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ins_lebenlesen
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Schleswig-Holstein

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Insgesamt 64 Bewertungen
Bewertung vom 04.04.2024
Solange es eine Heimat gibt. Erika Mann
Hörner, Unda

Solange es eine Heimat gibt. Erika Mann


sehr gut

Was fasziniert uns nur so an der Familie Mann, dass wir immer wieder nach neuen Perspektiven auf diese komplexe Familiengeschichte suchen?

Erika Mann war das älteste und dasjenige der sechs Kinder von Katia und Thomas Mann, dem Thomas Mann sich am innigsten zugeneigt zeigte. Ihre Geschichte lässt sich nicht ohne den „Zauberer“, aber vor allem nicht ohne die symbiotische und undurchdringliche Beziehung zu ihrem Bruder Klaus Mann erzählen.

Unda Hörner wählt deshalb als Ausgangspunkt und Ende ihrer Biografie den 21. Mai 1949, den Tag an dem Klaus Mann in Cannes den Freitod wählte. Erika weilt – von bösen Ahnungen beschlichen – zu dem Zeitpunkt mit ihren Eltern in Stockholm. Die erste Reise der Manns nach dem Krieg und dem Exil durch Europa, auf der Thomas Mann verschiedene Reden halten und wichtige Auszeichnungen entgegennehmen wird. Verstörend wirkt es auf Erika und auch auf mich, dass die Eltern ihr Programm weiterverfolgen, anstatt zu der Beerdigung nach Cannes aufzubrechen. Von tiefer Trauer und großen Schuldgefühlen durchdrungen, beginnt Erika den Nachlass ihres Bruders zu ordnen. Dabei blickt sie zurück auf die Jahre ihrer Jugend, auf die Zeit zwischen den wilden 20ern und diesem schicksalhaften Tag im Mai 1949.

Unda Hörner erzählt das Leben der Schauspielerin, Kabarettistin und Publizistin Erika Mann vor allem als gemeinsame Geschichte der exzentrischen Geschwister Klaus und Erika Mann. Sie widersetzen sich, bäumen sich auf gegen patriarchale, festgefahrene, bürgerliche Werte, probieren sich aus, erkunden die Welt und erlauben sich jede Freiheit: politisch, sexuell und künstlerisch. Und widmen ihre Leben vor allem dem Antifaschismus und dem Widerstand gegen die Nazis.

Erika Mann erwacht in ihrer ganzen Vielfalt und Lebendigkeit zu einer quirligen, getriebenen, auch streitbaren Frau, die sich kompromisslos für ihre Ideale und auch ihre Familie einsetzt. Diese Lebendigkeit erzeugt Unda Hörner mit einer einfühlsamen, fließenden, klaren Sprache, die ganz dem Wesen von Erika Mann entspricht, die „von herbem Charme,“ und „dem kräftigen Tonus der Entschlossenheit“ getragen, aber auch zart und mitfühlend sein kann.

Ich habe diese Biografie sehr gern gelesen und empfehle sie, wenn man sich fundiert, aber ohne Fußnoten und unendliche Querverweise dem Leben von Erika Mann und ihrer Familie annähern möchte.

Bewertung vom 25.03.2024
Fest
Zindel, Mireille

Fest


sehr gut

Mireille Zindel nimmt uns mit in den Kopf und die Seele von Noëlle. Noëlle ist Schriftstellerin und flieht vor den Lasten ihres Lebens und um zu schreiben in ein Haus auf dem Land im schweizerischen Jura. Sozialen Kontakten geht sie aus dem Weg. Allein bei der „Hexe“ Muira schaut sie regelmäßig vorbei und besucht ihre Therapieeinheiten bei ihrem Psychiater. Ängstlich und abergläubisch wirkt sie bei allem, was sie tut und denkt. Ihre Spaziergänge in die nahe Umgebung, über die nassen Felder und Weiden, am Wald entlang halten sie immer in einem engen Radius um das Haus. Ihre Gedanken kreisen ebenso eng und unaufhörlich um David, ihre leidenschaftliche, aber wie es scheint, unerhörte Liebe. David ist wie sie verheiratet und was von jeder ihrer Fasern vor 5 Jahren obsessiv Besitz ergriffen hat, wird von ihm vage gehalten und wurde vielleicht sogar inzwischen beendet. Seine Likes ihrer Beiträge versteht sie als Austausch von Liebesnachrichten, doch reale Kontaktaufnahmen bleiben ohne Antwort.

Soweit Noëlles Blick auf die Geschichte. Doch bald merken wir, dass die Realität eine ganz andere ist und dass sich in Noëlle eine dunkle, emotionale Abhängigkeit entwickelt hat, die nicht zu beherrschen scheint und sie in eine völlig andere Wirklichkeit führt.

Das hat mich umgehauen. Denn Noelle wirkt zunächst durchaus identifikativ. Ihre Obsession für David ist mir von Anfang an etwas fremd, aber ansonsten wirkt sie sehr nahbar und angebunden. Das Setting in der inneren und äußeren Isolation erinnert mich an Marlen Haushofers „Die Wand“. Doch nach und nach offenbart sich uns etwas, das Zweifel sät, nach und nach kommt das Gefühl auf, dass etwas anderes nicht stimmt. Und auch wenn die Handlung sehr langsam und entschleunigt dahinfließt, baut sich aus diesem Gefühl eine intensive Spannung auf. Was ist Wahn und was Realität und worin liegt die größere Freiheit?

„Die größte Freiheit ist, sich freiwillig zu zerstören. Die Freiheit der Selbstmörder, ihr Körper gehört ihnen. Deshalb behält der Mensch tödliche Angewohnheiten wie rauchen, trinken, Drogen nehmen, den falschen Menschen lieben. Für das erhabene Gefühl der Freiheit.“ S.79

Die gut 400 Seiten mit einer überschaubaren Handlung sind ein Kammerspiel. Ein Monolog. Ein Mäandern durch Noëlles innere Wirklichkeit, ihre Gedanken, Empfindungen, literarischen Erfahrungen, ihre Ängste und ihren Wahn. Wir streifen mit ihr durch die Landschaften des Jura. Der Text ist locker, zeitweise wie Lyrik mit nur wenigen Worten in einer Zeile gesetzt, den einzelnen Gedanken Raum gebend, das wirre Abschweifen deutlich machend.

Ich freue mich jedes Mal auf den Sanftmut und die Entschleunigung, die mich beim Lesen erfassen. Das hat ein bisschen gedauert, denn ich bin ja bekanntlich eine ungeduldige Leserin und kann Langsamkeit schwer aushalten. Hier hat sie mich gepackt und geerdet.

Mireille Zindel ist der fünfte Roman der Schweizer Autorin und bestimmt nicht mein letzter.

„Es heißt, man fürchte sich vor den Dingen, die man sich am meisten wünscht. Ließe sie sich los, kehrte sie vielleicht nie wieder. Sie würde weiter und immer weitergehen, ohne zu wissen wohin.“ S.65

Bewertung vom 15.03.2024
Die Unordentlichen
Rubert, Xita

Die Unordentlichen


sehr gut

Die 17jährige Virginia ist mit ihrem Vater in einer Stadt im spanischen Norden, um der Preisverleihung für einen Studienfreund ihres Vaters beizuwohnen. Mit dem reichen, exzentrischen Mr. Kopp sind seine geheimnisvolle Frau Sonya und Bertrand, vielleicht deren Sohn, ein Performancekünstler, ein Verrückter oder alles zugleich, angereist. Auch das spanische Königspaar wird erwartet, alle sind in heller Aufregung. Virginia erlebt zwischen den eigensinnigen Erwachsenen ihr Erwachen, fühlt sich von dem seltsamen Bertrand zunächst abgestoßen und dann angezogen, spürt der geheimnisvollen Sonya nach, schaut zu dem eloquenten Mr. Kopp auf und wird in diesen wenigen Stunden ordentlich durchgeschleudert.

Parallelen zu der jungen Virginia Woolf sind nicht zufällig. Auch wenn das Setting irgendwo in der heutigen Zeit angesiedelt ist, erinnern auch die Sprache, der förmliche blasierte Umgangston und die Requisiten an eine Dramödie im viktorianischen Zeitalter.

Angriffslustig kommt dieser Text auf mich zu. Will mich verwirren, mich mit klugen Sätzen und Gedanken locken, um mich in der nächsten Minute aus der Träumerei zu wecken und mich in eine Welt zu schubsen, die ich nicht mehr verstehe. Mein Ehrgeiz ist geweckt, ich pirsche mich nochmal an, verstehe, dass nichts ist, was es ist und alles voller Symbolik steckt und im nächsten Moment schon wieder ganz anders sein könnte.

So muss sich auch Virginia die ganze Zeit fühlen. Alles ist volatil, widersprüchlich, nicht zu durchschauen. Menschliches Verhalten, Gefühle, Worte haben nichts Verlässliches. Mal ist Bertrand B., mal Bert, mal Du … wie einfach war es nur mit dem Vater, der einem immer sagte, wo es lang geht.
Ich mag ja solche Texte, die mit mir und Formen spielen und die mich herausfordern. Aber hier platzt mir fast der Kopf. Und doch will ich es spüren, die Sätze nehmen, durch einen Wald mit ihnen laufen und sie einwirken lassen. Doch am Ende bin ich nicht sicher, ob ich es verstanden habe oder nicht und ob es mir gefallen hat oder nicht.
Entscheidet selbst, ob Ihr es wollt. Ich steh auf dem Kopf und der raucht.

Bewertung vom 15.03.2024
Bloodbath Nation
Auster, Paul;Ostrander, Spencer

Bloodbath Nation


ausgezeichnet

Hätte ich dieses Essay gelesen, wenn es nicht von PAUL AUSTER gewesen wäre? Vermutlich nicht. Weil es mir zu weit weg ist? Weil wir – wie Paul Auster schreibt – „auf fernen Kontinenten dem entsetzt und ratlos zuschauen, nicht weniger erschüttert, als wir es sind, wenn wir von Genitalverstümmelungen an jungen Mädchen lesen, oder dass anderswo Frauen zu Tode gesteinigt werden, wenn ihre Ehemänner ihnen Untreue vorwerfen.“? Ja, vielleicht ist es das. Doch das, was die Amerikaner mit ihren Waffen haben, die tiefe Spaltung, die die Frage durch die Gesellschaft zieht, die kulturelle Verwurzelung „der Vergottung des Waffentragens“ fühlt sich näher an als ich dachte, ähnlich nah wie die Diskussion um das Tempolimit auf unseren Straßen.

Paul Auster geht das Thema persönlich und weniger wissenschaftlich an. Ausgehend von seiner Familiengeschichte, in der die Großmutter seinen Großvater erschoss und damit die Familie schwer zerrüttete, verdüsterte und traumatisierte, erzählt er seine Kindheit und Jugend im „wilden Westen“, der in den USA der 50er Jahre auch im Osten war. Schießübungen gehörten zum Ferienlager genauso selbstverständlich dazu wie das Stockbrot am Lagerfeuer. Von dort geht er zurück in die amerikanische Geschichte und kommentiert die Verwurzelung der Waffe in Privateigentum, die weit zurück in die Siedlungs- und Gründungsgeschichte der USA reicht.

Es bleibt jedoch eine persönliche Abrechnung, die durch zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos des US-Fotografen Spencer Ostrander von mehr als 30 Schauplätzen von Amokläufen unterstrichen wird. Allesamt Plätze der Stille unter völliger Abwesenheit von Menschen, „Grabsteine kollektiver Trauer“, beklemmend, manchmal ganz friedlich wirkend, aus einer Perspektive, die der Amokläufer vielleicht eingenommen hat, bevor er sein Werk verrichtete.

„Auf ein Wort stößt man […] immer wieder: Einsamkeit, unerträgliche, erdrückende Einsamkeit, es ist dieselbe Einsamkeit, die Millionen andere Amerikaner auf die eine oder andere Weise dazu treibt, Trost im Vergessen zu suchen – zu viele Drogen, zu viel Alkohol, obsessive Flucht in die Labyrinthe des Internets.“ S.114

Es geht um Gefühle, um die Angst, die zu Gewalt führt und die Angst, die aus ihr entsteht und die wiederum zu blinden Entscheidungen führt. Es geht um den Teufelskreis, um das Begreifen, das Verstehen.

Mich hat es sehr bewegt und auch wenn das vielleicht nicht UNSER Thema ist, so lässt sich doch auf UNSERE Themen schließen und lassen sich Parallelen denken, die Diskussionen anregen.

Bewertung vom 10.03.2024
Drei Schalen
Murgia, Michela

Drei Schalen


ausgezeichnet

Die Autorin und Aktivistin gegen die italienische Rechte Michela Murgia machte im Frühjahr letzten Jahres ihre schwere Krankheit öffentlich. Kurz nach Erscheinen ihres Erzählbandes DREI SCHALEN in Italien verstarb sie im Alter von nur 51 Jahren im August 2023.

DREI SCHALEN ist ein Abschied und zugleich eine Ermutigung, sich mit Veränderungen, scheinen sie auch noch so ungangbar zu sein, auseinanderzusetzen, Herausforderungen nicht den Kampf anzusagen, sondern sie anzunehmen und daran zu wachsen.

Die erste Geschichte UNÜBERSETZBARER AUSDRUCK erzählt genau in diesem Geist von der Diagnose, deren Name nicht aussprechbar ist. Worte, wie KREBS oder KARZINOM manifestieren Gewissheiten und geben ihnen eine Bedeutung, die dem Gefühl, das die Ich-Erzählerin im Innern trägt, nicht entspricht. Verbundenheit findet sie in einer fremden Sprache.

Michela Murgia nähert sich dem Existenziellen von hinten, indem sie das Verborgene im Sichtbaren, im Banalen beschreibt. In der Geschichte DREI SCHALEN zeigt sich der Schmerz über das Verlassenwerden nicht im Schmerz selbst, sondern in wochenlangem Erbrechen. Heilung geschieht durch Routinen und Ordnung, die den äußeren Rahmen schaffen, die Trauer zu überwinden.

Zwölf Kurzgeschichten reihen sich wie eine Perlenkette aneinander, die in sich geschlossen sind und doch Berührungspunkte haben. Eigentlich wollte Michela Murgia ihr letztes Werk als Essay schreiben, hat sich aber überzeugen lassen, dass „sie mithilfe der Literatur weniger Eindeutiges sagen kann, ja sogar Dinge, die ihrer eigenen Meinung widersprechen“, sagt sie in einem Interview.

In klaren ungeschönten Worten, die aber immer auch etwas Versöhnliches haben, erzählt sie mit viel Humor und Elementen der Satire aus ihrem Innern und den Unruhen in der Gesellschaft. Sie dreht sich selbst die Worte im Mund herum, schafft immer neue Perspektiven auf peDie lesbische Frau, die eine künstliche Schwangerschaft anstrebt und dabei Kinder hasst, ist für mich das beste Beispiel, wie Murgia ihre Geschichten erzählt. Die Vorzeichen werden vertauscht, man weiß nicht mehr wo oben und unten, was richtig oder falsch ist. Und man fängt an zu denken. Und zu fühlen.

Das Kleid, das sie in der ersten Geschichte beim Besuch des Onkologen trägt, ist vielleicht das, das in der letzten Geschichte nach ihrer Beerdigung im Wind flattert und auf jemanden wartet, der es mitnimmt und sich darin einhüllt. Kreise schließen sich.

Große Empfehlung.

Bewertung vom 10.03.2024
Deine Margot
Valkama, Meri

Deine Margot


sehr gut

DEINE MARGOT ist das Debüt der finnischen Autorin Meri Valkama, die einen Teil ihrer Kindheit in Ostberlin verbrachte, später dort studierte und Dokumentationen über Journalist:innen in der ehemaligen DDR verfasste.

Vilja, eine junge Finnin findet nach dem Tod ihres Vaters Markus in den 2010er Jahren ein Bündel leidenschaftlicher Liebesbriefe einer Frau namens „Margot“ in seinen Sachen. Margot scheint ein Deckname zu sein, um die wahre Identität zu verschlüsseln, denn die Post stammt aus den 80er Jahren aus Ostberlin. Dort arbeitete Markus und berichtete für eine linksgerichtete finnische Zeitung aus der DDR. Der Adressat „Erich“ scheint ihr Vater und „Kastanie“ niemand anders als sie, Vilja, zu sein. Viljas Mutter hat sich hinter einer Mauer des Schweigens verschanzt, wenn es um den Vater, von dem sie lange geschieden ist und die Zeit in der DDR geht. So reist Vilja nach Berlin und macht sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit, nach Erinnerungen und der Frau, die sich als Margot ausgab und die einzige zu sein scheint, die wieder Gewissheit in Viljas Welt und ihre verlorenen Erinnerungen zurückbringen kann.

„Wer war letzten Endes der Mensch, wenn er sich nicht erinnerte? Konnte der Mensch tatsächlich sich selbst kennen, wenn er sich nicht erinnerte?“ S.194

Romane, in denen der Fund von Briefen Auslöser für eine Identitätssuche sind, sind nicht neu. Und doch ist dieser etwas Besonderes. Auf mehreren Zeitebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven, zu denen auch die Briefe gehören, nähert sich der spannungsgeladene Plot der Auflösung der familiären und sozialen Verstrickungen. Dabei finde ich die Verknüpfung mit der politischen Entwicklung der 80er Jahre in Ostberlin und Europa bis zum Mauerfall sehr gelungen.

Meri Valkama geht ganzheitlich mit dem Thema um und wirft auf, was den Menschen, die blieben, durch die Wende auch VERLOREN ging und was hätte sein können, wenn die DDR unter neuen Vorzeichen weiter hätte existieren dürfen. Der Schwerpunkt liegt aber auf der Familiengeschichte und Viljas Suche.

Kleine Abstriche muss ich bei der Übersetzung machen. Über manche Wortwahl und hölzernen Sätze geriet ich ins Stolpern. Auch der ein oder andere Logikfehler im Plot ließ mich ungläubig zurück. Mir kann sowas wirklich den Spaß verderben, aber hier hat es den Gesamteindruck nicht getrübt: es bleibt ein guter empfehlenswerter Schmöker.

Bewertung vom 03.03.2024
Flirren
Brunner, Helwig

Flirren


ausgezeichnet

"Ist es besser gut zu sein oder stark? Diese Frage stellt sich nicht mehr in Zeiten der alles überrollenden Schwäche, der kollektiven Überforderung. Wir haben keine Wahl, wir sind, das ist die Wahrheit, weder gut noch stark.“ S.163

Wir sind im 25. Jahrhundert.

Bei Temperaturen über 50 Grad und heftigen Sandstürmen sieht es in den österreichischen Alpen aus wie in der australischen Wüste. An Energie mangelt es nicht: Sonne und Wind sind im Überfluss vorhanden, werden aber in unbeschreiblichen Mengen für die Kühlung der sogenannten Humanareale und zur Wassererzeugung gebraucht. Die Wasserversorgung kann aus Grund- und Regenwasser schon lange nicht mehr gedeckt werden.

In einem solchen Humanareal lebt Leonard als Vergangenheitsforscher, für dortige Verhältnisse auf 20 m² mit Außenfenster sogar recht komfortabel. Doch sein Leben ist zum Stillstand gekommen. Leas Tod, die er als seinen „Lebensmenschen“ bezeichnet, hat ihn in ein tiefes Loch gerissen. Während die Beschreibung der verheerenden Ereignisse der letzten Jahrhunderte, die zu den katastrophalen Lebensumständen geführt haben, einen düsteren Sog entwickelt, wird der Ton weich und lebendig, sobald von Lea die Rede ist. Es scheint, als wäre die Erinnerung an sie und die Liebe das einzig fruchtbare in dieser trockenen Zeit.

„Lea wurde zum Kern meiner Lebensfreude, ihr Tod meine Kernschmelze.“ S.82

Es gibt wenig, das aus der alten Welt überlebt hat und auf das Leonard in seiner Forschung zurückschauen kann. Die „Behörde“ wird durch künstliche Intelligenz gesteuert, Bücher und Schriften gibt es kaum noch, denn das nötige Wissen wird den Menschen über digitale Uploads vermittelt. Doch der Mensch ist ein Mensch. Oder nicht? Was ist es, das in dieser Welt das Menschsein ausmacht? Welche Werte, welche Kulturgüter haben überlebt?Helwig Brunner bettet in kurzen Kapiteln die Story von Leonard und der verlorenen Liebe in einen philosophischen und auch poetischen, fast lyrischen Abgesang auf das Zeitalter der Menschheit. Ausgefeilte, wie Diamanten geschliffene Sätze prägen ebenso den Ton, wie wehmütige, melancholische und zarte Worte das Leben und den Blick zurück beschreiben.

Antworten, Hoffnung? Nein oder nur wenig. Ansporn, die Welt, die wir haben, zu schützen und das, was uns als Menschen auszeichnet zu bewahren? Ja!

Helwig Brunnner hat Musik und Biologie studiert, ist nicht nur Autor, sondern auch Herausgeber einer Lyrikbuchreihe UND Geschäftsführer eines ökologischen Planungsbüros mit Schwerpunkt Energiewende. Es war diese Mischung, die mich interessiert hat und die dieses Buch tatsächlich prägt.

Eine klare Empfehlung für alle, die Freude an Gedankenspielen und keine Angst vor „ungeschönten und kompromisslosen“ Dystopien vom Ende des „Hoffnungszeitalters“ haben.

Bewertung vom 03.03.2024
Samota
Hapeyeva, Volha

Samota


ausgezeichnet

Maya ist Vulkanforscherin und hofft in einem Institut für Vulkanologie etwas zu finden, das sie weiterbringt. Ihre Forschung und auch ihr Leben sind irgendwie ins Stocken geraten. Als hielte die Welt auf einem Scheidepunkt die Luft an. In dem Hotel, in dem sie abgestiegen ist, begegnen ihr seltsam ferne Menschen, die einen Kongress über die Regulation der Tierpopulation abhalten. In der Bibliothek, in der sie Antworten zu ihrer Forschung sucht, findet sie stattdessen Rätsel, die auch mit ihrer Freundin Helga-Maria zu tun haben. Und dann ist da noch die Parallelerzählung von Sebastian, dem sanftmütigen Naturbeobachter und Tierfreund, der dem undurchsichtigen und unheimlichen, eiskalten Jäger Mészáros begegnet. Wo führt das alles hin und wo liegt der Zusammenhang?

Diese Frage habe ich mir lange gestellt, während ich durch Volha Hapeyevas fantastische und rätselhafte Welt schritt. Sie erzählt melancholisch, lakonisch und poetisch mit liebevoll und sanftmütig gezeichneten Protagonist:innen. Besonders Maya fühle ich mich sehr nah. Auf unterschiedlichen, metaphorisch aufgeladenen, teils traumhaften Ebenen springen wir über Elemente des magischen Realismus von Szene zu Szene. Ich verliere den Faden. Die Sprünge sind abrupt. Ich suche nach dem Kern, dem Kontext. Will fast schon aufgeben und erlebe dann doch eine unverhoffte Wendung, greife einen Satz und lasse mich in seine Poesie wie in ein weiches Kissen fallen.

Der Untertitel des Buches lautet: „Die Einsamkeit wohnt im Zimmer gegenüber.“ Die Menschen hier sind einsam, auf sich gestellt, allein in den unterschiedlichen Begegnungen mit dem Bösen. Selbst auf der Suche nach dem Kontext, nach der Verbindung. Liegt diese Verbindung in der Empathie, dem Mitgefühl mit allem: der Natur, ALLEN Tieren, Menschen? Wie lebt es sich in einer Welt, die so ohne Empathie zu sein scheint? Sind wahre Demokratie, Diversität, Gleichberechtigung ohne Empathie möglich?

„Es gibt keine schrecklichere Bestie auf der dieser Welt als den Menschen, der seine ‚Humanität‘ auslebt.“ S.163

Volha Hapeyeva ist eine erfolgreiche belarusische Lyrikerin, Übersetzerin und promovierte Linguistin. Auf Deutsch erschienen von ihr u.a. zwei Gedichtbände. Ich mochte die Lyrik ihrer Sprache, das Versonnene ihrer Gedanken, das auch in krasse Brutalität umschlagen kann, wenn es um die Beschreibung des entwürdigenden Bösen geht. Für mich, die große Freude an Sprache und Texten, die nachdenklich machen, hat, war diese Lektüre eine sehr bereichernde Entdeckung, die mich neugierig auf mehr von der Autorin gemacht hat.

Bewertung vom 25.02.2024
An Rändern
Tijssens, Angelo

An Rändern


ausgezeichnet

„Ich hätte die Dinge und die Zeit auf sich beruhen lassen und mich nicht auf die Suche nach den Resten begeben sollen, denn was weg ist, lässt sich nicht so einfach zurückholen.“

Wenn es doch nur eine Kiste angestoßener Muscheln wäre, zu der Du an den Ort Deiner Kindheit zurückkehrst! Nein, es sind vor allem Erinnerungen an Vernachlässigung, Zurückweisung, körperliche und seelische Gewalt, die Dich einholen. An Sie. Nicht an die MUTTER, sondern SIE. Sie riecht nach Wein und Zigaretten, Einsamkeit, Schmerz, Blut, Angst, Auflösenwollen. Du bist NICHTS.

Nun – Jahre später – kehrst Du zurück an den Ort, wo Ihr gelebt habt an der Küste Flanderns. Um IHN wiederzusehen. Nach all den Jahren, in denen Du ihn nicht vergessen konntest. Den Freund, mit dem Du Kind sein und zum Mann reifen konntest.

„Weil ich bei ihm richtig gut schlafen konnte. Weil ich mich ganz nah bei ihm, den Kopf halb auf seinem Kissen, traute einzuschlafen. Weil ich keine Angst hatte, was passieren könnte, wenn mir die Augen zufielen, sondern was passieren würde, wen ich sie wieder aufmachte.“

Bei Dir entstand eine zärtliche ängstliche Liebe und ein devotes Begehren, bei ihm überwogen Scham und Unsicherheit. Und so endete es mit Schmerz und Verlust. Und jetzt? Was willst DU jetzt?

In einer intensiven dicht gepackten Sprache mit starken, manchmal beklemmenden Bildern erzählt sich der junge Mann diese Wiederbegegnung selbst. Seine Welt ist eine einsame, verzweifelte, in der er, der Liebe nicht kennt, unruhig nach Liebe sucht. Die Wirkung ist gewaltig, auch brutal und auf der nächsten Seite zart und wärmend. Kurze Kapitel, den Text AN DIE RÄNDER und die Seiten ohne Nummerierung gesetzt. So falle ich nach manchen von ihnen buchstäblich in ein emotionales Loch, aus dem ich mich wieder herauskämpfen muss.

Ich habe lange nicht mehr mit einer Hauptfigur so mitgefühlt, mitgeweint, mitgeliebt. Wie schaffen Angelo Tijssens und die Übersetzerin Stefanie Ochel diese Nähe, diese Intensität auf so engem Raum? Denn es ist ein schmales Buch. Wenig Worte erzeugen eine ungeheure Wucht, lassen mich tieftraurig abstürzen und im nächsten Moment voller Leichtigkeit wieder aufgleiten.

Es ist eine queere Geschichte, aber auch einfach eine Geschichte von Liebe, Schmerz, Suchen und Finden, Festhalten und Loslassen. Eine Geschichte voller ganz großer Gefühle und ein völlig überraschendes Highlight für mich.

Angelo Tijssens ist ein belgischer, international gefeierter Drehbuchautor, dessen Film CLOSE 2023 für den Oscar nominiert war. AN RÄNDERN ist sein Romandebüt. Ich hoffe, er schreibt weiter.

Bewertung vom 19.02.2024
FRAUEN LITERATUR
Seifert, Nicole

FRAUEN LITERATUR


ausgezeichnet

Schon lange habe ich dieses Buch auf meiner Wunschliste und freue mich, dass es nun im Taschenbuchformat seinen Weg zu mir gefunden hat. Viele Accounts hier haben dieses Buch als eins der wichtigsten, das sie je gelesen haben, als eine Quelle der Inspiration für ihr Lesen und ein Schlüsselwerk im Ringen um Gleichberechtigung in der Literaturwelt gewürdigt. Und sie hatten recht!

So aufgeregt hab ich schon lange kein Buch mehr gelesen. Aufgeregte Zustimmung, aufgeregtes Wiedererkennen, auch Widerstände und Fragen, die sich regten, haben meinen Puls immer wieder beschleunigt.

Nicole Seifert schreibt klug, fundiert, in alle Richtungen recherchiert und dabei doch nahbar, verständlich, persönlich und ohne mit ihrem Wissen zu belehren. Sie setzt damit ein Feuerwerk an Gedanken in mir frei.

Das fing damit an, dass ich erstmal meine Quote gecheckt habe. Mein Bücherregal unterstreicht ihr Fazit: Es tut sich was. Sie sagt, der Bücherfrühling 2021 in dem sie ihr Schlusskapitel schreibe, sei so weiblich, wie vielleicht noch keiner zuvor. Auch die Diversität der Verlagsprogramme scheine zuzunehmen, Literaturpreise gingen überwiegend an Frauen. Das deckt sich mit meinem subjektiven Eindruck und mit meinem Lesen, das zu der Zeit eine scharfe Wendung erfahren hat. Unbewusst und einfach nur, weil das Angebot und die Aufmerksamkeit sich geändert haben.

Was beweist, dass es eben nicht damit getan ist, anzunehmen, „die Zukunft werde es schon richten, … Denn von nichts kommt nichts.“ Es braucht tatsächlich Fokus: im Marketing der Verlage, in der Literaturkritik, im Feuilleton, in den Sozialen Medien, aber eben auch bei der Leser*in.

Was für ein weiter Weg es bis hierher war, welchen Ungeheuerlichkeiten sich Frauen im Literaturbetrieb über Jahrhunderte ausgesetzt sahen, das dröselt Nicole Seifert sehr anschaulich in ihrem Essay auf.

Ich erkannte die Logik und Kontinuität in dem Prozess des Unterlassens und Ignorierens, war zuweilen höchst erschrocken. Denis Scheck, dem ich einige der besten Frauen in meinem Bücherregal wie Annie Erneaux, Sheila Heti, Milena Michiko Flasar und Sigrid Nunez zu verdanken habe, scheint mit seinem Kanon (den ich nie angeschaut hab, weil ich auf Kanons nichts gebe) auch seinen Beitrag zum Problem geleistet zu haben. S. 47
Und ich als Leserin, die sich dieses Ungleichgewicht viele Jahre gar nicht bewusst gemacht hat, sicherlich auch.

Dafür hat mir Nicole Seifert aber auch einen Haufen Hausaufgaben mitgegeben: Literatur, natürlich von Frauen, die meine Wunschliste auf Kanongröße anschwellen ließ.

Doch auch Widerstände hallen der Lektüre nach. Manche Kommentierungen zu diesem Buch vermitteln mir den Eindruck, als müssten Autoren nun ganz aus den Bücherregalen verschwinden. Ich lese Paul Auster genauso gern wie Siri Hustvedt und wünschte mir, dass wir eines Tages WIRKLICH nicht mehr über das Geschlecht der Autor:innen reden müssten, dass Bücher von Büchermenschen geschrieben werden.

Doch bis dahin gilt:
„Denn nur wenn eine Auswahl aus der unüberschaubaren Menge literarischer Texte relativ bekannt ist, kann eine Diskussion auch über andere Texte, Formen und Inhalte stattfinden, nur dann kann auf GEMEINSAMES Bezug genommen werden. In diese Gemeinsame einzubeziehen, was bisher als marginal betrachtet wurde, mischt überkommene Kategorien und Interpretationsmuster auf.“ S. 102
Das ist für mich ein Schlüsselsatz und eine Aufgabe.

Danke an die Autorin für diese kämpferische, aufrüttelnde und sehr bereichernde Lektüre!