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ins_lebenlesen
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Schleswig-Holstein

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Insgesamt 66 Bewertungen
Bewertung vom 09.04.2024
Ein falsches Wort
Hjorth, Vigdis

Ein falsches Wort


ausgezeichnet

Ein falsches Wort kann die sorgsam gehütete Oberfläche eines familiären Zusammenseins zum Bersten bringen und Misstrauen, Missverständnis und lang gewahrte Geheimnisse dringen durch die dünne Schicht aus Friedensabkommen und Ritualen nach oben.

Die Ich-Erzählerin Bergljot lebt in einer solchen Familie. Oder besser gesagt hat sich schon vor Jahrzehnten aus ihr zurückgezogen. Was damals passierte muss einer Detonation gleichgekommen sein und hat sie in eine schwere Krise gestürzt. Auch ihr Bruder Bård hält die Familie auf Distanz. Die zwei jüngeren Schwestern Astrid und Åsa scheinen unverletzt und den Eltern die Treue zu halten. Ein Erbstreit, den die Eltern mit der ungleichen Verteilung ihrer Ferienhäuser auslösen, durchschlägt die Oberfläche und verschiebt die Machtverhältnisse. Bård schließt ein Bündnis mit Bergljot. Die möchte eigentlich nur ihren mühsam erarbeiteten inneren Frieden wahren und drängt nach vielen Jahren der Kränkungen und des Unverstandenseins doch danach, der Familiengeschichte IHRE Deutung einzuschreiben.

Ohnmächtig schauen wir Bergljots verzweifelten inneren Kämpfen zu. Unsere Perspektive ist ihre Perspektive. Donnernd rollen ihre Wut, ihre Trauer, ihr Schmerz und ihre schweren Träume durch uns hindurch. Der Text ist von einer schweren Eindringlichkeit, Gedanken in langen Sätzen wiederholend. Vigdis Hjorth lässt wortwörtlich Bomben hochgehen, Kriegshandlungen vollziehen, Feuer niedergehen. Erst wenn sich das Unbehagen tief in unsere Eingeweide gegraben hat, lässt sie uns Luft holen. Eine Seite. Ein Satz. Pause.

In einem existenziellen Sinn schreibt sie sich schonungslos bis auf die Knochen in die psychologische Struktur einer Familie hinein. Tief werde ich in die schmerzvolle Geschichte hineingezogen. Doch auch wenn der Stoff schwer ist, bleibe ich angesichts der sprachlichen Schönheit, Klarheit und eines präzisen Timings euphorisch.

In dieser Familie scheint es wie auf den großen Schlachtfeldern der Welt zuzugehen. Verhandeln lässt sich an der Oberfläche. Frieden, Befreiung und Identität liegen jedoch darunter und sind nur durch Verstehen wollen, Empathie und Anerkennung des anderen zu erreichen. Doch lässt sich das nicht erzwingen. Oder doch?

Dieses Buch sorgte bereits 2016 für Vigdis Hjorths internationalen Durchbruch und in Norwegen für einen Skandal, da die autobiografischen Züge ihre Familie auf den Plan rief und ihre Schwester zu einem „Gegenroman“ veranlasste. Diese Authentizität macht die Geschichte für mich noch etwas eindringlicher. Aber auch nachdenklicher und dankbarer, dass es nicht meine ist.

Große Empfehlung!

Bewertung vom 07.04.2024
Komm tanzen!
Jay von Seldeneck, Lucia

Komm tanzen!


sehr gut

„Das Beste bei einer Party ohne Ende ist, dass man Zeit hat. Endlos Zeit. Man kann sich auf einen Steg legen und sich in den Sternen verlieren, wieder zurückfinden und sich einen Drink holen. Und noch einen Drink.“ S.74

Ich bin in Berlin (wo ich schonmal sehr gern bin) am Wannsee (auch schön), es ist ein lauer Frühlingsabend, vor mir liegt eine Wiese, der Duft von Flieder hängt in der Luft, auf der Wiese lädt eine lange Tafel in der sinkenden Abendsonne zu Essen und Trinken ein, Musik läuft, zu deren Takt sich meine Freund:innen in entspannte Stimmung wiegen, während sie plaudern, lachen, trinken, mitsingen. Hey, ich fühl mich wohl. Gleich auf den ersten Seiten bin ich zu Hause, tauche ein in diese Atmosphäre.

Sich überlassen, sich verbinden, den Alltag vergessen, den Verheißungen einer durchfeierten Nacht ausliefern. Die Zeit anhalten, die immer so schnell rast, die wir verprassen, mit der wir so großzügig umgehen, als hätten wir Ewigkeiten davon.

Aber können wir das heute noch? Müssen wir uns nicht gerade in solchen Nächten gewahr werden, wie absurd das ist? Wie wir die Zeit versuchen zu vertreiben, anstatt sie zu nutzen, anstatt hinzuschauen wie die Welt, wie wir, den Boden unter den Füßen verlieren?

Diese eine Nacht in der Gemeinschaft guter Freunde schreitet von Kapitel zu Kapitel, von Stunde zu Stunde voran. Lucia Jay von Seldeneck lässt uns teilhaben an diesem „Dazwischen“ zwischen Alltag, Vergessen, Verdrängen und Weitermachen. Sie nimmt uns mit in die tiefe Dunkelheit außerhalb des Lichtkegels. Denn es gibt da noch den See, das Unergründliche, die Nixe und die Tiefe und von einem auf den anderen Moment ist jede Gewissheit verschwunden. Panik und Zuversicht diskutieren um den längeren Hebel.

Wie die Autorin in einem Interview selbst sagt, hat sie vor allem „ihre eigene Ratlosigkeit“ dazu getrieben, diesen kleinen Roman zu schreiben. Einen Roman, in dem sie auf eine Nacht verdichtet, was uns als Gesellschaft ratlos macht. „Wir haben Angst, dass sich etwas ändert, und wissen dennoch, dass sich etwas ändern muss. Und wird.“ Sagt sie selbst.

Ich hab mich sehr gern auf ihren jungen Stil, auf die Musik ihrer Sprache, auf diesen Tanz durch alle Facetten der Nacht, auch die mystischen, eingelassen, war auch manchmal ein bisschen ratlos, was grad passiert und wo es mich hinführen wird. Ich kann nur sagen: Komm Tanzen!

Bewertung vom 04.04.2024
Solange es eine Heimat gibt. Erika Mann
Hörner, Unda

Solange es eine Heimat gibt. Erika Mann


sehr gut

Was fasziniert uns nur so an der Familie Mann, dass wir immer wieder nach neuen Perspektiven auf diese komplexe Familiengeschichte suchen?

Erika Mann war das älteste und dasjenige der sechs Kinder von Katia und Thomas Mann, dem Thomas Mann sich am innigsten zugeneigt zeigte. Ihre Geschichte lässt sich nicht ohne den „Zauberer“, aber vor allem nicht ohne die symbiotische und undurchdringliche Beziehung zu ihrem Bruder Klaus Mann erzählen.

Unda Hörner wählt deshalb als Ausgangspunkt und Ende ihrer Biografie den 21. Mai 1949, den Tag an dem Klaus Mann in Cannes den Freitod wählte. Erika weilt – von bösen Ahnungen beschlichen – zu dem Zeitpunkt mit ihren Eltern in Stockholm. Die erste Reise der Manns nach dem Krieg und dem Exil durch Europa, auf der Thomas Mann verschiedene Reden halten und wichtige Auszeichnungen entgegennehmen wird. Verstörend wirkt es auf Erika und auch auf mich, dass die Eltern ihr Programm weiterverfolgen, anstatt zu der Beerdigung nach Cannes aufzubrechen. Von tiefer Trauer und großen Schuldgefühlen durchdrungen, beginnt Erika den Nachlass ihres Bruders zu ordnen. Dabei blickt sie zurück auf die Jahre ihrer Jugend, auf die Zeit zwischen den wilden 20ern und diesem schicksalhaften Tag im Mai 1949.

Unda Hörner erzählt das Leben der Schauspielerin, Kabarettistin und Publizistin Erika Mann vor allem als gemeinsame Geschichte der exzentrischen Geschwister Klaus und Erika Mann. Sie widersetzen sich, bäumen sich auf gegen patriarchale, festgefahrene, bürgerliche Werte, probieren sich aus, erkunden die Welt und erlauben sich jede Freiheit: politisch, sexuell und künstlerisch. Und widmen ihre Leben vor allem dem Antifaschismus und dem Widerstand gegen die Nazis.

Erika Mann erwacht in ihrer ganzen Vielfalt und Lebendigkeit zu einer quirligen, getriebenen, auch streitbaren Frau, die sich kompromisslos für ihre Ideale und auch ihre Familie einsetzt. Diese Lebendigkeit erzeugt Unda Hörner mit einer einfühlsamen, fließenden, klaren Sprache, die ganz dem Wesen von Erika Mann entspricht, die „von herbem Charme,“ und „dem kräftigen Tonus der Entschlossenheit“ getragen, aber auch zart und mitfühlend sein kann.

Ich habe diese Biografie sehr gern gelesen und empfehle sie, wenn man sich fundiert, aber ohne Fußnoten und unendliche Querverweise dem Leben von Erika Mann und ihrer Familie annähern möchte.

Bewertung vom 25.03.2024
Fest
Zindel, Mireille

Fest


sehr gut

Mireille Zindel nimmt uns mit in den Kopf und die Seele von Noëlle. Noëlle ist Schriftstellerin und flieht vor den Lasten ihres Lebens und um zu schreiben in ein Haus auf dem Land im schweizerischen Jura. Sozialen Kontakten geht sie aus dem Weg. Allein bei der „Hexe“ Muira schaut sie regelmäßig vorbei und besucht ihre Therapieeinheiten bei ihrem Psychiater. Ängstlich und abergläubisch wirkt sie bei allem, was sie tut und denkt. Ihre Spaziergänge in die nahe Umgebung, über die nassen Felder und Weiden, am Wald entlang halten sie immer in einem engen Radius um das Haus. Ihre Gedanken kreisen ebenso eng und unaufhörlich um David, ihre leidenschaftliche, aber wie es scheint, unerhörte Liebe. David ist wie sie verheiratet und was von jeder ihrer Fasern vor 5 Jahren obsessiv Besitz ergriffen hat, wird von ihm vage gehalten und wurde vielleicht sogar inzwischen beendet. Seine Likes ihrer Beiträge versteht sie als Austausch von Liebesnachrichten, doch reale Kontaktaufnahmen bleiben ohne Antwort.

Soweit Noëlles Blick auf die Geschichte. Doch bald merken wir, dass die Realität eine ganz andere ist und dass sich in Noëlle eine dunkle, emotionale Abhängigkeit entwickelt hat, die nicht zu beherrschen scheint und sie in eine völlig andere Wirklichkeit führt.

Das hat mich umgehauen. Denn Noelle wirkt zunächst durchaus identifikativ. Ihre Obsession für David ist mir von Anfang an etwas fremd, aber ansonsten wirkt sie sehr nahbar und angebunden. Das Setting in der inneren und äußeren Isolation erinnert mich an Marlen Haushofers „Die Wand“. Doch nach und nach offenbart sich uns etwas, das Zweifel sät, nach und nach kommt das Gefühl auf, dass etwas anderes nicht stimmt. Und auch wenn die Handlung sehr langsam und entschleunigt dahinfließt, baut sich aus diesem Gefühl eine intensive Spannung auf. Was ist Wahn und was Realität und worin liegt die größere Freiheit?

„Die größte Freiheit ist, sich freiwillig zu zerstören. Die Freiheit der Selbstmörder, ihr Körper gehört ihnen. Deshalb behält der Mensch tödliche Angewohnheiten wie rauchen, trinken, Drogen nehmen, den falschen Menschen lieben. Für das erhabene Gefühl der Freiheit.“ S.79

Die gut 400 Seiten mit einer überschaubaren Handlung sind ein Kammerspiel. Ein Monolog. Ein Mäandern durch Noëlles innere Wirklichkeit, ihre Gedanken, Empfindungen, literarischen Erfahrungen, ihre Ängste und ihren Wahn. Wir streifen mit ihr durch die Landschaften des Jura. Der Text ist locker, zeitweise wie Lyrik mit nur wenigen Worten in einer Zeile gesetzt, den einzelnen Gedanken Raum gebend, das wirre Abschweifen deutlich machend.

Ich freue mich jedes Mal auf den Sanftmut und die Entschleunigung, die mich beim Lesen erfassen. Das hat ein bisschen gedauert, denn ich bin ja bekanntlich eine ungeduldige Leserin und kann Langsamkeit schwer aushalten. Hier hat sie mich gepackt und geerdet.

Mireille Zindel ist der fünfte Roman der Schweizer Autorin und bestimmt nicht mein letzter.

„Es heißt, man fürchte sich vor den Dingen, die man sich am meisten wünscht. Ließe sie sich los, kehrte sie vielleicht nie wieder. Sie würde weiter und immer weitergehen, ohne zu wissen wohin.“ S.65

Bewertung vom 15.03.2024
Die Unordentlichen
Rubert, Xita

Die Unordentlichen


sehr gut

Die 17jährige Virginia ist mit ihrem Vater in einer Stadt im spanischen Norden, um der Preisverleihung für einen Studienfreund ihres Vaters beizuwohnen. Mit dem reichen, exzentrischen Mr. Kopp sind seine geheimnisvolle Frau Sonya und Bertrand, vielleicht deren Sohn, ein Performancekünstler, ein Verrückter oder alles zugleich, angereist. Auch das spanische Königspaar wird erwartet, alle sind in heller Aufregung. Virginia erlebt zwischen den eigensinnigen Erwachsenen ihr Erwachen, fühlt sich von dem seltsamen Bertrand zunächst abgestoßen und dann angezogen, spürt der geheimnisvollen Sonya nach, schaut zu dem eloquenten Mr. Kopp auf und wird in diesen wenigen Stunden ordentlich durchgeschleudert.

Parallelen zu der jungen Virginia Woolf sind nicht zufällig. Auch wenn das Setting irgendwo in der heutigen Zeit angesiedelt ist, erinnern auch die Sprache, der förmliche blasierte Umgangston und die Requisiten an eine Dramödie im viktorianischen Zeitalter.

Angriffslustig kommt dieser Text auf mich zu. Will mich verwirren, mich mit klugen Sätzen und Gedanken locken, um mich in der nächsten Minute aus der Träumerei zu wecken und mich in eine Welt zu schubsen, die ich nicht mehr verstehe. Mein Ehrgeiz ist geweckt, ich pirsche mich nochmal an, verstehe, dass nichts ist, was es ist und alles voller Symbolik steckt und im nächsten Moment schon wieder ganz anders sein könnte.

So muss sich auch Virginia die ganze Zeit fühlen. Alles ist volatil, widersprüchlich, nicht zu durchschauen. Menschliches Verhalten, Gefühle, Worte haben nichts Verlässliches. Mal ist Bertrand B., mal Bert, mal Du … wie einfach war es nur mit dem Vater, der einem immer sagte, wo es lang geht.
Ich mag ja solche Texte, die mit mir und Formen spielen und die mich herausfordern. Aber hier platzt mir fast der Kopf. Und doch will ich es spüren, die Sätze nehmen, durch einen Wald mit ihnen laufen und sie einwirken lassen. Doch am Ende bin ich nicht sicher, ob ich es verstanden habe oder nicht und ob es mir gefallen hat oder nicht.
Entscheidet selbst, ob Ihr es wollt. Ich steh auf dem Kopf und der raucht.

Bewertung vom 15.03.2024
Bloodbath Nation
Auster, Paul;Ostrander, Spencer

Bloodbath Nation


ausgezeichnet

Hätte ich dieses Essay gelesen, wenn es nicht von PAUL AUSTER gewesen wäre? Vermutlich nicht. Weil es mir zu weit weg ist? Weil wir – wie Paul Auster schreibt – „auf fernen Kontinenten dem entsetzt und ratlos zuschauen, nicht weniger erschüttert, als wir es sind, wenn wir von Genitalverstümmelungen an jungen Mädchen lesen, oder dass anderswo Frauen zu Tode gesteinigt werden, wenn ihre Ehemänner ihnen Untreue vorwerfen.“? Ja, vielleicht ist es das. Doch das, was die Amerikaner mit ihren Waffen haben, die tiefe Spaltung, die die Frage durch die Gesellschaft zieht, die kulturelle Verwurzelung „der Vergottung des Waffentragens“ fühlt sich näher an als ich dachte, ähnlich nah wie die Diskussion um das Tempolimit auf unseren Straßen.

Paul Auster geht das Thema persönlich und weniger wissenschaftlich an. Ausgehend von seiner Familiengeschichte, in der die Großmutter seinen Großvater erschoss und damit die Familie schwer zerrüttete, verdüsterte und traumatisierte, erzählt er seine Kindheit und Jugend im „wilden Westen“, der in den USA der 50er Jahre auch im Osten war. Schießübungen gehörten zum Ferienlager genauso selbstverständlich dazu wie das Stockbrot am Lagerfeuer. Von dort geht er zurück in die amerikanische Geschichte und kommentiert die Verwurzelung der Waffe in Privateigentum, die weit zurück in die Siedlungs- und Gründungsgeschichte der USA reicht.

Es bleibt jedoch eine persönliche Abrechnung, die durch zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos des US-Fotografen Spencer Ostrander von mehr als 30 Schauplätzen von Amokläufen unterstrichen wird. Allesamt Plätze der Stille unter völliger Abwesenheit von Menschen, „Grabsteine kollektiver Trauer“, beklemmend, manchmal ganz friedlich wirkend, aus einer Perspektive, die der Amokläufer vielleicht eingenommen hat, bevor er sein Werk verrichtete.

„Auf ein Wort stößt man […] immer wieder: Einsamkeit, unerträgliche, erdrückende Einsamkeit, es ist dieselbe Einsamkeit, die Millionen andere Amerikaner auf die eine oder andere Weise dazu treibt, Trost im Vergessen zu suchen – zu viele Drogen, zu viel Alkohol, obsessive Flucht in die Labyrinthe des Internets.“ S.114

Es geht um Gefühle, um die Angst, die zu Gewalt führt und die Angst, die aus ihr entsteht und die wiederum zu blinden Entscheidungen führt. Es geht um den Teufelskreis, um das Begreifen, das Verstehen.

Mich hat es sehr bewegt und auch wenn das vielleicht nicht UNSER Thema ist, so lässt sich doch auf UNSERE Themen schließen und lassen sich Parallelen denken, die Diskussionen anregen.

Bewertung vom 10.03.2024
Drei Schalen
Murgia, Michela

Drei Schalen


ausgezeichnet

Die Autorin und Aktivistin gegen die italienische Rechte Michela Murgia machte im Frühjahr letzten Jahres ihre schwere Krankheit öffentlich. Kurz nach Erscheinen ihres Erzählbandes DREI SCHALEN in Italien verstarb sie im Alter von nur 51 Jahren im August 2023.

DREI SCHALEN ist ein Abschied und zugleich eine Ermutigung, sich mit Veränderungen, scheinen sie auch noch so ungangbar zu sein, auseinanderzusetzen, Herausforderungen nicht den Kampf anzusagen, sondern sie anzunehmen und daran zu wachsen.

Die erste Geschichte UNÜBERSETZBARER AUSDRUCK erzählt genau in diesem Geist von der Diagnose, deren Name nicht aussprechbar ist. Worte, wie KREBS oder KARZINOM manifestieren Gewissheiten und geben ihnen eine Bedeutung, die dem Gefühl, das die Ich-Erzählerin im Innern trägt, nicht entspricht. Verbundenheit findet sie in einer fremden Sprache.

Michela Murgia nähert sich dem Existenziellen von hinten, indem sie das Verborgene im Sichtbaren, im Banalen beschreibt. In der Geschichte DREI SCHALEN zeigt sich der Schmerz über das Verlassenwerden nicht im Schmerz selbst, sondern in wochenlangem Erbrechen. Heilung geschieht durch Routinen und Ordnung, die den äußeren Rahmen schaffen, die Trauer zu überwinden.

Zwölf Kurzgeschichten reihen sich wie eine Perlenkette aneinander, die in sich geschlossen sind und doch Berührungspunkte haben. Eigentlich wollte Michela Murgia ihr letztes Werk als Essay schreiben, hat sich aber überzeugen lassen, dass „sie mithilfe der Literatur weniger Eindeutiges sagen kann, ja sogar Dinge, die ihrer eigenen Meinung widersprechen“, sagt sie in einem Interview.

In klaren ungeschönten Worten, die aber immer auch etwas Versöhnliches haben, erzählt sie mit viel Humor und Elementen der Satire aus ihrem Innern und den Unruhen in der Gesellschaft. Sie dreht sich selbst die Worte im Mund herum, schafft immer neue Perspektiven auf peDie lesbische Frau, die eine künstliche Schwangerschaft anstrebt und dabei Kinder hasst, ist für mich das beste Beispiel, wie Murgia ihre Geschichten erzählt. Die Vorzeichen werden vertauscht, man weiß nicht mehr wo oben und unten, was richtig oder falsch ist. Und man fängt an zu denken. Und zu fühlen.

Das Kleid, das sie in der ersten Geschichte beim Besuch des Onkologen trägt, ist vielleicht das, das in der letzten Geschichte nach ihrer Beerdigung im Wind flattert und auf jemanden wartet, der es mitnimmt und sich darin einhüllt. Kreise schließen sich.

Große Empfehlung.

Bewertung vom 10.03.2024
Deine Margot
Valkama, Meri

Deine Margot


sehr gut

DEINE MARGOT ist das Debüt der finnischen Autorin Meri Valkama, die einen Teil ihrer Kindheit in Ostberlin verbrachte, später dort studierte und Dokumentationen über Journalist:innen in der ehemaligen DDR verfasste.

Vilja, eine junge Finnin findet nach dem Tod ihres Vaters Markus in den 2010er Jahren ein Bündel leidenschaftlicher Liebesbriefe einer Frau namens „Margot“ in seinen Sachen. Margot scheint ein Deckname zu sein, um die wahre Identität zu verschlüsseln, denn die Post stammt aus den 80er Jahren aus Ostberlin. Dort arbeitete Markus und berichtete für eine linksgerichtete finnische Zeitung aus der DDR. Der Adressat „Erich“ scheint ihr Vater und „Kastanie“ niemand anders als sie, Vilja, zu sein. Viljas Mutter hat sich hinter einer Mauer des Schweigens verschanzt, wenn es um den Vater, von dem sie lange geschieden ist und die Zeit in der DDR geht. So reist Vilja nach Berlin und macht sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit, nach Erinnerungen und der Frau, die sich als Margot ausgab und die einzige zu sein scheint, die wieder Gewissheit in Viljas Welt und ihre verlorenen Erinnerungen zurückbringen kann.

„Wer war letzten Endes der Mensch, wenn er sich nicht erinnerte? Konnte der Mensch tatsächlich sich selbst kennen, wenn er sich nicht erinnerte?“ S.194

Romane, in denen der Fund von Briefen Auslöser für eine Identitätssuche sind, sind nicht neu. Und doch ist dieser etwas Besonderes. Auf mehreren Zeitebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven, zu denen auch die Briefe gehören, nähert sich der spannungsgeladene Plot der Auflösung der familiären und sozialen Verstrickungen. Dabei finde ich die Verknüpfung mit der politischen Entwicklung der 80er Jahre in Ostberlin und Europa bis zum Mauerfall sehr gelungen.

Meri Valkama geht ganzheitlich mit dem Thema um und wirft auf, was den Menschen, die blieben, durch die Wende auch VERLOREN ging und was hätte sein können, wenn die DDR unter neuen Vorzeichen weiter hätte existieren dürfen. Der Schwerpunkt liegt aber auf der Familiengeschichte und Viljas Suche.

Kleine Abstriche muss ich bei der Übersetzung machen. Über manche Wortwahl und hölzernen Sätze geriet ich ins Stolpern. Auch der ein oder andere Logikfehler im Plot ließ mich ungläubig zurück. Mir kann sowas wirklich den Spaß verderben, aber hier hat es den Gesamteindruck nicht getrübt: es bleibt ein guter empfehlenswerter Schmöker.

Bewertung vom 03.03.2024
Flirren
Brunner, Helwig

Flirren


ausgezeichnet

"Ist es besser gut zu sein oder stark? Diese Frage stellt sich nicht mehr in Zeiten der alles überrollenden Schwäche, der kollektiven Überforderung. Wir haben keine Wahl, wir sind, das ist die Wahrheit, weder gut noch stark.“ S.163

Wir sind im 25. Jahrhundert.

Bei Temperaturen über 50 Grad und heftigen Sandstürmen sieht es in den österreichischen Alpen aus wie in der australischen Wüste. An Energie mangelt es nicht: Sonne und Wind sind im Überfluss vorhanden, werden aber in unbeschreiblichen Mengen für die Kühlung der sogenannten Humanareale und zur Wassererzeugung gebraucht. Die Wasserversorgung kann aus Grund- und Regenwasser schon lange nicht mehr gedeckt werden.

In einem solchen Humanareal lebt Leonard als Vergangenheitsforscher, für dortige Verhältnisse auf 20 m² mit Außenfenster sogar recht komfortabel. Doch sein Leben ist zum Stillstand gekommen. Leas Tod, die er als seinen „Lebensmenschen“ bezeichnet, hat ihn in ein tiefes Loch gerissen. Während die Beschreibung der verheerenden Ereignisse der letzten Jahrhunderte, die zu den katastrophalen Lebensumständen geführt haben, einen düsteren Sog entwickelt, wird der Ton weich und lebendig, sobald von Lea die Rede ist. Es scheint, als wäre die Erinnerung an sie und die Liebe das einzig fruchtbare in dieser trockenen Zeit.

„Lea wurde zum Kern meiner Lebensfreude, ihr Tod meine Kernschmelze.“ S.82

Es gibt wenig, das aus der alten Welt überlebt hat und auf das Leonard in seiner Forschung zurückschauen kann. Die „Behörde“ wird durch künstliche Intelligenz gesteuert, Bücher und Schriften gibt es kaum noch, denn das nötige Wissen wird den Menschen über digitale Uploads vermittelt. Doch der Mensch ist ein Mensch. Oder nicht? Was ist es, das in dieser Welt das Menschsein ausmacht? Welche Werte, welche Kulturgüter haben überlebt?Helwig Brunner bettet in kurzen Kapiteln die Story von Leonard und der verlorenen Liebe in einen philosophischen und auch poetischen, fast lyrischen Abgesang auf das Zeitalter der Menschheit. Ausgefeilte, wie Diamanten geschliffene Sätze prägen ebenso den Ton, wie wehmütige, melancholische und zarte Worte das Leben und den Blick zurück beschreiben.

Antworten, Hoffnung? Nein oder nur wenig. Ansporn, die Welt, die wir haben, zu schützen und das, was uns als Menschen auszeichnet zu bewahren? Ja!

Helwig Brunnner hat Musik und Biologie studiert, ist nicht nur Autor, sondern auch Herausgeber einer Lyrikbuchreihe UND Geschäftsführer eines ökologischen Planungsbüros mit Schwerpunkt Energiewende. Es war diese Mischung, die mich interessiert hat und die dieses Buch tatsächlich prägt.

Eine klare Empfehlung für alle, die Freude an Gedankenspielen und keine Angst vor „ungeschönten und kompromisslosen“ Dystopien vom Ende des „Hoffnungszeitalters“ haben.

Bewertung vom 03.03.2024
Samota
Hapeyeva, Volha

Samota


ausgezeichnet

Maya ist Vulkanforscherin und hofft in einem Institut für Vulkanologie etwas zu finden, das sie weiterbringt. Ihre Forschung und auch ihr Leben sind irgendwie ins Stocken geraten. Als hielte die Welt auf einem Scheidepunkt die Luft an. In dem Hotel, in dem sie abgestiegen ist, begegnen ihr seltsam ferne Menschen, die einen Kongress über die Regulation der Tierpopulation abhalten. In der Bibliothek, in der sie Antworten zu ihrer Forschung sucht, findet sie stattdessen Rätsel, die auch mit ihrer Freundin Helga-Maria zu tun haben. Und dann ist da noch die Parallelerzählung von Sebastian, dem sanftmütigen Naturbeobachter und Tierfreund, der dem undurchsichtigen und unheimlichen, eiskalten Jäger Mészáros begegnet. Wo führt das alles hin und wo liegt der Zusammenhang?

Diese Frage habe ich mir lange gestellt, während ich durch Volha Hapeyevas fantastische und rätselhafte Welt schritt. Sie erzählt melancholisch, lakonisch und poetisch mit liebevoll und sanftmütig gezeichneten Protagonist:innen. Besonders Maya fühle ich mich sehr nah. Auf unterschiedlichen, metaphorisch aufgeladenen, teils traumhaften Ebenen springen wir über Elemente des magischen Realismus von Szene zu Szene. Ich verliere den Faden. Die Sprünge sind abrupt. Ich suche nach dem Kern, dem Kontext. Will fast schon aufgeben und erlebe dann doch eine unverhoffte Wendung, greife einen Satz und lasse mich in seine Poesie wie in ein weiches Kissen fallen.

Der Untertitel des Buches lautet: „Die Einsamkeit wohnt im Zimmer gegenüber.“ Die Menschen hier sind einsam, auf sich gestellt, allein in den unterschiedlichen Begegnungen mit dem Bösen. Selbst auf der Suche nach dem Kontext, nach der Verbindung. Liegt diese Verbindung in der Empathie, dem Mitgefühl mit allem: der Natur, ALLEN Tieren, Menschen? Wie lebt es sich in einer Welt, die so ohne Empathie zu sein scheint? Sind wahre Demokratie, Diversität, Gleichberechtigung ohne Empathie möglich?

„Es gibt keine schrecklichere Bestie auf der dieser Welt als den Menschen, der seine ‚Humanität‘ auslebt.“ S.163

Volha Hapeyeva ist eine erfolgreiche belarusische Lyrikerin, Übersetzerin und promovierte Linguistin. Auf Deutsch erschienen von ihr u.a. zwei Gedichtbände. Ich mochte die Lyrik ihrer Sprache, das Versonnene ihrer Gedanken, das auch in krasse Brutalität umschlagen kann, wenn es um die Beschreibung des entwürdigenden Bösen geht. Für mich, die große Freude an Sprache und Texten, die nachdenklich machen, hat, war diese Lektüre eine sehr bereichernde Entdeckung, die mich neugierig auf mehr von der Autorin gemacht hat.