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Benutzername: 
wortknistern
Wohnort: 
Tübingen

Bewertungen

Insgesamt 24 Bewertungen
Bewertung vom 24.05.2022
Waldinneres
Subietas, Mónica

Waldinneres


weniger gut

Bei „Waldinneres“ hat mich sowohl das wunderschöne Cover, als auch der
Inhalt neugierig gemacht: Es geht nämlich um Kunstraub durch Nazis. Nachdem ich „Junge Frau am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“, das die gleiche Thematik behandelt, richtig gut fand, hatte ich Hoffnung, hier nochmal einen Glückstreffer zu landen – wurde aber sehr enttäuscht. Bereits in der ersten Hälfte ist mir aufgefallen, dass das Buch aus ziemlich vielen Perspektiven erzählt wird. Bei einer Buchlänge von nur 250 Seiten bedeutet das zwar kurze Kapitel, die man schnell liest, aber mir persönlich hat dadurch auch der Tiefgang und die Verbindung zu den Charakteren gefehlt. Außerdem muss ich leider sagen, dass mir keine der Figuren (dadurch?) so richtig sympathisch war und mir die Dialoge etwas hölzern vorkamen.
Aber wäre alles nicht so schlimm gewesen, es kann ja nicht jedes Buch ein totales Highlight sein, die Geschichte an sich fand ich bei der Hälfte immer noch ziemlich spannend und es hat sich ein großer Twist
abgezeichnet. Alles okay soweit also. Dann kamen die letzten ca. 70 Seiten und ich muss leider sagen: Da ging für mich alles den Bach runter. Ich habe das Buch fertig gelesen und war danach einfach nur enttäuscht. Am Ende wird versucht, ganz viele Handlungsstränge zusammen zu bringen und zu verknüpfen und für mich hat es einfach so überhaupt nicht funktioniert. Vielleicht, weil mir zuvor der Tiefgang gefehlt hat und dann alles so schnell ging? Mich hat es auf jeden Fall so gar nicht abgeholt.
Und ein letzter Kritikpunkt, den ich in den Bewertungen auf lovelybooks gelesen habe und dem ich voll zustimme: Die Autorin berichtet im Nachwort, Zeitzeug*innen zur Recherche befragt zu haben, damit es authentischer wird, im Buch haben die Rezensentin und auch ich davon aber nicht viel bemerkt, was ich sehr schade finde.
Insgesamt hatte das Buch mit einer so spannenden Thematik extrem viel Potential, hat für mich persönlich aber nicht funktioniert. Mir wären 100 Seiten mehr und dafür mehr Tiefgang deutlich lieber gewesen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.05.2022
Sperling
Korbach, Katharina

Sperling


sehr gut

Leben wir in Großstädten wirklich so anonym wie wir glauben? Wolfgang beobachtet die im Nachbarhaus zeichnende Charlotte bereits seit Wochen durch das Fenster und fühlt sich seinerseits von ihrem Anblick inspiriert, seine Dissertation weiterzuschreiben. Die beiden begegnen einander und fühlen irgendwie eine Verbindung, doch beide tragen auch ihre Päckchen herum.

Richtig gut gefallen hat mir der Schreibstil, der war wirklich schön und ich bin richtig drin versunken. Ich mochte außerdem, dass ein großes Thema im Buch "Ungesagtes" ist - zwischen den Charakteren, was sich dann aber auch im Text widerspiegelt. Und ich mochte, dass trotz der klassischen Figurenkonstellation Mann und Frau, die irgendwie aneinander interessiert sich, das Buch nicht auf eine klassische Love Story hinausgelaufen ist. Ich persönlich konnte auch echt viel relaten zu Charlotte und Wolfgang: allein bzw. anonym fühlen in einer Großstadt, Studium, Erwartungsdruck, psychische Probleme, und und und.

Jetzt das "aber": Vielleicht hätte ich vor der Lektüre nicht eine (unbegeisterte) Rezension lesen sollen (die ich, obwohl ich das Buch mochte, trotzdem nachvollziehen kann), denn nun weiß ich nicht, wie sehr ich das Buch ansonsten gefunden hätte. Mit der Rezension im Kopf frage ich mich jetzt aber, wo genau denn das Alleinstellungsmerkmal des Romans ist. Zwei Menschen in einer Großstadt, Mann und Frau, Studieren, psychische Probleme, Essstörung, kaputte Familienverhältnisse - inhaltlich ist das nichts komplett Neues. Auf der anderen Seite: muss ein Buch überhaupt zwingend das Rad neu erfinden? Reicht nicht eine "bekannte" Geschichte gut zu erzählen irgendwo auch wieder aus? Darüber werde ich vermutlich noch ein bisschen nachdenken

Bewertung vom 02.05.2022
Automaton
Glanz, Berit

Automaton


sehr gut

Die alleinerziehende Mutter Tiff arbeitet für die Plattform Automaton und führt für diese Aufträge aus - ob sie dabei KI trainiert oder kostengünstig deren Aufgaben übernimmt, bleibt offen. Zuvor hatte sie für ein Unternehmen den hochgelandenen Content der User kontrolliert und dabei soviel traumatisches gesehen, dass sie nun unter einer Angststörung leidet. Bei einem Automaton Job, bei dem sie Videomaterial sichtet, fällt ihr dann das Verschwinden eines Menschen auf.
Automaton ist ein Roman, der viele hoch aktuelle Themen rund um Digitalisierung, KI und Überwachung behandelt. Ungeschönt berichtet er bzw. Tiff von den Schattenseiten, hat mich aber trotzdem nicht bedrückt, denn es geht auch um Solidarität und Empathie in einer digitalen und anonymen Welt.

Gelesen habe ich Automaton sehr gerne, ich mochte den Schreibstil, die Themen und allem voran mochte ich die Protagonistin Tiff. Trotzdem habe ich zwei kleine Kritikpunkte: Zum einen wurde mir "das Verbrechen" zu einfach aufgelöst, es war mir irgendwie zu glatt und hätte es gern lieber etwas weniger vorhersehbar gehabt.
Und zweitens wird der Roman nicht nur aus Tiffs Perspektive erzählt, sondern auch von Stella, von der man lange Zeit nicht weiß, wie sie mit der ganzen Sache zusammenhängt. Es wird ihre Geschichte aus den 70ern auf Hanfplantagen geschildert, und auch wenn ich diese überhaupt nicht unspannend fand, hat sie mir im Kontext des Romans etwas zu viel Raum eingenommen. Tiff war so eine interessante Protagonistin, dass ich viel lieber mehr von ihr (und vielleicht auch von ihrem vorherigen Job) erfahren hätte.

Trotzdem ein echt guter Roman und ich verleihe hiermit auch schonmal den Preis für "schönstes Cover im Jahr 2022" - glaube kaum, dass das für mich nochmal getoppt wird

Bewertung vom 28.01.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Auf keine Neuerscheinug 2022 habe ich mich so sehr gefreut, wie auf diesen Roman. Vor einiger Zeit habe ich nämlich ihr Debüt „Ellbogen“ gelesen und GELIEBT und seitdem habe ich sehnsüchtig auf einen weiteren Roman gewartet. Die Erwartungen waren demnach auch ziemlich hoch – und ich wurde nicht enttäuscht.
Deutschland, Ende der 90er Jahre. Hüseyin hat dreißig in Deutschland als Gastarbeiter in einer Fabrik geackert um sich seinen großen Traum, eine Wohnung in Istanbul leisten zu können, doch direkt nach dem Einzug stirbt er an einem Herzinfarkt. Seine restliche Familie – Frau Emine, und die Kinder Sevda, Hakan, Peri und Ümit – reisen zur Beerdigung in die Türkei, die Geschichte wird durch die Perspektiven der Familienmitglieder erzählt.
Und hier zeigt sich für mich auch schon die große Stärke von Fatma Aydemir: Sie kann einfach wahnsinnig reale Charaktere schreiben. Die Familienmitglieder sind alle so komplexe Individuen und es gab keine Perspektive, nicht ich nicht großartig fand. Ohne irgendwie in kitschige oder blumige Sprache zu verfallen hat der Roman so viel Emotion transportiert und mich total gefesselt. Am liebsten hätte ich ihn in einem Rutsch gelesen, ich war so gefesselt.
Auch das „zusammenführen“ der einzelnen Perspektiven ist hier sehr gut gelungen. Durch den Romanaufbau lernen die Lesenden ein Familienmitglied nach dem anderen kennen, erst am Ende können alle Puzzleteile zusammengesetzt werden und auch bisher für unbedeutend gehaltene Kleinigkeiten ergeben plötzlich einen Sinn. Bitte lest alle den Roman, ich brauche Dringend jemanden um über das Ende zu reden! :D Wie auch schon bei ihrem ersten Roman ist auch Dschinns zutiefst politisch, es werden Fragen nach Identität, Sexualität und Feminismus behandelt. Ihr merkt schon – ich bin einfach begeistert. Definitiv ein Jahreshighlight und eine riesengroße Empfehlung!