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Bewertungswiesel

Bewertungen

Insgesamt 33 Bewertungen
Bewertung vom 29.08.2023
Wellenkinder
Bahrow, Liv Marie

Wellenkinder


sehr gut

Das Cover mit der Schaukel am Meer lässt an einen beschwingten Sommerroman denken.
Das ist dieses Buch nicht. Es handelt sich eher um einen historischen Roman mit Thriller-Elementen. Drei Handlungsstränge über Personen in verschiedenen Zeiten sind inhaltlich geschickt miteinander verflochten.
Dabei wird die Grausamkeit des Systems der sozialistischen Diktatur anhand der einzelnen Lebensgeschichten deutlich.
An manchen Stellen erscheint mir die fiktive Handlung aber zu stark konstruiert. Die drei Personen, aus deren Perspektive im Wechsel berichtet wird, sind etwas klischeehaft. Einige Ereignisse können sich unmöglich so ereignet haben. Es wurden zwar geschichtliche Fakten als Hintergrund genommen, bei deren Ausschmückung zum Roman wurde aber definitiv zu dick aufgetragen und Gesetze der Logik wurden außer Kraft gesetzt. Schade.

Bewertung vom 24.08.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


ausgezeichnet

Minimalistisch ist er, der Einband für die Biographie einer sparsamen Frau, passender geht es nicht!
Auf seine ganz eigene, urkomische Art beschreibt Haas in diesem Roman die letzten beiden Tage seiner Mutter im Altersheim sowie ihr gesamtes Leben in Rückblicken, diese in ihrer eigenen, ebenfalls reduzierten, mundartlichen Sprache.
Ein derartig sensibles Thema kann wohl nur Haas so erzählen, dass es nicht im geringsten deprimierend wirkt, sondern sogar witzig, ohne die Würde der alten Dame zu verletzen.
Sie war eine Frau, die sich jahrzehntelang bemüht hat, etwas zu erreichen, das andere einfach so erben: Ein paar Quadratmeter eigenes Land. Dabei mochten sie die meisten Leute in ihrem österreichischen Bergdorf nicht, fanden sie schwierig, weil sie zu ehrlich war, was beleidigend wahrgenommen wurde.
Kurzweilige Lektüre für alle, die auch dem Ernst des Lebens gern eine fröhliche Seite abgewinnen wollen.

Bewertung vom 08.08.2023
Terafik
Karkhiran Khozani, Nilufar

Terafik


sehr gut

Das stimmungsvolle Cover lässt eine besondere Reise erwarten. Besonders ist Nilufars Reise auch . Mit über 30 reist sie zum ersten Mal in das Land, dessen Pass längst für sie bereit liegt und den sie auch nicht mehr abgeben kann, in den Iran. Ihre deutsche Mutter trennte sich von ihrem Vater, als sie 7 war. Ein Besuch wurde nicht erlaubt, denn ihre Mutter hatte das sehr reißerische, einseitig aus amerikanischer Sicht geschriebene Buch von Betty Mahmoody gelesen, in dem ein Kind im Iran festgehalten wurde.
Aber Nilufars Vater pflegt den Kontakt zu ihr, und nach dem Studium gibt es für sie keine Ausreden mehr.
Als Leser muss man sich nun einige Namen von Verwandten merken. Denn ohne geht es nicht. Während ihr Vater ihr zunächst aus dem Weg zu gehen scheint, wird sie überaus gastfreundlich von sämtlichen Verwandten aufgenommen und permanent mit Tee und Obst versorgt.
Endlich, in den Bergen, kommt es zu einer Aussprache zwischen Vater und Tochter. Das ist der wirklich starke Teil des Romans. Man spürt während des Lesens ihre Zerrissenheit zwischen den Kulturen, ihre Verzweiflung, nichts allein erkunden zu können. Ihr Radius - geschrumpft auf den eines Kindergartenkindes. Und doch ist da eine enge Bindung, ein Verständnis für den zwar intellektuell erfolgreichen, sozial äußerst flexiblen, aber dennoch in der deutschen Gesellschaft gescheiterten Vater.
Nilufars lesbische Beziehung ist hier kein Thema, was sicherlich interessant gewesen wäre, aber die Grenze des Möglichen überschritten hätte.
Dieses Buch erzählt glaubhaft, wie schwierig ein sogenannter Migrationshintergrund sein kann.

Bewertung vom 01.08.2023
Das Pferd im Brunnen
Tscheplanowa, Valery

Das Pferd im Brunnen


gut

Das Cover im Stil von Van Gogh ist erfrischend in Orange-und Grüntönen gehalten. Der Plot hat eine Menge Potenzial: Vier Frauen aus vier Generationen, verflochten mit der Geschichte der Sowjetunion. Dementsprechend hoch meine Erwartung. Leider wird keine der Frauen in meinem Kopf lebendig. Hauptsächlich ist das Buch eine Hommage an Großmutter Nina, diese wird leider eher unsympathisch dargestellt. Es hilft dabei auch nicht, dass ihre ruppige Art mit einer Notwendigkeit erklärt wird. Frau tut, was sie tun muss, denkt nicht nach, weil das System nur solche überleben lässt.
Vielleicht sollen wir als Leser ein Unbehagen im Umgang mit den Figuren durchmachen, damit es authentisch bleibt.
Vielleicht wurde aber auch nur schwach recherchiert, und insgesamt mit zu wenig Inhalten aufgeschrieben. Die übrigen Figuren bleiben nämlich starr, geradezu hölzern. Diejenigen Männer, die Erwähnung finden, verschwinden so plötzlich, wie sie gekommen sind.
Die Chronologie ist zwischen den einzelnen Kapiteln aufgehoben, wir befinden uns mal später, mal früher im Zeitgeschehen. Beschrieben wird alles im Präsens, das, was danach geschieht, teilweise im Futur, was ich extrem irritierend fand.
Der metaphorische Titel führt ins Leere: Ein Brunnen, der nicht mehr erkennbar ist, ein - ebenfalls unsichtbares - Pferd, das mal hinein gefallen sein soll.
Insgesamt überzeugt der Roman kaum.

Bewertung vom 30.07.2023
Tasmanien
Giordano, Paolo

Tasmanien


ausgezeichnet

Auf dem Cover eine einsame Person am aufgewühlten Meer. Ein Journalist und Autor, der sich zum Ziel gesetzt hat, ein Buch über die Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki 1945 zu schreiben. Trotz fundierter Fachkenntnis durch sein Physikstudium kommt er damit nicht weiter. Begleitet von wechselnden Krisen in den Jahren 2015-2022, durchlebt er auch privat eine Krise in der Beziehung zu seiner fast zehn Jahre älteren Lebenspartnerin. Als Wissenschaftler hat er immerhin diverse Kontakte, die es ihm ermöglichen, die Welt zu bereisen.
Klimakonferenz, Terroranschläge - er erliegt einem apokalyptischen Sog. Noch dazu verlangt man ihm eine Stellungnahme ab, die ihn überfordert: Ein guter Freund, renommierter Klimaforscher, liefert öffentlich einen angeblichen Beweis, dass Frauen in der Forschung zu Recht unterrepräsentiert seien, da ihre Leistung nicht an die der männlichen Mitstreiter heran reiche!
Alles etwas viel für den paralysierten Intellektuellen, den die Vergangenheit belastet, der vor der Gegenwart flieht, und der keine Zukunft für die Menschheit sieht.
Ratlos lebt er ein passives Leben voller Widersprüche, produziert noch mehr CO 2 durch unnötige Flugreisen, lebt in Hotels, schreckt aus unerfindlichem Grund nicht einmal vor Videos von Enthauptungen zurück. Auch der Glaube bietet kein Fundament mehr.
Jener Freund mit der sexistischen Studie hatte Tasmanien als Ort benannt, auf dem das Überleben einer Elite denkbar sei.
Tasmanien selbst ist aber ansonsten gar nicht Thema dieser Odyssee.
Mehrmals fragte ich mich als Leser, warum genau dieses Buch geschrieben wurde. Es passt in keine Schublade, gehört aber ins Bücherregal!
Trotz etlicher hochinteressanter naturwissenschaftlicher Fakten will es kein Sachbuch sein. Es ist auch kein Gesellschaftsroman, obschon die Ängste der zeitgenössischen Gesellschaft perfekt und tiefgründig beschrieben werden, aber eben aus der Perspektive eines Einzelnen. Für einen Bildungsroman scheint der Protagonist zu alt.
Es könnte die existentialistische Antwort auf die TAGESSCHAU sein. Durch eindringliche Beschreibungen eines Nagasaki-Überlebenden wird es außerdem zu einem Anti-Kriegs-Roman.
Die Frage, die der Roman aufwirft: Können wir, selbst mit all unserem Wissen, überhaupt anders agieren, als wir es gewohnt sind, um Schlimmes zu verhindern?
Tasmanien ist definitiv keine Lösung!

Bewertung vom 25.07.2023
Vatermal
Öziri, Necati

Vatermal


ausgezeichnet

Das Cover wirkt mit den riesigen grellen Buchstaben und roten Spitzen geradezu aggressiv, was mich zunächst abschreckte.
Das Buch selbst hatte ich mit Begeisterung innerhalb von 24 Stunden durchgelesen. Es ist eine wirklich unter die Haut gehende, großartig geschriebene Geschichte über eine türkische Familie.
Durch ein Erdbeben waren die Großeltern mütterlicherseits gezwungen zu fliehen. Der Vater ist ein linker Aktivist, dessen Bruder in der Türkei von rechten Widersachern getötet wurde. Es kam zur Blutrache, er musste deswegen fliehen.
Der Erzähler lernt seinen Vater nie kennen, ist aber keineswegs nachtragend oder verbittert, jedenfalls weit davon entfernt, eine Opferrolle einzunehmen.
Die Perspektive der weiblichen Familienmitglieder wird in eigenen Kapiteln komplett nachvollziehbar gezeigt. Man liest nicht nur über sie, man lebt mit ihnen, und erkennt ganz klar: Es gibt nicht den einen Schuldigen, und Integration ist definitiv machbar.
Vaterlos aufzuwachsen, das bedeutete in diesem Fall vor allem die Chance auf Gewaltverzicht und ein zeitgemäßes Rollenverständnis.
Mit diesem Buch ist es Necati Öziri gelungen, eine Brücke zu errichten.
Er schreibt das Buch als imaginären Brief an den unbekannten Vater. Es ist aber vielmehr auch eine spannende Einladung an alle „Kartoffeln“ zum Teilen von Kultur und Geschichte.

Bewertung vom 08.07.2023
Das Glück der Geschichtensammlerin
Page, Sally

Das Glück der Geschichtensammlerin


weniger gut

Der Titel und das liebliche Cover mit Buch, Hut, Blumen und Hund lassen es erahnen: Hier haben wir es nicht mit einem postmodernen Roman zu tun, sondern eher einer viktorianisch inspirierten Gute-Nacht-Geschichte, inclusive einem allwissenden Erzähler, rührselig wie die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens.
Um dem Ganzen dennoch Aktualität zu geben, ist alles im Präsens geschrieben. Das Wort „Geschichte“ taucht gefühlt auf jeder Seite mindestens zweimal auf. Dieser Schreibstil macht es mir unmöglich, den Charakteren näher zu kommen oder mich gar in sie einzufühlen.
Diese unüberwindbare Distanz wird trotz zahlreicher, erschreckend dramatischer Inhalte keineswegs durch Spannung ausgeglichen. Diese will sich einfach nicht aufbauen, weil sich stattdessen immer wieder das Gefühl breit macht, man solle hier moralisch belehrt werden, dass Menschen eben gut und böse im Wechsel sein können. Prädikat: Pädagogisch wertlos!
Die zwei Sterne ergeben sich, da man zum Einen dem Buch wirklich keine Handlungsarmut vorwerfen kann. Senile Ex-Spionin mit Hang zum Alkohol, Suizide, Morde, Seenot, Vernachlässigung, verschwundenes Kind - alles drin.
Zum Anderen gefiel mir die überraschend kulturelle Grenzen sprengende Anspielung auf „Tausend und eine Nacht“.
Wer experimenteller Literatur nichts abgewinnen kann und sich gern von Altbewährtem an die Hand genommen fühlen möchte, ist vermutlich spendabler mit den Sternen.

Bewertung vom 18.06.2023
Schönwald
Oehmke, Philipp

Schönwald


sehr gut

Das Cover lässt ein eher behäbiges, klassisches Familienepos erwarten. Tatsächlich aber haben die dunklen Punkte aus der Vergangenheit der einzelnen
Schönwalds große Aktualität und fügen sich in einen temporeichen, humorvollen Plot ein. Noch dazu wird alles aus verschiedenen Perspektiven packend erzählt und gekonnt zusammengefügt.
Zugegeben, es sind ein paar aktuelle Themen zu viel. Queerer Buchladen, woke Social-Media-Jugend, die deutsche Kollektivschuld, Stadt-Land, Ost-West, Donald Trump, Missbrauch, Me-Too. Während man sich durch all diese heiß diskutierten Themen liest, kommt immer wieder die Frage auf, welches eigentlich das zentrale sein könnte. Zu Beginn scheint es darum zu gehen, ob in Deutschland lebende Menschen ohne Migrationshintergrund per se Menschen mit Nazi-Hintergrund sind, und deren Geld folglich immer ein weiter vermehrter Profit aus der Zeit des Nationalsozialismus. Immer deutlicher wird dann klar, dass es nicht nur um Nazis geht, und schon gar nicht um Genderfluidität. Vielmehr um das Miteinander-Reden in Familien, um Offenheit, die nachhaltig Konflikte verhindern kann.
Grandioses Ende!
Der Roman ist leicht überfrachtet, aber eines sicher nicht - langweilig!

Bewertung vom 28.05.2023
Über Leben in der Klimakrise
Glimbovski, Milena

Über Leben in der Klimakrise


ausgezeichnet

Milena Glimbovski hat sehr gründlich recherchiert und unzählige gute Ideen gesammelt, die dazu beitragen können, unser Klimaproblem zu drosseln, vor allem in der Energie- und Landwirtschaft.
Aber klar, das ist ein globales Problem, und hauptsächlich die Politiker der Welt müssten sofort anfangen, Maßnahmen umzusetzen. Warum also dieses Buch lesen, wenn wir selbst so wenig tun können, egal wie sehr wir unseren Alltag umkrempeln?
Vielleicht hilft es, sich so auch mental mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass unser gesamtes Leben ganz sicher nicht weitergehen wird, wie wir es kennen, und dass Verdrängen und Schönreden gefährlich werden können. Die Autorin hat etliche Vorschläge, sich gegen möglicherweise lokal drohende Katastrophen zu schützen (Wasserknappheit, Stromausfall, Überflutungen) - etwa den 25 Liter-Wasserkanister im Haushalt, solarbetriebenen Generator und stets bereit stehenden Fluchtrucksack. So etwas mag manchen übertrieben erscheinen. Aber: Vorgesorgt zu haben, könnte zumindest gegen starke Klimaangst und Depressionen helfen, auch wenn es im Ernstfall anders kommt.
Die Autorin schreibt neben all den Fakten und Tipps sehr viel aus ihrem persönlichen Leben, was die Lektüre menschlich und verständlicher macht.
Kein Buch für Ignoranten. Aber definitiv eine Argumentationsstütze, um jenen Leuten, die immerzu meinen, das gehe ja alles nicht, und es werde sicher gar nicht so schlimm, etwas entgegenzusetzen.

Bewertung vom 26.05.2023
Für jede Liebe ein Problem
Kelly, Anita

Für jede Liebe ein Problem


sehr gut

Das Cover im Comic Style bereitet auf eine schwungvolle und leichte Lektüre vor, und das ist diese RomCom auch. Die beiden Personen, die sich hier näher kommen, sind Menschen wie du und ich: Den einen oder anderen Konflikt in der Familie, nicht immer im Einklang mit sich selbst oder der Außenwelt. London und Daliah finden sich unter widrigen Umständen, denn als Setting hat die Autorin den Drehort für eine weitere Staffel einer Kochshow gewählt. Diese Show kämpft mit sinkenden Zuschauerzahlen, das Internet hat das alte Format Fernsehen längst überrollt. Nun erhält diese verstaubte Unterhaltungsform endlich neuen Schwung, denn London outet sich direkt in Folge 1 als nicht binär! Die damit einhergehenden neuen Pronomen und Gender-Sternchen sind charakteristisch für den Schreibstil, auf die Gefahr hin, dass Lesende darüber stolpern. Wobei das Lesen hier aber reine Übungssache ist. Nach einigen Seiten der Lektüre hatte ich mich daran gewöhnt.
Warum sollten Hetero-Menschen auch ein Buch mit LGBTQIA-Fähnchen lesen?
Ganz einfach: Weil es unterhaltsam ist, und vollkommen normal, dass es nicht nur zwei Geschlechter gibt.
Wer es liest, trägt dazu bei, dass Menschen wie London sich nicht überwiegend in einem Umfeld aufhalten müssen, in dem ihre Identität nicht verstanden wird.