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Bewertungswiesel

Bewertungen

Insgesamt 39 Bewertungen
Bewertung vom 17.12.2023
Hab ich noch Hoffnung, oder muss ich mir welche machen?
Raether, Till

Hab ich noch Hoffnung, oder muss ich mir welche machen?


gut

Ein rotes Buch mit einem so humorvollen Titel erregt Aufmerksamkeit. Das ist in unserer von Überfluss geprägten Zeit der erste Schritt zum Erfolg.
Der Autor erzählt auf kompakten 125 Seiten, wie er persönlich mit der geballt negativen Informationsflut unserer Zeit umgeht. Das ist zuweilen interessant, oft sehr vertraut und letztendlich ohne Ergebnis,
was nicht überrascht, denn kein Buch sollte Krieg oder Klimawandel verharmlosen. Er schwankt in seinem Alltag zwischen Sympathie mit Klimaklebern und Ärger über gestörte Tagesabläufe. Zwischendurch sinniert er noch über Gedichte von Emily Dickinson aus dem vorletzten Jahrhundert.
Es ist alles etwas banal und leider keine Zeile annähernd so humorvoll wie der Titel. Das Buch liefert höchstens ein paar psychologische Einsichten in das Prinzip Hoffnung. Es ist definitiv kein Buch, das man gelesen haben MUSS.

Bewertung vom 15.12.2023
Die Verletzlichen
Nunez, Sigrid

Die Verletzlichen


ausgezeichnet

So hübsch das Gemälde auf dem Cover mit einer Blume, die zum Papagei wird, auch sein mag - es sieht nur aus wie ein klassischer Roman, ist aber keiner.
Er ist eine Anhäufung von sehr persönlichen Gedanken und Erinnerungen. Direkt, authentisch. Die Erzählerin ist eine Frau im Alter der Autorin, mit dem Beruf einer Autorin. Diese findet sich aufgrund einer Kette freundschaftlicher Verstrickungen während der Anfangszeit der Pandemie in Isolation mit einem, ihr vorher nicht bekannten jungen Mann, von dem wir erfahren, dass er zuvor in der Psychiatrie war. Aus diesem Setting könnte nun ein sehr spannender Thriller entstehen: Hilflose ältere Frau steckt in der Falle eines Psychopathen. Oder ein sehr philosophischer Bildungsroman: Ältere Frau teilt ihre Weisheiten. Oder natürlich ein sehr moderner, sehr kitschiger Liebesroman: Ältere Frau verführt jungen Mann.
Zum Glück verzichtet die Autorin auf all diese Plots und schafft etwas überraschend lesbares, vollkommen Eigenes.
Wieviel Autofiktion darin steckt, kann man natürlich nur vermuten. Was auf jeden Fall darin steckt, sind ungewöhnliche Denkanstöße über unsere Zeit, unsere Probleme, unser menschliches Sein. Ein Buch, das man mehrmals lesen und allen schenken kann, die offen für neue Literaturformen sind.

Bewertung vom 29.10.2023
Jil Sander. Eine Annäherung
Wiesner, Maria

Jil Sander. Eine Annäherung


ausgezeichnet

Das Naheliegende ist das Einfache, also ist auf dem Buch über Jil Sander einfach Jil Sander zu sehen - im charakteristischen Hosenanzug.
Das Buch ist keine Biographie!
Passend zum Modestil folgt Maria Wiesners Annäherung dem Ziel der absoluten Sachlichkeit: Streng an Fakten orientiert, komplett frei von Ornamentalem, etwa Klatsch und Tratsch aus der Welt der Reichen und Schönen.
Die Autorin hat zwei Jahre lang sehr gründlich recherchiert, bis hin zum Test einer Jahrzehnte alten Parfümprobe aus Sammlerbeständen. Sie hat mit vielen Menschen aus dem internationalen Umfeld der Designerin gesprochen und so ein Porträt erstellt, das sich vor allem auf die Marke konzentriert,
Es gab keinerlei Interviews mit Jil Sander selbst, so bleibt ihre Person weitestgehend im Verborgenen.
Getreu dem Grundsatz des Bauhaus, dass Form der Funktion folgen soll, schuf Jil Sander ihre Mode, und so nüchtern und ohne Ausschmückungen ist auch der Text. Seriöser Journalismus!
Das Buch wird der - auf die Sache fokussierten und absolut nicht bühnenorientierten Modeschöpferin in vollem Umfang gerecht und informiert nebenbei über den globalen Handel. Wer sich für Mode interessiert, kann mit dieser Lektüre nichts falsch machen.

Bewertung vom 22.10.2023
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


sehr gut

Durch den Adler auf dem Cover bekommen wir bereits die Grundstimmung des Romans vermittelt: Es geht um den Wunsch, sich kraftvoll über alles hinweg zu erheben und Verletzungen aus der Vergangenheit hinter sich zu lassen. Hochinteressante Figuren, ungeheuer dichte Atmosphäre. Das Motiv der Zugfahrt nach Malma wiederholt sich auf drei Zeitebenen.
Es entsteht eine ungeheure Spannung, indem aus den unterschiedlichen Perspektiven der Personen ein Puzzleteil nach dem anderen aufgedeckt wird. Im Zentrum steht Harriet, von der eigenen Mutter verlassen, als Mutter überfordert. Ihre Handlungen sind teilweise absurd und dennoch nachvollziehbar. Sie ist besessen von dem Wunsch, ihre Kindheit aufzuarbeiten. Das überfordert ihren Mann Oskar, selbst von einer grausamen Mutter geprägt, und nun ein diffus unnahbarer Vater.
Verlust ist ein zentrales Thema auch im Leben ihrer Tochter Yana. Sie alle verspüren eine Ohnmacht, ihr Leben nicht selbst bestimmen zu können, denn das Trauma wird über Generationen weitergegeben.
An einigen Stellen überzeugt mich der Handlungsstrang allerdings nicht ganz. Es ist mir teilweise zu weit weg von dem, was meiner Auffassung nach plausibel wäre. Die Rolle des Haustiers über nahezu fünfzig Jahre hinweg etwa nimmt zu viel Raum ein. Auch hätten mich mehr Details aus Oskars Vergangenheit interessiert, er ist der flachste Charakter im Roman.
Das hat mein Leseerlebnis insgesamt aber nicht maßgeblich geschmälert. Wer psychologischen Tiefgang schätzt, ist mit diesem Buch auf der sicheren Seite.

Bewertung vom 20.10.2023
Ich erkenne eure Autorität nicht länger an
Bech, Glenn

Ich erkenne eure Autorität nicht länger an


ausgezeichnet

Das Cover mit dem plakativen Titel spricht von einer großen Wut auf eine Gesellschaft, die nicht für alle offen ist, dominiert von reichen, urbanen Cis-Männern auf dem emotionalen Niveau von 15-16 -Jährigen.
Der Autor erzählt in pointierten, tief gehenden Aphorismen vom (eigentlich doch vorbildlichen) Dänemark, in dem keineswegs alle gleiche Chancen haben.
Wenn man in eine arme Familie in der Provinz geboren wird, ist es geradezu unmöglich, Privilegien über Bildung zu erlangen. Wenn man noch dazu homosexuell ist, hat die Lebenswirklichkeit rein gar nichts mit der von angesagten Personen in Metropolen und auf Social Media gemeinsam. Der Autor berichtet von Mobbing und dem Gefühl der Selbstverleugnung, vom Verstecken, und das alles in diesem Jahrtausend, noch immer! Diejenigen, die sich zufällig im Mainstream (hetero, obere Mittelschicht) befinden, haben nicht annähernd eine Vorstellung von der tatsächlichen Situation. Schließlich erlebt man doch auf allen Kanälen, wie cool sich z. Bsp. schwule Künstler inszenieren.
Dieses Manifest ist ein sehr poetischer, noch dazu perfekt lesbarer Appell an die sogenannten Cis-Personen, und auch an sonstige Privilegierte, egal welcher sexuellen Orientierung, etwas aufmerksamer mit Empathie auf seine Mitmenschen zu blicken. Klare Leseempfehlung für ALLE, die starke Texte lieben, nicht nur für Benachteiligte!

Bewertung vom 01.10.2023
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


ausgezeichnet

Der neue Kehlmann präsentiert sich auf schwarzem Hintergrund, mit weißen und roten Lettern, also in den Farben der preußischen Fahne. Wir haben es mit einem hochkarätigen historischen Roman zu tun. Er zeigt die Geschichte des deutschen Films, von Stummfilm bis Nachkriegs-Heimatfilm.
Mit Ironie und einem beeindruckenden Gespür für die Schwächen der Menschen schickt uns der Autor auf die Spuren des berühmten Regisseurs G.W. Pabst. Dieser war eine Art Wendehals. Im Herzen politisch links, verfilmte er Brechts „Dreigroschenoper“, lehnte Hitlers Machtergreifung ab, versuchte sein Glück in Paris und Hollywood, konnte sich allerdings, nicht zuletzt aufgrund rudimentärer Englischkenntnisse, dort nicht durchsetzen und landete zunächst aus privaten Gründen wieder in seiner Heimat Österreich, die jetzt Ostmark hieß. Dort ließ er sich von den Nazis vereinnahmen, wobei er sich immerhin von klassischen Propagandafilmen fern hielt und versuchte, einfach weiter gute Filme zu machen. Bis zuletzt redete er sich selbst ein, er kämpfe für die reine Kunst.
Schon der Einstieg in den Roman ist brillant! Wir befinden uns in der Gegenwart, die Perspektive ist die seines, inzwischen senilen Assistenten Wilzek.
Kehlmann liebt die indirekte Rede, dennoch wirken die Dialoge unmittelbar und echt. Atmosphärisch dicht und immer ganz nah am tiefsten Inneren der Menschen kommen nach und nach andere Personen in den Fokus.
Wer sich für das Kino interessiert, findet in diesem Roman, was möglicherweise hinter den Kulissen in den Köpfen der Beteiligten geschah. Wer einen ungewöhnlichen Roman über die Nazizeit lesen möchte, sollte diesen hier nicht auslassen.
Kehlmann ist wieder einmal genial!

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Bewertung vom 29.08.2023
Wellenkinder
Bahrow, Liv Marie

Wellenkinder


sehr gut

Das Cover mit der Schaukel am Meer lässt an einen beschwingten Sommerroman denken.
Das ist dieses Buch nicht. Es handelt sich eher um einen historischen Roman mit Thriller-Elementen. Drei Handlungsstränge über Personen in verschiedenen Zeiten sind inhaltlich geschickt miteinander verflochten.
Dabei wird die Grausamkeit des Systems der sozialistischen Diktatur anhand der einzelnen Lebensgeschichten deutlich.
An manchen Stellen erscheint mir die fiktive Handlung aber zu stark konstruiert. Die drei Personen, aus deren Perspektive im Wechsel berichtet wird, sind etwas klischeehaft. Einige Ereignisse können sich unmöglich so ereignet haben. Es wurden zwar geschichtliche Fakten als Hintergrund genommen, bei deren Ausschmückung zum Roman wurde aber definitiv zu dick aufgetragen und Gesetze der Logik wurden außer Kraft gesetzt. Schade.

Bewertung vom 24.08.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


ausgezeichnet

Minimalistisch ist er, der Einband für die Biographie einer sparsamen Frau, passender geht es nicht!
Auf seine ganz eigene, urkomische Art beschreibt Haas in diesem Roman die letzten beiden Tage seiner Mutter im Altersheim sowie ihr gesamtes Leben in Rückblicken, diese in ihrer eigenen, ebenfalls reduzierten, mundartlichen Sprache.
Ein derartig sensibles Thema kann wohl nur Haas so erzählen, dass es nicht im geringsten deprimierend wirkt, sondern sogar witzig, ohne die Würde der alten Dame zu verletzen.
Sie war eine Frau, die sich jahrzehntelang bemüht hat, etwas zu erreichen, das andere einfach so erben: Ein paar Quadratmeter eigenes Land. Dabei mochten sie die meisten Leute in ihrem österreichischen Bergdorf nicht, fanden sie schwierig, weil sie zu ehrlich war, was beleidigend wahrgenommen wurde.
Kurzweilige Lektüre für alle, die auch dem Ernst des Lebens gern eine fröhliche Seite abgewinnen wollen.

Bewertung vom 08.08.2023
Terafik
Karkhiran Khozani, Nilufar

Terafik


sehr gut

Das stimmungsvolle Cover lässt eine besondere Reise erwarten. Besonders ist Nilufars Reise auch . Mit über 30 reist sie zum ersten Mal in das Land, dessen Pass längst für sie bereit liegt und den sie auch nicht mehr abgeben kann, in den Iran. Ihre deutsche Mutter trennte sich von ihrem Vater, als sie 7 war. Ein Besuch wurde nicht erlaubt, denn ihre Mutter hatte das sehr reißerische, einseitig aus amerikanischer Sicht geschriebene Buch von Betty Mahmoody gelesen, in dem ein Kind im Iran festgehalten wurde.
Aber Nilufars Vater pflegt den Kontakt zu ihr, und nach dem Studium gibt es für sie keine Ausreden mehr.
Als Leser muss man sich nun einige Namen von Verwandten merken. Denn ohne geht es nicht. Während ihr Vater ihr zunächst aus dem Weg zu gehen scheint, wird sie überaus gastfreundlich von sämtlichen Verwandten aufgenommen und permanent mit Tee und Obst versorgt.
Endlich, in den Bergen, kommt es zu einer Aussprache zwischen Vater und Tochter. Das ist der wirklich starke Teil des Romans. Man spürt während des Lesens ihre Zerrissenheit zwischen den Kulturen, ihre Verzweiflung, nichts allein erkunden zu können. Ihr Radius - geschrumpft auf den eines Kindergartenkindes. Und doch ist da eine enge Bindung, ein Verständnis für den zwar intellektuell erfolgreichen, sozial äußerst flexiblen, aber dennoch in der deutschen Gesellschaft gescheiterten Vater.
Nilufars lesbische Beziehung ist hier kein Thema, was sicherlich interessant gewesen wäre, aber die Grenze des Möglichen überschritten hätte.
Dieses Buch erzählt glaubhaft, wie schwierig ein sogenannter Migrationshintergrund sein kann.

Bewertung vom 01.08.2023
Das Pferd im Brunnen
Tscheplanowa, Valery

Das Pferd im Brunnen


gut

Das Cover im Stil von Van Gogh ist erfrischend in Orange-und Grüntönen gehalten. Der Plot hat eine Menge Potenzial: Vier Frauen aus vier Generationen, verflochten mit der Geschichte der Sowjetunion. Dementsprechend hoch meine Erwartung. Leider wird keine der Frauen in meinem Kopf lebendig. Hauptsächlich ist das Buch eine Hommage an Großmutter Nina, diese wird leider eher unsympathisch dargestellt. Es hilft dabei auch nicht, dass ihre ruppige Art mit einer Notwendigkeit erklärt wird. Frau tut, was sie tun muss, denkt nicht nach, weil das System nur solche überleben lässt.
Vielleicht sollen wir als Leser ein Unbehagen im Umgang mit den Figuren durchmachen, damit es authentisch bleibt.
Vielleicht wurde aber auch nur schwach recherchiert, und insgesamt mit zu wenig Inhalten aufgeschrieben. Die übrigen Figuren bleiben nämlich starr, geradezu hölzern. Diejenigen Männer, die Erwähnung finden, verschwinden so plötzlich, wie sie gekommen sind.
Die Chronologie ist zwischen den einzelnen Kapiteln aufgehoben, wir befinden uns mal später, mal früher im Zeitgeschehen. Beschrieben wird alles im Präsens, das, was danach geschieht, teilweise im Futur, was ich extrem irritierend fand.
Der metaphorische Titel führt ins Leere: Ein Brunnen, der nicht mehr erkennbar ist, ein - ebenfalls unsichtbares - Pferd, das mal hinein gefallen sein soll.
Insgesamt überzeugt der Roman kaum.