Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Desiree
Wohnort: 
Wanne-Eickel

Bewertungen

Insgesamt 103 Bewertungen
Bewertung vom 04.12.2023
Wilde Minze
LaCour, Nina

Wilde Minze


gut

Emilie weiß noch nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Also studiert sie erstmal weiter und arbeitet für eine Floristin. Sie arrangiert Blumen in Restaurants, so auch im „Yerba Buena“, wozu ihre Familie eine besondere Beziehung hat. Dort trifft sie auf Sara, die schon in jungen Jahren viel erlebt hat und endlich eine Heimat gefunden zu haben scheint. Sie fühlen sich sofort zueinander hingezogen, dennoch trennt sie immer wieder etwas.
Es ist schwierig, den Kern von „Wilde Minze“ von Nina Lacour festzuhalten. Da sind diese zwei Frauen, die jeweils ihr Päckchen zu tragen haben. Die sehr verschieden sind, doch oft dasselbe fühlen. Die spüren, dass ihre Verbindung besonders ist, doch immer wieder Entscheidungen treffen, die sie auseinanderbringen.
Richtig begeistert hat mich der Roman nicht und warm wurde ich mit keiner der Protagonistinnen. Auch die Erzählweise hat mich etwas irritiert. Es wurde aus beider Leben berichtet, zum Teil sprunghaft, manchmal szenisch, manchmal erzählend, aber richtig in die Tiefe ging es dabei nicht.
Ich bin mir nicht sicher, worauf das Augenmerk lag. Auf der Liebesgeschichte, die erst spät eine Rolle spielt? Oder doch eher auf den Protagonistinnen und deren Entwicklung? Beide machen eine durch, aber das Resultat empfinde ich nicht wirklich als befriedigend, genauso wie das Ende. Es scheint, als sollen sich die beide Geschichten unbedingt verbinden, sie es aber nicht schaffen. Vielleicht ist das der Kern: dass zwei Liebende nicht zueinanderfinden.
Sprachlich ist es ok, hat mich aber nicht umgehauen, wie so manch anderes Buch in letzter Zeit. Dennoch hat mich irgendwas dranbleiben lassen, auch wenn ich nicht benennen kann was.
Ich hatte allerdings mehr erwartet, denn Nina Lacour hat schon viel schriftstellerische Erfahrung. Vielleicht war sie auch selbst zu sehr mit der Geschichte verwoben, wie sie in der Danksagung erwähnt. Im Auge werde ich sie trotzdem behalten.

Bewertung vom 27.11.2023
All dies könnte anders sein
Thankam Mathews, Sarah

All dies könnte anders sein


ausgezeichnet

Sneha beginnt schon zum zweiten Mal neu. Als Teenagerin ist sie für ein besseres Leben mit ihren Eltern aus Indien in die USA gezogen. Inzwischen ist sie Anfang zwanzig, ihre Eltern zurück in der alten Heimat und sie tritt ihren ersten Job in einer fremden Stadt an. Sie ist mutig und unerschrocken, stürzt sich hinein, ins Dating, in die Arbeit, in Freundschaften und wird immer wieder auf die Probe gestellt. Sie lernt Marina kennen und verliebt sich, ohne die Gefühle wirklich zulassen zu können. Aber viel wichtiger und beständiger als die romantische, ist die Liebe zu ihrer Freund*innen.
„All dies könnte anders sein“ von Sarah Thankam Mathews ist ein klassischer Roman mit vielen bemerkenswerten Aspekten. Snehas Entwicklung ist typisch und auf eine Art auch vorhersehbar, aber die Welt in der sie lebt, wird oft vernachlässigt; eine Welt lesbischer Frauen, mit Menschen, die das Pronomen they wählen; eine Welt, wo PoCs immer noch anders behandelt werden; wo junge Menschen, trotz guter Ausbildung, keinen Job finden und wenn doch, müssen sie sich ohne Krankenversicherung von einem Gehaltsscheck zum nächsten hangeln. Hier begegnet Sneha Menschen, die zu Freund*innen werden und zu denen sie Verbindungen aufbaut, wie sie sich wohl jede*r wünscht. Die eigentlichen Nebenfiguren haben genauso viel Fleisch am Leib und so viel Tiefe wie die Protagonistin selbst und sind eigenen Individuen. Sie werden zu Snehas Familie, die nicht perfekt ist, aber füreinander einsteht. Die Liebesgeschichte, die der Kern des Romans ist, rückt dabei in den Hintergrund.
Sprachlich ist es ebenfalls beeindruckend, was wohl auch an der gelungenen Übersetzung liegt. Sarah Thankam Mathews beschreibt eindrücklich, roh und ungekünstelt. Spricht aus, was ist und kleidet es in Bilder mit scharfen Kanten, die so noch einprägsamer werden.
Kein Wunder, dass dieser Roman ausgezeichnet und hochgelobt wurde.

Bewertung vom 23.11.2023
Y.
Thör, Jacqueline

Y.


ausgezeichnet

„Y.“ soll ein „vielschichtiges Porträt der Generation Y“ sein, aber ich würde es nicht darauf reduzieren. Dieses kleine Buch, das Novelle, Drama und Erzählung enthält, befasst sich mit Elementarem. Es erzählt von drei Frauen: Sarah verlässt ihr altes Leben und wird zu Anna, Y. hadert mit sich selbst und ihrem Dasein und die namenlose Erzählerin am Schluss beschäftigt sich mit dem Tod. Zusammen ergeben sie ein Gesamtbild des Seins, das viele Aspekte beinhaltet, die man einem so schlanken Büchlein, von gerade mal 87 Seiten, gar nicht zutraut.
Jacqueline Thör versteht, die Essenz herauszuziehen und in Worte zu gießen. Sie erschafft Stimmungen, ohne viel sagen zu müssen. Ich gehöre der Generation Y an, aber ich bin mir sicher, dass sie auch alle anderen Generationen anspricht, denn sie schildert Grundlegendes.
Jeder Abschnitt könnte für sich selbst stehen, doch gemeinsam ergeben sie ein rundes Bild und beschreiben (Neu-)Anfang, das Werden (mit all sein Zweifeln) und am Ende den Tod. Dabei greift Jacqueline Thör auf ihren philosophischen Background zurück, ohne hochtrabend zu sein, und lässt auch popkulturelle Bezüge einfließen, was eine sehr gelungene Kombination ergibt.
„Nenn mich einfach Igel“ hat mich vor einem Jahr schon sehr begeistert und „Y.“ hat das nochmal unterstrichen. Ich hoffe sehr, dass Jacqueline Thör immer weiter schreibt. Sie ist eine Stimme in der Literatur, die man im Auge behalten sollte. Sie schreibt nicht nur wunderbare Romane, was sie mit diesem Exkurs gezeigt hat.
Und bald kommt schon ein neues Buch, worauf ich mich sehr freue!

Bewertung vom 22.11.2023
Lieder aller Lebenslagen
Pilgaard, Stine

Lieder aller Lebenslagen


ausgezeichnet

Die Ich-Erzählerin, eine Horoskop- und Gelegenheitsliederschreiberin zieht mit Partner*in in ein Genossenschaftshaus, wo sie sofort in die Gemeinschaft aufgenommen wird. Sie soll für sie Lieder schreiben und hört ihre Geschichten, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Von Oma, die mit Ruth zusammenlebt, und die ihre Liebe in der Jugend verstecken mussten; von Sagaexpertin Lisa, die mehr in den Sagas lebt als in der Realität; von Aktivistin Lotte, die sich in Grieche Agis verliebt und viele mehr.
„Lieder aller Lebenslagen“ von Stine Pilgaard ist kein klassischer Roman. Es gibt keinen festen Erzählstrang, sondern nur den Kern, nämlich die Bewohner*innen des Hauses. Darauf muss man sich einlassen. Tut man es, wird man mit einer Bilderflut und Sprachintensität belohnt, die ich selten gelesen habe.
Die Geschichten sind ok, aber auch austauschbar und die schiere Masse an Figuren macht es manchmal schwer zu folgen, doch darauf lag nicht mein Hauptaugenmerk und hat mich deswegen nicht gestört. Stine Pilgaards Umgang mit Worten lässt mich neidisch werden und schon allein die Quantität der Metaphern ist beeindruckend. Für manche mag das Überladen wirken, aber zur Ich-Erzählerin, die ja Dichterin ist, passt das und wirkt nicht kitschig oder abgedroschen.
Und dann ist noch die böse Zunge der Erzählerin. Denn manchmal haut sie Sachen raus, die so wahr und treffend, wie bitterböse sind, ob es ihre heiratende Schwester, ihre langjährigen Beziehung oder Menschen betrifft, die sie aufs Kinderkriegen ansprechen. Damit brachte sie mich oft zum Schmunzeln.
Mit „Meine Mutter sagt“ hatte mich Stine Pilgaard bereits als Leserin gewonnen, mit „Lieder aller Lebenslagen“ hat sie meine Begeisterung noch verstärkt.

Bewertung vom 17.11.2023
Das Gemälde
Brooks, Geraldine

Das Gemälde


sehr gut

Lexington ist das bedeutendste Rennpferd der USA. Als Zuchthengst hat er viele erfolgreiche Nachkommen gezeugt und ist 150 Jahre nach seinem Tod nicht vergessen, auch wenn sein Skelett im Smithsonian verstaubt und ein Gemälde von ihm auf dem Sperrmüll landet. Wissenschaftlerin Jess und Kunsthistoriker Theo fasziniert Lexingtons Geschichte und führt sie zusammen. Außerdem ist da noch Jarret, der Lexington sein ganzes Leben lang begleitet und eine ganz besondere Verbindung zu ihm hat, doch als Schwarzer Sklave weniger Wert zu sein scheint als das Pferd. Sie erleben viel, nicht nur im Rennsport, sondern auch die Unruhen und Kämpfe zwischen Norden und Süden und geben sich gegenseitig Halt.
Das sind nicht alle Erzählstränge von „Das Gemälde“ von Geraldine Brooks, aber für mich die Zentralsten. Es gibt noch Maler Scott und Kunsthändlerin Martha, die das Bild komplettieren. Es ist ein sehr komplexer Roman, der sich nicht nur mit dem Rennsport befasst, sondern vor allem mit der Sklaverei in den USA, die zu Lexingtons Lebzeiten Normalität war und mit dem allgegenwärtigen Rassismus in der Gegenwart. Jarret und Theo sind PoC und geben jeweils Einblicke in ihre Lebensrealität, was ich sehr gelungen finde, aber mit einem gewissen Beigeschmack, denn muss eine Weiße Frau darüber schreiben, auch wenn das im Kontext des Buches sehr stimmig ist?
Sehr verständlich fand ich Jess’ Unbedarftheit in Bezug auf Mikroaggressionen und verstecktem Rassismus. Und ich mochte die Liebe zum Pferd, die Verbindung zwischen Mensch und Tier und die Leidenschaften der Figuren, die einen Gegenpol zu der Grausamkeit des Rassismus schaffen, diese aber gleichzeitig unterstreichen.
Geraldine Brooks Arbeit, die sie in den Roman und in die Recherche gesteckt hat, ist bei jeder Seite spürbar und Pferdemenschen und kunsthistorisch Interessierte werden ihre Freude haben. Vor allem stellt es aber die Lebensrealität von PoC in den Vordergrund, zwar von einer Weißen, aber trotzdem unglaublich wichtig.

Bewertung vom 05.11.2023
Im Prinzip ist alles okay
Polat, Yasmin

Im Prinzip ist alles okay


sehr gut

Miryam hatte es nie leicht. In ihrem Elternhaus herrschte Gewalt, der Vater schlug und die Mutter steckte ein, alles angeblich zum Wohl der Kinder. Auch später wurde es nicht besser, Gewalt, ob psychisch oder physisch bestimmte ihr Leben. Nun ist sie selbst Mutter und will alles besser machen, muss aber erkennen, dass die Vergangenheit tiefe Narben aus Traumata, Depression, Zweifel und Angst, hinterlassen hat.
„Im Prinzip ist alles okay“ von Yasmin Polat ist kräftezehrend. Die Gewalt, die Miryam erlebt ist so sehr mit ihrem Leben verankert, dass sie nicht davon loskommt und immer wieder in alte Muster rutscht, zum Schluss sogar selbst so handelt, wie sie nie handeln wollte. Der Roman zeigt wie weit generationsübergreifende Traumata gehen können und wie sehr sie das Leben prägen, auch wenn man alles dafür tut, um auszusteigen. Denn das versucht Miryam, doch trotz Therapie, Kontaktabbrüchen und besseren Beziehungen kommt sie von der Vergangenheit nicht los und das beeinflusst die für sie wichtigste Beziehung, die zu ihrem Kind.
Ich fand Miryam wirklich anstrengend. Anfangs tat sie mir Leid, sie ist ein Opfer, kann absolut nichts für ihre Traumata und nach einer absolvierten Therapie sollte sie besser mit der Depression, die sehr gut geschildert ist, klar kommen. Leider funktionieren psychische Erkrankungen so nicht, schon klar. Aber ich will auch nicht lesen, wie sie sich über Seiten und Seiten in Selbsthass, Zweifeln und Paranoia suhlt. Und auch das Ende gefällt mir nicht. Für so viel Gejammer und Einführung kommt das Ende, das zwar stimmig ist, zu hopplahopp und auch das es offen ist, wirkt irgendwie gewollt, so als hätte man einfach den letzten Absatz weggelassen, um es zu erschaffen.
Sprachlich ist es ok, haut mich aber nicht vom Hocker. Manche Charaktere hätte ich nicht gebraucht, ebenso wie die gewollt achronologische Erzählung zum Schluss. Trotzdem sehe ich Potenzial, nicht zuletzt wegen der wichtigen Themen, die Yasmin Polat anspricht.

Bewertung vom 28.10.2023
Nightbitch
Yoder, Rachel

Nightbitch


sehr gut

Eine Galeristin und Künstlerin wird Mutter und dann auch ziemlich schnell Hausfrau. Ihr Mann ist keine Hilfe, denn er ist eigentlich immer auf Geschäftsreise und sie hat noch nicht in die Mutterrolle finden können. Sie wird immer unglücklicher, bis sie sich radikal verändert und das Muttersein in einem ganz anderen Licht sieht.
„Nightbitch“ von Rachel Yoder wollte ich unbedingt lesen, versprach es doch ein außergewöhnlicher und laut Klappentext brillanter Roman zu sein und anfangs nahm ich es auch so war. Rachel Yoder beschreibt die Mutterrolle, in welche die Gesellschaft und die Arbeitswelt Frauen pressen möchten, radikal und ungeschönt. Die Protagonistin liebt ihren Sohn, ist aber heillos überfordert und bekommt weder Hilfe, noch Verständnis - im Gegenteil, sie sieht nur die perfekten Mütter um sich herum und der Vater glänzt durch altkluge Ratschläge und Abwesenheit.
Ziemlich schnell kam es dann zur Verwandlung in Nightbitch, einem mystischen Hundewesen, mit dem sie ihrer absolut nachvollziehbaren Wut Luft macht. Trotzdem hadert sie immer wieder mit ihrem Leben, ihren eigenen Erwartungen und den neu entdeckten Instinkten. Ab da fing es an sehr absurd und blutig zu werden, was ich sehr schade finde, denn die Rolle der Mutter ist wohl die Unterschätzteste überhaupt und rückt dadurch etwas in den Hintergrund. Nightbitch verkommt zum Kunstprojekt, was zum Schluss natürlich noch dramatisch, aber mit gewissen Längen inszeniert wird.
Trotzdem ist der Roman wichtig, weil er sich mit dem Thema Mutterschaft auf besondere Weise befasst. Mit der Überforderung, der Einsamkeit, der Monotonie und Selbstverständlichkeit, dass eine Frau auch gleichzeitig die geborene Mutter sein muss. Vielleicht spricht gerade diese etwas konfuse, ins absurde abdriftende Geschichte eine spezielle Leserschaft an, die sich dann damit auseinandersetzt, mich konnte der Roman und vor allem dessen Ende in Gänze nicht überzeugen.

Bewertung vom 22.10.2023
Ich träumte von einer Bestie
Blazon, Nina

Ich träumte von einer Bestie


ausgezeichnet

Fleur versteckt sich und ihre wilde Seite. Sie hat schlimmes in der Vergangenheit erlebt und das tief in sich begraben. Das kann sie gut, denn sie weiß, wie man Dinge wieder ausgräbt, vor allem im Internet. Als ihr leiblicher Vater stirbt, wird sie mit ihrem Erbe konfrontiert, wohinter viel mehr steckt, als schreckliche Erinnerungen und verdrängte Traumata. Auf der Suche nach Antworten reist sie nach Frankreich und findet nicht nur die Geschichte ihrer Familie, sondern auch zu sich selbst.
„Ich träumte von einer Bestie“ von Nina Blazon war ein aufregender Ritt von der ersten bis zur letzten Seite. Nina Blazon weiß, wie man Geschichten erzählt. Kein Wunder, sie hat viel Erfahrung und nutzte sie, um diesen wahnsinnig komplexen Roman zu schreiben. Ich bin immer noch beeindruckt, weil ich mich trotz momentaner Leseflaute, Fleur und ihrer Suche nicht entziehen konnte. Sie ist für mich ebenso lebendig geworden ist, wie all die anderen Charaktere. Nina Blazon beherzigt ‚show, don´t tell‘ exzellent, so erweckt sie Fleur auf eine Weise zum Leben, wie ich es selten gelesen haben. Zwar konnte ich ihre Angst vor dem Wald und vor Wölfen nicht wirklich nachvollziehen, da es für mich keinen schöneren Ort und keine schöneren Tiere gibt, trotzdem ist diese im Gesamtbild schlüssig und ich konnte mich in Fleur als Person sehr gut hineinversetzen.
Nina Blazon verbindet Moderne mit Vergangenheit, und Märchen, oder besser gesagt die Wirklichkeit hinter den Märchen, spielen eine zentrale Rolle. Sie führt ihre Leser*innen auf eine Reise in ein anderes Land, in eine andere Zeit und behält doch immer einen Fuss im Hier und Jetzt, was mir sehr gut gefallen hat. Auch stilistische muss sich Nina Blazon nicht verstecken. Sie baut gezielte Metaphern ein und wählt gekonnt die richtigen Szenen aus.
Ich freue mich sehr, eine so tolle Autorin gefunden zu haben und ich habe zwar noch keines ihrer anderen Bücher gelesen, aber ich glaube, da ist für Jede*n etwas dabei.

Bewertung vom 14.10.2023
The Marmalade Diaries
Aitken, Ben

The Marmalade Diaries


sehr gut

Der 30jährige Ben zieht zur 85jährigen Winnie, dessen Mann vor kurzem gestorben ist und die allein in einem riesigen Haus in London lebt. Es ist eine Art Zweckgemeinschaft. Ben benötigt ein Heim und Winnie Gesellschaft. Sie bilden eine besondere WG, die noch besonderer wird durch die Zeit, die sie durchstehen müssen, denn Corona hat die Welt fest im Griff.
In „The Marmalade Diaries“ beschreibt Ben Aitken in Tagebuchform, was er alles mit Winnie erlebt. Es ist chronologisch aufgebaut und jedem Kapitel, das einen Monat beinhaltet, folgt ein Schwank aus Winnies Leben. Sie ist auch die Hauptperson dieses Buches und ich mochte sie sehr. Sie ist exzentrisch wie es nur ältere, erfahrene Menschen sein können. Sie hat ihre Eigenarten, Vorlieben und Routinen, die oft Kleinigkeiten betreffen, wie welcher Topf für die Eier verwendet wird. Sie hat sich arrangiert in ihrem Leben als Witwe mit einem pflegebedürftigen Sohn, wobei sie nie zur Ruhe kommt, nicht mal um zu Essen.
Am besten gefallen mir die Dialoge zwischen Ben und Winnie. Ihre Ansichten sind manchmal so verdreht, dass sie schon wieder gerade wirken. Es handelt sich allerdings nicht um einen Roman, es ist ein Tagebuch. Es gibt keine richtige Geschichte, wenn man mal von Winnies Leben, das wie nebenbei erzählt wird, absieht. Es sind schöne Anekdoten, die für sich stehen können und geben einen Einblick in die Zeit, als Corona noch unseren Alltag bestimmt hat. Aitken hat dabei einen soliden Schreibstil, der durch den schwarzen Humor bestimmt wird.
Es ist schönes Buch, zu dem man immer wieder greifen kann, um ein paar Abschnitte zu lesen und die einen über Winnie Schmunzeln lassen, die mal wieder nicht richtig zuhört und wie eine Füchsin auf ihre Orangenmarmelade aufpasst.

Bewertung vom 08.10.2023
Monstrosa
Krcmárová, Rhea

Monstrosa


sehr gut

Triggerwarnung: Essstörung, selbstverletzendes Verhalten

Isabella ist mehrgewichtig und hat bereits 20 Jahre Diäterfahrung hinter sich. Sie war schon als Kind in Diätcamps und als es zu Binge-Eating-Anfällen kommt, nutzt sie anderen Maßnahmen - trotzdem steigt die Zahl auf der Waage immer weiter. Ihr Leidensdruck wird so groß, dass sie zur Klinge greift, was natürlich auch keine Erleichterung bringt. Das Einzige, was sie glücklich macht, ist das Singen. Darin ist so gut, dass sie Operngesang studierte, aber auch hier steht ihr Gewicht ihr im Weg. Sie muss abnehmen und vor allem ihre Essstörung in den Griff bekommen. Sie geht in eine Klinik, wo sie auf Anas und Mias trifft, Mädchen, Frauen und zwei Männer, die unter Magersucht und Ess-Brech-Sucht leiden. Sie sind eine eingeschworene Gruppe und Isabella wird zu ihrem Feindbild.
„Monstosa“ von Rhea Krčmářová ist kein normaler Roman, er ist eine besondere Art des Horrorromans, der mich an die Klassiker erinnert, allerdings verortet in der Moderne mit seinen überzogenen Schönheitsidealen. Isabella verkörpert absolut, was eine mehrgewichtige Frau durchmachen, womit sie kämpfen muss, wie wenig sie akzeptiert wird. Auch die Anas und Mias verkörpern sehr gut die Krankheit, die dahintersteckt. Manchmal vielleicht auch zu sehr. Der Wahnsinn wird mehr als deutlich und dafür ist dieses spezielle Genre auf das man sich einlassen muss, ideal gewählt.
Man merkt, dass Rhea Krčmářová Erfahrung mit Dramaturgie und Storytelling hat, sie bedient sich an klassischen Motiven, die sie für sich interpretiert und das fand ich sehr gelungen. Aber für eine Person, die Erfahrung mit diesen Themen hat, ist das Buch auch sehr herausfordernd und ich hätte mir tatsächlich eine deutliche Triggerwarnung gewünscht, auch wenn der Klappentext darauf hindeutet.