungskraft und kämpft um jeden Auftrag. Als sie einige Kund*innen von einer Kollegin übernehmen kann, ist sie erleichtert. Eine Büroetage, die immer irgendwie anders ist; ein Künstler, den sie nie zu Gesicht bekommt; eine fünf-eigentlich sechsköpfige Familie mit Drillingen und eine extravagante Villa stehen nun, zusätzlich zur dementen Frau Schmidtmeier, auf ihrem Plan. Dabei widerfährt Kerstin nicht nur allerhand Skurriles, sondern sie durchlebt auch eine Sinnkrise.
„Frau Putz“ von Julia Hoch ist ein herrlicher Abstecher in die Welt des Absurd-Normalen. Alle Begebenheiten, die Kerstin erlebt, können so passieren, auch wenn der Wunderlich-Regler hochgedreht ist. Und man darf den Roman keinesfalls darauf reduzieren, denn zwischen den Zeilen steckt so viel mehr: Care-Arbeit, die natürlich an den Frauen hängen bleibt; Geschlechterrollen; Menschen, die scheinbar alles haben, aber auch nicht glücklicher sind und der immerwährende Kampf über die Runden zu kommen in einer immer teurer werdenden Welt.
Ich bin vielleicht etwas eingenommen, denn ich kenne Julia persönlich, aber ich habe ihren Roman geliebt und verschlungen. Kerstins Leben war mir nah und auch ihre Probleme sind mir nicht fremd.
Außerdem finde ich die Botschaft des Romans unheimlich wichtig: dass wie die Menschen, die sich bereit erklären, unseren Dreck wegzumachen, die die Arbeit erledigen, die wir (meistens) nicht selbst machen wollen, mit Respekt entgegentreten, denn hinter dem Reinigungswagen steht ein Mensch. Das vermittelt Julia keineswegs mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit Leichtigkeit und Witz. Sprachlich versteht sie natürlich ihr Handwerk; es macht Freude, in den Text einzutauchen und irgendwann, nach Luft schnappend, wieder aufzutauchen.
Wirklich eine Herzensempfehlung.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.02.2024
Schneesturm
Walsh, Tríona

Schneesturm


gut

Inishmore ist eine irische Insel mit gerade mal 900 Einwohner*innen, die Zugezogenen mehr als nur Skepsis entgegenbringen. Das bekommt auch Cara zu spüren, die dort bereits seit über 10 Jahren Polizistin ist. Auch wenn sie einen von der Insel geheiratet hat und dank ihrer Oma jede Sommerferien auf Inishmore verbracht hat, verstummen die Insulaner, sobald sie den Pub betritt. Als sich der Todestag ihres Mannes zum zehnten Mal jährt, möchte die alte Clique diesen gemeinsam bestreiten. Zwar leben Cara, Maura und Daithi immer noch auf Inishmore, aber Seamus, Sorcha und Ferdy waren schon lange nicht mehr in ihrer alten Heimat. Doch das Wiedersehen verläuft anders als erwartet.
„Schneesturm“ von Tríona Walsh ist eher Krimi als Thriller. Am Anfang steht ein Mord, wir kennen alle Beteiligten, jede*r hat Dreck am Stecken und rätseln mit. Leider finde ich es nicht ideal umgesetzt. Cara, die zwar Polizistin ist, hat offensichtlich keine Ahnung von Ermittlungsarbeit und stolpert durch den Schneesturm, der die Insel von der Außenwelt abgeschnitten hat. Jede*r der Freund*innen hat etwas zu verbergen, sogar sie selbst und sie tappt lange im Dunkeln, bis sich alles mit einem überlauten Knall auflöst.
Ich hab schwer in das Buch gefunden, schon am Anfang fand ich vieles unlogisch und nach der Auflösung fühle ich mich veräppelt, um es noch nett auszudrücken. Die Motive sind sehr komplex, alles scheint sich zu verheddern, aber nicht auf die gute Art.
Sprachlich fand ich es ebenfalls nicht überragend. Es war langatmig und vieles, was ich als Leserin so verstanden habe, wurde unnötigerweise nochmal erzählt. Es gab Lichtblicke und ich wollte wissen, wie die Auflösung ist, deswegen bin ich dran geblieben.
Alles in allem gibt es bessere Thriller, die spannender geschrieben und durchdachte konstruiert sind. Schade, denn Potenzial war erkennbar.

Bewertung vom 19.02.2024
Krummes Holz
Linhof, Julja

Krummes Holz


ausgezeichnet

Jirka kehrt auf den Hof zurück, wo er die ersten 14 Jahre seines Lebens verbracht hat. Der Ort, der eigentlich Heimat bedeutet, hält für ihn nur schlechte Erinnerung und Schmerz bereit. Diese hat er tief in sich vergraben, doch jetzt drücken sie sich an die Oberfläche. Während er versuch, die Beziehung zu seiner Schwester Malene zu kitten; herauszufinden, wo sein verschwundener Vater ist und wie er zu Familienfreund Leander steht, muss er immer wieder mit der Vergangenheit kämpfen, die hier übermächtig ist.
Auf „Krummes Holz“ von Julja Linhof freute ich mich schon lange. Ich habe verfolgt, wie die ersten Stimmen es gelobt haben und immer öfter das wunderschöne Cover aufgetaucht ist. Ich habe diesem Roman entgegengefiebert und wurde nicht enttäuscht.
Der Ich-Erzähler Jirka ist so nah, erzählt so ungefiltert, dass man sich seinen Emotionen nicht entziehen kann. Mit wenigen, gezielten Worten lässt Julja Linhof Szenarien entstehen, deutet manchmal auch nur an und doch gingen es mir so nah, dass ich das Buch öfter mal zur Seite legen musste. Der Hof, der eine eigene Welt ist, abgeschottet vom Außen, zeigt Jirka immer wieder Grenzen auf, die er glaubte, überwunden zu haben. Hinter jeder Ecke, in jedem Schatten lauert die Vergangenheit, um ihn umzuwerfen und unter sich zu begraben.
„Krummes Holz“ ist ein beeindruckendes Debüt. Sprachlich ist es gewaltig. Würde ich in meinen Büchern Anstreichungen machen, wäre jeder zweite Satz markiert und gerade die Sprache, die gefüllt ist mit Bildern, macht diesen Roman so schmerzhaft und herausfordernd. Ich konnte mich dem nicht entziehen. Nach jedem Zuklappen hallte es noch nach.
Wer einen Feelgoodroman erwartet, ist hier falsch. „Krummes Holz“ ist keine leichte Kost, kein Roman für zwischendurch. Man muss sich darauf einlassen und ich werde es definitiv ein zweites Mal lesen.
Julja Linhofs Debüt zählt bereits jetzt zu meinen Jahreshighlights.

Bewertung vom 15.02.2024
Wie ein Fisch auf dem Trockenen
Tanzella, Cinzia

Wie ein Fisch auf dem Trockenen


ausgezeichnet

Cinzia Tanzella ist gebürtige Italienerin und lebt seit 25 Jahren in Deutschland. In diesem kleinen Büchlein voller Kurzgeschichten, verarbeitet sie einige Begebenheiten und Anekdoten, die manchmal der Sprachbarriere geschuldet sind, aber auch vieles mehr. Dabei möchte ich betonen, dass wenn sie es nicht ganz deutlich geschrieben hätte und die ersten Geschichten nicht darauf Bezug nehmen würde, man dies gar nicht merken würde. Sie sind sehr gut geschrieben, vereinzelt weitgreifend, aber immer gut formuliert und sprachlich besser als von so manchem Muttersprachler.
Zudem sind die Geschichten vielseitig. Anfangs muten sie sehr persönlich an, später lösen sie sich mehr von der Autorin und ihre Hintergrund. Cinzia zeigt, dass sie nicht nur auf Autobiographisches zurückgreifen kann. Sie schreibt über die Liebe und Partnersuche, Psychotherapeuten und sogar ein Märchen ist dabei. Sie experimentiert, probiert aus und das mochte ich besonders.
Außerdem ist das Buch, das im Selfpublishing entstanden ist, sehr hochwertig und liebevoll gestaltet. Es eignet sich hervorragend als Geschenk, nicht nur für Menschen, die deutsch in die Wiege gelegt bekommen haben.
Ich hoffe, wir dürfen noch mehr von Cinzia Tanzella lesen, gerne mehr Kurzgeschichten, die in Deutschland leider immer noch zu wenig Aufmerksamkeit bekommen, aber auch zu einem Roman würde ich sofort greifen.

Bewertung vom 04.02.2024
Notizen zu einer Hinrichtung
Kukafka, Danya

Notizen zu einer Hinrichtung


ausgezeichnet

Ansel Packer ist ein Serienmörder, der auf seine Hinrichtung wartet.
Aber in „Notizen zu einer Hinrichtung“ von Danya Kukafka gibt er nur den Rahmen vor. Seine Taten und seine Geschichte sind das Bindemittel der drei Protagonistinnen. Da ist Ansels Mutter Leander, die vor seinem gewalttätige Vater floh, ihn und seinen Bruder zurückließ und mit der Schuld darüber leben musste. Da ist Saffy, die Ansel als Kind im System kennenlernte und damals schon die Dunkelheit in ihm sah; die Ermittlerin wurde und ihn jagte, weil sie früh wusste, dass er für die Morde verantwortlich war. Und da ist Hazel, die Zwillingsschwester von Jenny, die nicht nur Ansels letztes Opfer wurde, sondern ihn auch mal geliebt hat.
Zwar steht Ansel im Mittelpunkt des Buches, aber die Aufmerksamkeit liegt klar bei den Mädchen und Frauen, deren Leben er auf unterschiedlichste Weise, jedoch immer schmerzhaft, verändert hat. Nicht er spielt die zentrale Rolle, weil die Täter stets im Fokus stehen, sondern die Opfer, die meist nur Namen sind, wenn überhaupt. Das hat mir gut gefallen. Ich bin TrueCrime-Fan, ich kenne die Faszination, die das Böse in einem auslöst und die Frage, warum Menschen so grausam sein können. Die Antwort darauf finden wir nicht bei den Opfern, denn sie tragen niemals und in keinster Weise irgendeine Schuld.
Danya Kukafka reproduziert ein altes Narrativ: der Mann mit schlechter Kindheit, der sich von Frauen unverstanden, beschämt fühlt und dann mit Gewalt reagiert. Das ist nicht neu, allerdings nicht nur Fiktion. Aber durch die Perspektiven der Frauen, die alle eine Wandlung im Hinblick auf Ansel durchmachen, wird dieser Roman besonders. Ich war sofort fasziniert und fiel hinein in die Geschichte. Doch dann wurde es etwas zäh. Der Stil, der mich anfangs so gefangen nahm, wurde zusehends anstrengend, viele Adjektive, sich wiederholende Einzelheiten. Das Ende wiederum hat mich versöhnt, abgeholt und zum Nachdenken gebracht.

Bewertung vom 23.01.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


sehr gut

Lev lebt in einem Dorf in Rumänien, ist deutsch, rumänisch, ungarisch, österreichisch. Fühlt sich nirgendwo zugehörig, auch nicht in seine Familie, in die er als Nachzügler geboren wurde. Nur in Kato hat er eine Art Heimat gefunden, doch sie ist weg und tingelt durch die Welt. Nach Jahren besucht er sie, aber da ist diese Distanz, die schon länger vorherrschte.
In „Lichtungen“ von Iris Wolff geht es weniger um die Freundschaft zwischen Kato und Lev als ich erwartet habe, sondern eher um die prägnanten Punkte in Levs Leben und zwar rückwärts. Kato spielt dabei eine wichtige Rolle, allerdings eher durch ihre Abwesenheit.
Die Geschichte an sich, Levs Geschichte, ist wie viele anderen, doch er selbst ist bemerkenswert. Er ist feinfühlig und sensibel in einer Welt und Zeit, die hart ist. Er hatte es nicht leicht. Mit jedem weiteren Kapitel erfährt man mehr davon, aber nicht das macht diesen Roman besonders, sondern die Leerstellen die Iris Wolff in ihren gut gewählten Worten lässt.
Leider hatte ich etwas anderes erwartet. Der Fokus liegt allein auf Lev, was nicht unbedingt schlecht ist, aber doch eintönig wird, zumal schon am Anfang bestimmte Geschehnisse eingestreut werden, die durch das Rückwärtserzählen zwar konkretisiert werden, jedoch nicht überraschen. Die Familiendynamik ist interessant, aber auch nichts neues. Manchmal war ich unsicher, warum etwas erzählt wurde und vielleicht hätte mir die Geschichte chronologisch besser gefallen. Dennoch hat mich das Buch so gefesselt, dass ich es nicht abgebrochen habe.
Der Blick nach Rumänien war für mich neu und das Gefühl nicht dazuzugehören, hat mich abgeholt. Ebenso hat die Sprache vieles wett gemacht. Sie ist zart und mitfühlend. Sie hat etwas leichtes, obwohl der Inhalt es nicht ist.
Auch wenn „Lichtungen“ mich nicht umgehauen hat, werde ich auf jeden Fall einen Blick in Iris Wolffs hochgelobten Roman „Die Unschärfen der Welt“ werfen, denn sie hat mich mit ihrem Schreiben berührt.