Benutzer
Benutzername: 
Lena
Wohnort: 
Köln

Bewertungen

Insgesamt 153 Bewertungen
Bewertung vom 28.07.2025
Evans, Virginia

Die Briefeschreiberin


sehr gut

Sybil van Antwerp ist pensionierte Juristin, Mutter und Großmutter und lebt im Alter von 73 Jahren allein in Annapolis. Schon mit jungen Jahren hat sie eine Leidenschaft fürs Briefeschreiben entwickelt und geht ihrem Hobby trotz schwindenden Augenlichts unermüdlich nach. Sie schreibt nicht nur Freunden, Familienmitgliedern und Bekannten, sondern auch bekannten AutorInnen, Kundendienstmitarbeitern oder sonstigen Personen, von denen etwas erwartet oder das Bedürfnis hat, ihnen etwas mitzuteilen.
Sybil reflektiert dabei ihr Leben, gesteht Fehler ein und versucht sich zu versöhnen, ist auch im hohen Alter noch durchsetzungsstark und setzt sich vehement für ihre Anliegen und die der Menschen ein, die ihr wichtig sind.

Der Roman besteht einzig aus der Korrespondenz von Sybil, den Briefen und E-Mails, die sie innerhalb einer Dekade ab Juni 2012 schreibt und die sie in dieser Zeit erreichen. Auf diese Weise lernt man Sybil als kompetente Frau kennen, die sich beruflich in einer Männerdomäne durchsetzen musste, die privat einen schlimmen Schicksalsschlag hinnehmen musste und die Recherchen in Bezug auf ihre Wurzeln tätigt.
Sybil ist eine Mutter, die kein einfaches Verhältnis zu ihren erwachsenen Kindern hat und die durch einen anonymen Briefeschreiber erkennt, dass sie als rechte Hand eines Richters in einem Fall zu hartherzig agiert hat.

"Sie lebt in ihren Briefen". Es ist interessant zu sehen, dass man allein durch Briefe mit Freunden und Fremden einen umfangreichen Blick auf ein ganzes Leben erhält und dass die Hauptfigur auf diese Weise nahbar wird. Trotz der in der Regel nur kurzen Briefe von und an verschiedene Personen und der dadurch nicht linearen Erzählweise lässt sich die Geschichte flüssig lesen. Jeder Briefwechsel hat seinen eigenen Stil, jeder Absender erhält eine eigene Stimme und auch Sybil drückt sich jeweils passend herzlich und persönlich oder förmlich und distanziert aus.
Die Fülle an Briefen offenbart immer mehr Details aus Sybils Leben und charakterisiert sie als pedantische, starrköpfige, gerechtigkeitsliebende und empathische, großherzige Frau, die im Leben viel mitgemacht hat und nicht ohne Fehler ist.

Der Roman handelt von allen Facetten des Lebens, von Liebe und Freundschaft, von persönlichen Kämpfen und Kraftanstrengungen, von Glück und Niederlagen, Familiengeheimnissen und späten Geständnissen sowie auch von Krankheit und Tod.
Es ist mutig, einen Roman in der Form zu verfassen und auch - oder gerade weil - ich Sybil als sehr interessante, kluge und reizbare Persönlichkeit wahrgenommen habe, hätte mir ein Roman über ihr Leben als chronologische Erzählung oder fiktive Biografie noch besser gefallen.

Bewertung vom 28.07.2025
Holbe, Julia

Man müsste versuchen, glücklich zu sein


weniger gut

Nachdem beide Elternteile kurz hintereinander verstorben sind, kehrt Flora ein Jahr später in ihr Elternhaus zurück, um es auszuräumen und zu verkaufen. Zeitgleich kommt ihre jüngere Schwester Millie dort an, die sie seit Jahren nicht gesehen hat und die sich auch nicht um die alternden Eltern gekümmert hatte.
Zuhause kommen Erinnerungen an die Eltern, die Großeltern und eine Kindheit auf, die wenig kindgerecht war.

Der Roman wird ausschließlich aus der Perspektive von Flora geschildert, die zeitgleich mit ihrer "blöden Schwester" Millie in ihrem Elternhaus in Luxemburg ankommt und dort entrümpeln möchte.
Die Erinnerungen Floras an ihre Kindheit sind sprunghaft und lassen keinen Zusammenhang erkennen. Willkürlich werden kindliche Erinnerungen episodenhaft aneinandergereiht, während sich in der gegenwärtigen Situation wenig ereignet. Es wird lamentiert, ohne sich auszutauschen, wobei es in den Betrachtungen auch zu Wiederholungen und Widersprüchen kommt.
Auf eine Aussprache der beiden Schwestern und eine Erklärung, was zu der Entzweiung geführt hat, wartet man vergeblich. Die Dialoge sind von Nebensächlichkeiten und kindischen Geschwisterzwistigkeiten geprägt und teilweise muss man sich zusammenreimen, wer von beiden gerade spricht.

Millie gibt häufig vor, sich nicht erinnern zu können, während Flora die Verantwortungslosigkeit der Eltern als belastend empfunden hat. Als Kinder hatten sie viele Freiheiten, aber dafür keinen Halt und Verlässlichkeit. Zudem war das Verhältnis der Eltern untereinander von Lügen und Geheimnissen geprägt.

Die Charaktere bleiben trotz der übersichtlichen Anzahl blass und kaum vorstellbar. Die Schwestern sind Mitte 50, wirken aber in ihrem Verhalten deutlich jünger, Sympathien wecken beide nicht. Noch schlimmer ist Floras Tochter Lucie mit ihren altklugen Ratschlägen und Plattitüden.

Von der "Reise zurück in eine verrückte Kindheit" hatte ich mir mehr versprochen. Witz und Melancholie habe ich in der Geschichte nicht gefunden. Durch die sprunghafte und lückenhafte Erzählweise ist die Geschichte über die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in einer Familie mit unkonventionellen, gleichgültigen Eltern wenig einnehmend und berührend. Es fehlt nicht nur der versprochene Witz, sondern auch jegliche Dramatik, Spannung und Sentimentalität. Die Charaktere bleiben unzugänglich, die Geschichte belanglos, langweilig und ohne roten Faden.

Bewertung vom 27.07.2025
Jackson, Holly

Not Quite Dead Yet


ausgezeichnet

Jet Mason wird an Halloween im Haus ihrer Eltern brutal überfallen und so schwer verletzt, dass ihr die Ärzte aufgrund eines entstehenden Aneurysmas nur noch eine Woche Lebenszeit geben. Eine winzige Überlebenschance liegt in einer gefährlichen Operation, die Jet jedoch ausschlägt. Sie möchte in ihrem Leben endlich etwas erreichen und ihren "Mörder" finden. Während die Polizei Jets Exfreund JJ als Hauptverdächtigen im Visier hat, beginnt Jet zusammen mit ihrem Freund aus Kindheitstagen Billy in ihrem Umfeld zu recherchieren und sieht sich schon bald mit zahlreichen Ungereimtheiten konfrontiert, die vor allem ihr nahe stehende Personen verdächtig erscheinen lassen.

Holly Jackson ist bisher aus dem Jugendbuchgenre bekannt und "Not quite dead yet" vermittelt anfangs das Gefühl, einen Jugendthriller zu lesen. Die Hauptfigur Jet wirkt deutlich jünger als ihre 27 Jahre, verhält sie sich doch wie ein trotziges Kind. Aber als Todgeweihte hat sie auch nichts mehr zu verlieren, weshalb ihr Verhalten nicht gänzlich unrealistisch erscheint. Angesichts der Tatsache, dass sie einen Schädelbruch erlitten hat, ist jedoch erstaunlich stark und widerstandsfähig.

Der Plot seinen eigenen Mörder zu finden, ist originell und der Thriller spannend geschildert. Nach Aufdeckung so mancher Lüge und Manipulation kann Jet nicht einmal mehr ihren eigenen Familienmitgliedern vertrauen und hat nur noch ihren Freund Billy, der ihr treu ergeben ist. Sie muss das Motiv ihres Angreifers herausfinden, um den oder die Täterin zu stellen. Hat Jet sich selbst Feinde gemacht und hängt der Angriff mit dem Bauunternehmen ihres Vaters zusammen, das sich durch den Aufkauf von Grundstücken unbeliebt gemacht hat?

Durch viele geschickt platzierte falsche Fährten, ist der Thriller unheimlich wendungsreich und rückt immer wieder andere Personen aus Jets Umfeld in den Fokus ihrer Recherchen. Dabei scheinen gerade aus ihrer Familie einige etwas zu verbergen und Schuld auf sich geladen haben. Das erklärt jedoch noch lange nicht den Angriff auf Jet.
Im Zuge der Tätersuche kommt es zu dramatischen und gefährlichen Szenen, die die Spannung hoch halten. Zudem werden im Laufe der Tages Jets Symptome schlimmer, was den Druck auf sie weiter erhöht und gleichzeitig schmerzhaft daran erinnert, dass ihre Tage gezählt sind.
Welche einzelnen Faktoren letztlich zum Tatentschluss geführt haben, ist am Ende komplex, die Zusammenhänge werden jedoch schlüssig dargelegt.

Bewertung vom 23.07.2025
Glen, Joanna

Weil es nicht anders sein kann


ausgezeichnet

Addie lebt zusammen mit ihrer Mutter auf der kleinen Insel Rokesby im Nordwesten Englands, wo sie ein Retreat für Frauen betreiben. Das Geschäftsmodell mit Yoga, Wellness und Meditation ist ein langgehegter Traum ihrer Mutter und Addie ordnet sich gefügig unter. Innerlich brodelt es in ihr und sie spürt, dass sie vom dort weg muss, um ihr eigenes Leben zu leben.
Sol trauert um seine verstorbene Mutter und wandelt auf ihren Spuren. Er möchte alle "dünnen Orte" besuchen, wo sich Himmel und Erde berühren, wie sie es ihm beschrieben hat. Er beginnt seine Reise mit der Insel Ora, die über eine Brücke bei Ebbe mit Rokesby verbunden ist. Dort begegnet er Addie, die einen traurigen Eindruck auf ihn macht. Die beiden fühlen sich voneinander angezogen und nähern sich zaghaft und schüchtern an. Beiden fällt die soziale Interaktion mit anderen schwer, sie sind stark verunsichert und voller Selbstzweifel.
Als Sol Addie aufs Festland bringt, trennen sich ihre Weg aufgrund unglücklicher Umstände. Sie wissen nicht, wie sie einander wiederfinden können und gehen wieder getrennter Wege. Doch die Hoffnung auf ein Wiedersehen bleibt - weil es nicht anders sein kann.

Der Roman ist in einem schnellen Wechsel aus den Perspektiven von Add
ie und Sol geschrieben. Beide Charaktere sind fein gezeichnet und fallen durch ihre besondere Art auf. Sie haben eine bewegte Vergangenheit und schlechte Erfahrungen in ihren Elternhäusern gesammelt, mangele Anerkennung erhalten und stecken voller Ballast. Ihre schüchterne Art zieht sie gegenseitig an und so bauen sie ganz zaghaft eine Beziehung zu einander auf.

Die Geschichte entwickelt sich über mehr als zwei Jahre hinweg und ist in Bezug auf die Liebe von Sol und Addie von einer andauernden Distanz geprägt. Es ist schwierig ihre beiden Leben zu verbinden, nachdem beide Abnabelungsprozesse hinter sich haben und sich neu formieren mussten. Dazu kommt, dass Addie Angst vor weiteren Verlusten und damit Angst vor Bindung hat.

Der Roman ist stark charaktergesteuert und sehr empathisch und einfühlsam geschrieben. Die beiden Hauptfiguren wirken zunächst mit ihren Eigenarten und ihrer mangelnden Fähigkeit der sozialen Interaktion gehemmt und verschroben, gleichzeitig aber sehr authentisch. Es sind Außenseiter, die noch ihren Platz im Leben finden müssen. Die allmähliche Entwicklung zu mehr Mut und Selbstvertrauen ist nachvollziehbar geschildert.

Die Liebe zwischen den beiden ist spürbar, aber dennoch besteht eine andauernde Unsicherheit, ob Liebe allein ausreicht. Es ist fraglich, ob sie ihren "Papageientaucherpakt", der so viel Vertrauensvorschuss und Wartezeit erfordert, halten können oder ob sie einen andauernden gemeinsamen Weg finden werden. Es erfordert Mut, Risiken einzugehen und Verletzungen in Kauf zu nehmen.

Aufgrund der besonderen, sensiblen Charaktere ist "Weil es nicht anders sein kann" eine bezaubernde Geschichte über dysfunktionale Familien, die Prägung von Erziehung, über Geringschätzung und Verlust, aber auch über Liebe, Trost und Hoffnung, die metaphorisch und symbolträchtig geschrieben ist und auf ihre leise, zärtliche Art berührt.
Dem Roman können ganz viele kluge Sätze und Weisheiten über das Leben und Beziehungen entnommen werden, die zum Nachdenken anregen und erkenntnisreich sind.

Bewertung vom 19.07.2025
Marrs, John

Wenn Schweigen tötet


ausgezeichnet

Nina führt mit ihrer Mutter Maggie ein zurückgezogenes Leben. Jeden zweiten Abend essen sie gemeinsam, wenn Nina kocht und sind zwanghaft um Konversation bemüht, ansonsten geht jede ihrer Wege. Bei Maggie ist der Bewegungsradius jedoch stark eingeschränkt. Sie lebt in der obersten Etage an eine Fußfessel gekettet und das einzige, das ihr bleibt, ist der Blick durch die Lamellen des gepanzerten Fensters.
Nina bestraft ihre Mutter für das, was sie ihr angetan hat, doch sie kennt nicht die ganze Wahrheit. Maggie schweigt hartnäckig, auch wenn die Gefangenschaft sie irgendwann töten wird.

"Wenn Schweigen tötet" ist ein klaustrophobischer Psychothriller, der von einer vergifteten Mutter-Tochter-Beziehung handelt. Nina versorgt ihre Mutter mit dem Nötigsten, während Nachbarn und Kollegen davon ausgehen, dass ihre Mutter dement in einem Pflegeheim ist. Nina geht jeden Tag zur Arbeit und genießt es, zu Hause die Oberhand zu haben und ihre Mutter mit kleinen Schikanen zu quälen. Die Wut auf sie ist jedoch nicht groß genug, sie loszulassen.
Maggie ist inzwischen seit zwei Jahren angekettet und hat dennoch nicht aufgegeben. Sobald sie eine Chance wittert, versucht sie sich zu befreien, auch wenn sie bisher immer gescheitert ist und dafür bestraft wurde. Als sie tatsächlich befürchtet, sterben zu müssen, nimmt sie einen neuen Anlauf, um auf sich aufmerksam zu machen.

Die gegenwärtige Handlung wird durch Rückblenden unterbrochen, die 25 Jahre zuvor beginnen, als Ninas Vater die Familie verlassen hat. Die Folgen des Verlusts, der die Teenagerin traumatisiert hat, erklären Ninas Grausamkeit und ihren Wunsch nach Rache, während gleichzeitig offenbar wird, wie weit Maggie in der Vergangenheit gegangen ist, um ihre Tochter vermeintlich und tatsächlich zu schützen.

Die Geschichte ist spannend und unfassbar wendungsreich. Täter und Opfer wechseln mehrfach und immer wenn man glaubt, den Hintergrund ihrer Motivation durchschaut zu haben, erfolgt eine neue Offenbarung, die alles in Frage stellt.
Es ist ein herrlich verrücktes Kammerspiel, bei dem sich immer mehr Abgründe auftun. Erzählt wird eine Geschichte, die jedoch aus jedem Blickwinkel anders aussieht. Was sich in der Gegenwart und der Vergangenheit in kurzen Kapiteln ereignet, ist extrem, aber für jede Handlung gibt es eine schlüssige Erklärung. Nur langsam setzen sich alle Puzzleteile zusammen, die zu einer Spirale aus stillen Vorwürfen Hass und Gewalt und geführt haben und das ganze Ausmaß einer falsch verstandenen Mutterliebe offenbaren.

Bewertung vom 18.07.2025
Kelly, Julia R.

Das Geschenk des Meeres


ausgezeichnet

Im stürmischen Winter 1900 wird an der Küste des schottischen Fischerdorfes Skerry ein unbekannter Junge gefunden, der auf erschreckende Weise dem Sohn der Lehrerin Dorothy ähnelt, der vor zwei Jahrzehnten im Meer verschwunden ist und dessen Leichnam nie gefunden wurde. Als die Frau des Pfarrers ihr Baby zu früh zur Welt bringt, willigt Dorothy ein, nun das Findelkind bei sich aufzunehmen, bis seine Herkunft geklärt ist.
Mit der Anwesenheit des Jungen und dem Glauben an Sagen und Mythen verschwimmen allmählich Vergangenheit und Gegenwart. Dorothy gewöhnt sich an den stillen Jungen und läuft Gefahr, ihn als Ersatz für ihren verlorenen Sohn als Geschenk des Meeres zu empfinden.
Auch die Dorfgemeinschaft sieht sich wieder mit der Vergangenheit konfrontiert und beginnt erneut die Verbindung von Fischer Joseph mit Dorothy zu hinterfragen, der sowohl den unbekannten Jungen gefunden hat als auch mit dem Verschwinden von Dorothys Sohn in einen Zusammenhang gebracht wird.

Der Roman handelt auf zwei Zeitebenen und wird aus verschiedenen Perspektiven der Dorfbewohner geschildert. "Jetzt" beginnt mit dem Auffinden des gestrandeten Jungen und wie dieser bei Dorothy ein neues Zuhause findet. Während der Pfarrer mit der Wetterbesserung nach dem Schneetreiben die Suche nach den Eltern des Jungen vorantreibt, entwickelt Dorothy Muttergefühle für das Kind.
"Damals" blickt darauf zurück, wie Dorothy als junge Frau nach Skerry gekommen ist und Schwierigkeiten hatte, sich in der verschworenen Dorfgemeinschaft zu integrieren. Ihre Unsicherheit und Schüchternheit wurde als Arroganz interpretiert und sorgte für einen schweren Stand, besonders unter den Frauen. Ihre Gefühle für Joseph schürten die Eifersucht und führten zu Missverständnissen und einer Reihe falscher Entscheidungen.

Der Roman ist spannend aufgebaut, indem erst allmählich die Geheimnisse der Dorfgemeinschaft aufgedeckt werden. Sowohl die Gegenwart als auch die Vergangenheit wirft Fragen auf - nicht nur in Bezug auf die beiden Jungen, sondern auch auf das Verhältnis der Bewohner untereinander.
Die Geschichte ist durchweg tragisch. Dorothy wird missverstanden und ihre Liebe zu Joseph macht sie zum Opfer einer Intrige. Der Verlust ihres Sohnes macht sie zu einer einsamen Frau. Dass ausgerechnet sie sich dem aufgefundenen Jungen annimmt, kann nur alte Wunden aufreißen.

"Das Geschenk des Meeres" ist atmosphärisch düster geschrieben. Es ist weitgehend Winter mit Kälte, Schnee und Sturm und im Hintergrund lauert die Gefahr und die Unberechenbarkeit der See. Frauen fürchten um ihre Ehemänner, die ihnen das Meer nehmen kann und verbringen ihre Zeit mit Klatsch und Tratsch und schüren Gerüchte. Dazu kommen Aberglaube und Mythen, die für Unsicherheit und Schuldgefühlen sorgen.

Es ist ein authentisches Porträt eines abgelegenen Küstenorts zur damaligen Zeit mit klar definierten Geschlechterrollen uns gesellschaftlichen Erwartungen. Die Geschichte handelt von der Einfachheit und Härte des Lebens, von gewalttätigen Männern, intriganten Frauen und verängstigten Kindern, von dysfunktionalen Familien und den Auswirkungen schlechter Erfahrungen. Es geht um Trauer, Verlust, Ausgrenzung und enttäuschte Hoffnungen. Angepasst an die Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts sind die Gefühle der Charaktere verhalten, was die Liebesgeschichte und die Geschichte über Mutterliebe nicht weniger bewegend machen und für anhaltende Spannung sorgen.

Bewertung vom 12.07.2025
Grimaldi, Virginie

Die Sterne leuchten nur für uns


sehr gut

Finanziell sah es bei Anna als alleinerziehender Mutter schon immer knapp aus und als ihr nun auch noch der Job als Kellnerin gekündigt wird, steht der Gerichtsvollzieher vor der Tür. Sorgen macht sie sich zudem um ihre Töchter. Während die jüngere Lily offenbar in der Schule gemobbt wird, pflegt die 17-jährige Chloé wechselnde Liebschaften und möchte kurz vor dem Abitur die Schule abbrechen.
Anna, die schon früher unter Panikattacken gelitten hat, braucht dringend eine Auszeit. Mit Hilfe einer Abfindung und des Wohnmobils ihres Vaters macht sie sich zusammen mit ihren Töchtern auf den Weg nach Skandinavien, um die Polarlichter zu sehen und sich als Familie durch die gemeinsame Zeit wieder näher zu kommen.

Der Roman wird abwechselnd aus den Perspektiven der drei weiblichen Hauptfiguren geschildert. Die beiden Töchter erhalten ihre Erzählstimme durch ihre Aufzeichnungen. Während Lily an ihr Tagebuch "Marcel" schreibt, schreibt die ältere Chloé einen Online-Blog. Auf diese Weise erhält man Einblick in alle drei Persönlichkeiten und kann ihre Probleme sowie die Verbindungen untereinander besser nachvollziehen.

Anna erhofft sich von der Reise mehr Zeit mit ihren Töchtern zu verbringen, die ihr wegen der Arbeit gefehlt hat. Sie möchte verstehen, was sie verpasst hat, ihr Vertrauen zurückgewinnen und ihnen bei der Bewältigung ihrer Probleme helfen. Selbst ist sie mit ihrer Situation überfordert, blendet ihre eigenen vorübergehend Schwierigkeiten aus und flieht vor ihnen. Chloé und Lily sind bald genervt von der Reise und würden am liebsten so schnell es geht nach Frankreich zurückkehren.

Die Geschichte bietet eine gelungene Mischung aus Reise mit neuen Eindrücken und Erlebnissen sowie einer emotionalen Reise, um wieder zu einer Einheit zu werden. Der Weg führt sie von Frankreich über Deutschland und die skandinavischen Länder bis zum Nordkap. Dabei gibt es viele magische Momente bei der Sichtung von Tieren, beim Eisbaden oder beim Beobachten der Mitternachtssonne, aber auch viel Streit. Das Zusammensein auf engstem Raum ist einerseits belastend, andererseits aber auch eine Chance.

"Die Sterne leuchten nur für uns" ist durch die verschiedenen Orte, die unterschiedlichen Sichtweisen und die Probleme der einzelnen schon aufgrund ihres Alters abwechslungsreich und unterhaltsam. Gerade Lily schreibt sehr ulkig in ihrem Tagebuch, während Chloés Online-Blog ohne Reaktionen von Nutzern weniger authentisch erscheint.

Der Roman entwickelt sich als Roadtrip einer Familie, die wieder zusammenfinden möchte, nicht weiter überraschend. Die finanziellen Fragen bleiben vor der Fahrt ungelöst und während der Fahrt kommen weitere Probleme auf, die Anna zu Hause erwarten könnten, mit denen sie nicht gerechnet hat. Gerade die Beziehung zum Vater der Kinder ist eine Komponente, die Fragen aufwirft und für Spannung sorgt.
Die ungeplante Reise ist auf den ersten Blick nicht die vernünftigste Entscheidung bei Schulden und Arbeitslosigkeit, aber ein kluger Entschluss für mehr Nähe, Verständnis und Zusammenhalt, die unbezahlbar sind.

Bewertung vom 10.07.2025
Hausmann, Romy

Himmelerdenblau


ausgezeichnet

Die 16-jährige Julie Novak verschwand am 7. September 2003 spurlos aus ihrem Elternhaus in Berlin-Grunewald. Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums möchte ein True Crime-Podcast über den Cold Case berichten und zu diesem Zweck auch Julies Vater interviewen. Dieser war ein bekannter Herzchirurg an der Charité und ist inzwischen an Demenz erkrankt. Trotz seiner Erkrankung hat er Julie nie vergessen und die Hoffnung nicht aufgegeben, sie wieder zu sehen. Seine jüngere Tochter Sophia, die sich um ihn kümmert, möchte die alten Wunden nicht wieder aufreißen und ist gegen das Interview und eine erneute Medienberichterstattung.
Als mutmaßlicher Täter stand damals Julies Ex-Freund Daniel, der einige Jahre älter als seine Freundin war, im Fokus der Ermittlungsbehörden, bis davon ausgegangen wurde, dass Julie freiwillig gegangen ist. Auch Julies Vater hielt Daniel für verdächtig. Er arbeitet als Altenpfleger, hat den Makel eines möglichen Mörders oder Entführers jedoch nie ablegen können.
Liv und Phil, die für den Podcast verantwortlich sind, hoffen, dass sie mit ihrer Sendung dem Fall einen neuen Impuls geben und vielleicht sogar zur Aufklärung des Falles beitragen können. Bei ihren Recherchen stoßen sie auf Ungereimtheiten, als sie widerrechtlich das inzwischen unbewohnte Haus der Novaks betreten.

Der Roman wird aus verschiedenen Perspektiven der handelnden Personen geschildert, wobei nicht alle gleich zu durchschauen sind. Besonders prägnant ist die Sicht des Vaters Theo, der zumal den Bezug zur Realität verliert und Erinnerungen mit der Gegenwart vermischt. Seine Perspektive ist von Wortfindungsstörungen und Wiederholungen geprägte und ist ein gelungener Versuch, sich in die Denkweise eines an Demenz erkrankten Menschen hineinzuversetzen.

Liv, die selbst eine schwierige Kindheit hatte und Parallelen spürt, da während der Ermittlungen der Verdacht eines Missbrauchs oder Gewalt im Hause Novak aufkam, ist schon bald sehr tief in das Schicksal der Familie involviert. Ihr geht es nicht mehr nur um eine Steigerung von Hörerzahlen, sondern um Aufklärung, was mit Julie passiert ist. Dabei schließt sie bald nicht mehr aus, dass sie tatsächlich noch am Leben sein könnte.

Die Geschichte ist spannend und wendungsreich und greift passend zum True Crime-Podcast einzelne Elemente wahrer Verbrechen auf. Je mehr Details durch die Recherchen der Podcasterin ans Licht kommen, desto undurchsichtiger wird das Szenario um das Verschwinden der Teenagerin. Dafür sorgen auch die andauernden Perspektivwechsel und die Unberechenbarkeit der Charaktere. Deren Gefühle sind hingegen denkbar nachvollziehbar geschildert. Verzweiflung über ein ungewisses Schicksal, Wut über falsche Verdächtigungen und übergriffige Berichterstattungen, Hunger nach Erfolg und Bestätigung, Rachegelüste und der Wunsch nach Rehabilitation prägen die Handlungen der Charaktere.
Keinen von ihnen lässt die Vergangenheit los, was mitunter zu undurchdachten Aktionen führt.

Die Folgen von Ungewissheit und Ungerechtigkeit sowie wozu der Mensch fähig ist, um die eigene Haut zu retten, werden eindrücklich dargestellt. Jeder Charakter ist belastet, was für eine durchgängig düstere Stimmung sorgt. Ziel des Podcasts ist Gewissheit statt einem offenen Ende und das ist auch das, was die/ den LeserIn in Atem hält. Gerade für Theo, dessen klare Momente gezählt sind, hofft man, dass er Frieden finden kann.

Bewertung vom 08.07.2025
Jimenez, Abby

Say You'll Remember Me


ausgezeichnet

Durch Crowdfunding konnte Samantha entgegen des Rats des grummeligen Tierarztes Dr. Xavier Rush das Leben eines kranken Katzenbabys retten. Dieser ist sichtlich beeindruckt und lädt Samantha beim nächsten Vorsorgetermin zu einem Date ein. Gemeinsam verbringen sie einen turbulenten Abend, der gar nicht mehr enden will. Samantha entdeckt, wie fürsorglich und liebenswert Xavier ist, der sich neben seinem Fulltime-Job ehrenamtlich für die Tierrettung einsetzt. Xavier hingegen genießt Samanthas offene und optimistische Art. Doch der erste gemeinsame Abend ist gleichzeitig der letzte von Samantha in Minnesota. Am nächsten Morgen zieht sie in ihre Heimat Kalifornien, um ihre Familie bei der Pflege ihrer dementen Mutter zu unterstützen.
Ein Besuch Xaviers in Kalifornien wenig später beweist, wie viel die beiden bereits für einander empfinden, aber sie möchten vernünftig sein, denn eine Fernbeziehung ergibt auf die Dauer keinen Sinn und weder Samantha noch Xavier können auf absehbare Zeit zum jeweils anderen ziehen. Doch ist wenig gemeinsame Zeit nicht besser als gar keine gemeinsame Zeit?

Der Roman wird abwechselnd aus der Perspektive einer der Hauptfiguren geschildert. Sehr schnell ist offensichtlich, dass beide schwer verliebt sind, sie jedoch vor dem Problem stehen, dass sie nach dem Umzug von Samantha zukünftig 3.000 km von einander entfernt wohnen. Samantha möchte eine Fernbeziehung zunächst erst gar nicht versuchen, aber die Sehnsucht ist größer.
Sehr realistisch ist das Dilemma beschrieben, dass beide an einen anderen Ort gebunden sind - emotional oder beruflich. Xavier hat sich erst vor zwei Jahren mit einer Tierarztpraxis selbständig gemacht und ist hoch verschuldet und Samantha möchte noch möglichst viel Zeit mit ihrer Mutter verbringen, bevor diese ihr komplett entgleitet.

Die romantische Liebesgeschichte wird in Bezug auf beide Hauptfiguren mit tiefer gehenden Problemen verknüpft. Samanthas Familie teilt sich auf, um rund um die Uhr für Mutter, Ehefrau oder Tochter da sein zu können, die viel zu früh an Demenz erkrankt ist und entsprechende Betreuung benötigt. Xavier hat eine grausame Kindheit verbracht und wird unangenehm damit konfrontiert, dass seine Eltern die Nähe zu ihm suchen. Um Samantha möglichst häufig sehen zu können, übernimmt er bis an die Belastungsgrenze zusätzliche Nachtschichten in der Notaufnahme.
Roter Faden der Handlung sind die Erinnerungen, wie es auch der Titel widerspiegelt. Samantha und Xavier möchten viele gemeinsame Erinnerungen schaffen, haben dafür aber nur begrenzt Zeit. Samantha möchte die schönen Erinnerungen an ihre Mutter konservieren, während Xavier seine Kindheit am liebsten vergessen würde. Samanthas Mutter kann sich hingegen nicht dagegen wehren, ihr Leben, ihre nahen Angehörigen und sich selbst zu vergessen.

Die Geschichte hat eine ausgeglichene Balance aus schwierigen Themen und humorvollen Szenen. Die Folgen von Demenz für eine Familie wie auch ein Trauma aus Kindheitstagen werden sensibel mit der Liebesgeschichte verbunden. Die Geschichte bewegt zudem durch die beschriebene Distanz und die Sehnsucht, die zwischen den beiden Liebenden herrscht. Running Gags ("Come on, Eileen", Katzen-Popoloch) nehmen ihr die Schwere und sorgen für lebendige und unterhaltsame Dialoge.
Die Liebesgeschichte ist angenehm erwachsen und ehrlich geschildert, ohne durch Lügen oder Missverständnisse unnötiges Drama zu erzeugen. Samantha und Xavier sind räumlich weit getrennt, stehen sich jedoch emotional nahe. Während anfangs Dates geplant werden, um etwas Besonderes zu erleben, ist es bald noch schöner, gemeinsam einen Alltag zu leben. Die Sehnsucht und Hoffnung auf eine gemeinsame, leichtere Zukunft wächst und sorgt für anhaltende Spannung.

Bewertung vom 07.07.2025
Da Costa, Mélissa

All das Blaue vom Himmel


ausgezeichnet

Émile ist 26 Jahre alt, als er erfährt, dass er an früher Alzheimer-Demenz erkrankt ist und voraussichtlich noch zwei Jahre zu leben hat. Er entschließt sich gegen die Teilnahme an einer Studie zur Erforschung der seltenen Krankheit. Er möchte auch niemandem zur Last fallen und seiner Familie und seinen Freunden nicht als hilflos und degeneriert in Erinnerung bleiben. Stattdessen kauft er ein Wohnmobil und gibt eine Anzeige auf, dass er eine Begleitung für seine letzte Reise sucht. Unerwartet meldet sich eine junge Frau, die ihn ohne weitere Fragen zu stellen, begleiten möchte. Joanne gibt selbst wenig von sich preis und so fahren sie gemeinsam los in Richtung Pyrenäen. Während sie sich in der Stille der Natur allmählich besser kennenlernen, reflektiert Émile die letzten Stationen seines Lebens, insbesondere die Beziehung zu seiner Freundin Laura, die ihn vor einem Jahr verlassen hatte und erkennt, welche Fehler sie beide gemacht haben. Auf der vor allem seelisch anstrengenden Reise spürt er wider erwartend durch Joanne und die Begegnungen mit anderen Fremden, die zu Freunden werden, neuen Lebensmut.

Vor dem Hintergrund der tödlichen Erkrankung, die ein Leben viel zu früh und auf grausame Weise zu beenden vermag, ist die Geschichte emotional ergreifend.
Émile hat bei Aufbruch der Reise sein Schicksal angenommen und sich bewusst für einen heimlichen Abschied entschieden, weshalb der Roman nicht rührselig ist. Auch die ruhige und nüchterne Art von Joanne führt zu keinen dramatischen Gefühlsausbrüchen. Die Geschichte entwickelt sich stattdessen zu einer Reise durch Südfrankreich und die Erinnerungen, zu einem Abenteuer zweier Fremder, die beide aus unterschiedlichen Gründen auf der Flucht sind.

Durch die wechselnden Aufenthaltsorte, die Menschen, denen sie begegnen und die Probleme, mit denen die Hauptfiguren konfrontiert werden, ist die Geschichte lebendig und abwechslungsreich. Die Erinnerungen Émiles sorgen dafür, tiefer in sein Leben einzutauchen und ihn noch besser kennenzulernen. Joannes Zurückhaltung weckt die Neugierde in ihm, mehr über die magere Vegetarierin zu erfahren, die sich ganz in Schwarz kleidet und über Stunden meditieren kann.
Auf engstem Raum findet eine Annäherung statt und Joanne wird vor allem auch aufgrund Émiles Erkrankung, deren Symptome sich unregelmäßig zeigen, zu einem wichtigen Halt. Im Verlauf der Geschichte wechselt der Schwerpunkt mitunter auf Joanne, deren Motive für die Reise ähnlich bewegend sind. Mit dem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum Joanne die Verantwortung für Émile übernimmt und treu an seiner Seite bleibt.

Joanne und Émile blühen beide gemeinsam auf, sind mit der Einfachheit des Lebens zufrieden, glücklich in der Natur und spüren die Freiheit. Doch auch die Schattenseiten werden nicht ausgeklammert, wenn Émile durch seine Blackouts bewusst wird, dass die Krankheit ihn auch auf seiner Reise begleitet und für Angst, Wut und Traurigkeit sorgt. Mit Hilfe eines Reisetagebuchs unter der Prämisse "Der wahre Reisende macht eine Reise um sich selbst." notiert er seine Erlebnisse und hält zudem die Erinnerungen an seine Familie und Freunde wach.

Der Weg ist körperlich beschwerlich, aber noch schwerer wiegen die emotionalen Umstände. Die Schilderung der Verschlechterung des geistigen Zustands und wie Émile wieder zu einem Kind wird, erscheint authentisch. Es ist eine Reise ohne Wiederkehr, die versöhnlich ist und für Émile wichtig, sein Leben auf diese Weise selbstbestimmt und in Würde zu beenden. Die warmherzig geschilderte Geschichte ist die Begleitung einer ungewöhnlichen Schicksalsgemeinschaft, die schmerzhaft und tröstlich zugleich ist. Für das Ende sollte man dennoch Taschentücher bereithalten.