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nessabo

Bewertungen

Insgesamt 85 Bewertungen
Bewertung vom 13.10.2024
Das Wohlbefinden
Lenze, Ulla

Das Wohlbefinden


gut

Langatmige Handlung, die Erzählstränge nicht auserzählt und charakterlich oberflächlich bleibt

Leider konnte mich der Roman trotz seines sehr interessanten Settings und einem Aufbau über mehrere Zeitebenen, was ich prinzipiell sehr gern mag, nicht überzeugen. Das hat für mich sprachliche, handlungstechnische und charakterliche Gründe.

Sprachlich fand ich das Buch eher anspruchsvoll. Die Autorin wechselt den Sprachstil passend zur Zeitebene, sodass mensch in den Kapiteln um 1907-1909 mit einer altertümlichen, steifen Sprache konfrontiert ist. Literarisch halte ich das für sehr geschickt, dadurch aber auch wenig zugänglich. Wer eine anspruchsvolle, atmosphärische Sprache mag, wird hier mehr Freude haben als ich.

Die Heilstätten Beelitz waren mir vor der Lektüre völlig unbekannt und damit ein spannendes Setting. Und obwohl die Handlung zu Beginn auch vor allem dort spielt und ein paar Informationen zur Modernität und zum Behandlungsansatz des Ortes vermittelt werden, verliert sich der Roman im Weiteren zu sehr. Die Heilstätten spielen am Ende eine eher untergeordnete Rolle, was meine Erwartungen enttäuscht hat.

Und auch sonst werden mir viel zu viele Handlungsstränge eröffnet und große Schlüsselmomente angedeutet, denen der Roman am Ende nicht gerecht wird. Phasenweise wird ausschweifend und für mich langatmig erzählt, um eine Spannung zu erzeugen. Das hat manchmal sogar auch funktioniert und ich habe angespannt weitergelesen. Viel zu oft verlor sich die Handlung dann aber einfach und meine Spannung verpuffte. Das Okkultistische war für mich rückblickend viel mehr eine extrem ausgeprägte Religiosität, Anna stellte zunehmend eine Art gottgesandte Heilsbringerin dar, was der vorherigen Charakterzeichnung widersprach. Die vielen gottbezogenen Aussagen waren mir auch schlicht zu viel. Ich kann zwar auch mit Okkultismus nichts anfangen, würde dazu aber unter kritischen Gesichtspunkten trotzdem etwas lesen. Doch auch dieses erwartete Hauptthema verlor sich zunehmend im Buch.

Schließlich habe ich bis zum Schluss keine Beziehung zu den Figuren aufbauen können. Anna und Johanna sowie die Beziehung zwischen den beiden bleiben mir ein Rätsel. Besonders am Ende werden die Charaktere noch einmal ordentlich durcheinandergeworfen, sodass ich gar nicht mehr wusste, wer jetzt eigentlich wie wirklich war. Vanessa hatte als Urenkelin Johannas viel Potenzial, bleibt aber enorm oberflächlich und scheint einzig den Zweck zu erfüllen, Informationen aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu bringen. Da hätte es sicher elegantere Wege gegeben. Auch weitere Nebenfiguren bekommen kurzzeitig viel Raum, um dann im Nichts zu verschwinden.

Ich kann abschließend keine Leseempfehlung aussprechen. Der Roman ist literarisch herausfordernd, für manche Menschen vielleicht auch deshalb sehr ansprechend. Er kommt mit etlichen historischen, literarischen und philosophischen Referenzen daher, die ich oft nicht zuordnen konnte und deshalb zusätzlich wenig Freude hatte. Mit mehr Vorwissen in diesen Bereichen macht das Lesen vielleicht auch noch einmal mehr Spaß. Meine Kritik der vielen offenen Fragen und nicht greifbaren Figuren bleibt dann aber trotzdem noch stehen.

2,5 ⭐️

Bewertung vom 11.10.2024
Die Ungelebten
Rosales, Caroline

Die Ungelebten


gut

Hartes Buch mit verwirrendem, unbefriedigendem Ende

Das neue Buch von Caroline Rosales lässt mich für meine Rezension ebenso vor einer Herausforderung stehen wie der Vorgänger. Obwohl ich den Lesefluss wieder sehr gut fand, waren die Figuren auch hier vor allem unausstehlich und boten nicht viel Identifikationspotenzial für mich. Das finde ich nicht zwangsläufig negativ, nur herausfordernd. Den Ausflug in die Schlagerwelt fand ich sehr interessant ebenso wie den #MeToo-Aufhänger, der mich enorm wütend gemacht hat. Dass der Aufhänger dann später gar nicht mehr so wirklich eine Rolle gespielt hat, fand ich ziemlich schade.

Jennifer ist als Tochter der Schlagergröße Bernd Boyard und als Geschäftsführerin seines Musiklabels in einem interessanten Spannungsfeld, das mich durchaus gereizt hat. Ergänzt um den Aspekt, dass er nach der Trennung ihrer Eltern ihr einziger Bezugspunkt war, schlägt sie sich zunächst auf seine Seite, als er mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontiert wird. Ihr Wanken, ihre Erinnerungen und ihr Infrage-Stellen fand ich extrem aufreibend, aber nachvollziehbar. Bernd und auch Jennifers Mann Max sind neben fast allen anderen Figuren richtige Ekel (und das ist noch moderat ausgedrückt). Ich habe sie leidenschaftlich gehasst, was nicht unbedingt etwas Schlechtes sein muss.

Für mich fehlte es aber an weiteren ambivalenten Figuren. Andere Frauen finden in dem Buch kaum statt und wenn doch, bleiben sie meiner Meinung nach eher flach. Auch eine weitere präsente Männerfigur, die sich nicht wie ein manipulatives A****loch aufführt, hätte dem Buch gut getan. Oder solidarische Frauen. Die gibt es zwar, aber sie bleiben so sehr am Rand, dass ich sie kaum wahrgenommen habe. Auch gestört hat mich, dass zwischendrin die Erzählperspektive auf eine für mich sehr unklare Weise plötzlich wechselt.

Mir geht es nicht darum, dass es hier ein Happy End mit Befreiungsschlag hätte geben müssen. Ich bin fein mit Büchern, die einfach bedrückend sind, weil die Realität nun einmal ein strukturell misogynes System ist, dessen Wirkweisen wir alle internalisiert haben. Das führt natürlich auch regelmäßig zu Täterschutz und dies literarisch abzubilden, finde ich völlig okay. Die Wut darüber kann uns ja auch antreiben. Doch besonders im letzten Drittel wurde es mir einfach zu abgedreht. Was mit Jennifer komplett unwidersprochen gemacht wird, halte ich für nicht realistisch und deshalb hat mich der Roman dann leider sehr verloren. Ich hatte den Eindruck, dass hier noch schnell so viele sexistische Ungerechtigkeitsaspekte wie möglich abgehandelt werden sollten, wodurch es mir leider zu repetitiv und oberflächlich blieb.

Wie ich es bei einigen anderen verstanden habe, sollte abgebildet werden, dass viele Frauen eben in ihren schrecklichen Verhältnissen verharren, oft für ihre Kinder. Und das kann ich nachvollziehen, finde aber nicht, dass das Buch diese Realität gut transportieren konnte. Denn in Jennifers Fall kommen da noch so viele recht spezifische Lebensumstände dazu, hinter denen die grundlegende Aussage, die ja sicher ein enorm hohes Identifikationspotenzial bietet, meines Erachtens verschwindet. Und das ist deshalb so schade, weil ich mich dann auch nicht durch meine empfundene Wut angetrieben fühle, etwas zu verändern, da ich viel zu verwirrt zurückbleibe.

Ich vergebe trotz meiner Frustration ob des letzten Drittels 3 Sterne, weil die grundlegenden Themen rund um strukturelle Misogynie, rape culture und die fehlende Gleichberechtigung vor allem bei Müttern wichtig sind. Außerdem schaffte es Caroline Rosales über weite Strecken, mich trotz oder wegen der absolut schrecklichen Charaktere zu fesseln. Ich finde es ziemlich schwer zu sagen, für wen ich das Buch empfehlen würde. Definitiv ist es gesellschaftskritisch, wenn ich auch den Umgang mit sehr wohlhabenden Menschen viel zu unkritisch fand. Und auf jeden Fall ist es auch ernüchternd, dystopisch und macht wütend. Vielleicht kann es Personen mehr ansprechen, die sich in Bezug auf Abhängigkeiten (besonders im Feld Mutterschaft) gesehen fühlen wollen.

P.S.: Für das Buch hätte ich mir dringend (!) Triggerwarnungen gewünscht.
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Triggerwarnungen:
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Vergewaltigung, Misogynie, Tod, psychische Erkrankung, zwanghafte Medikamentengabe, Schilderungen eines Kaiserschnitts

Bewertung vom 06.10.2024
9 Grad
Kolb, Elli

9 Grad


ausgezeichnet

Eine Umarmung von Buch mit toller Tiefe

Was für ein großartiger, warmer und tiefgründiger Debütroman! Er hat mich schon vom Klappentext her angesprochen und obwohl oder gerade weil es um so viel mehr geht als um Eisbaden, habe ich ihn unglaublich gern gelesen.

Ein Kernelement des Romans ist die Freund*innenschaft zwischen Josie, Rena und Anton, welche für sich stehend schon absolut wholesome ist. Die drei akzeptieren sich in ihren Unterschieden, sind einander absolut loyal und sprechen einfach über Konflikte. Und auch die Figuren selbst, später ergänzt um Lee, sind divers, authentisch und enorm vielschichtig.

Die übergeordneten Gegensätze im Buch sind subtil und bemerkenswert. Während Anton eher unkompliziert im Moment verweilen will und sich als eine eher reservierte Person entpuppt, hat Rena Freude an aufregenden Dingen und führt ihre Freund*innen daher auch an das Eisbaden heran. Die geschilderten Bewusstseinszustände sind für sich genommen schon eindrücklich, doch es geht noch um viel mehr - vor allem für Josie. Die struggelt nämlich mit ihrem Körper und hat gleichzeitig oft das Gefühl, Dinge für andere Menschen tun zu müssen, was sie weiter von ihren eigenen Körperempfindungen entfernt. Besonders Josie hat mich an einem schmerzlichen Punkt getroffen, weshalb ich emotional sehr involviert war. Toll fand ich hierbei auch, dass Elli Kolb den Körper ihrer Protagonistin nicht sonderlich detailliert beschreibt und damit eine Projektionsfläche für viele Menschen bietet. 💚

Rena ereilt im Laufe des Romans ein Schicksal, das die Figur noch einmal von einer ganz anderen Seite darstellt. Das Ende kam mir einen Ticken zu plötzlich, da hätte ich gern noch 30-50 Seiten mehr gelesen. Doch ingesamt habe ich nur Positives zu diesem Roman zu sagen! Es werden so einige Themen behandelt, die gesellschaftlich besonders auch junge Menschen beschäftigen. Ob nun eine allgemeine Kritik am Leistungsdruck oder der überall durchscheinende Sexismus - das Buch schafft es, weder oberflächlich noch erdrückend schwer zu sein. Ein besonderes Lob möchte ich für die authentische Darstellung von Depressionen aussprechen, auch wenn mir da Triggerwarnungen phasenweise lieb gewesen wären.

Ein Buch für alle, die vielleicht auch um ein Zurückfinden in die eigene Körperlichkeit kämpfen und weg wollen vom ständigen externen Blick. Ganz toll, eine Leseempfehlung von Herzen! 🫶🏻

Bewertung vom 01.10.2024
Das Comeback
Berman, Ella

Das Comeback


sehr gut

Erschütternd, anspruchsvoll und so wichtig

Ein #MeToo-Buch, das sprachlich leicht zu lesen und inhaltlich schwer zu verdauen ist.

Grace ist ein mittlerweile erwachsener Kinderstar in Hollywood. Kurz vor einer Preisverleihung verschwindet sie und kommt bei ihren Eltern unter. Nach einem Jahr geht sie zurück nach L.A. und konfrontiert sich mit ihrer Vergangenheit.

Die Protagonistin ist nicht unbedingt sympathisch, trifft schlechte Entscheidungen, schlägt Hilfe aus und ist abweisend oder sogar manipulativ ihrem Umfeld gegenüber. Das fordert uns als Leser*innen natürlich heraus und genau das soll es auch: Empfinden wir Mitgefühl mit allen Überlebenden von Missbrauch oder unterscheiden wir in Abhängigkeit davon, wie „gut“ das Opfer ist?

Ich fand genau das zwar manchmal auch anstrengend, weil ich Grace emotional nicht so oft greifen konnte. Aber grundsätzlich liebe ich diese Wahl der Autorin, denn unser Mitgefühl darf sich vom Charakter des Opfers nicht beeinflussen lassen. Sprachlich ist das Buch zugänglich gehalten, ich fand jedoch auch, dass es im ersten Drittel ein paar Längen hatte. Vielleicht war das aber auch den Rückblenden und dem allgemeinen Kennenlernen der komplexen Hauptfigur geschuldet. Ab der Hälfte zieht das Tempo des Buches merklich an.

Das Thema des Romans hat nichts an Wichtigkeit verloren und ist keine leichte Kost. Obwohl die Missbrauchsszenen eher sporadisch erzählt werden, war meine Stimmung vor allem gedrückt. Die Autorin begann mit dem Schreiben vor der Aufdeckung des strukturellen Missbrauchs in Hollywood. Sie entschied sich, die Handlung des kompletten Romans im Davor zu belassen. Deshalb sieht sich Grace nicht nur mit ihrem Trauma, sondern auch mit einem fehlenden gesellschaftlichen Rückhalt konfrontiert. Das ist mehr als bitter, doch trotz aller Schwere hat das Buch seine starken Elemente, weshalb ich ihm viele Lesenden wünsche!

Lest dieses Buch, wenn ihr euch für komplexe Figuren, die Machtdynamiken an Filmsets und ganz allgemein für die Mechanismen hinter einem Karriereaufbau interessiert.

Und für immer und konsequent: Glaubt Überlebenden! 🤍

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Triggerwarnungen:
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emotionaler und 6ueller Missbrauch, Machtmissbrauch, Drogenmissbrauch, versuchter Suizid, Mobbing, Unfall

Bewertung vom 24.09.2024
Verlassene Nester
Hempel, Patricia

Verlassene Nester


weniger gut

Eine distanzierte Geschichte mit unausgeschöpftem Potenzial

Ich war als im Osten geborenes Nachwendekind mit bislang wenigen Erzählungen aus meiner Familie neugierig auf das Setting des Romans. Doch mein Wunsch nach einem tieferen Einblick in die Gefühle der Menschen in den Jahre nach der Wende konnte leider nicht erfüllt werden.

Was der Autorin gut gelungen ist, ist eine greifbare Darstellung der trostlosen, in gewisser Hinsicht hoffnungslosen Atmosphäre. Ich habe vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben realisiert, dass die Wende viel zu wenig eine Kompromisssuche zwischen den beiden Staaten war und dass es eine solche hätte sein müssen, um wirklich ein geeintes Land herauszubekommen. Durch die Lektüre habe ich Lust bekommen, das Gespräch mit ehemaligen DDR-Bürger*innen zu suchen und das ist eindeutig ein Pluspunkt.

Doch es gibt für mich an dem Roman leider zu viel, das mir nicht gefallen hat, weshalb ich ihn nicht so gut bewerten kann. Das trostlose Setting zermürbt nach einer Weile doch recht stark und damit hätte ich vielleicht sogar leben können, wenn ich wenigstens eine emotionale Bindung zu den Figuren hätte aufbauen können. Doch die metaphorische Schreibweise kam mir bis auf wenige Abschnitte ziemlich distanziert vor und es waren für mich auch schlicht zu viele Figuren. Deshalb konnte ich keine so wirklich greifen, die Lektüre blieb eher oberflächlich und zog sich.

Manche Passagen gefielen mir zwar gut, doch insgesamt lässt mich das Buch eher unzufrieden zurück und wird nicht lange in mir nachhallen. Dafür wurden mir auch zu viele Handlungsstränge offen bzw. fallen gelassen und ich hatte den Eindruck, dass sich die Autorin bei all den angesprochenen Themen ein wenig verzettelt hat. Und dabei waren sie doch so wichtig, etwa die Vermittlung des stärker werdenden Rassismus innerhalb der Gesellschaft oder die ersten (queeren) Beziehungen in der Jugend. Für das Verständnis der Zwischentöne war zum Teil recht viel Vorwissen vonnöten, was das Lesen zusätzlich erschwert hat. Zudem fand ich, dass die auf dem Klappentext angekündigte Geschichte rund um das Verschwinden von Pillys Mutter einen Hauptfokus vermittelt, dem nicht entsprochen wird.

Dementsprechend kann ich hier im Vergleich zu anderen Büchern nicht aufrunden und auch keine Leseempfehlung aussprechen.

2,5 ⭐️

Bewertung vom 24.09.2024
Okaye Tage
Mustard, Jenny

Okaye Tage


ausgezeichnet

Ein Wohlfühlroman über eine ganz besondere Verbindung

Ich habe „Okaye Tage“ als eine realistische Beziehungsgeschichte unheimlich gern gelesen und bis zum Schluss mit den beiden Figuren mitgefiebert. 🥺

Sam und Luc kennen sich eigentlich schon von früher, begegnen sich aber zwei Jahre später erst so richtig wieder. Da Sam in Stockholm lebt und arbeitet, ist die Beziehung in London auf wenige Wochen befristet. Die beiden sind ziemlich verschieden, passen aber trotzdem oder gerade deshalb richtig gut zueinander. Das hindert weder Luc noch Sam jedoch daran, sich fortlaufend Gedanken über die gemeinsame sowie eigene Zukunft zu machen.

Was hier für mich ganz besonders hervorstach, ist die Liebenswürdigkeit der beiden Protagonist*innen. Jenny Mustard hat es tatsächlich geschafft, nicht nur eine sympathische Frauenfigur, sondern auch eine überaus sensible und nahbare männliche Hauptfigur zu schaffen. Luc widerspricht vielen Vorstellungen hegemonialer Männlichkeit, ohne sich dabei ständig selbst auf die Schulter zu klopfen. Er weint, hinterfragt, ist sensibel und aufmerksam - ich mochte ihn wirklich richtig gerne. 🫶🏻

Auch Sam ist mit ihrer direkten, wohlmeinenden Art authentisch und liebenswert. Deshalb habe ich mich das ganze Buch über in den Perspektiven der beiden einfach nur wohl gefühlt. Der Countdown sorgt für ein unbedingtes Weiterlesen-Wollen und ich kann so viel verraten: Es wird nicht bei einem bleiben. 😉

Hervorheben möchte ich die genderinklusive Schreibweise, die mir beim Eichborn-Verlag nun schon mehrfach positiv aufgefallen ist. Außerdem werden einige gesellschaftspolitische Themen behandelt, von denen ich mich sehr gesehen gefühlt habe. Und ganz besonders warm wurde mein Herz, weil im Buch nicht ständig Tiere gegessen und benutzt werden - eher ganz im Gegenteil. 🥹

Der Roman fühlt sich an wie eine Umarmung, weil er ohne überbordendes Drama auskommt, ohne dabei langweilig zu sein. Ich hätte auch noch 100 weitere Seiten von Sam und Luc lesen können. Meiner Meinung nach perfekt für den Herbst, auch wenn die Geschichte vor allem im Sommer spielt.

Bewertung vom 23.09.2024
Mein Mann
Ventura, Maud

Mein Mann


sehr gut

Zwischen Obsession und Abhängigkeit mit heftigem Pageturner

Zum Hörbuch: Stefanie Wittgenstein hat hier einer so unsympathischen Figur wirklich tadellos ein Profil verliehen. Ich habe dieses Hörbuch mit 1,75-facher Geschwindigkeit gehört und hatte damit ein ganz tolles Hörerlebnis. Sie hat es sogar geschafft, dass ich phasenweise Mitgefühl für die Frau aufbringen konnte. In jedem Fall hörte sich „Mein Mann“ dank der Sprecherin wie ein Rausch. Ein i-Tüpfelchen wäre es noch gewesen, wenn das letzte Kapitel von einem Mann gesprochen worden wäre, da so der Schockmoment noch größer ist. Doch auch so war das für mich ein heftiger Plot-Twist. 😲

Zum Buch selbst: Ich denke, für dieses Buch muss mensch in Stimmung sein und darf auch kein Problem haben, im Kopf einer Figur zu sitzen, deren Gedanken so oft absolut absurd erscheinen. Wenn mensch sich aber in die Geschichte hineinziehen lässt, entwickelt das Werk einen Sog, der irgendwie berauscht.

Die namenlose Frau erzählt von ihrer Obsession, aber auch von ihrer Abhängigkeit, von ihrem Mann, der ebenso namenlos bleibt. Auf repetitive Art und Weise analysiert sie jede noch so kleine Handlung des Ehemannes, hinterfragt seine Liebe und verliert sich in gedanklichen Katastrophenszenarien. Und so übertrieben sie oft auch scheint, konnte ich mich doch trotzdem manchmal in sie einfühlen. Ihre Unsicherheit ist fundamental und phasenweise durchaus nachvollziehbar, die daraus folgenden Taten allerdings weniger. Doch Maud Ventura schaffte es regelmäßig, mich mit einem neuen Gedanken der Frau wieder zurückzuholen. Die idolisiert ihren Mann nämlich einerseits, lässt andererseits aber immer wieder blicken, dass er Einiges an Paternalismus und abstoßender Selbstverständlichkeit zu bieten hat.

Und so schwankte ich im Laufe der Handlung zwischen Fassungslosigkeit, Unverständnis, Wut und Mitgefühl. Ich fand die Hauptfigur auf abschreckende Art faszinierend und konnte nicht mehr aufhören. Vor allem auch deshalb, weil ich zuvor schon von dem krassen Pageturner am Ende gelesen habe. Und ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage: Der wird alles zuvor Gedachte komplett erschüttern! 😲🤯

Wenn euch ungewöhnliche Charaktere nicht abschrecken und ihr in einen solchen abtauchen wollt, empfehle ich „Mein Mann“ ganz deutlich. Es ist schon ziemlich abgefahren und muss zur Stimmung passen, daher ziehe ich einen Stern ab. Für das, was es sein soll, finde ich es aber wirklich großartig umgesetzt!

Bewertung vom 20.09.2024
Bevor es geschah
Spierer, Céline

Bevor es geschah


ausgezeichnet

Atemberaubendes und hochkomplexes Familiendrama

[TW: Unfalltod, 6ueller Missbrauch, Krankheit, Krankenhaus, Suizid]

Ich liebe Familiendramen, die aus vielen Perspektiven heraus erzählt werden. Und Céline Spierer hat hier ein besonders atemraubendes Exemplar geliefert.

Die wohlhabende Familie Haynes trifft sich zum Barbecue. Direkt das einleitende Kapitel wirft uns in die Handlung und beschreibt, wie ein noch namenloses Kind in den Pool fällt. Wie genau dieser Zwischenfall ausgeht, wird uns erst ganz am Ende des Buches verraten. Dazwischen gibt es Raum für 250 Seiten voller Familienmitglieder, die nicht wirklich miteinander sprechen.

Dabei sind sich die Geschwister eigentlich wohlgesinnt. Und doch haben alle ein grundlegend falsches Bild voneinander. Da wird hier das Selbstbewusstsein beneidet und dort die pragmatische Gelassenheit. Doch dank der vielen ineinanderfließenden Perspektivwechsel und Zeitsprünge erfahren wir immer auch mindestens eine weitere Sicht.

Nach und nach verwebt die Autorin hier die unabhängig wirkenden Einzelschicksale zu einer fesselnden Familiengeschichte. Dabei hat sie ein großes Talent dafür, ihren Figuren viel Tiefe und Ambivalenz zu verleihen. Keine der Protagonist*innen erschien mir sonderlich sympathisch und doch konnte ich nicht anders, als mit ihnen mitzufühlen. Selbst das kalt wirkende Familienoberhaupt Elisabeth bekommt gegen Ende eine ganz neue Dimension, mit der ich nicht gerechnet habe. Neben Gesellschaftskritik wirft die Geschichte immer wieder Fragen nach der eigenen Verantwortung auf.

Das Buch macht absolut süchtig, wütend und fassungslos. So wenig ich dieses Schweigen im echten Leben mag, so sehr liebe ich es in Büchern. Einen halben Stern ziehe ich ab, weil ein wenig mehr Miteinander schön gewesen wäre und der Fokus auf die Männer noch größer hätte sein dürfen. Davon abgesehen aber ein großartiges Buch mit deutlicher Leseempfehlung von mir!

4,5 ⭐️

Bewertung vom 13.09.2024
Über das Helle
Jaksch, Stefanie

Über das Helle


weniger gut

Zugängliche Gedankensammlung, mir fehlte jedoch die versprochene radikale Zuversicht

Ich habe das Buch im Rahmen einer Leserunde gelesen und deshalb auch beendet. Hätte ich es aufgrund des Titels und Klappentextes gekauft, hätte ich es wohl sehr enttäuscht abgebrochen - so leid mir das tut, denn die Autorin war mir überaus sympathisch.

Stefanie Jaksch schreibt zugänglich und emotional sehr greifbar über die Dinge, die sie in der Welt bewegen. Es sind kleinere und privatere Umstände ebenso wie große globale Krisen. Ich mochte sehr, wie reflektiert und vielseitig Jaksch ihr Buch geschrieben hat.

Trotzdem kann ich nicht mehr als 2 Sterne vergeben, weil meine Erwartungen massiv enttäuscht wurden. Ich dachte, das Buch kommt nach der Landtagswahl hier gerade zur rechten Zeit. Bei mir machte sich viel Hoffnungslosigkeit breit und die radikale Zuversicht, die mir hier angekündigt wurde, hatte ich bitter nötig. Doch stattdessen war der Text vor allem geprägt vom Dunklen in dieser Welt und die wenigen hoffnungsvollen Impulse konnten mich dann schlicht nicht auffangen.

Es tut mir aufrichtig leid, dass ich das hier so hart bewerten muss, denn ich habe mir lange meine Hoffnung in das Buch bewahrt. Ich bleibe aber sehr verloren und bedrückt zurück. Und das habe ich von diesem Text wirklich nicht erwartet. 💔

Bewertung vom 12.09.2024
Gratulieren müsst ihr mir nicht
Polansky, Lilli

Gratulieren müsst ihr mir nicht


ausgezeichnet

Grandioses Debüt, das mir so viel heilsamen Schmerz wie selten beschert hat

[TW: Krankenhaus, Blut, medizinische Eingriffe]

Ich habe die Rezension zu „Gratulieren müsst ihr mir nicht“ lange aufgeschoben, weil ich schlicht nicht weiß, wie ich diesem großartigen Buch gerecht werden soll.

Lilli Polansky hat hier einfach ein Debüt geschrieben, bei dem ich nicht wollte, das es jemals endet. Die Tatsache, dass die Protagonistin den gleichen Namen trägt, und der abschließende Satz ihrer Danksagung lassen darauf schließen, dass es sich hier um ein Werk mit stark biographischen Zügen handelt. Das ändert nichts am Talent der Autorin, erklärt mir aber noch einmal mehr, warum sie so nahbar über diese schier unbegreiflichen Erlebnisse der Hauptfigur schreibt.

Diese bekommt mit Anfang 20 einen Herzschrittmacher eingesetzt. Doch das ist nicht einmal das Schlimmste der Geschichte, denn was medizinisch danach folgt, ist von außen kaum zu begreifen. Die Autorin beschreibt aber nicht nur die Schmerzen und den Kampf zurück ins Leben, sondern ganz besonders auch das Gefühl, sich im eigenen Körper nicht mehr zuhause fühlen zu können. Das Spannungsfeld von „Mein Körper hat mich im Stich gelassen“ und „Er hat mich aber auch im Leben gehalten“ ist unfassbar ergreifend.

Wer jetzt denkt, das Buch sei deshalb schwere Kost und ziehe die Lesenden herunter, irrt. Lilli Polansky schafft es nämlich, durch verschiedene Rückblenden zu einem irgendwie ganz normalen Leben als Kind/Teenager und vor allem dank ihres wirklich tollen Humors, ein heilsames Buch zu schreiben. Heilsam insofern, dass auch Lesende ohne eine schwere Krankheitsgeschichte viel Lebensmut und Sanftheit aus diesem Roman mitnehmen können. Dabei verzichtet Polanski auf Pathos und schafft es mit Leichtigkeit, bei ihrer Leser*innenschaft Mitgefühl zu erzeugen, das jedoch nicht von Schwermut geprägt ist.

Ich war schockiert, ich habe geweint und gelacht, ich wollte noch 1.000 weitere Seiten lesen. Dieses Buch hat eure Aufmerksamkeit verdient und ich wünsche mir ausdrücklich weitere Bücher der Autorin. Eines meiner zwei Jahreshighlights!