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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 861 Bewertungen
Bewertung vom 21.09.2024
Das Wohlbefinden
Lenze, Ulla

Das Wohlbefinden


schlecht

Nachhilfe beim Okkulten

Ulla Lenze hat ihren für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman mit «Das Wohlbefinden» betitelt, eine für bestimmte Therapien ebenso bedeutsame wie utopische medizinische Grundbedingung. Ihre eigentliche Thematik aber ist der Okkultismus, der im zu Ende gehenden Kaiserreich nicht nur in den höheren Kreisen Deutschlands eine Hochblüte erlebt hat. Vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis hin zur Coronakrise reichend ist die Geschichte des Romans in die drei Zeitebenen 1907, 1967 und 2020 gegliedert. Im Mittelpunkt steht die Schriftstellerin Johanna Schellmann. Die lernt bei Recherchen für ihr neues Buch in den Heilstätten von Beelitz die Patientin Anna Brenner kennen, eine Fabrikarbeiterin, der übersinnliche Fähigkeiten nachgesagt werden. «Ein Jahrhundertroman über die Kraft der Heilung» glaubt man dem Buchumschlag, in den Feuilletons sind die Kritiken hingegen überwiegend negativ, – zu Recht?

Die jüngste Erzählebene des Romans beginnt in der Gegenwart. Vanessa, die Enkelin von Johanna, besichtigt eine luxussanierte Mietwohnung in den ehemaligen Arbeiter-Lungenheilstätten Beelitz, weil sie sich die Mieten in Berlin einfach nicht mehr leisten kann. Und wie es der Zufall will, besitzt der Makler ein Manuskript von Vanessas einst berühmter Großmutter, welches in hohem Alter geschrieben, aber nie veröffentlicht wurde. In dieser mittleren Erzählebene betreut Klaus, der Vater des Maklers, als Student ab 1967 im Auftrag der Tochter von Johanna die greise Dichterin bis zu ihrem Tod. Die dritte, chronologisch aber älteste Erzählebene beschäftigt sich mit der folgenreichen Begegnung von Johanna und Anna in Beelitz, die 1907 bei der Schriftstellerin eine bislang versteckte Spiritualität freisetzt. Sie erhofft sich von dieser Begegnung einen Auftrieb für ihr neues literarisches Projekt und nimmt an einigen Séancen teil, die der okkultismus-skeptische, aber die damit einher gehende Publicity schätzende Anstaltsleiter mit Anna als Medium veranstaltet. Während einige der Patientinnen vor Anna ehrfurchtsvoll auf die Knie sinken, sich von ihr Heilung erhoffen oder einen Blick in die Zukunft, sehen andere ihre spiritistischen Aktivitäten als Humbug an.

Johannas Hoffnungen auf die positiven Wirkungen ihrer Bekanntschaft mit Anna erfüllen sich nicht, denn sie lässt sich als Medium nicht vereinnahmen und beharrt auf ihrem Mantra, nicht sie bewirke ihre hellseherischen Vorhersagen und die mysteriösen Geschehnisse, sondern Gott allein, sie folge ihm nur. Sie könne nicht beeinflussen, was sie vorhersieht, ja sogar nicht mal entscheiden, was davon sie offenbaren soll, denn auch die direkten Folgen ihrer Mitteilungen entzögen sich ihrem Einfluss. Gleichwohl schlägt ihr Johanna vor, künftig in ihrer luxuriösen Berliner Villa zu wohnen und sie beim Schreiben spiritistisch zu begleiten. Ihre Kinder und auch die englische Kinderfrau freuen sich über die neue Mitbewohnerin, ihr Mann aber ist entsetzt. Er zieht sich für seine medizinischen Studien in das Gartenhaus zurück, wo ihn später sein Schicksal ereilt. Selbst im hohen Alter noch leidet Johanna an ihren Verstrickungen in das damalige Geschehen. Am Ende des Romans beginnt Vanessa, die Geschichte ihrer berühmten Großmutter über Social Media zu posten und wird mit zustimmenden, aber auch mit internet-typisch aggressiven Kommentaren überzogen.

Der thematisch überladene, chronologisch ungeschickt verschachtelte Roman mit seinen wenig sympathischen Figuren weist so einige Ungereimtheiten auf. Zu denen gehört nicht zuletzt auch eine absurde Menge von Zufällen, selbst Günter Grass taucht da ganz unvermittelt auf. Stilistisch bedauerlich sind auch etliche triviale Ausrutscher, irritierend aber ist vor Allem der Umgang mit dem Okkulten, das irgendwann ganz verschämt als Manipulation desavouiert wird, vom Beelitz- Direktor als «Nachhilfe» bezeichnet, obwohl das doch eigentlich hier das Spannendste wäre!

Bewertung vom 18.09.2024
Die Wurzeln des Lebens
Powers, Richard

Die Wurzeln des Lebens


gut

Staunend am Mammutbaum

In seinem Epos «Die Wurzeln des Lebens» verknüpft der US-amerikanische Schriftsteller Richard Powers seine Figuren mit den Bäumen, deren kommunizierendes Wurzelgeflecht im Boden einen Wald bildet. Seine Protagonisten sind auf ganz unterschiedliche Weise individuell und positiv mit Bäumen verknüpft, schätzen sie als äußerst wichtig ein für das Wohlergehen der Menschheit. Die aber steht ihnen im besten Fall ziemlich gleichgültig gegenüber, im schlimmsten jedoch geradezu feindlich. Mit kapitalistischer Gier werden dem Staat Wälder abgekauft, die dann in kürzester Zeit abgeholzt werden, weil sie Profit bringen. Nicht nur dass Holz als Rohstoff vermarktet wird, die Kahlschlag-Flächen werden anschließend renditeträchtig in landwirtschaftliche Flächen umgewandelt. In mehreren parallelen Handlungs-Strängen agieren die im Westen der USA angesiedelten, recht unterschiedlichen Roman-Figuren in ihrem privaten und beruflichen Umfeld, wobei sie alle auf besondere Weise mit Bäumen und Wald verbunden sind.

Da ist zum Beispiel der Sohn eines norwegischen Einwanderers, der sechs Kastanienbäume gepflanzt hat, die alle, bis auf einen, den aus Asien eingeschleppten Parasiten zum Opfer fallen. Der Vater und nach ihm Sohn und Enkelsohn fotografieren seither einmal im Jahr diesen überlebenden Baum aus der immergleichen Perspektive, ein familiäres Ritual. Eine Ingenieurin, deren chinesischer Vater einen Maulbeerbaum pflanzt, Symbol für die Zukunft, muss erleben, dass der Vater, als der Baum von Bakterien befallen wird und die Familie sich auflöst, sein Leben durch einen Pistolenschuss beendet. Die schwierige Beziehung eines Juristen mit seiner Frau erfährt eine Wende, als sie nach einem Unfall mit dem Auto beschießen, zum Dank für den glimpflichen Ausgang jedes Jahr zu ihrem Hochzeitstag einen Baum zu pflanzen.

Im Vietnamkrieg wird ein Soldat mit dem Flugzeug abgeschossen und landet in einem Feigenbaum, dessen Zweige seinen Absturz abbremsen. Als Veteran findet er schließlich seine Erfüllung als Waldarbeiter, auf einer gerodeten Fläche pflanzt er Tausende von Douglasien an. Ein Digital-Nativ macht eine kometenhafte Karriere als Programmierer von Computer-Spielen, die immer leistungsfähiger werden und ihn zum Millionär machen. Er bekommt Zweifel, wo das noch hinführen soll mit den lebensecht auf Zuwachs und Gewinn ausgerichteten Spielen. Auf dem Campus der Stanford Universität entdeckt er schließlich, wie inspirierend Bäume sein können, und er beschließt spontan, die Natur zum Gegenstand seiner Spiele zu machen. Eine Forscherin entdeckt, dass Bäume bewusst über ein biochemisches Netzwerk miteinander kommunizieren, und erregt damit in der Wissenschaft einiges Aufsehen. Sie wird aber schon bald heftig von Kollegen kritisiert, bis sie im Wald auf eine Gruppe Gleichgesinnter stößt und wissenschaftlich rehabilitiert wird. Eine Studentin der Mathematik mit wildem Vorleben bekommt kurz vor ihrer Abschlussprüfung einen Stromschlag, der zum Herzstillstand führt. Sie überlebt und bildet mit anderen Protagonisten eine Gruppe von Umweltaktivisten, die durch Baumbesetzungen und zuletzt auch Brandanschläge auf das schreiende Unrecht hinweisen, das dem Wald angetan wird.

Der Autor vermittelt einen umfassenden Einblick in die Zusammenhänge der Natur und prangert deren Gefährdung durch den Menschen an, ohne jedoch indoktrinierend zu sein. Leider wirkt das Ganze doch arg konstruiert, zuweilen auch pathetisch und ins Visionäre abgleitend. Ohne Zweifel aber ist der Roman auch deutlich überdimensioniert, einerseits was die schiere Textmasse anbelangt, andererseits durch gefühlt Tausende von verschiedenen Bäumen, denen man als Nicht-Biologe hilflos gegenüber steht. Die Begeisterung der Protagonisten, von denen jeder seine Baum-Geschichte hat, ist durchaus mitreißend für Naturfreunde. Staunend am Mammutbaum zu stehen wird dann vielleicht manchem Leser ein vertrautes Gefühl geworden sein.

Bewertung vom 14.09.2024
Die Nickel Boys
Whitehead, Colson

Die Nickel Boys


gut

Unbegrenzte Gewalttätigkeit

Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead hat mit «Die Nickelboys» zum zweiten Mal diesen begehrten Literaturpreis verliehen bekommen, was in der mehr als hundertjährigen Geschichte dieses Preises vor ihm erst dreimal geschehen ist. Er gehört damit zu den wichtigsten Schriftstellern der US-amerikanischen Literatur. Das große Vorbild ist für ihn Martin Luther King, den er in seinem Roman häufig zitiert mit seinen Schriften für den gewaltfreien Kampf gegen die Rassentrennung. Inspiriert sei der fiktive Roman mit seinen frei erfundenen Charakteren «durch die Geschichte der Dozier School for Boys in Marianna, Florida», wie er im Nachwort schreibt, er habe davon 2014 zum ersten Mal in der «Tampa Bay Times» gelesen. Es gäbe inzwischen sogar eine «Website der Überlebenden» und viele weitere Publikationen, auf die er bei seinen Recherchen gestoßen sei.

«Sogar als Tote machen die Jungs noch Ärger», lautet der erste Satz im Prolog, der davon berichtet, wie eine Gruppe von Archäologinnen bei Untersuchungen auf dem für einen Bürokomplex vorgesehenen Gelände der längst verschwundenen, ehemaligen Besserungsanstalt etliche Tote finden. Elwood, der fünfzehnjährige, farbige Protagonist des Romans, lebt bei seiner Großmutter, die als Putzfrau arbeitet. Der in sich gekehrte Junge liest gerne Bücher, sein wertvollster Besitz ist eine Langspielplatte mit der Rede Martin Luther Kings auf dem Zion Hill. Elwood wird von seinem Lehrer gefördert und bekommt durch dessen Protektion sogar einen Studienplatz am College. Auf dem Weg zur Einschulung nimmt ihn ein farbiger Mann in einem schicken Auto mit. Sie werden von der Polizei gestoppt, das tolle Auto ist gestohlen, und Elwood wird völlig willkürlich als Mittäter in die Besserungs-Anstalt eingewiesen, - schließlich ist er ja auch ein Farbiger, ergo muss er ebenfalls ein Autodieb sein! Und damit beginnt für ihn eine lange Leidensgeschichte.

Unermüdlich spürt der Autor den Demütigungen nach, denen die Insassen dieser Hölle namens «Besserungsanstalt» ausgesetzt sind. Die ist geradezu eine Garantie dafür, dass die weißen und farbigen Delinquenten ebenfalls zu Monstern werden, ganz so wie ihre sadistischen Aufseher und Betreuer in dieser vermeintlichen «School for Boys.» Die Teenager werden zu allerlei Arbeiten in der Anstalt herangezogen. Die Sadisten kommen meist aus prekären Verhältnissen und haben oft ihrerseits Schlimmes hinter sich, sie fühlen sich quasi im Besitz eines Freibriefs zur Quälerei. Selbst bei den geringsten Vergehen der Zöglinge werden drakonische Strafen verhängt und auch gnadenlos exekutiert. Dabei geht es so grausam zu, dass manche der Opfer die Torturen nicht überleben. Korrupte Ärzte sorgen dann dafür, dass eine unverdächtige Todesursache angegeben wird, es gibt aber auch Fälle, in denen die Jungs einfach spurlos verschwinden und heimlich irgendwo auf dem weitläufigen Areal verscharrt werden. Die bis hoch zum Direktor durchgängig korrupte Belegschaft dieser Stätte des Grauens verleiht die Jungen für die verschiedensten Arbeiten an Geschäftsleute oder auch Privatpersonen, wobei die Erlöse untereinander aufgeteilt werden und nicht etwa der «School for Boys» zugute kommen. Das Gleiche passiert mit den Lebensmitteln oder mit Kleidung, die in dunkle Kanäle verschwinden. Leidtragenden sind die inhaftierten Teenager, die einen immergleichen, ekligen Fraß vorgesetzt bekommen oder in längst verschlissener Kleidung herumlaufen müssen.

Colson Whitehead erweist sich als unermüdlicher Chronist dieser dunklen Geschichte der USA, die Anfang der sechziger Jahre noch ebenso real war wie die Skandale in Internaten und kirchlichen Einrichtungen in Deutschland, die bis heute ebenfalls nicht gesühnt sind. In einer unprätentiösen Sprache erzählt, ist dieser Roman eine flammende Anklage gegen den auch heute noch vorhandenen Rassismus im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, zu denen traditionell auch unbegrenzte Gewalttätigkeit gehört.

Bewertung vom 11.09.2024
Auf allen vieren
July, Miranda

Auf allen vieren


weniger gut

No risk, no fun

In ihrem autofiktionalen Roman «Auf allen Vieren» erzählt die als Multitalent bekannte US-amerikanische Künstlerin und Autorin Miranda July von den Verwerfungen, denen Frauen kurz vor der Menopause ausgesetzt sind. Die 45jährige, namenlose Ich-Erzählerin erleidet einen Schock, als sie die auch im Buch abgebildete Grafik sieht, auf der, getrennt für Männer und Frauen, die Entwicklung der Sexualhormone dargestellt ist. Während diese Kurve beim Testosteron der Männer im Alter nur leicht abfällt, stürzt sie beim Östrogen der Frauen mit dem fünfzigsten Lebensjahr steil ab. In Panik beschließt die mit Mann und Kind in L.A. lebende Frau, allein mit dem Auto nach New York zu fahren. Ein zweiwöchiger Selbstfindungstrip, den sie sich zu ihrem Geburtstag leistet, der dann aber schon nach kaum einer halben Stunde Fahrzeit an einer Tankstelle endet. Sie ist völlig hingerissen von dem jungen Tankwart, den sie aus dem Wagen heraus sieht, als er ihre Windschutzscheibe putzt. Sie mietet sich spontan in einem Motel in der Nähe ein, um ihn wiederzusehen und kennen zu lernen.

Es stellt sich heraus, dass Davey verheiratet ist, seine Frau ist Innenarchitektin. Die Protagonistin lässt sich von ihr das nüchterne Motelzimmer, in dem sie wohnt, nach ihren Wünschen komplett neu einrichten. Das Bad wird neu gefliest, alle Möbel werden durch gediegene neue ersetzt, die Wände neu tapeziert. Nach wenigen Tagen ist sie die zwanzigtausend Dollar los, die sie von einem begeisterten Kunden für ihre unkonventionelle, kreative Umsetzung seines Auftrags erhalten hat. Die Affäre mit Davey aber verläuft nicht so, wie sie sich das erhofft hat. Er bleibt zurückhaltend, was den Sex anbelangt, der ihr so außerordentlich wichtig ist. Davon unbeirrt imaginiert sie sich in ein neues Leben mit ihm hinein, sie ist bereit, dafür alles aufzugeben. Nach ihrer Rückkehr nach L.A. trifft sie sich noch einige Male mit ihm in dem Motelzimmer, das ihr der Besitzer des Motels kostenlos zu Verfügung stellt. Denn er macht mit dem Luxuszimmer sehr gute Geschäfte, er bekommt ein Vielfaches des normalen Zimmerpreises dafür. Der telefonische Kontakt mit Davey reißt irgendwann komplett ab, er ist mit seiner Frau, die ein Kind erwartet, nach Sacramento gezogen, wo er ein Haus gekauft hat. Die Ich-Erzählerin lernt bei ihrem letzten Besuch in dem Motel eine ältere Frau kennen und landet mit ihr im Bett, wobei sie völlig überrascht ihre wiedererwachte Libido und den Reiz von lesbischem Sex entdeckt.

All das erörtert die Erzählerin in endlosen Telefonaten mit ihrer besten Freundin, in denen in sexueller Hinsicht Klartext gesprochen wird. Nach der Devise «Sex mit Davey» steuerte die Protagonistin vergebens ihrer sexuellen Befreiung entgegen, die sie stattdessen vor allem durch multiples masturbieren bei jeder sich bietenden Gelegenheit erreicht. Schließlich offenbart sie sich ihrem Mann und vereinbart mit ihm, dass jeder an einem bestimmten Tag in der Woche nicht zu Hause sein muss. Diesen Tag könne ihr Mann dann mit seiner Geliebten verbringen, und sie wird sich an ihrem Tag mit ihrer lesbischen Partnerin vergnügen. Der Klappentext spricht von «Lust außerhalb von Konventionen». Der Erfolg des Romans beruht zu einem großen Teil auf den vielen pornoartigem Szenen mit deftigen sexuellen Details, die konservative Kreise als unanständig empfinden mögen, die Freigeister aber jubilieren lassen.

Die Ich-Erzählerin gehöre zu den «Einparkern», hatte ihr Ehemann ihr erklärt, also zu der Sorte von Menschen, die stehen bleiben und eine Lücke suchen, die bestätigt werden wollen und auf das Glück warten. Die «Fahrer» hingegen würden nach dem Motto «no risk, no fun» die freie Fahrt genießen. Die eingängige, ungeniert direkte Sprache verleiht dem skurrilen Roman einigen Schwung, wobei der wenig plausible Plot allerdings immer uninteressanter wird. Allenfalls die reichlich eingestreuten feministischen Thesen und wohlfeilen Lebens-Weisheiten versprechen ein wenig Erkenntnis-Gewinn.

Bewertung vom 09.09.2024
Heilung
Kaleyta, Timon Karl

Heilung


schlecht

Vom Sinnsucher zum Bauernknecht

In seinem zweiten Roman mit dem Titel «Heilung» erzählt Timon Karl Kaleyta von einem Mann, der nicht mehr schlafen kann. Unter den Überschriften «Innen» und «Außen» des zweiteiligen Romans wird zunächst der verzweifelte Kampf des egozentrischen Ich-Erzählers gegen seine Schlaflosigkeit in einem vom Schauplatz her dem «Zauberberg» ähnelnden, exklusiven Resort in den Dolomiten geschildert. Dort werden Leute behandelt, denen nichts fehlt, immer nach der Erkenntnis von Karl Valentin: «Gar ned krank is a ned g'sund». Im zweiten Teil befindet sich der Protagonist nach einem abrupten Wechsel des Settings in einem Prozess der Sinnfindung, frei nach dem Motto «Zurück zur Natur» des Aufklärers Jean-Jacques Rousseau, örtlich angesiedelt in einer idealtypischen, bäuerlichen Idylle, mitten in einer gottverlassenen Gegend.

Nach langem Sträuben gibt der namenlose Protagonist Mitte vierzig endlich dem Drängen seiner Frau Imogen nach, sich in die Obhut des für seine Behandlungs-Erfolge berühmten Prof. Trinkl zu begeben. Denn seine andauernde Schlaflosigkeit droht die immer noch kinderlose Ehe zu zerstören. Der Professor stellt fest, dass ein in seiner Vergangenheit begründetes «Unbehagen» schuld sei an seinen geheimnisvollen, psychischen Störungen. Schon am ersten Tag seines Aufenthalts lernt er im Schwimmbad Mona kennen, eine Frau, die offensichtlich Kontakt zu ihm sucht, obwohl sie weiß, dass er verheiratet ist. Zu den fragwürdigen Methoden des Professors gehört stundenlanges Einsperren seines Patienten in einer stockdunklen Kammer, und er geht auch zur Jagd mit ihm. Auf einem Hochsitz drückt er ihm, der noch nie eine Waffe in der Hand hatte, plötzlich ein Gewehr in die Hand. Er soll auf einen Bären schießen, den sie in Schussweite entdeckt haben, und als der Bär dann nur angeschossen ist, muss er ihn waidmännisch korrekt auch noch mit einem Messerstich ins Herz töten.

In einer traumartigen Szene lässt der Ich-Erzähler alles stehen und liegen und flüchtet vor diesen merkwürdigen Behandlungs-Methoden zu seinem Freund aus Kindertagen, der mit seiner Frau einen Bauernhof in einer einsamen Gegend bewirtschaftet. Der liefert den beiden Selbstversorgern alles, was sie zum Leben brauchen. Und hier findet der verzweifelte Mann auch endlich Ruhe, er beschließt, immer bei seinem Freund zu bleiben. Voller Elan bringt er sich ein in dieses archaische Leben, arbeitet körperlich hart und erlernt all die Arbeiten, die ein solcher Bauernhof mit sich bringt. Bis die Dinge schließlich eskalieren und ihn dort seine Vergangenheit einholt. Mit viel Symbolik, zu der auch diverse, immer wieder mal zitierte Klopstock-Gedichte zählen, entwickelt der Autor in verstörenden Szenen das Bild einer aus den Fugen geratenen Gegenwart, die auch die drohende Klimakatastrophe mit einbezieht. Es sind ebenso unheimliche wie absurde Bilder, die da heraufbeschworen werden.

Sowohl der Plot als auch das Setting dieses stilistisch misslungenen Romans, der den Rückzug aus der verachteten Leistungs-Gesellschaft zum Thema hat, sind wenig überzeugend, denn da ist Vieles geradezu an den Haaren herbeigezogen. Man weiß als Leser nicht, ob das, was man da liest, wirklich ernst gemeint oder einfach nur komisch ist. Gut gelungen ist die Schilderung der Seelenpein des gequälten Protagonisten, der bäuerliche Jugendfreund hingegen ist wenig glaubwürdig dargestellt, er bleibt als Figur eher blass. Imogen und die Frau des Freundes fristen erzählerisch sogar ein Mauerblümchen-Dasein. Und auch die begehrenswerte Mona verschwindet heimlich und spurlos während der erzählerischen Metamorphose des Helden vom ohnmächtigen Sinnsucher zum kraftstrotzenden Bauernknecht. Der kommt schließlich nach Ha und ist geheilt. Der Roman endet abrupt mit dem kaum noch zu überbietenden, kitschigen Satz des Ich-Erzählers: «Heute Nacht würde ich Imogen ein Kind schenken.»

Bewertung vom 06.09.2024
Der Nachtwächter
Erdrich, Louise

Der Nachtwächter


sehr gut

Modernes Indianer-Epos

Mit dem Roman «Der Nachtwächter» öffnet die US-amerikanische Schriftstellerin Louise Erdrich einen aufschlussreichen Einblick in die Kämpfe der indigenen Bevölkerung gegen die geplante Assimilierung. Im Nachlass ihres indianischen Großvaters fand die Autorin viele Briefe von ihm an seine Kinder, die «eine Fundgrube für spannende, lustige, klischeeferne Alltags-Geschichten aus dem Reservat» waren, wie sie im Nachwort schreibt, und die fiktional ergänzt in ihren Roman eingeflossen sind. Die Regierung in Washington verfolgte Anfang der 1950er Jahre Pläne zur Aufhebung der einst vertraglich festgelegten Sonderrechte der indianischen Bevölkerung, die, so lautet der Vertrag, gelten sollen, «solange das Gras wächst und die Flüsse fließen». In den USA gilt die in Deutschland weniger bekannte Louise Erdrich als eine der besten Gegenwarts-Autorinnen, der vorliegende Roman wurde 2021 mit dem begehrten ‹Pulitzer Prize for Fiction› ausgezeichnet.

Am 1. August 1953 wurden in der House Concurrent Resolution 108 die Indianerstämme benannt, die zur «Terminierung» vorgesehen waren, unter ihnen auch der Turtle Mountain Band of Chippewa. Die sogenannte Terminations-Politik sollte angeblich die in prekären Verhältnissen lebende, indianische Bevölkerung wirtschaftlich dem Niveau der weißen Bevölkerung angleichen. Letztendlich aber zielte sie nur darauf ab, endlich die Reservate aufzulösen und damit im Immobilienboom jener Jahre das Land für die großen Konzerne verfügbar zu machen. Männlicher Protagonist des Romans ist Thomas Wazhashk, der titelgebende Nachtwächter. Er kämpft als Vorsitzender des Stammesrates an vorderster Front gegen diese Pläne, beschäftigt sich intensiv mit der listig verklausulierten Gesetzesvorlage, schreibt in den langen Nachtstunden Briefe an das Bureau of Indian Affairs, an den Senator von North Dakota, und er korrespondiert mit den weitverstreut siedelnden, anderen Stammesräten. Als er nach zähem Kampf schließlich erreicht, dass eine Anhörung vor dem zuständigen Unterausschuss im Kongress anberaumt wird, sammelt er auch noch Geld ein bei seinen Leuten, damit eine kleine Delegation mit ihm zusammen für einige Tage nach Washington reisen kann.

Um diesen Handlungsrahmen herum schildert die Autorin in mehreren parallel verlaufenden Handlungssträngen vom Leben der Indianer im Reservat North Dakotas. Einziger Arbeitgeber ist dort eine in der Nähe angesiedelte Lagersteinfabrik, in der viele indigene Frauen beschäftigt sind. Sie bohren winzige Löcher in Edelsteine, die vor allem in der Uhrenindustrie gebraucht werden, eine Präzisionsarbeit, die für Männerhände nicht geeignet ist. Die beste Arbeiterin dort ist Patrice, die weibliche Protagonistin des Romans, eine blitzgescheite, toughe junge Frau, die von ihrem Lohn die ganze Familie ernähren muss. Ihre ältere Schwester ist nach Minneapolis gegangen und hat sich dann nicht mehr gemeldet. Monate später macht Patrice sich auf, um ihre verschollene Schwester und deren Baby zu finden. Sie findet das Baby auch und nimmt es mit nach Hause, ihre Schwester aber ist mutmaßlich in die Hände von Zuhältern geraten und wird irgendwo als Sexsklavin gefangen gehalten. Ein weiterer Handlungsstrang beschäftigt sich mit dem Boxsport, dessen Trainer für die schöne Patrice schwärmt, die ihm aber die kalte Schulter zeigt. In vielen Episoden, die kunstvoll zu einem beeindruckenden Epos miteinander verbunden sind, wird von weiteren Figuren aus dem Stamm der Chippewa erzählt. Sie sind allesamt sympathische Charaktere, die stimmig geschildert werden.

Mit leichter Hand und trotz aller Tragik humorvoll wird hier vom drohenden Verlust der Identität indianischer Stämme berichtet, die alle nicht Farmer werden wollen. In ihnen ist das Erbe ihrer Vorfahren tief verwurzelt, die bekanntlich nomadisierende Jäger waren. Leicht lesbar und mit einem klug aufgebauten Plot ist dieses moderne Indianer-Epos eine bereichernde Lektüre.

Bewertung vom 02.09.2024
Vierundsiebzig
Othmann, Ronya

Vierundsiebzig


weniger gut

Nervige Arabesken

Der zweite Roman von Ronya Othmann mit dem kryptisch erscheinenden, tatsächlich aber für unsägliche Gräuel stehenden Titel «Vierundsiebzig» schließt an ihren Debütroman an. Der hat ebenfalls die Ethnie der Jesiden zum Thema, eine etwa eine Million Angehörige zählende Volksgruppe im Kurdengebiet zwischen Syrien, dem Irak und der Türkei. Diese auf keinen heiligen Schriften, sondern nur auf mündlich weitergegebene Regeln beruhende Sekte wurde Opfer des IS, dem eine Theokratie anstrebenden ‹Islamischen Staat›. Es war das historisch 74ste Genozid, dem die «Teufelsanbeter» und Ungläubigen, wie die Islamisten sie nennen, in ihrer Geschichte ausgesetzt waren. Der Vater der Autorin ist ein säkularer kurdischer Jeside, der mit einer Deutschen verheiratet ist. Womit er sofort, nach den strengen Regeln der Sekte, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen ist, denn Jesiden dürfen nur unter sich heiraten.

Ronya Othmann wurde in München geboren, ist im Landkreis Freising aufgewachsen und hat Literatur studiert. Im Fernsehen erfährt sie 2014 von den Gräueltaten an den Jesiden und sieht die flüchtenden Menschen, die ihre dort in Shingal lebenden Verwandten seien könnten. Sie müssen jetzt um ihr Leben rennen vor den Mördern des IS, sie ist entsetzt! Sie war schon öfter dort und hat mit dem Vater ihre Verwandtschaft besucht, und nun herrscht dort ein unbeschreiblicher Terror. Mit journalistischem Eifer beginnt sie, ihren Vater zu befragen und andere Jesiden, die sie kennt und die, wie 200.000 andere, in Deutschland in der weltweit größten Diaspora leben. In der Bibliothek findet sie Reiseberichte, die bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichen, sie studiert alles, was mit der Geschichte der Jesiden zu tun hat und recherchiert im Internet. Immer wieder katalogisiert die Sammelwütige ihre Flut von Notizen, ordnet unzählige Ton- und Videoaufnahmen auf ihrem Smartphone und kopiert sie auf eine Festplatte. Im Jahre 2018 reist sie dann erstmals wieder mit ihrem Vater nach Shingal, um Material zu sammeln, sie möchte ein Buch über den 74sten Genozid schreiben. Diese Reise, der noch zwei weitere folgen, bildet den erzählerischen Rahmen für ihre Geschichte, deren Entstehen sie ebenfalls ausführlich schildert und das sie dann mit den Erlebnissen und Erfahrungen auf ihrer Reise zu einem gemeinsamen Erzählstrang verknüpft.

Die Autorin hat ihr Buch als Roman bezeichnet, und so ist es denn auch vom Verlag deklariert, was in den Feuilletons verschiedentlich beanstandet wurde. Es sei eher ein Reisetagebuch, eine Autobiografie, Dokumentation, Geschichtsschreibung oder subjektive Reportage, kann man da lesen. Andererseits, und das entspricht dann doch einem Roman, ist das Buch deutlich fiktional angereichert und enthält auch einige poetische Einsprengsel. Nachdem die kurdischen Peschmerga den IS zurückgedrängt hatten, sind die vertriebenen Jesiden allmählich in ihre Heimat zurückgekehrt. Ihr auch als Dolmetscher fungierender Vater besucht mit ihr die Verwandtschaft, gemeinsam bereisen sie das ehemalige Jesiden-Gebiet. Immer wieder treffen sie dabei auf freundliche Leute, die ihnen gern weiterhelfen, wenn eine Fahrt an den Straßensperren der verschiedenen militärischen Gruppierungen zu scheitern droht.

Mit scharfem Blick für Details registriert die Autorin fast alles und beschreibt es minutiös. Die gastfreundlichen Menschen, sogar Soldaten oder Beamte, bieten ihnen sofort Tee an, wenn sie auf etwas warten müssen. Geschätzt Hunderte von Malen wird da Tee getrunken. Spätestens ab der Hälfte des gut gemeinten und absolut wichtigen, dickleibigen Buches beginnt man sich zu ärgern über diese immergleichen, banalen Beschreibungen und die unzählbaren, oft wortwörtlichen Wiederholungen. Erzählerische Arabesken mithin, die nicht kitschig, sondern einfach nur nervig sind. Da ist ein erstmaliger IS-Prozess vor dem Oberlandesgericht München mit einer grandiosen Urteilsbegründung geradezu ein Labsal für den frustrierten Leser. Schade eigentlich, aber literarisch nicht überzeugend!

Bewertung vom 30.08.2024
Iowa
Sargnagel, Stefanie

Iowa


sehr gut

Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten

«Iowa», das neue Buch der unter ihrem Künstlernamen Stefanie Sargnagel schreibenden, österreichischen Schriftstellerin S. Sprengnagel, trägt den Untertitel «Ein Ausflug nach Amerika». Dieses fiktional angereicherte Reisetagebuch beschreibt einen Aufenthalt der Wiener Autorin in der Kleinstadt Grinnell, mitten in der Einöde Iowas. Das exklusive Elite-College von Grinnell hat sie 2022 zu einem zeitlich begrenzten Lehrauftrag über Creative Writing eingeladen. Sie reist zusammen mit ihrer zwanzig Jahre älteren Berliner Freundin, der Sängerin Christiane Rösinger, die vom College für einen Festabend engagiert wurde. Und die ist es denn auch, die dem Buch äußerst amüsante, korrigierende Fußnoten hinzufügt. Wie schon der ulkige Künstlername vermuten lässt, geht es in dieser Road Novel ziemlich lustig zu.

Genüsslich arbeitet die Autorin in ihrer Geschichte alle, aber auch wirklich alle Klischees ab, die es über die USA gibt, und zwar alle, die man schon kennt, und viele, die es noch zu entdecken gibt in diesem Buch. Für die beiden Großstädterinnen ist das langweilige Kaff ein Kulturschock der besonderen Art. Und es ist nicht nur das allgegenwärtige Fast Food, es sind auch ansprechend erscheinende Restaurants, die sich als permanente Enttäuschung und resigniert hinzunehmendes Ärgernis herausstellen. Erstaunt sehen sie in einer Bar zum Beispiel ein Glas voller eingelegter Truthahnmägen, Gipfel der skurrilen Genüsse, die man in Iowa offensichtlich goutiert. Die beiden Frauen taumeln von einer kulinarischen Zumutung zur nächsten und landen in «abgeranzten Bierspelunken». Nichts schmeckt, alles ist lieblos zubereitet. Und das gilt nicht nur für die amerikanische Küche, sondern auch für die dort häufig vertretene asiatische, welche die Beiden aus Österreich oder Deutschland ganz anders kennen. Und bei den Getränken ist es besonders die überall gleiche Plörre, die man bekommt, wenn man Kaffee bestellt, was die Freundinnen dann jedes Mal aufs Neue verzweifeln lässt.

Die Beiden erleben bei ihren Ausflügen immer wieder skurril anmutende Überraschungen, sei es in den kleinen Läden des Ortes, in merkwürdigen Museen, in Second Hand Shops, in den Waffengeschäften oder im Walmart, dem riesigen Supermarkt. Oft spazieren sie durch den menschenleer erscheinenden Ort, wo niemand mehr zu Fuß unterwegs ist und man selbst für zweihundert Meter lieber ins Auto steigt als zu laufen. Die Menschen sind fast alle übergewichtig, ernähren sich falsch und bewegen sich zu wenig. Mit scharfem Blick erfasst die Autorin all die kulturellen Unterschiede und erzählt sie dann liebevoll spöttisch, aber schonungslos ehrlich, manchmal sarkastisch, aber unverkennbar auch voller Sympathie. Ihr Vergleichs-Maßstab dabei ist das für sie vermeintlich anarchische, politisch rechtslastige Österreich.

Die Kettenraucherin Stefanie Sargnagel gibt sich im Buch als typisch grantelnde Wienerin, die ihren Frust im Alkohol ertränkt, und ihre Freundin hält als bühnenerprobte Punksängerin dabei meistens wacker mit. Die Autorin, eine ausgewiesene Feministin, spricht mit ihr über ihren latent vorhandenen Kinderwunsch, übers Älterwerden, über Künstlertum, Geschlechterrollen oder über die Abtreibungs-Debatte in den USA. Sie verliert sich, meist leicht beschwipst, in unpathetischen Selbst-Analysen oder sinniert zum Beispiel über Frauen-Freundschaften. Und es ist denn auch gerade ihre Freundschaft, die verschiedenen Charaktere der Beiden, die den besonderen Reiz dieses Buches ausmachen, besonders in den funkelnden Wortgefechten. Sprachlich salopp und immer ironisch wird hier ein Klischee nach dem anderen bedient. Dabei bieten sich jedoch en passant auch viele erkenntnisreiche Einblicke in das «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», zu denen leider auch eine durch keinerlei soziale Unterstützung abgemilderte, geradezu archaisch anmutende Armut gehört.

Bewertung vom 28.08.2024
Das Philosophenschiff
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff


gut

Falsch erzählt, aber gut erfunden

Zum riesigen Œuvre des österreichischen Schriftstellers Michael Köhlmeier ist nun der neue Roman «Das Philosophenschiff» hinzugekommen. Ein neugierig machender Buchtitel, der sich auf die Schiffe bezieht, mit denen die Bolschewiken unliebsame Intellektuelle ins Exil verfrachtet haben. Zu denen gehört auch die vierzehnjährige Tochter eines russisch-jüdischen Akademiker-Paares, die mit ihren Eltern und sieben anderen Geistesgrößen und Künstler 1922 auf einem solchen Schiff aus Russland deportiert werden. Niemand weiß wohin, und ob sie letztendlich nicht doch noch liquidiert werden wie all die anderen Opfer des bolschewistischen Terrors. Der Erzähler der Geschichte ist ein Schriftsteller namens Michael, der im Auftrag einer weltberühmten österreichischen Architektin einen Roman über deren Leben schreiben soll. Er ist dafür bekannt, Fakten und Fiktionen kaum unterscheidbar in seinen Erzählungen miteinander zu verflechten. «Deshalb glaubt man Ihnen oftmals nicht, wenn Sie die Wahrheit schreiben, und glaubt Ihnen, wenn Sie schummeln», begründet die exzentrische Anouk Perleman-Jacob bei einem Bankett zu ihrem hundertsten Geburtstag, warum sie ausgerechnet ihn mit diesem Buch beauftragen will.

In der äußeren Erzählfläche dieses Romans schildert der so gern fabulierende Ich-Erzähler, wie er sich im Haus der Architektin ihre Lebensgeschichte erzählen lässt. Diesen Sitzungen entsprechen die einzelnen Kapitel des Romans, jeweils eingeleitet durch kurze Erläuterungen und Fragen des Schriftstellers. In der inneren Erzählfläche werden, in Anführungszeichen gesetzt, die mündlichen Schilderungen der greisen Dame wiedergegeben, von ihm mit dem Smartphone aufgezeichnet. Während dieser mehrstündigen, interviewartigen Gespräche entwickelt sich zwischen ihnen eine gewisse Sympathie, der Ton wird deutlich lockerer. Eine mehrtägige Pause nutzt der Schriftsteller dazu, in der Wiener Staatsbibliothek Näheres über die Hintergründe der Lenin-Ära zu recherchieren, denen er dann ein eigenes Kapitel widmet.

Die zehn Personen auf dem «Philosophenschiff» haben keinerlei Kontakt zur Besatzung, Sie sind in Kabinen der dritten Klasse untergebracht und dürfen sich nicht frei bewegen auf dem riesigen, für zweitausend Passagiere ausgelegten Luxusdampfer. Nach einigen Tagen stoppt das Schiff ohne erkennbaren Grund mitten auf der Ostsee, durch die Bullaugen kann man einen Kutter beobachten, der am Schiff anlegt. Neugierig geworden findet Anouk einen allerdings gefährlichen Weg, aus ihrem abgesperrten Deck heraus zu kommen, indem sie aus einem zufällig nicht versperrten Kabinenfenster herausklettert und auf einer an der Außenwand des Schiffs angebrachten Leiter auf das Promenadendeck hochsteigt. Sie trifft dort einen alten Mann, der mutterseelenallein in einem Rollstuhl sitzt, halbseitig gelähmt. Es ist niemand geringerer als Wladimir Iljitsch Lenin, der nach dem historischen Motto «Die Revolution frisst ihre Kinder» in Ungnade gefallen ist. Die Vierzehnjährige kommt mit dem einsam dahin dämmernden, aber geistig hellwachen Revolutions-Führer ins Gespräch, sie reden über Macht und Liebe. Nach einigen Tagen wird Lenin dann einfach über Bord geworfen, Anouk ist heimliche Zeugin des Verbrechens. Eine Flunkerei natürlich, denn Lenin ist nicht ins Meer geworfen worden, er starb auch nicht 1922, sondern zwei Jahre später, wurde dann als Mitbegründer der UDSSR einbalsamiert und auf dem Roten Platz im Lenin-Mausoleum an der Kremlmauer aufgebahrt, ein Zuschauermagnet par excellence.

Neben den grausamen Verfolgungen ist das Scheitern des Bolschewismus ein dominantes Thema dieses Romans, der trotz aller historischen Schummeleien aufklärend und bereichernd wirkt. Brillant und oft lakonisch erzählt der Autor durch seine Protagonistin bedrückende, skandalöse, aber auch amüsante Geschichten, deren oft anekdotische Szenen aber manchmal doch etwas zu aufgesetzt wirken. Gleichwohl gilt: ‹Falsch erzählt, aber gut erfunden!›

Bewertung vom 26.08.2024
Nochmal von vorne
Suffrin, Dana von

Nochmal von vorne


gut

Da capo

Auch der zweite Roman von Dana von Suffrin mit dem Titel «Nochmal von vorne» widmet sich dem Thema jüdisches Leben in Deutschland, die promovierte Historikerin beschreibt darin die komplizierte Geschichte einer vierköpfigen Familie aus der Perspektive der jüngeren Tochter. Dabei deckt diese unverkennbar autobiografisch gefärbte, fragmentarisch erzählte Geschichte einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren ab. Sie beginnt in der Jetztzeit mit dem Tod des aus Siebenbürgen stammenden Vaters, um dann in vielen Rückblenden bis in die 90er Jahre hinein, bis in die Kindheit der Ich-Erzählerin Rosa zurück zu schweifen. Schon der Buchtitel deutet auf ein Da capo hin, denn der Debütroman «Otto» handelte von ebendieser chaotischen Familie, die in dem neuen, für den Deutsche Buchpreis nominierten Roman nun erneut im Fokus steht.

Diese deutsch-rumänische Familie ist von extremen Fliehkräften geprägt, denn alle Vier, Vater, Mutter, Rosa und ihre ältere Schwester Nadja, trachten aus ganz unterschiedlichen Gründen danach, ihrer Familie zu entkommen. Beweggründe dafür sind unerfüllte Sehnsüchte, Heimatlosigkeit, Freiheitsdrang, Überdruss der Ehepartner, dauernde Streitereien und die Divergenz der intellektuellen Fähigkeiten, die da ungebremst aufeinander prallen. Der Vater hat in Rumänien ein Studium der Chemie absolviert, das aber in Deutschland nicht anerkannt wird. Er arbeitet deshalb nun als Laborant der Münchner Stadtwerke und kontrolliert Proben des Abwassers. Studienabbrecher sind auch die beiden ungleichen Schwestern. Rosa ist wenigstens im Archiv ihrer Fakultät an der Uni untergekommen, Nadja hingegen schlägt sich mit ständig wechselnden Jobs mehr schlecht als recht durchs Leben. Am Ende des Romans lebt sie mit einer Professorin für Medien-Theorie in deren, nach Ansicht Rosas, hässlichem Einfamilienhaus zusammen und führt, ganz ungewöhnlich für sie, den gemeinsamen Haushalt.

Nach dem Tod des Vaters ist die Ich-Erzählerin gezwungen, sich um die Auflösung seiner Wohnung in Rumänien zu kümmern. Mit ihrer älteren Schwester hat Rosa seit sechs Jahren keinen Kontakt mehr, also muss sie sich alleine um den Nachlass kümmern. Sie bestellt eine Firma, um die Wohnung auszuräumen und den armseligen Hausrat zu entsorgen. Und da sie auch keine irgendwo versteckten Ersparnisse fand, muss sie auch noch allein für die Bestattungs-Kosten aufkommen, denn sie kann die exzentrische Nadja nicht mal mehr telefonisch erreichen. Zwischen Vater und Mutter tobte ein ständiger Streit, der meistens von der aggressiven Mutter ausging, die ihren Mann für einen Schlappschwanz hielt, der sich antriebslos in seiner unter-qualifizierten Stellung eingerichtet hat, wodurch die Familie zu einem sehr bescheidenen Leben gezwungen war. Ein Ausbruch der Mutter aus diesen bedrückenden Verhältnissen war dann ihre Selbstfindungs-Reise nach Thailand, von der sie nie mehr zurück gekehrt ist. Sie war zu weit ins Meer hinaus geschwommen, kam nicht mehr zurück und wurde nach zwei Wochen für tot erklärt. Schlimmer noch als die Mutter ist die launische Nadja mit ihren Neurosen, die oft nicht reagiert, wenn man sie anspricht, oder einfach mitten im Gespräch wegläuft. Sie ist eine Exzentrikerin durch und durch, die sich keinen Konventionen beugt, sich wie ein Paradiesvogel herrichtet und anzieht, manchmal von einem Tag zum anderen wieder ganz anders.

Unter Verzicht auf einen linear erzählten Plot und mit nicht immer nachvollziehbaren Szenewechseln wird in dieser Familiengeschichte ein Jahrhundert voller politischer Verwerfungen gespiegelt, ohne dass ein Holocaust-Roman daraus geworden ist. Erzählt wird in einer schlichten, leicht lesbaren und vorwärts drängenden Sprache, in der unverkennbar eine leichte Ironie mitschwingt und manchmal auch die jüdische Abart des schwarzen Humors.