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Morten
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Köln

Bewertungen

Insgesamt 82 Bewertungen
Bewertung vom 11.12.2023
Wilde Minze
LaCour, Nina

Wilde Minze


sehr gut

Dieser Roman ist wie Minze. Man kann ihn riechen, in fast jeder Sequenz. Im grünen, dichten Wald. Im edlen Restaurant und im Blumenladen. In staubigen Häusern, die gerade renoviert werden. Fast schade, dass es kein richtiges Duftbuch ist. Dafür ein starker Roman zwischen Coming-of-Age und Gegenwartsliteratur für late 20s und early 30s. Oder alle, die diese Art von Literatur mögen. Mit einem kleinen Wermutstropfen.

„Wilde Minze“ begleitet zwei Frauen auf ihrem Weg. Sara flüchtet aus ihrer White Trash-Heimat, nachdem ihre Freundin tot aus dem Fluss gezogen wird. Sie trampt mit einem Jungen nach Los Angeles und versucht Fuß zu fassen. Emilie wechselt ihre Studienfächer immer kurz vor dem Abschluss und jobbt als Blumenbinderin in einem der angesagtesten Restaurants der Gegend, dem Yerba Buena – dem spanischen Namen der titelgebenden wilden Minze. Sie begegnen sich kurz, verlieren sich dann aber aus den Augen. Emilies Romanze mit dem verheirateten Restaurantchef spielt hier eine Rolle. Aber auch, dass Sara plötzlich ihren Bruder aufnehmen muss – und dann zu einem Trip in ihre Heimatstadt gezwungen wird.

Nina Lacour schreibt wunderschön, ihr gelingt, wie schon in „Alles okay“ eine wundervolle Atmosphäre aufzubauen. Ihre Figuren werden liebevoll gezeichnet, die Stimmung der Familien perfekt dargestellt. Und auch in die Settings – Saras Elternhaus, Emilies kleine Wohnung, das Yerba Buena – kann sich mit Leichtigkeit eingefühlt werden. Der Roman liest sich extrem leicht, ein echter Pageturner. Aber – es gibt ein kleines Aber. Im NDR Bücher-Podcast Eat Read Sleep poppt manchmal ein kleiner Kommentar auf, der mich bislang immer kalt gelassen hat, hier aber latent auf meiner Schulter saß und mir ins Ohr flüsterte: „Glaubst du das?“

Und komischerweise gibt es vieles, das total realistisch ist, das extrem nachvollziehbar und echt ist. Bloß Emilies sehr schnelle Berufung in der zweiten Buchhälfte, ihr beruflicher Erfolg, der doch ein eher zentrales Element gegen Ende ist – der ist, obwohl er schlüssig hergeleitet wird, etwas too much. Das hat mich mehr gestört als es sollte, dass so auf ein hübsches Ende zugesteuert wird. Natürlich Jammern auf hohem Niveau und bloß der Grund, warum es am Ende nicht für ein 5-Sterne-Buch reicht, sondern nur für ein sehr gutes mit 4 Sternen. Ein schönes Buch zum Jahresabschluss – oder für den literarischen Start ins neue Jahr.

Bewertung vom 15.11.2023
Flitz und Fluse - Gespenster-Training leicht gemacht
Moser, Annette

Flitz und Fluse - Gespenster-Training leicht gemacht


sehr gut

Eigentlich geht’s Familie Grausewitz blendend. Sie sind in neues altes Haus gezogen, das herrlich vermodert ist, ein kleines Geschwistergespenst ist im Anmarsch – aber leider auch Tante Twister aus dem fernen England. Sie möchte prüfen, ob die Kinder Flitz und Fluse echte Mac oh Schrecks sind – oder doch nach dem Vater kommen, in den Augen der Tante ein Waschlappen. Doch die Grausewitze bereiten sich gut auf den Besuch der alten Dame vor.

„Flitz und Fluse – Gespenster-Training leicht gemacht“ zielt auf eine ganz alltägliche Gruselgeschichte ab: Besuche der lieben Verwandtschaft. Für viele ein größerer Horror als Spinnen, Werwölfe oder eben Geister. Und da passt es ganz gut im Bild, dass der angekündigte Tantenbesuch Schweißperlen auf den Laken erkennen lässt, besonders beim Vater der Gespensterfamilie, der tatsächlich – wie alle vier Grausewitz-Geister – ein friedliebender und freundlicher Geist ist. Doch zusammen mit Onkel Polter bekommen Flitz und Fluse alle Tricks beigebracht, um Tante Twister einen gehörigen Schrecken einzujagen – und am Ende hilft ihnen der Mut, den nur Kinder haben und der auch anderen – echten – Kindern Mut macht.

Das kleine Gruselbuch von Annette Moser ist eine schöne Vorlesegeschichte für Kinder ab 4 Jahren mit tollen Illustrationen von Alex Peter. Einige Ideen sind besonders witzig, darunter Onkel Polters Wohnort – eine Hüpfburg. Und auch die Erkenntnis, wovor sich Gespenster (neben Besuchen der Verwandtschaft) so richtig gruseln, ist sehr charmant.

Negativ fällt dagegen das Bodyshaming in Bezug auf Onkel Polter und Papa Grausewitz auf – Dinge, die schon bei Gespenstern nicht ins Gewicht fallen, sollten Kindern nicht als Floh ins Ohr gesetzt werden. Das ist bedauerlich und macht den Lesespaß etwas kaputt, da es nicht nur an einer Stelle des Buchs vorkommt.

Alles in allem dennoch ein vergnügliches, manchmal etwas zu klamaukiges Vorlesebuch für die dunkle Jahreszeit, in der alles ein wenig gespenstischer wirkt und spätestens zu Weihnachten Besuche von Onkels und Tanten drohen.

Bewertung vom 10.10.2023
Das große Weihnachtsfest im Zoo
Schoenwald, Sophie

Das große Weihnachtsfest im Zoo


ausgezeichnet

Die Bedeutung von Weihnachten verschiebt sich. Was nicht unbedingt schlecht sein muss. Weniger Kirche, mehr Gemütlichkeit zuhause, im besten Fall viel Zusammensein und ja, natürlich, Geschenke.

So auch im Tierpark von Zoodirektor Alfred Ungestüm. Heiligabend steht vor der Tür und es wird gewichtelt. Jedes Tier soll einem anderen eine kleine Freude machen und trennt sich von einem eigenen Lieblingsstück – das aber dann leider gar nicht so richtig zum anderen zu passen scheint. Aber dann …

Spoilern soll man ja nicht in kleinen Buchbesprechungen, aber so viel sei gesagt: Das Ende ist vielleicht für ein Kinderbuch nicht wahnsinnig überraschend, aber es ist herzerwärmend schön und genau das passt ja zu Weihnachten. Am besten trifft es da das Zitat „Geben ist schön. Doch miteinander teilen ist noch schöner.“

„Das große Weihnachtsfest im Zoo“ fügt sich perfekt in Sophie Schönwalds Reihe um Ignaz Pfefferminz Igel (nicht zu verwechseln mit Ignatz Igel von Dirk Hennig ein. Es tauchen neue Tiere auf, aber auch bereits aus den vorangegangenen Bänden bekannte Zoobewohner auf. Die Illustrationen von Günther Jakobs, ja eh einer der besten Kinderbuchzeichner, sind wunderschön gestaltet. Und auch der Satz des Buchs macht Spaß, wenn Seiten gedreht werden müssen und es zum Ende ganz viel zu entdecken gibt.

Ein schönes, leises Weihnachtsbuch, das perfekt in die gemütliche Adventszeit passt, das den Fokus von "Geschenke bekommen" auf "Schenken und Teilen" verschiebt und vor allem Lust macht, weitere, vielleicht noch nicht bekannte Abenteuer im Zoo zu entdecken.

Bewertung vom 01.09.2023
Cleopatra und Frankenstein
Mellors, Coco

Cleopatra und Frankenstein


sehr gut

Eigentlich muss eine Rezension von „Cleopatra und Frankenstein“ mit Trigger-Warnungen starten. Vielen Trigger-Warnungen: Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch, Depression, Suizid, Machtmissbrauch, toxischer Beziehung, toxischen Freundschaften, Demenz, Tod und vermutlich noch ein paar. Wer damit klar kommt, dürfte an Coco Mellors Debütroman Spaß haben. Oder sagen wir lieber: „Spaß“.

Cleo trifft Frank in einer Silvesternacht. Ein halbes Jahr später heiraten sie. Nicht für ihr Visum, wie Freunde lästern, aus Liebe, auch wenn sie ein ungleiches Paar mit zwanzig Jahren Altersabstand sind. Sie Künstlerin, er Agenturchef. Im New Yorker Freundeskreis gibt es Überschneidungen, im Rauschmittelkonsum auch, aber schnell nutzt sich die rosarote Brille ab. Sie rutscht zurück in ihre Depression, er in den Alkoholismus, ein Drama reiht sich ans nächste, bis es zu einer Katastrophe kommt.

„Cleopatra und Frankenstein“ ist so eine Art Anti-Friends oder -How I met your Mother. Die Figuren tun sich alle nicht gut, sind egoistisch, egozentrisch, unsympathisch, süchtig und selbstzerstörerisch. Fast ohne Ausnahme. Dennoch entwickelt die Geschichte ihren ganz eigenen Reiz, die das Buch zu einem – wie es auf dem Klappentext steht – echten Pageturner machen. Coco Mellors stellt in rasanter Geschwindigkeit die Figuren vor, ihre kleinen und großen persönlichen Dramen, führt plötzlich noch einmal, nach mehr als der Hälfte des Buchs, noch einmal eine neue, nicht ganz unwichtige Figur in einem komplett neuen Schreibstil ein, lässt eine andere, relevant eingeführte so fallen, wie die Figur eine der beiden Hauptpersonen. Das ist eigen, eigenartig vielleicht auch, aber auch ein gewisses Vergnügen.

Der Roman wird in einem Atemzug mit Sally Rooney genannt, ist dabei aber deutlich schneller, amerikanischer, lauter. Kann man mögen, kann man doof finden, muss jeder für sich selbst entscheiden. Auf fast jeder Seite werden Alkohol und/oder Drogen konsumiert, wer damit nicht klar kommt, wird an diesem Buch kein Lesevergnügen finden. Das ist alles sehr belastend, fast fragwürdig, findet im Ende des Buchs aber einen passenden Abschluss.

Eines lässt sich auch ohne Spoiler verraten, ja, eh ahnen: Dieser Roman, diese Figuren werden kein happy end finden können. Aber ein happiest possible ending. Der Weg dahin ist aufregend, nervenaufreibend, anstrengend. Aber auch unterhaltsam und stark geschrieben. Und das macht „Cleopatra und Frankenstein“ zu einem der interessanteren Bücher 2023.

Bewertung vom 25.08.2023
Tage im warmen Licht
Pfister, Kristina

Tage im warmen Licht


ausgezeichnet

Irgendwie ja passend, dass Kristina Pfister nach „Ein unendlich kurzer Sommer“ mit ihrem zweiten Roman „Tage im warmen Licht“ direkt in den Herbst übergeht. Und dieser Herbst ist eine wundervolle Mischung aus Mariana Leky und Gilmore Girls, leicht und tragisch zugleich, ein perfektes Abbild dieser Jahreszeit zwischen bunten Blättern und Nebeltagen, Taylor Swift-Platten und Pumpkin Spice Latte.

Maria hat das Haus ihrer Oma geerbt. Auf dem Land, wo sie groß geworden ist und wo sie auf gar keinen Fall je wieder hin zurückwollte. Sie hat keinen Job mehr, aus ihrer Wohnung wird sie auf Eigenbedarf rausgeklagt und ihr Ex kümmert sich lieber um seine Familie als um die gemeinsame Tochter Linnea. Also: Raus aufs Land. Übergangsweise.

Pfisters Herbstroman lebt von seinen großartigen Figuren. Maria, die mit der Rückkehr hadert aufgrund einer furchtbaren Situation in ihrer Vergangenheit, die erst nur angedeutet wird, dann aber Stück für Stück klarer wird. Ihre Tochter Linnea, die im Dorf aufblüht, neue Freundschaften knüpft. Martha, die Nachbarin der Oma, schon immer eine Art Mittelpunkt für Maria und ihre Freunde und nun auch für Linni. Henning, der alte Jugendfreund. Britta, die Schulsekretärin. Nele, die mit blauem Auge Unterschlupf sucht. Bootsmann, Omas alter Hund, der aufblüht, kaum dass er zurück in seiner Heimat ist. Alle sind charmant gezeichnet, fast alle haben ihr Päckchen zu tragen. Alle sind da für Maria und Linnea, wenn sie es brauchen. Und das tun sie.

Eine andere Ebene, die den Roman für mich so schön macht, sind die vielen popkulturellen Referenzen, das ähnliche Alter der erwachsenen Hauptfigur(en) und ihre dadurch ebenso ähnlichen Jugenderinnerungen, von Filmen wie The Craft bis zu Musik von Tori Amos. Da sind zufällige Hübschheiten wie gleiche Namen im privaten Umfeld, gleiche Erlebnisse. Da sind aber auch einfach diese netten Verhuschtheiten, die in den Figuren und ihren Handlungen auftauchen, die das Buch für mich so wholesome machen. Ein echter Kürbiskuchengewürzroman, wie gemacht für den Spätsommer und Frühherbst. Bevor dann Kristina Pfisters Winterroman erscheint. Nächstes Jahr dann, okay?

Bewertung vom 25.08.2023
Mord auf der Insel Gokumon / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.2
Yokomizo, Seishi

Mord auf der Insel Gokumon / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.2


sehr gut

Privatermittler Kosuke Kindaichi ist verzweifelt. Ein Freund hatte ihn auf seinem Sterbebett gebeten, auf seine Heimatinsel zu reisen und seine drei Schwestern zu schützen. Doch nach und nach werden sie getötet. Und alle drei Morde erinnern an Haikus, die Kindaichi auf einer Trendwand in seinem Gästezimmer findet. Was hat Japans berühmtester Detektiv nur übersehen?

Die Wiederentdeckung von Seishi Yokomizos Reihe über Kosuke Kindaichi ist weiterhin ein Glücksfall für Freund:innen klassischer Krimis. Ursprünglich ab den späten 1940er-Jahren erschienen, gelten die Krimis als japanische Antwort auf Agatha Christie oder Sherlock Holmes, und wirken dennoch nur bedingt aus der Zeit gefallen. Die Nachkriegszeit ist in „Mord auf der Insel Gokumon“ greifbar, natürlich gibt es keine modernen Kommunikationsmittel, aber das eigenbrötlerische Inselleben auf Gokumon ist gar nicht mal so weit weg von all den eher modernen Insel-Krimis.

Hier und da blitzt etwas Humor auf, Yokomizo hat ein Händchen für skurrile wie liebenswerte Charaktere, immer wieder, wenn auch weniger als noch im ersten Band „Die rätselhaften Honjin-Morde“ wird auch die dritte Wand durchbrochen und der Leser direkt angesprochen. Die Leser:innen erfahren etwas über die Geschichte Japans, über die der fiktiven Insel in Japans Inlandsee und das Fischereigeschäft in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Fall selbst scheint mysteriös: Drei Schwestern werden nach und nach ermordet und hängend in einem Baum, sitzend unter einer Glocke und scheinbar spielend in einem Gebetsraum gefunden. Sympathieträgerinnen waren sie nicht, aber die Erben der größten Fischerei-Dynastie der Insel, nachdem der ursprüngliche Erbe verrückt geworden und sein Sohn auf der Rückreise aus dem Krieg verstorben ist. Hat die Seitenlinie, das zweitgrößte Fischunternehmen auf Gokumon, seine Finger im Spiel? Und was hat es mit den Haikus auf sich, die geschrieben sind, gemurmelt werden.

Die zweite Neuübersetzung der Kosuke Kindaichi-Reihe ist wieder ein behutsamer und ruhig geschriebener Krimi. Die Gänsehaut entwickelt sich eher subtil, er überrascht nicht nur blutrünstige Thriller-Überraschungen, aber vielleicht doch durch die Auflösung des Falls. Auf den ersten Band wird zwar immer wieder zurückgeblickt, aber dennoch funktioniert „Mord auf der Insel Gokumon“ auch für sich, da es lediglich um die genannten Personen geht. Und es bleibt zu hoffen, dass auch die weiteren Bände, die bereits in englischen Neuübersetzungen vorliegen, ihren Weg ins Blumenbar-Portfolio finden, denn wenn man erst einmal Fan der Reihe ist, gilt das gleiche wie für die Kito-Schwestern: Es gibt kein Entrinnen.

Bewertung vom 15.08.2023
Nachts erzähle ich dir alles
Landsteiner, Anika

Nachts erzähle ich dir alles


sehr gut

Irgendwann so in der Mitte des Buchs, da hat mich Anika Landsteiner verloren. Nicht, dass ich der Geschichte nicht mehr folgen konnte, sie wurde bloß uninteressanter. Aber: So richtig schlimm war das nicht. Denn „Nachts erzähle ich dir alles“ ist trotzdem eines der Lesevergnügen des Sommers mit wichtigen Themen und starken Frauenfiguren.

Lea flieht in das Ferienhaus ihrer Familie in Südfrankreich. Die Trennung von ihrer Freundin hat zu Dschungeltapeten in ihrem französischen Café geführt und das war dann doch der Tropfen zu viel. Im „Haus der Männer“ angekommen, trifft sie auf die junge Alice. Sie unterhalten und verabschieden sich und am nächsten Tag ist Alice tot.

Klingt wie ein Krimi-Plot, ist aber dann eine doch oft einfühlsame Geschichte über Schwangerschaften, Abtreibung und die verzweifelte Frage, ob eine Enttabuisierung des Themas nicht dazu führen könnte, dass Frauen mit der Frage nach einem Abbruch nicht allein sind, nicht abgestempelt werden und nicht zu verzweifelten Mitteln greifen.

Diese Teile von „Nachts erzähle ich dir alles“ sind extrem klug und intensiv geschrieben, genau wie in großen Teilen die von Claire, einer alten Freundin von Leas Mutter Marianne, die sich um das „Haus der Männer“ kümmert und über deren Hintergrund wir in Rückblenden und abendlichen Gesprächen immer mehr erfahren.

Weniger interessant, vielleicht auch relevant, war für mich die Geschichte von Lea und Alices Bruder Emile. Lea war die letzte Person, die Alice lebend gesehen hat, und Emile möchte mehr erfahren, sucht immer wieder das Gespräch, nimmt sie mit zu Alices bester Freundin, ihrem Partner, ihren gemeinsamen Eltern. Dass sich hier eine Liebesgeschichte anbahnt, ja vielleicht sogar anbahnen muss, macht den Roman länger, aber nicht besser, auch wenn es Lea in ihrem Heilungsprozess unterstützt. Ein kleiner Wermutstropfen nach einer starken ersten Buchhälfte.

„Nachts erzähle ich dir alles“ ist ein Sommerbuch mit toll geschriebenen Figuren, mit ernsten Themen, tragischen Momenten, einer etwas belanglosen Liebesgeschichte, aber auch mit viel Frankreich-Liebe. Eigentlich möchte man beim Lesen die ganze Zeit ein französisches Picknick machen, Wein trinken und in der Sonne sitzen – und allein für dieses Gefühl verdient Anika Landsteiners Roman 4 von 5 Sternen.

Bewertung vom 17.07.2023
Sylter Welle
Leßmann, Max Richard

Sylter Welle


gut

Max fährt nach Sylt. Ein paar Tage mit den Großeltern möchte er dort verbringen, so wie früher jeden Sommer. Bloß jetzt im Urlaubsbunker statt im Wohnwagen. Und auch sonst fällt ihm auf, wie sich seine Großeltern verändert haben – und wie wenig Zeit ihnen gemeinsam bleibt.

Eigentlich eine gute Story. Enkel-Großeltern-Beziehung, ein Urlaub auf Deutschlands teuerster Insel trotz Ommas Sparfuchsigkeit, Krankheiten – eine spannende Mischung für eine Geschichte. Bloß: All das nimmt vielleicht 30 der gut 220 Seiten ein. Der Rest: Rückblicke, Anekdoten, Zoten und Klischees. Immer, wenn Leßmann „droht“, tatsächlich in die Gegenwart, in die richtige Storyline einzuschwenken, macht er ein einen Schlenker wie ein Hase auf der Flucht, als wolle er die Wahrheit, das Ist verdrängen.

Wirklich kritisieren möchte ich das Erzählte nicht, zu unklar ist, ob es nun Biografie oder Autofiktion ist – der Kindstod der Tante und der Krebstod des Onkels, Opas Flucht im Krieg und der Konfessionskonflikt der Großeltern-Familien, die Streitigkeiten zwischen Omma und Mutter, die eigenen Depressionen. Bloß: Es ist zum einen zu viel, zum anderen ist die Geschichte auf Sylt, das Noch-mal-Zusammensein viel zu wenig, obwohl allein das wohl hunderte von Seiten füllen könnte.

Und das ist wirklich schade, denn wenn Omma sich bei ihrem Enkel einhakt und das Tempo bestimmt, ist das berührend und witzig. Und wenn Max seinen Oppa mit eingenässter Hose auf einer Inseltoilette findet und ihm seinen rosa Jogginganzug überlässt, ist auch das gleichzeitig herzzerreißend und amüsant, spätestens durch Ommas Nicht-Reaktion. Diese kleinen Szenen zeigen alle, was möglich gewesen wäre – für diese Geschichte, aber auch für Max Richard Leßmann als Autor.

So bleibt „Sylter Welle“ am Ende ein Roman, der sich schnell lesen lässt, aber nicht so viel Freude und Melancholie bereitet, wie er könnte, streckenweise auch mal nervt, wenn der Autor wieder einmal abdriftet, und doch irgendwie gut ist, aber halt auch nicht mehr. Er ist ein bisschen zu wenig und ein bisschen zu viel. Oder um es mit zwei Worten zu sagen, die ich beim lesen häufiger dachte: Ach Max!

Bewertung vom 17.07.2023
Mein Leben als einsamer Axolotl
Bondestam, Linda

Mein Leben als einsamer Axolotl


sehr gut

Die Welt ist im Wandel. Nicht nur für uns Menschen. Die ganze Erde und alle Lebewesen sind betroffen. Auch ein kleiner Axolotl, der den Klimawandel und Naturkatastrophen aus seiner naiv-tierischen Sicht erlebt. Und zeigt, dass es vielleicht Hoffnung für den Planeten gibt, wenn der Mensch nicht mehr da ist.

Linda Bondestam zeichnet in „Mein Leben als einsamer Axolotl – Unten am Grund“ eine wundervolle Geschichte. Von einem kleinen Axolotl, der zunächst einsam ist, dann aber Freunde findet. Der es kurios findet, was alles in seinem See landet, während die Vierjährige beim Vorlesen aus dem Off schon mahnend brüllt, dass dies Umweltverschmutzung sei. Und so nimmt das Unheil seinen Lauf. Der See wird dreckiger, die Freunde verlassen den Axolotl, die Welt steht in Flammen, die Flut kommt – und dann sind die Menschen, die Plumpiane wie es in der Geschichte heißt, auf einmal verschwunden und etwas wunderbares geschieht.

Das Kinderbuch lebt von Bondestams großartigen Illustrationen, in denen Erwachsene und Kinder viel Bekanntes entdecken können, von IKEA über Star Wars bis zur Tomatendose von MUTTI. Und von seiner grandiosen Hauptfigur, dem neugierigen, naiven, meist unerschütterlichen und unfassbar niedlichen Axolotl. Es lebt aber auch von der Message: Es ist 5 vor 12, der Mensch zerstört die Umwelt und letztlich sich selbst.

Was dem Buch vielleicht ein wenig fehlt, ist ein kleines Glossar, das Eltern noch besser hilft, die Umstände zu erklären, auf Rückfragen noch besser vorbereitet zu antworten. Andererseits ist es auch schön, dass eigentlich alles zwischen den Zeilen und in den Bildern passiert und es auch nicht platt auf die 12 geschrieben ist wie andere Klima-Kinderbücher (hallo Herr Rossmann). Ein bisschen kurios: Dieses Buch, das Umweltverschmutzung und Vermüllung zum Thema hat, wurde in Plastikfolie eingeschweißt geliefert. Vielleicht ja eine Ausnahme.

„Mein Leben als einsamer Axolotl – Unten am Grund“ ist ein sehr schönes Kinderbuch für Familien, denen etwas an der Umwelt liegt und die den Klimawandel mit Sorge beobachten. Für Kinder, die gerne tiefsinnigere Geschichten im Stil von Britta Teckentrup vorgelesen bekommen, in denen viel erzählt wird, ohne es zu benennen. Und für alle, die Axolotl lieben. Denn dieses hier ist sehr liebenswert.

Bewertung vom 07.07.2023
Nincshof
Sebauer, Johanna

Nincshof


sehr gut

„Erna Rohdiebl rülpste leise und freute sich ein wenig.“

Ein kleiner Satz und doch der, dank dem ich mich endgültig in Erna verliebte. Erna Rohdiebl, fast 80 Jahre, war kurz zuvor heimlich und nachts in den Pool der verreisten Nachbarn eingestiegen, hatte ein paar Bahnen gezogen, sich zuhause aus dem Badeanzug geschält und ein Bier geöffnet. Das gute Leben, auch nach einigen Jahrzehnten im äußersten Zipfel Österreichs, dem Schauplatz dieses wundervollen Romans: Nincshof.

Johanna Sebauers Debüt ist eine Hommage ans Burgenland, eine liebevolle Verbeugung vor den teils skurrilen und teils noch skurrileren Einwohnern dieser Gegend zwischen Neusiedler See und ungarischer Grenze. Aber auch ein sehr charmanter Roman über das Vergessen und das Vergessen werden. Denn die drei Nincsdorfer Oblivisten – der örtliche Bürgermeister, ein sehr junger und ein sehr alter Mann – möchten, dass ihr Ort vergessen wird. Wieder einmal. Und die Erna, die soll gefälligst mitmachen.

Viele schöne Halbwahrheiten schimmern auf den gut 360 Seiten. Das Dorf selbst, das gibt es nicht. Google Treffer gibt’s zumindest keine, nur die zum Buch, aber Moment mal, darin findet selbst das Navi Nincsdorf nicht, der Wikipedia-Eintrag verschwindet, genauso die Seiten in den Burgenland-Chroniken der Bibliothek. Die Nachbarorte und der Einserkanal dagegen, die sind echt. Und die Irrziegen? Die Pusztafeige? Alles irgendwie nebulös.

Verwirrt sind dann auch die Neuen, die Isa Bachgasser, Filmemacherin a. D. aus Wien, und ihr Mann Silvano Mezzaroni, Architekt a. D. und neuer (Irr-)Ziegenwirt im Dorf. Raus aus der Stadt wollten sie, ein neues Leben auf dem Land beginnen, zum Schrecken der Oblivisten, besonders, als Silvano auf Rat des örtlichen Winzers Tierwanderungen anbieten möchte, schließlich seien Irrziegen die Alpakas von morgen. Aber es gibt schon Pläne sie zu zermürben – inklusive abgesägter Schilder und einer geplanten Entführung.

Und dann ist Nincshof auch noch eine Art matriarchalische Hochburg: Männer nehmen seit jeher den Namen der Frauen an, statt eines Bürgermeisters war viele Jahrzehnte, Jahrhunderte, die jeweilige Wirtin die wichtigste Person im Ort und bei Krisen, da half und hilft nicht der Pusztafeigenschnaps sondern: Masturbation. Genau.

Dieser Roman macht sehr viel Freude, er ist mal absurd, mal ernst, er steckt voller wunderlicher und liebenswerter Personen, um sich ändernde Leben und Welten, um Existenzkrisen (kleine wie große), nur am Ende, da geht der Geschichte, die ja irgendwie abschließen muss, ein klein wenig die Luft aus. Keine Sorge, das Ende ist nicht schlecht oder enttäuschend, bloß vielleicht – wenig überraschend. Und dennoch: ein tolles Buch für den Sommer und darüber hinaus. Unbedingt lesen und, ganz wichtig, nicht vergessen. Wobei, auch da gilt als Zitat ein weiser Satz des jungen Oblivisten Valentin: Wer ist eigentlich schuld – der, der vergessen wird oder der, der vergisst?