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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 874 Bewertungen
Bewertung vom 01.11.2024
Seinetwegen
Del Buono, Zora

Seinetwegen


schlecht

Literarisch ein Zwitter

Das Memoir «Seinetwegen» der Schriftstellerin Zora del Buono befasst sich mit der Leerstelle in ihrem Leben, welche sich aus dem Unfalltod ihres Vaters ergeben hat. Ihr Buch wurde für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert und in den Feuilletons positiv kommentiert. Der 33 Jahre alte Radiologe am Kantonsspital in Zürich, Dr. med. Manfredi del Buono, starb am 18. August 1963 im Alter von 33 Jahren und hinterließ seine Frau und Zora, seine acht Monate alte Tochter. In ihrem erzählenden Sachbuch berichtet die inzwischen sechzigjährige Autorin reportageartig im Präsenz von ihren Recherchen über den Unfall-Verursacher und über die Veränderungen, die gleichzeitig dabei mit ihr geschehen.

Die Mutter wie auch die Tochter haben kaum je über den Vater gesprochen. Und nun ist es zu spät, die demente Mutter ist in einem Pflegeheim und erkennt oft nicht mal mehr die eigene Tochter. Außer einem kritischen, ziemlich umfangreichen Leserbrief, der sich über das unglaublich geringe Strafmaß empört, findet sie bei ihrer Mutter nichts Schriftliches, das sie weiterbringen könnte. Der 28jährige Unfallverursacher, den die Autorin anfangs mit E. T. umschreibt, hatte in einem billig erworbenen, alten Chevrolet auf einer Landstrasse in der Nähe der Schweizer Kantons-Hauptstadt Glarus einen Heuwagen überholt. Dabei hatte er den entgegen kommenden VW-Käfer übersehen, in dem ihr Onkel am Steuer saß und ihr Vater als Beifahrer. Der «Töter», wie Zora den Unfallverursacher bezeichnet, war voll geständig, er wurde wegen fahrlässiger Tötung zu zwei Jahren auf Bewährung und zu 200 Franken Geldstrafe verurteilt.

Was ist aus E. T. geworden, fragt sich die Ich-Erzählerin. Lebt er noch, inzwischen 88jährig? Hat er je Kontakt zu seinem «Opfer» gesucht? Wie ist er ein Leben lang mit dieser schweren Schuld umgegangen? Je mehr sie über den «Töter» erfährt, desto erschreckender wird ihr bewusst, dass sie herzlich wenig über ihren Vater weiß. Von ihm existieren zwar einige auch im Buch abgedruckte Fotos, aber was für ein Mensch er war über das rein Berufliche hinaus, das bleibt für immer im Dunkeln. Aber auch die Fakten geben Rätsel auf. Der alte Chevrolet hatte 2200 Franken gekostet und war kurz vor dem Unfall für über 4600 Franken in der Werkstatt, woher hatte der junge Mann so viel Geld? Und warum waren trotz Werkstattbesuch die Reifen völlig abgefahren und die Bremsbeläge bis auf die Nieten herunter verbraucht? Der überholte Heuwagen erwies sich im Nachhinein als von einem Kind gelenkter Milchwagen, der im Gegensatz zu einem hoch aufgetürmten Heuwagen dem Unfall-Verursacher volle Sicht auf die Gegenspur ermöglicht hat? Besonders erfolgreich erwies sich neben allerlei eigenen Recherche-Ergebnissen schließlich ein Historiker, der Einblicke in viele Archive hat und Zora weitere Details auch über ihre Familie liefert.

In eine Liste der «Deformationen» hat die Autorin unter anderem ihre immer dann aufkommenden Irritationen eingereiht, wenn irgendwo von «schweren Schicksalsschlägen» die Rede ist. Ebenso in dieser Liste findet sich auch ihr «Befremden über intakte Familien». Sie enthält zudem die Probleme der unverheiratet gebliebenen, lesbischen Zora mit «Zweierbeziehungen». In ihren wilden Jahren habe sie aber immerhin zwei Jahre mit einem schwulen Mann zusammen gelebt, fügt sie keck hinzu. In gelegentlichen, durchnummerierten Einschüben unter dem Titel «Im Kaffeehaus» diskutiert die Autorin in kleinem Kreis mit wechselnder Besetzung über verschiedenste, ihr Leben prägende Aspekte psychologischer Art, zum Beispiel über «frühe Bindungen». Der in einer sachlich kühlen Sprache geschriebene Text aus essayartigen Kapiteln und Einschüben mit soziologischen und psychologischen Fragestellungen ist ein freies Spiel mit Assoziationen. All das aber ist als Lektüre keineswegs überzeugend, weder als unterhaltsame Erzählung noch als wirklich ernst zu nehmendes Sachbuch. Ein misslungenes Memoir eben, und literarisch ein Zwitter!

Bewertung vom 29.10.2024
Underground Railroad
Whitehead, Colson

Underground Railroad


sehr gut

Magisch-realistischer Sklavenroman

Mit seinem Roman «Underground Railroad» hat der farbige US-amerikanische Schriftsteller Colson Whitehead 2017 den Pulitzerpreis gewonnen und einen riesigen medialen Wirbel ausgelöst. «Ich mag es, mir seltsame Dinge auszudenken» hat er im FAZ-Interview erklärt, und dazu gehörte für ihn dann auch die Frage: «Was, wenn es die Underground Railroad wirklich gegeben hätte»? Er habe dann fünfzehn Jahre gebraucht, um endlich dieses Buch zu schreiben. Der Titel steht metaphorisch für die Bewegung des Abolitionismus, einem Netzwerk zur Abschaffung der Sklaverei mit schwarzen und weißen Aktivisten, die im frühen 19ten Jahrhundert unter Lebensgefahr als Fluchhelfer und Schleuser entlaufenen Sklaven zur Freiheit verholfen haben. Ähnlich wie die Ausrottung der indigenen Bevölkerung ist auch der Begriff «Underground Railroad» eine jedem Schulkind geläufige ‹Great American Story› des Unrechts.

Protagonistin dieses Romans ist die junge Sklavin Cora, die auf einer Baumwoll-Plantage in Georgia arbeitet, deren sadistischer Eigentümer seine Sklaven wie Tiere behandelt. Als ein Mann ihr anbietet, mit ihm zusammen zu fliehen, zögert sie zunächst, weil bisher alle Fluchtversuche gescheitert sind. Die aufgegriffenen Sklaven werden zu Abschreckung in einer Zeremonie vor den versammelten Arbeitern unsäglich grausam bestraft und halbtot dann an einem Baum erhängt. Zum Anfang des Romans wird ausführlich von all der Pein berichtet, denen die afrikanischen Sklaven ausgesetzt sind. Sie werden völlig hilflos als vom Staat sanktionierter, rechtloser Besitz behandelt, als Arbeitstiere gehalten, nach Belieben weiterverkauft und eben auch willkürlich getötet, wenn der Plantagen-Besitzer es als Strafe anordnet. Cora wagt das Undenkbare, sie entschließt sich doch, trotz der drohenden fürchterlichen Strafe, zur Flucht.

Die bisher realistische Erzählung dreht sich nach einem Viertel des Romans mit Coras Flucht ins Fantastische, indem der Autor die nur als Metapher gedachte «Underground Railroad» als tatsächlich existierende Untergrund-Eisenbahn in seine Geschichte einfügt. Und so steigt Cora in einem geheimen, unter einer Scheune versteckten Bahnhof dann auch in den offenen Wagon eines Zugs mit einer Dampflock, der sie eine Etappe weit in Sicherheit bringen soll. Ihre Flucht erweist sich als wahrer Albtraum, immer wieder steht sie vor gefährlichen Situationen und neuen Hindernissen. In South Carolina ist sie vermeintlich frei, doch sie erkennt, dass Schwarze anders behandelt werden und man Frauen dazu bringen will, sich sterilisieren zu lassen. In North Carolina, ihrer nächsten Etappe, gibt es keine Sklaverei mehr, aber es soll dort auch keine Schwarzen mehr geben. Man macht Jagd auf sie und erhängt sie jeden Freitag vor Publikum auf dem Marktplatz, was Cora aus ihren Versteck auf einem Dachboden beobachten kann. Ein Sklavenjäger ist ihr hartnäckig auf den Fersen, sie ist nirgendwo sicher und ständig auf der Flucht. Als er sie schließlich entdeckt, wird das Ehepaar, das ihr Unterschlupf gewährt hat, sofort gehängt. Die realistische, aktionsreiche Geschichte von Coras Flucht mit den immer wieder überraschenden Wendungen wird durch die fantastischen Momente konterkariert, historisch Verbürgtes unbekümmert mit imaginierten Albträumen vermischt.

Gleichwohl ermöglicht der magische Realismus dieses Romans mit seiner Schonungslosigkeit, die Unbesaitete ziemlich verschrecken dürfte, tiefe Einblicke in historische Strömungen und hilft, die politische Gemengelage in jenen turbulenten Zeiten der Vereinigten Staaten von Amerika zu begreifen. Colson Whitehead hat sich wohlweislich aller Anspielungen auf Gegenwart und jüngste Vergangenheit enthalten. Obwohl ja, wie er in dem zitierten Interview gesagt hat, «Diskriminierung gegenwärtig» sei in den USA und «ihr Wesen heimtückisch». Ein magisch angereicherter Sklavenroman also, dessen Lektüre niemanden unverändert lassen dürfte.

Bewertung vom 25.10.2024
Vom Ende der Einsamkeit
Wells, Benedict

Vom Ende der Einsamkeit


sehr gut

Die Macht des Schicksals

Der Roman «Vom Ende der Einsamkeit» des Schriftstellers Benedict Wells widmet sich dem Thema Verlusterfahrungen und der daraus resultierenden Einsamkeit am Beispiel dreier Geschwister, die durch den frühen Unfalltod ihrer Eltern zu Waisenkindern werden. Der ursprünglich wohl als Opus magnum gedachte, mit 800 Seiten sehr üppige Roman wurde schließlich auf knapp 360 Seiten gekürzt, was ihm zweifellos gut getan hat. Über einen Zeitraum von etwa dreißig Jahren hinweg schildert der deutsch/schweizerische Autor, wie die plötzlich aus ihrer familiären Mitte heraus gerissenen, ungleichen Geschwister, weitgehend allein gestellt bis auf eine Tante als einzigem familiären Anker, von Verlust und Einsamkeit geformt werden.

Der anfangs zehnjährige Ich-Erzähler Jules, sein älterer Bruder Marty und Liz, die Älteste, kommen in ein staatliches Waisenhaus, wo sie getrennt nach Alter und Geschlecht untergebracht werden. Die Familie als gemeinsamer Rückzugsort existiert plötzlich nicht mehr. Die Drei könnten im Charakter nicht unterschiedlicher sein. Jules ist der eher realitätsferne, melancholische Träumer, der sein Jurastudium abbricht und mit Hilfe von Liz glücklich einen Job bei einem Musikverlag findet, wo er für die Vertragsabschlüsse mit den Musikern verantwortlich ist. Mit seiner geheimnisvollen Schulfreundin Alva verbindet ihn eine kumpelhafte Freundschaft weit über die Schulzeit hinaus. Die Beiden verstehen sich bestens, lieben die gleiche Musik, führen intensive Gespräche und unternehmen viel miteinander, - mehr ist da nicht! Als Jules sie eines Tages zu einer Feier pünktlich zu Hause abholen kommt, steht sie nicht, wie sonst immer, schon vor der Haustüre. Die Mutter lässt ihn herein, und als er die Tür zu ihrem Zimmer öffnet, liegt sie nackt mit einem fremden Mann im Bett und starrt ihn provozierend an. Er flüchtet entsetzt! Als sie sich vor dem mündlichen Abitur noch einmal kurz sehen, reden sie kein Wort über Alvas unglaublichen Affront, und sie sehen sich dann auch über als ein Jahrzehnt lang nicht mehr wieder. Marty ist ein introvertierter Eigenbrödler, der später zum Nerd mutiert und als Internet-Pionier derart erfolgreich ist, dass er seine Firma für einen hohen siebenstelligen Betrag verkaufen kann. Die quirlige Liz, die Älteste, ist eine äußerst attraktive Frau, die immer von Männern umschwärmt wird, denen sie dann nach kurzer Zeit den Laufpass gibt. Sie taucht schon früh in die Drogenszene ein, ist extrem lebenshungrig und stürzt sich immer wieder in neue Affären.

Als Jules nach langer Zeit im Internet nach Alva sucht, sie findet und ihr eine E-Mail schickt, kommen sie wieder ins Gespräch. Sie ist jetzt mit einem bekannten, mehr als zwanzig Jahre älteren Schriftsteller verheiratet und lebt in der Schweiz. Aber Jules und Alva finden nun tatsächlich doch zueinander, diesmal sogar als Liebespaar, denn sie erkennen beide ihre enge Seelen-Verwandtschaft. Marty ist Professor geworden und ist glücklich verheiratet. Und Liz erkennt als fast 42Jährige, dass es ein Fehler war, keine Kinder zu haben. Ein Versäumnis, dass sie nun umgehend nachholen will, an Männern mangelt es ihr ja nicht.

In chronologisch aufeinander folgenden Rückblenden entwickelt der Autor über drei Jahrzehnte hinweg seine Geschichte vom auseinander Driften und wieder zusammen Finden, von Vereinsamung und dem Segen von Freundschaft und Liebe. Es ist die buchstäbliche Macht des Schicksals, die in diesem klug konstruierten Roman stets unvermittelt einwirkt und das bestehende Beziehungsgefüge grausam zerstört. Der sorgfältig aufgebaute Spannungsbogen des Romans wird durch die vielen überraschenden Wendungen des Geschehens immer wieder eindrucksvoll verstärkt. Mit psychologischem Einfühlungs-Vermögen werden die glaubhaften Charaktere präzise geschildert. Man kann verstehen, dass sie sind wie sie sind, und wie sie aus ihren Traumata allmählich zurückfinden zu selbstbewusster Lebensbewältigung.

Bewertung vom 23.10.2024
Stolz und Vorurteil
Austen, Jane

Stolz und Vorurteil


ausgezeichnet

Auch heute noch

Zum Olymp belletristischer Literatur gehört unangefochten der 1813 erschienene Roman «Stolz und Vorurteil» der britischen Schriftstellerin Jane Austen, und das, obwohl inzwischen mehr als 200 Jahre vergangen sind. Lohnt es sich denn, den immer wieder neu aufgelegten und vielfach neu verfilmten Roman heute noch zu lesen? Unbedingt, und zwar weil er sowohl von seiner Thematik her als auch stilistisch ein Klassiker par excellence ist, als Gesellschafts- wie auch als Liebesroman literarisch unerreicht! Und er wirkt erstaunlicher Weise in den modernen deutschen Übersetzungen auch kein wenig altbacken, er liest sich flüssig, folgt einem Plot mit klug konstruiertem Spannungsbogen und strotzt nur so von kontemplativen Anregungen philosophischer Art. Ähnlich wie bei Fontane liefert er zudem historisch präzise Einblicke in Bourgeoisie und Adel jener Zeit, denn er wurde ja Anfang des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben. Er berichtet also authentisch als zeitgenössisches Werk in «damaliger Jetztzeit», und eben nicht in einem geschichtlichen Rückblick aus neueren Zeiten.

Erzählt wird über etwa ein Jahr im Leben einer Familie der gehobenen Gesellschaft auf dem Lande, in der Nähe Londons, deren fünf altersmäßig dicht beieinander liegende Töchter noch unverheiratet sind. Das Landgut des Vaters musste nach damaligem Erbrecht auf ewig ‹ungeteilt› erhalten bleiben, und die finanzielle Nutzung stand auch nur einem ‹männlichen› Erben zu. Die fünf Mädchen und die Mutter würden also, wenn der Vater stirbt, mittellos sein. Eine Ehe jeder der Töchter war deshalb zwingend geboten! Die ziemlich einfältige Mutter lässt in ihrer Panik über dieses drohende Schicksal nichts unversucht, ihre Töchter mit allen infrage kommenden Männern bekannt zu machen. Jane, die Älteste, ist inzwischen – für damalige Begriffe «schon» – einundzwanzig Jahre alt.

Beste Gelegenheit für derlei Eheanbahnungen bieten Dinner-Einladungen und vor allem Bälle, bei denen dann auch eifrig getanzt wird. Im Mittelpunkt dieser Erzählung steht die ebenso kluge wie schöne Elisabeth Bennet, die zweitälteste der Schwestern, und der verschlossene, hochnäsig wirkende, steinreiche Fitzwilliam Darcy. Als sie auf einem Ball zufällig mit anhört, wie er seinem Freund erklärt, sie sei nicht attraktiv genug, um sie zum Tanz aufzufordern, ist sie zutiefst gekränkt. Ihr Groll wächst weiter, als das Gerücht umgeht, Darcy wäre für die finanzielle Notlage des Offiziers verantwortlich, der ihr schon länger den Hof macht. Überraschend aber hält Darcy später doch um ihre Hand an, was Elisabeth in beleidigender Form strikt zurückweist. Die cholerisch veranlagte Mutter droht, sie rede künftig kein Wort mehr mit ihr, sie lasse das nicht gelten, und läuft mit ihr ins Arbeitszimmer, dem Rückzugsort des immer humorvollen Vaters. «Jetzt hast du ein Problem», sagt er zu Elisabeth, «wenn du ihn ‹nicht› heiratest, redet deine ‹Mutter› kein Wort mehr mit dir, und wenn du ihn ‹doch› heiratest, dann rede ‹ich› kein Wort mehr mit dir!»

Elisabeth und Darcy sind an ihrem «Stolz» gescheitert, aber auch an so manchem «Vorurteil». Er erkennt später nämlich selbstkritisch, dass er entschieden zu dünkelhaft war, und sie erfährt irgendwann, dass an den Gerüchten über ihn nichts Wahres dran war. Der gesellschaftliche Stand, das Geld und die Liebe sind die entscheidenden Parameter für eine Heirat in jenen Zeiten. Der Plot des Romans lebt in erster Linie von den wortwitzigen, brillant vorgetragenen Dialogen des stimmig dargestellten Figuren-Ensembles. Das Kontemplative wird vorgezeichnet durch die Figur der Elisabeth, die sich oft zum Nachdenken zurückzieht und erzählerisch häufig in der indirekten Rede zitiert wird. Psychologisch tiefgründig, immer hart am Thema bleibend ohne langatmige Umwege, führt die schon mit 41 Jahren allzu früh verstorbene, ledig gebliebene Jane Austen durch ihren klug konstruierten, gesellschaftlichen Kosmos. Auf den Leser wartet also ein ebenso erfreuliches wie bereicherndes Lesevergnügen, - auch heute noch!

Bewertung vom 20.10.2024
Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Hefter, Martina

Hey guten Morgen, wie geht es dir?


sehr gut

Love-Scammer vs. Performerin

Die Gewinnerin des diesjährigen Deutschen Buchpreises, die Schriftstellerin und Performerin Martina Hefter, hat mit ihrem Roman «Hey guten Morgen, wie geht es dir» einen zeitgemäßen Text vorgelegt, über den es in der Begründung der Jury heißt: «Auf faszinierende Weise verbindet der Roman zermürbenden Alltag mit mythologischen Figuren und kosmischen Dimensionen, er navigiert zwischen Melancholie und Euphorie, reflektiert über Vertrauen und Täuschung.» Dieser autobiografisch inspirierte Roman ist nicht an einem roten Faden entlang erzählt, er folgt vielmehr einer Choreografie, in der seine vielfältigen Themen wie Tanzfiguren kreativ miteinander verbunden sind in einer mitreißenden Performance. Dabei fungiert die Problematik des Scammer-Unwesens als narratives Gerüst für Motive wie Würde, Nähe, Bedürfnisse, Anerkennung, Identität, Sehnsüchte, Alter und Krankheit, aber auch der Kolonialismus wird thematisiert am Beispiel Nigerias.

Juno Isabella Flock, Freelancerin Mitte fünfzig, lebt in prekären Verhältnissen mit ihrem kranken Mann Jupiter, einem Schriftsteller, in einer kleinen Altbauwohnung in Leipzig. Sie pflegt Jupiter zwar liebevoll, geht dieser Aufgabe aber mit wachsender Unlust nach. Weil sie unter Schlaflosigkeit leidet, hat sie auf ihren Streifzügen durch das Internet die Szene der Love-Scammer entdeckt, die virtuelle Form der Heiratsschwindler. Denen es erstaunlich oft gelingt, ihre unbedarften Opfer finanziell auszubeuten, wie eine Doku in «Spiegel-online» belegt, aus der im Roman berichtet wird. Aus Langeweile, Neugier und zum Trotz hat sie sich auch ein anonymes Profil angelegt, unter dem sie als vermeintlich lohnendes Opfer auftritt. Sie macht sich einen Spaß daraus, die schamlosen Betrüger anzulocken und ihnen dann irgendwann knallhart auf den Kopf zuzusagen, dass sie Scammer sind, und dass sie selbst eine Frau ist mit viel Zeit und wenig Geld. Bis sie auf Benu trifft, den sie zwar ebenso durchschaut, bei dem sie aber zögert, ihn bloßzustellen, weil er nicht so großspurig auftritt und irgendwie immer die richtigen Worte findet. Und der dann auch nicht den Kontakt abbricht, als sie ihm die Wahrheit sagt. Gleichwohl aber bleiben seine Absichten nebulös.

Ihr Chat zieht sich wie ein roter Faden durch die Erzählung, immer wieder unterbrochen von Anmerkungen und Rückblenden auf das Leben der Protagonistin. Jupiter weiß natürlich nichts von ihrem nächtlichen Internet-Doppelleben, sie haben wegen Junos Schlaflosigkeit schon lange getrennte Schlafzimmer. Die virtuelle Beziehung zwischen Juno und Benu weist exemplarisch auf die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in Europa und Afrika hin, verdeutlicht aber auch die Diskrepanzen zwischen den individuellen Erwartungen und Hoffnungen der Beiden. Die ebenso poetische wie humorvolle Schilderung der Alltagsrealität von Juno wird durch allerlei mythisch gedeutete Begebenheiten ergänzt. Dazu gehört auch das von Jupiter gebastelte Bienen-Hotel auf dem Fensterbrett, wo denn auch prompt zur Freude des Paares eine Wildbiene einzieht. Schon die Namen Juno und Jupiter weisen ja auf die Götterwelt hin, und auch dem Stand der Gestirne gilt immer wieder Junos ungeteilte Aufmerksamkeit. Als Zeichen ihrer Suche nach Identität beginnt sie, sich Tattoos stechen zu lassen, auf die sie sehr stolz ist. Ihr Internet-Spiel mit Benu, diese Täter-Opfer-Umkehrung, hilft ihr beim Aggressionsabbau. Es hilft ihr aber auch, sich ihrer Würde bewusst zu werden, auch wenn die menschliche Existenz hier als permanenter Hindernislauf dargestellt wird in einem unsteten Leben, oft am Existenzminimum.

Ein trotziger Optimismus, frei von Pathos, kennzeichnet die einfach gehaltene Sprache des Romans, mit der die alltägliche Monotonie im Leben von Juno stilistisch gekonnt verdeutlicht wird. Die Charaktere von Benu, aber auch von Jupiter bleiben im Ungefähren, sie sind quasi Nebenfiguren in diesem Roman der Selbstfindung einer Künstlerin in Zeiten von Ukrainekrieg und anderem Ungemach. Mehr ‹heutig› kann ein Roman kaum sein!

Bewertung vom 16.10.2024
Antichristie
Sanyal, Mithu

Antichristie


schlecht

Wirres Roman-Konstrukt

Der zweite Roman «Antichristie» von Mithu Sanyal ist für den Deutsche Buchpreis 2024 nominiert worden, hat es also wie ihr Debüt «Identitti» ebenfalls auf die Longlist geschafft. Dabei ist es aber, wie auch schon 2021, dann geblieben. Thema des neuen Romans dieser Autorin mit indischen Wurzeln ist der britische Kolonialismus und die Gewalt, die er hervorgerufen hat. Die der Autorin in manchem ähnelnde Protagonistin ist im Jahre 2022 in London als Drehbuchschreiberin an den Arbeiten zu einer antirassistischen Agatha-Christie-Verfilmung beteiligt. Gerade erst ist die den Umschlag zierende, britische Königin gestorben, und der dort ebenfalls abgebildete Tiger deutet auf den Namen der Protagonistin hin. Sie trägt den Namen der auf dem Tiger reitenden, hinduistischen Göttin Durga, was im Sanskrit «Die «Schwer zu Begreifende» bedeutet. Wie treffend genau dieser Name gewählt ist, erschließt sich dem Leser schon nach wenigen Romanseiten!

Die Ich-Erzählerin Durga ist als Drehbuchschreiberin zu einem zehntägigen «Writers’ Room» der Firma Florin Court Films in London eingeladen, weil sie eine Doppelfolge von «Doctor WHO» geschrieben hat. Bei einer traumatischen Flucht landet sie in dem Garten einer Gärtnerin, wie sie wegen der dort aufgehängten Wäsche vermutet, sie steht jedoch plötzlich einem Mann gegenüber. Und sie stellt fest, dass sie einen Penis hat, der erigiert ist. Aus Durga ist Sanjeev geworden, ein neuer, zweiter Ich-Erzähler, der parallel das weibliche Bewusstsein von Durga beibehält. Er findet sich im Jahre 1906 im Londoner «India House» als Zaungast einer gerade entstehenden indischen Freiheitsbewegung wieder. Und er erinnert sich dort sogar an etwas, das Durga mal gegoogelt hat! Chronologische Kontinuität wird in diesem Roman also ganz unbeirrt ad absurdum geführt, Zeit und Geschlecht problemlos gewechselt wie das Hemd. In den Personen um sich herum erkennt Sanjeev Helden des Freiheitskampfes, von denen Durgas Eltern ihr oft erzählt haben, ihr bengalischer Vater und Lila, ihre Mutter, eine Duisburgerin, die sich dem kolonialen Freiheitskampf Indiens stark verbunden gefühlt hat. Der Tod der Monarchin ruft antirassistische Demonstrationen hervor, auch vor dem Büro der Filmfirma. So dass mit der Königin in deren Motto, «Keep calm and hands off our Queen», auch Agatha Christie gemeint sein könnte, deren Krimis im antirassistischen Überschwang mit einem farbigen Hercule Poirot motivisch geradezu entstellt werden sollen.

Der/die Protagonist/in ist in diesem Roman voller Paratext, Verweisen, Symbolen, Phantasien und Träumen die alleinige Erzähl-Instanz, an die all diese verschiedenartigen Elemente mangels erkennbaren Plots gewissermaßen ‹andocken›, um eine narrative Struktur zu bilden. Eine eigensinnig gewählte Erzählhaltung der Postmoderne, die zu bezwecken scheint, dem erwartungsvollen Lesepublikum literarisch etwas sensationell Neues, total Unkonventionelles anzubieten. Folglich werden in dem «Abspann» genannten, üppigen Nachwort nicht nur die Intentionen der Autorin sehr ausführlich dargelegt, sondern auch die im Textwirrwarr kaum erkennbare Handlung erläutert Und das wird ergänzt um ein mit «Cast & Crew» betiteltes, ebenso üppiges Personenregister, ohne das man hoffnungslos verloren wäre.

Wie notwendig all das ist, beweisen die durchweg zweifelnden Stimmen aus den Feuilletons ebenso wie die aus den Leser-Kommentaren. Hauptkritikpunkt an diesem Roman ist die spannungslose, kaum nachvollziehbare Handlung, die zum Verständnis auch deutlich zu viel historisches Spezialwissen voraussetzt. «Antichristie» ist zudem hoffnungslos überfrachtet und wird durch die abrupten Zeitsprünge zunehmend nervig, man ärgert sich aber auch über die dozierende Erzählweise. Ein wirres Roman-Konstrukt also, dem zu folgen kaum möglich ist. Es ist der scheinbar zwanghafte literarische Versuch, unbedingt unkonventionell zu schreiben, um dann im Ergebnis genau daran grandios zu scheitern!

Bewertung vom 12.10.2024
Von Norden rollt ein Donner
Thielemann, Markus

Von Norden rollt ein Donner


gut

Schäferidylle kontra Wolf

Es sind ganz verschiedene Motive, die den Schriftsteller Markus Thielemann dazu bewogen haben, seinen zweiten Roman «Von Norden rollt ein Donner» zu schreiben, wie er in einem Interview mit den NDR erklärt hat. «Ich schreibe gerne über Landschaften» hat er über sein Grundthema gesagt. Und in zweiter Linie sei der Wolf für ihn eine Inspiration zum Schreiben gewesen, «die Idee von Idylle und Gewalt», die hier räumlich so nahe beieinander seien. Ein düsteres Bild deutet ihm zufolge auch der Titel des Buches an, denn es gehe eben nicht um einen Gewitter-Donner, sondern um den Donner von Granaten aus der naheliegenden Munitionsfabrik von Rheinmetall. «Das fand ich ein unheimliches Bild».

Mit einem Heide-Gedicht von Theodor Storm als Vorwort wird aus der Perspektive des 19jährigen Jannes eine Geschichte erzählt, die zeitlich 2015 im Milieu einer Schäferfamilie auf der Lüneburger Heide angesiedelt ist. Der formal noch dem Opa gehörende Hof der Familie besitzt 42 Ziegen und lebt im Wesentlichen von der Schafzucht, die Herde besteht aus 357 Heidschnucken. Durch Einwanderung und Wiederansiedlung ist in der Heide mit der Zeit eine Population von Wölfen heran gewachsen, die immer bedrohlicher wird für die Schäfer. Der Opa von Jannes kann kaum noch mitarbeiten und verbringt seine Zeit vor dem Fernsehgerät. Der Vater, immer häufiger von Demenz-Ausfällen geplagt, ist deshalb öfter am Schreibtisch als auf der Heide anzutreffen. Die Arbeit mit den Schafen lastet damit also weitgehend auf den Schultern von Jannes, manchmal unterstützt von seiner Mutter, die sich ansonsten um den Hof kümmert und den Haushalt führt. Jannes ist gerne Schäfer, er ist in diese Arbeit hineingewachsen seit frühester Kindheit und kann sich gar nicht vorstellen, etwas anderes zu tun oder gar in die Stadt zu gehen und einen Beruf zu erlernen wie seine beiden Freunde.

In sehr ausführlichen und anschaulichen Beschreibungen schildert der Autor die einmalige Natur, in der Jannes einsam und bei oft unwirtlichem Wetter arbeiten muss. Mit Hilfe seiner beiden Hütehunde treibt er seine Herde manchmal kilometerweit zu den Weideplätzen. Er beobachtet aufmerksam die Tiere, die er alle kennt, und unwillkürlich auch die weitere Umgebung, wo er den Wolf vermutet. Es gab nicht nur Spuren von ihm, sondern auch schon Risse. Die Emotionen prallen heftig aufeinander in den Dörfern, befeuert von den einseitig ökologisch orientierten Umweltschützern, für die der Wolf ganz selbstverständlich zu dieser archaischen Naturidylle gehört. Rational denkende Realisten halten dem entgegen, dass die Zeiten, in denen der Wolf hier heimisch war, längst vorbei sind, es gibt keinen Platz mehr für ihn in der dicht besiedelten, modernen Industrielandschaft. Und die Schäferei wiederum ist erforderlich, um die Heide zu erhalten, die einzig und allein durch den Verbiss der Schafe baumfrei mit ihrem typischen Bewuchs erhalten bleibt. Natürlich nutzt die politische Rechte diese Thesen gegen den Wolf propagandistisch weidlich aus, und es bildet sich bald auch schon eine dörfliche Interessen-Gemeinschaft.

Die Schäferidylle nimmt einen weiten Raum ein in diesem Roman, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2024 steht. Man bewundert die fast schon intelligent wirkenden Hütehunde und erschrickt über die tagelange Einsamkeit des jungen Schäfers bei seiner Arbeit. Gegen den Wolf wird vom Vater ein extra hoher Wolfzaun aufgestellt, und versuchsweise wird auch ein spezieller Schutzhund eingesetzt. Leider passiert aber sonst nur wenig, außer dass Jannes von Trugbildern und mythischen Visionen geplagt wird, die bis zum Schluss andauern. Es wird dazu aber nur vage angedeutet, dass von den Nazis dort früher Fremdarbeiter eingesetzt wurden. Deutlich zu Vieles aber bleibt unerzählt und der eigenen Fantasie überlassen. Und es werden immer wieder weitschweifig die eintönigen Tage des Schäfers geschildert, dass man sich leider bald auch ziemlich langweilt mit diesem Roman!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.10.2024
Die Netanjahus
Cohen, Joshua

Die Netanjahus


ausgezeichnet

Persiflage über unausrottbare Aversionen

Der amerikanische Schriftsteller Joshua Cohen hat für seinen Campusroman «Die Netanjahus» mit dem Untertitel «oder vielmehr der Bericht über ein nebensächliches und letztendlich sogar unbedeutendes Ereignis in der Geschichte einer sehr berühmten Familie» den Pulitzerpreis für das Jahr 2022 erhalten. Erzählt wird eine groteske Geschichte, die literarisch auf der Höhe des vergleichbaren Romans «Pnin» von Wladimir Nabokov angesiedelt ist. Anders als im Pnin ist hier aber der Held ein realitätsverhafteter jüdischer Geschichtsprofessor, der intelligente Chaot aber ein israelischer Bewerber um eine Professur. Ernste Thematik hinter dem erzählerischen Witz in diesem Roman sind die antisemitischen Ressentiments in den USA, der jüdische Selbsthass und die Israelkritik. In einem langen, mit «Abspann & Gastauftritte» betitelten Nachwort erläutert der Autor die realen Hintergründe seiner auf einer wahren Begebenheit beruhenden Geschichte. Denn tatsächlich hat der Vater des heutigen, heftig umstrittenen israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu sich einst vergeblich an einer amerikanischen Uni beworben, - der Rest aber ist Fiktion!

Der Historiker Professor Ruben Blum ist der einzige Jude am Corbin College nördlich von New York, in einer öden, ländlichen Gegend. Er ist ein gutmütiger Mensch und lebt mit seiner Frau und der zum Studium angemeldeten, klugen und sehr selbstbewussten Tochter in der Diaspora. Er hat sich nicht geweigert, auf Wunsch seines Dekans, der das als ironischen Gag sieht, bei der jährlichen Feier ausgerechnet als Jude die Rolle des christlichen Weihnachtsmanns zu übernehmen. Und so kann er es im Winter 1959-1960 auch nicht ablehnen, einen jüdischen Bewerber bei seinem Besuch zu einer Probe-Vorlesung zu empfangen und zu betreuen. Zu seiner Überraschung steigt Netanjahu bei heftigem Schneefall nicht allein aus seinem klapprigen Auto, es sind gleich fünf Personen, mit ihm seine Frau und drei Söhne im Teenager-Alter.

Und damit ist die häusliche Idylle bei den Blums mit dem zum Empfang liebevoll angerichteten Büffet dahin. Die Netanjahus schleppen mit ihren Schuhen und Mänteln Schnee herein, der das Parkett ruiniert, fallen wie die Wilden über das Büffet her, lümmeln sich in den Postersesseln herum und glotzen staunend auf den neuen Fernseher, der einer der ersten ist mit Farbe. Die Uni hat nur ein Einzelzimmer reserviert, und als Netanjahus Frau mit dem ausgebuchten Hotel telefoniert, beschimpft sie die Frau von der Rezeption und verzichtet schließlich wütend auf das Einzelzimmer. Die Blums müssen sich auf das Schlimmste vorbereiten, den fünf Netanjahus nun auch noch Logis anzubieten. Als Blum und Netanjahu mit ihren Frauen spätabends von der Probe-Vorlesung und dem nachfolgenden Empfang zurückkommen, ist der neue Fernseher zertrümmert und das Zimmer total verwüstet. Auf der Treppe kommt ihnen der älteste Sohn nackt und mit erigiertem Penis entgegen, und die sonst so brave Tochter tritt ungeniert ebenfalls nackt aus ihrem Zimmer heraus, - das Chaos ist perfekt.

Der Roman lebt einerseits von seinem ironischen, satirischen Ton, der das Lesen zum reinen Vergnügen macht, auch wenn es zuweilen slapstickartig zugeht. Und dabei werden bewusst keine Klischees ausgespart, mit denen jüdisches Leben ja so reichlich gesegnet ist, sie werden vielmehr ins Groteske hinein gesteigert. Andererseits, und das macht diesen Campus-Roman auch zum intellektuellen Vergnügen, werden das Judentum, jüdische Diaspora und der Zionismus in erregten Disputen und kritischen Betrachtungen geistvoll hinterfragt. Stilistisch brillant und gekonnt Witz und Intellekt miteinander verknüpfend prallen die radikalen politischen Thesen Netanjahus auf die betont zurückhaltenden, eher versöhnlichen Positionen von Ruben Blum. Eine ironische, oft sogar zynische Persiflage über unausrottbare Aversionen biblischen Ausmaßes, die oft schon an der Frage scheitern, was genau einen Menschen denn zum Juden macht.

Bewertung vom 07.10.2024
Schecks Bestsellerbibel
Scheck, Denis

Schecks Bestsellerbibel


gut

Zwischen Jubel und Verriss

Mit dem Titel «Schecks Bestsellerbibel» suggeriert Denis Scheck, Deutschlands bekanntester Literatur-Kritiker, gleich auch noch den Begriff Papst als unfehlbare Autorität an der Spitze einer gläubigen Leserschar. Durch seine Aktivitäten in Rundfunk und Fernsehen ist er zweifellos der populärste Vertreter seiner Zunft in der Nachfolge des unvergessenen Marcel Reich-Ranicki. Der ist bekanntlich vor allem durch seine schriftlichen Rezensionen in den Feuilletons einem breiteren Publikum bekannt geworden, mit der Sendung «Das literarische Quartett» aber später eben auch durch das Fernsehen. Als Urgestein des literarischen Kritikers galt Reich-Ranicki bis zu seinem Tode als der deutsche Literatur-Papst. Beiden Kritikern ist gemein, dass sie ihre dezidiert subjektive Einschätzung der Qualität eines Buches äußerst vehement vortragen und andere Meinungen partout nicht gelten lassen wollen. Das führt dann oft zu unerbittlichen Kontroversen. Beide Herren haben zum Beispiel eine Dauerfehde mit Elke Heidenreich geführt. Deren gefühlsbetonte Bewertungen lehnt Scheck entschieden ab, für sie sei «Literatur ein Mittel gegen seelische Blessuren», also eine zweckgebundene Kunstgattung!

Die Sammlung von kurzen Beurteilungen der Bücher, die in den letzten zwanzig Jahren in die beiden Bestsellerlisten des Nachrichten-Magazins «Der Spiegel» aufgenommen wurden, bieten als Orientierungshilfe einen guten Überblick der meistverkauften Bücher, nicht der besten! ‹To sell› heißt verkaufen, und mit dem Untertitel «Schätze und Schund aus 20 Jahren» weist der Autor ja auch unmissverständlich darauf hin. Die meistverkaufte Tageszeitung in Deutschland ist «Bild», wäre anzumerken, ist sie deshalb die beste? Den Schund heraus zu filtern aus der Flut der jährlichen Neuerscheinungen ist dem unerschrockenen Kämpfer Denis Scheck offensichtlich das Hauptanliegen. Aber er warnt auch vor gesundheits-schädigenden Autoren: «Die amerikanische Neuro-Wissenschaftlerin Maryanne Wolf hat herausgefunden, dass unser Gehirn durch das, was wir lesen, unwiderruflich geprägt wird – und zwar sowohl physiologisch als auch intellektuell. Das aber heißt nichts anderes, als dass Sie ihr Hirn irreparabel schädigen, wenn Sie einen Roman etwa von Sebastian Fitzeck, Susanne Fröhlich oder Paolo Coelho lesen.» Deutlicher geht’s nicht!

Gleich zu Beginn dieser Bibel findet man «Die zehn Gebote des Lesens». Man solle skeptisch sein als Leser, mehr ausländische Bücher lesen als deutsche, mehr von Autoren des anderen Geschlechts und mehr aus vergangenen Zeiten. Denken Sie sich in die Epochen hinein, lassen Sie sich nicht leiten durch den tollen Umschlag, durch Genres oder Verlage, bleiben Sie bei der Wahrheit, ob Ihnen ein Buch gefallen hat oder nicht. Urteilen Sie öffentlich nur über Bücher, die Sie komplett gelesen haben, urteilen Sie über Bücher und nicht über die Menschen, und seien Sie sich dessen bewusst, wenn Sie eine Übersetzung lesen. Im Vorwort wie auch in den einundzwanzig Einführungen zu den einzelnen Bestseller-Jahreslisten äußert sich Denis Scheck ergänzend auch sehr anschaulich und lehrreich zu verschiedenen Themen rund ums Buch. Da finden sich beispielsweise Beiträge wie «Leben Lesende länger», «Wie verändern Bücher unser Leben», «Warum sind so viele Bücher Krimis», «Stiften Bücher Werte», «Sind Bücher Spiegel oder Fenster», «Kann man aus Büchern lieben lernen», «Kann man Gott in der Literatur finden», «Kann man mit Büchern reich werden», «Wie verliebe ich mich in ein Buch».

Man wird sich kaum in die «Bestsellerbibel» verlieben, schon allein deshalb, weil man vielleicht den einen oder andern Verriss findet von einem Buch, das einem selbst sehr gefallen hat. So ist das nun mal, unser Urteil ist subjektiv, und das von Denis Scheck erst recht, wie er zugibt. Die Hälfte der Bücher sind Sachbücher, in die erklärte Belletristik-Leser nur ganz selten mal hineinschauen. Bleibt die andere Hälfte, die mit Hilfe des 22seitigen Personen-Registers ein nützliches Nachschlagewerk bildet. Aber wie in der Kritiker-Szene üblich changieren auch hier die verbalen Urteile zwischen Jubel und Verriss, Zwischentöne sind leider eher selten.

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Bewertung vom 06.10.2024
Reichskanzlerplatz
Bossong, Nora

Reichskanzlerplatz


schlecht

Geschichte zweier Opportunisten

Eine schillernde Figur, Magda Goebbels, steht im Mittelpunkt des neuen Romans von Nora Bossong, Protagonist und Ich-Erzähler jedoch ist Hans Kesselbach, ein Homosexueller, mit dem sie in jungen Jahren kurzzeitig eine Affäre hat. Entlang der deutschen Geschichte von 1919 bis 1945 schreibt die Autorin über die «Vorzeigemutter» des Dritten Reichs, von der außer ihrem Abschiedsbrief an den ältesten Sohn aus erster Ehe nichts Schriftliches erhalten ist, Ganz im Gegensatz zu ihrem Mann, dem verbrecherischen Propaganda-Minister, der als einer der eifrigsten Tagebuch-Schreiber gilt, von seinen jedenfalls sind hunderte erhaltenen geblieben. Und ob sich hinter der Romanfigur des schwulen Liebhabers der Student Fritz Gerber verbirgt, das ist ebenfalls unsicher, reichlich Raum also für Fiktives in diesem Roman.

Eine Friedhofs-Inschrift, die dem Buch eine bedrohliche Grundstimmung unterlegt, ist als Motto vorangestellt: «Was Ihr seid - das waren wir; was wir sind - das werdet Ihr». Die junge Magda hat den aufstrebenden Industriellen Günther Quandt geheiratet, der mit Textilien für die Wehrmacht den Grundstein für sein industrielles Imperium gelegt hat. Helmut, der jüngste ihrer beiden Stiefsöhne, freundet sich mit seinem Klassenkameraden Hans an und lädt ihn über Jahre hinweg immer wieder in die pompöse Villa seines reichen Vaters ein. Seine junge Stiefmutter Magda, die er spöttisch nur Madame Quandt nennt, findet ebenfalls Gefallen an Hans. Als aber Hans sich seinem Freund eines Tages unsittlich zu nähern versucht, bricht Helmut den Kontakt für längere Zeit komplett ab. Später lebt ihre Freundschaft wieder auf, und Magda, die in ihrer Ehe sehr unglücklich ist, hat eine Liebesbeziehung mit Hans, der inzwischen studiert. Während sie Trost sucht, schützt ihn die Liaison vor Anfeindungen, denn Homosexualität ist nach §175 ein Straftatbestand zu jener Zeit.

Magda lässt sich scheiden und bezieht eine repräsentative Wohnung am titelgebenden «Reichkanzlerplatz», in deren Salon sich bald schon die Prominenz von Berlin zum geselligen Beisammensein trifft. Dort verkehrt auch der Österreicher, und als Hans eines Abends am Flügel sitzt und spielt, tritt jener näher und blickt ihm auf die Finger. «‹Schubert›, sage ich. ‹Es geht zu Herzen›, antwortet Hitler». Das war’s auch schon, dieser Name kommt im gesamten Roman nur dieses eine Mal vor, ein gekonnter literarischer Winkelzug der Autorin. Hans geht nach dem Jurastudium in den diplomatischen Dienst und arbeitet im Konsulat in Mailand, weit genug entfernt von den politischen Umtrieben und allem Militärischen, dem er nichts abgewinnen kann, obwohl ihn sein im Ersten Weltkrieg hochdekorierter Vater dafür vorgesehen hatte.

Könnte es sein, fragt man sich nach der Lektüre, dass entgegen der literarischen Absicht der Handlungsstrang mit Magda Goebbels in Umfang und Bedeutung hinter den mit Hans Kesselbach zurückfällt. Während Magda ziemlich farblos bleibt und entgegen ihres historischen Ranges im Roman keinerlei Anteil hat an den Verstrickungen des verbrecherischen Regimes, ist Hans in seiner diplomatischen Mission sehr vertraut damit, was die Nazis da gerade anrichten. Obwohl das damalige Geschehen äußerst komplex war, erscheint es im Buch leichtverständlich und leider auch leichtverdaulich. Man wird auch nicht durch das Wort KZ als Synonym für das Unfassbare belästigt, denn weder Magda noch Hans sind damit konfrontiert, was mit Juden und anderen Systemopfern tatsächlich passiert. Nicht nur die beiden Hauptfiguren bleiben blass, auch die Nebenfiguren sind ziemlich konturlos. Aber warum eigentlich muss Hans im Roman denn unbedingt schwul sein? Ist das etwa der Grund: ‹Wenn Hans ein richtiger, ein gestandener Mann gewesen wäre, der Magda hätte befriedigen können in ihren unerfüllten Sehnsüchten, dann wäre sie auch nicht Frau Goebbels geworden.› So einfach gestrickt ist diese Geschichte zweier Opportunisten!