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Benutzername: 
galaxaura
Wohnort: 
Köln

Bewertungen

Insgesamt 33 Bewertungen
Bewertung vom 21.04.2024
Die Stimme der Kraken
Nayler, Ray

Die Stimme der Kraken


ausgezeichnet

Unbedingte Leseempfehlung!

Mit „Die Stimme der Kraken“ (Originaltitel: The Mountain in the Sea“ – ich habe Fragen an die übersetzende Person...), erschienen 2024 bei Tropen/J. G. Cotta, legt Ray Nayler einen Ökothriller vor, oder einen Wissenschaftsroman, oder einen Scifi-Kracher, oder eine Dystopie? – ich kann mich nicht entscheiden und das ist gut so, denn schon im ersten Abschnitt „Qualia“, der in die Handlung einführt wird deutlich: Hier hat mensch ein ultrakomplexes Buch in den Händen, dass sich dennoch total spannend und fluffig liest und den mensch nicht mehr aus der Hand legen möchte.
Der Thriller spielt im asiatischen Raum und der Start hat es in sich, wir tauchen direkt lebendig ein in die Atmosphäre von der Autonomen Handelszone Ho Chi Minh, kurz AHZHCM, die Nayler mit wenigen knackigen Beschreibungen gekonnt und sinnlich greift. Sofort wird es auch visionär, offenkundig unserer Zeit voraus trifft ein Mann namens Lawrence in einem kleinen Cafè auf eine Person des Konzerns DIANIMA – oder ist es eine KI? – und berichtet dieser von einem Zwischenfall auf dem Archipel Con Dao, das jahrelang sein Lebensmittelpunkt war und auf dem er sich als Tauchlehrer und Veranstalter von Tauchgängen verdingte. Beim Tauchgang zu einem Wrack kam es dabei zu einem rätselhaften Vorfall, der der Auslöser für den weiteren Gang der Handlung war. Dieses erste Kapitel ist kurz und direkt mehr als spannend, setzt ganz viele Informationen und Fragen frei und endet so, dass die lesende Person, die es sowieso schon mit jeder Zeile gespürt hat, nun ganz sicher weiß: Hier ist etwas überhaupt nicht okay. Ein perfekter Einstieg in einen Thriller! Lawrence ist offenkundig bei seinem Tauchgang ungewollt auf eine besondere Existenzform, eine Spezies des Riesenkraken gestoßen – und nicht nur er ist davon fasziniert, sondern auch viele andere, vor allem jedoch der Konzern DIANIMA, der den Archipel Con Dao deshalb aufkauft, alle Menschen evakuiert und entschädigt und ab dann alles tut, um dieser Lebensform auf die Spur zu kommen. Ist dieses Wesen vielleicht der Schlüssel zur Zukunft, eine Möglichkeit, dem Wesen aller Dinge auf die Spur zu kommen und die KI als eine nur lächerliche Konstruktion erscheinen zu lassen? Die Meeresforscherin Dr. Ha Nguyen, eine Künstliche Intelligenz oder weit mehr als das namens Evrim und eine wahre Kampfmaschine Altantsetseg begeben sich zusammen auf die Reise zu einer neuen Spezies, dem Octopus Habilis – und je näher sie diesem Wesen rücken, desto tiefer werden auch die Erkenntnisse über die eigene Spezies.
Die Stimme der Kraken verhandelt auf wirklich brillante Weise die Themen der Existenzphilosophie: Was ist das Sein? Wann beginnt Bewusstsein? Gibt es ein Selbst? Freien Willen? Wo fängt menschliches Leben an? Sind wir als Spezies wirklich so besonders? All das ist eingebettet in ein dystopisches Setting, in dem Menschen als Sklaven gehalten werden, unser Ökosystem Erde bis an den Rand ausgebeutet wird, Wissenschaft korrumpierbar ist, KIs sich unter die Menschen mischen und es immer schwieriger ist, sie zu indentifizieren, KIs teils spooky sind, teils roboterhaft, teils aber auch die besseren Menschen, eine Welt, in der der Mensch als optimierbar und ersetzbar erscheint, aber doch auch immernoch existiert, eine Welt, die oft wie ausgehöhlt wirkt, doch in ihr pumpen die Tentakel des Lebens – und des Kraken.
Die Handlung verfolgt dabei mehrere Ebenen und Systeme, diese sind gut markiert und die Wechsel dazwischen sind gut nachvollziehbar. Ein Clou ist das Buch im Buch, es gibt viele Verweise auf ein Buch der wissenschaftlichen Hauptfigur Dr. Ha Nguyen „Wie Meere denken“, die mich sehr zum Nachdenken gebracht haben. Fast schon schade, dass dieses Buch noch nicht geschrieben wurde in unserer Realtität, das würde ich gerne lesen  Und ein weiteres Buch im Buch ist das Werk „Die Mauern des Geistes“ von Dr. Arnkatla Mínervudóttir-Chan. Und ja: Diese Mauern haben wir alle. Müssen wir sie einreißen und unser Bewusstes Sein ganz neu denken?
In jedem Fall konnte ich dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen. Unbedingt auch noch erwähnen muss ich die außerordentlich schöne Gestaltung, das stoffartige Hardtop, auf dem leuchtend der Krake illustriert ist, wunderschöne Farben und ein knackiger Farbschnitt – das macht sich auch gut im Regal!
„Das Großartige und das Schreckliche der Menschheit ist: Wir werden immer das tun, wozu wir in der Lage sind.“ Sagt Dr. Mínervudóttir-Chan an einer Stelle im Buch. Das ist so wahr, wie dieses Buch klare 5 Sterne verdient. Unbedingte Leseempfehlung.

Bewertung vom 18.04.2024
Mühlensommer
Bogdahn, Martina

Mühlensommer


gut

Das Potenzial noch nicht ganz ausgeschöpft

„Mühlensommer“, der Debutroman von Martina Bogdahn, ist ein extrem ehrliches Buch über das Leben auf und mit einem kleinen Bauernhof – ein Buch voller Nostalgie, Kindheitserinnerungen der 70er und 80er Jahre, Familienbindung und Heimatgefühl, aber auch voller Härte, Zweifel, Zwist und Ohnmacht. Der etwas harmlose Titel „Mühlensommer“ täuscht darüber hinweg, dass hier durchaus auch der Winter des Lebens verhandelt wird.
Der Einstieg ins Buch ist sehr gelungen: Maria wird aus ihrem energetischen Stadtleben gerissen, ein Notfall, der Vater hat sich daheim beim Arbeiten im Wald schwer verletzt, die Mutter kann in dieser Situation den Hof nicht mehr allein stemmen, Marias Bruder Thomas ist nicht erreichbar, Maria muss jetzt unterstützen und all ihre eigenen Pläne erst einmal zurückstellen. Der Kontrast zwischen dem überhitzten Stadtleben und dem stillen Bauernhof ist atmosphärisch klar greifbar. Dabei wird die Landromantik immer wieder gut in Bezug gestellt zu der ebenfalls vorhandenen Enge des Denkens, den Regeln und Ritualen, der Grausamkeit und den vielen Pflichten, die es zu erfüllen gibt – aber eben auch den Heimatgefühlen, den lebendigen Erinnerungen an Kindheit, den Gerüchen und Geräuschen, die es eben nur dort gibt. Direkt schon spürbar die vielen Fragen an das erwachsene Marketingagenturleben von Maria, was braucht der Mensch zum Glück? Maria gerät schnell in die Schere zwischen Heimatsgefühl und doch auch vielen nicht nur guten Erinnerungen. Mit der fortschreitenden Handlung werden Familienverhältnisse und Zerrüttung und Neid deutlicher. Dabei wechselt die Perspektive beständig zwischen der Gegenwart und Erinnerungen an die Kindheit von Maria hin und her. Ich konnte als Kind der 70er mit vielem relaten. Wie so ein Hof betrachtet wird von einem Außenstehenden (immerwährender Urlaub) im Verhältnis zu Hofbesitzern (immerwährende Arbeit und Fessel) wurde gut herausgearbeitet, über allem schwebt dennoch ein Heimatsgefühl, dem man sich nicht erwehren kann, auch wenn die Vernunft weiß, was man sich da ans Bein binden würde, wenn man bleibt. Die Frage, wie es dem Vater geht, rückt dabei zunehmend in den Hintergrund, immer mehr geht es um die Frage, wie es überhaupt mit dem Hof weitergehen soll – und mit Marias Leben. Wo gehört sie hin, die doch so voller Elan und Plänen vom Hof der Eltern geflüchtet war, die das als einzige das Abitur geschafft hat, die nur in die große Stadt wollte, etwas Eigenes aufbauen, anders leben, nicht so wie die Eltern, nicht auf dem Hof. Und die nun wieder in ihrem alten Kinderzimmer sitzt und merkt, dass hier vielleicht noch mehr auf sie wartet als nur eine alte Schneekugel. Immer mehr wird klar, dass eigentlich niemand richtig glücklich ist mit dem Gewählten. Maria wächst die Stadt über den Kopf, Thomas fühlt sich auch irgendwie gefesselt, die Mutter träumt von einer Hofbäckerei statt der Plackerei mit Wald, Feld und Vieh. Aber niemand macht sich auf den Weg. Dafür muss erst der Vater im Sterben liegen. Wann erkennen wir, was uns wert ist und wer wir sind, wohin wir wollen?
Am Ende fallen viele Dinge an den richtigen Platz, allerdings fallen sie auch sehr schnell und teilweise unmotiviert. Es wäre gut gewesen, vielleicht ein paar der vielen Erinnerungsteile einzusparen und dafür der Gegenwart und dem Zusammenfinden etwas mehr Zeit und Seiten zu gönnen. Natürlich reden wir hier auch über ein erstes Buch, aber es ist schade, dass die eigentliche Hauptstory doch immer wieder gegenüber den Anekdoten aus der Vergangenheit in den Hintergrund tritt. Insgesamt hat mich das Buch an vielen Stellen sehr gut unterhalten und es zeigt ein sehr authentisches Bild von einer kleinen Landwirtschaft und all dem, was daran hängt. Aber es wird leider auch das Potenzial nicht ausgeschöpft. Vielleicht gelingt das ja dann mit dem nächsten Buch, das hoffentlich folgen wird. Denn schreiben kann Martina Bogdahn richtig gut.

Bewertung vom 16.04.2024
Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen
Grigorcea, Dana

Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen


gut

Ein Buch als Lecture-Performance

„Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen“ von Dana Grigorcea ist ein Werk, das sich nicht in Schubladen stecken lässt und sich einer Rezension nahezu entzieht, zumindest einer eindeutig wertenden. Und vielleicht führt das direkt zum Kern der Sache: Der Kunst.
Doch fangen wir außen an: Beim Einband. Wirklich wunderschön kommt der Schutzumschlag daher, haptisch sehr beglückendes, festes Papier und ein fragmentarisch wolkenhaftes Design, das gleichermaßen an Puzzle wie auch Memory erinnert. Das darunterliegende Hardcover verkehrt die Farben ins Gegenteil – und auch das passt so gut zum Inhalt des Romans, der eigentlich fast eher eine Lecture Performance ist.
Zwischen den Buchdeckeln verknüpft Dana Grigorcea auf der Oberfläche zwei Jahrhunderte und zwei Geschichten, bei genauerer Betrachtung sind es doch drei, die sowohl im weiten als auch im engen Sinne die Frage stellen: Was ist Kunst? Und wer darf von sich behaupten, sie zu schaffen? Welche Eigenschaften muss ein Werk haben, dass es sich Kunst, eine Person, dass sie sich Künstler:in nennen darf? Um dieser Frage auf die Spur zu gehen, wechselt das Erzählte zunächst rasant zwischen den bildenden Künstler Constantin Avis, der in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mit einer Bronzeskulptur nach New York reicht, um dort seinen künstlerischen Durchbruch zu erreichen einerseits sowie andererseits der Autorin Dora, die mit ihrem Sohn Loris und einem Kindermädchen ein Schreibstipendium an der ligurischen Küste antritt, um dort einen Roman über eben diesen Constantin Avis endlich zu Papier zu bringen. Die Perspektiven wechseln in sehr kurzen Kapiteln rasant und es braucht seine Zeit, die Handlungsbögen zu durchdringen. Grigorcea fängt sehr gut die Atmosphäre der 20er Jahre und die Dekadenz im Künstlertum ein und auch in der zweiten Geschichte an der ligurischen Küste ist das Flair sehr gegenwärtig. Beide Hauptfiguren tragen die Gemeinsamkeit, dass das Leben sie von ihrer Kunst ablenkt oder dieser im Weg steht und verhalten sich sehr hermetisch und um sich selbst kreisend, was sie nicht unbedingt zugänglich macht. Auch nicht für die Liebe.
Dem Roman liegt ein wirklich brillantes Konstruktionsprinzip zugrunde, indem die Lesenden immer einen Teil dessen schon lesen, was parallel Dora erst noch erfindet. Dieses Spiegel-Prinzip, das auch in vielen kleine Motiven auftaucht, gipfelt darin, dass an einer Stelle die Schauspielerin Alba Fantoni im Film Alba Fantoni selbst vor einem Publikum spielt, betrachtet von einem Publikum im Kinosaal, wiederum betrachtet von der diese Geschichte ja schreibenden Dora, wiederum betrachtet von uns Lesenden. Und am Ende des Buches stellen wir fest, dass Fantoni gar nicht ist, was sie scheint. Das ist schon genial ausgedacht. Was ist echt, was ist Imitation, was erzeugt in der Spanne zwischen echt und imitiert etwas Drittes, Neues?
Während die Handlungen der Kunstschaffenden voranschreiten, wird in diese Geschichten hinein noch eine dritte Geschichte erzählt, die Geschichte der Laura Cavallaro – die nicht nur als Kontrast, sondern vor allem dazu dient zu zeigen, wie sehr Dora in der Möglichkeit lebt statt im Tun, wie eigentlich alle Menschen ein Leben lang auf der Suche sind und nicht zur Ruhe kommen, nie wirklich, wie das Suchen belebender ist als das Finden, zum anderen wird dadurch deutlich, wie sehr viele Künstler:innen immer in der Theorie leben, in der Idee. Es sind viele Fragen, denen Grigorcea nachgeht, auch der nach der Unterscheidung von Kunst und Handwerk. Ihr eigenes Handwerk versteht sie dabei sehr gut, ihre schriftstellerische Qualität kann es an vielen Stellen mit der eines Thomas Mann aufnehmen, ich musste tatsächlich oft an seinen Zauberberg denken.
Viel Lob also für Idee, Konstruktion und Sprache, da könnten noch viele Details genannt werden. Und dennoch lässt das Buch und auch sein Ende mich ratlos zurück. Es werden viele Fäden angesponnen und nicht fertig gewirkt, der Blick auf die Figuren bleibt immer distanziert und nüchtern, die Beziehungen wirken fast durchweg ungesund, die Künstler:innen werden als wahnhaft klischiert, alles bleibt offen, nichts verbindet sich wirklich, auch nicht mit mir. Das alles ist sicher kein Zufall, sondern genauso gewollt, zu klug wird hier gearbeitet. Aber genau diese Klugheit lässt das Buch für mich im Abstrakten bleiben, trotz konkreter Geschichten und hat in mir nichts ausgelöst, die zugrundeliegenden Stories bleiben an der Oberfläche, der Blick auf die Kunst einseitig. Und so müsste ich für die schriftstellerische Qualität fünf Sterne geben, für das Gefallen einen. Weshalb ich mich bei drei einpendeln werde und nur vorschlagen kann, sich selbst ein Bild zu machen, in welche Richtung das eigene Pendel ausschlägt.

Bewertung vom 01.04.2024
Alte Sorten
Arenz, Ewald

Alte Sorten


ausgezeichnet

Ein Seiltanz ins Glück

„Alte Sorten“ von Ewald Arenz, erschienen 2019 im DuMont Buchverlag, ist ein Buch wie ein Spätsommerabend: warm, irgendwie nostalgisch, summend und glücklich machend.

Liss und Sally sind zwei Menschen, die auf der Oberfläche der pure Gegensatz sind, innendrin aber so gleich, dass diese zwei Seelen direkt miteinander schwingen wie Ying und Yang eben oder schwarz und weiß – erst miteinander vollkommen. Beide tragen ein Geheimnis, beide tragen tiefe Wunden. Und vielleicht geschieht das ja manchmal wirklich, dass zwei Menschen, die genau den anderen so sehr brauchen, aufeinandertreffen, ganz zufällig, und sich dann nicht mehr loslassen, ganz ohne Zwang, ganz ohne Müssen.

Alte Sorten ist ein Buch voller Melancholie und voller Hoffnung, mit einem packenden Plot, von dem ich nichts spoilern möchte, mit so viel Gefühl und so viel Schmerz, aber vor allem mit Licht! Diesem sanften Licht, das morgens über einer Wiese steht, weshalb das Setting eines alten Bauernhofes nicht besser gewählt sein könnte. Die Alten Sorten, das vergessene Wissen, das viele, was schon immer in uns wohnt, all das kann ein Weg zur Heilung sein und ein Weg raus aus unserer lauten Welt, ohne dass wir diese hassen und verdrängen müssen. Arenz wählt im Schreiben seine Worte so klug, alles ist mit so viel Genauigkeit und Bedachtsamkeit gesetzt, dass mensch hier durch eine Sternstunde des Schreibens schreiten darf und am Ende des Buches voller Sehnsucht ist, noch einmal ungelesen von vorn beginnen zu können. Weil das aber nicht geht, muss ich jetzt diese Rezension beenden, tut mir leid, ich habe keine Zeit, ich muss schnell alle anderen Bücher von Ewald Arenz lesen!

„Es war so selten, dass die Dinge im Gleichgewicht waren. Ohne Glück und ohne Trauer. Oder anders: dass Glück und Traurigkeit in einem so in der Schwebe waren, in so einer perfekten Balance, dass man sich nicht bewegen wollte.“ (S. 127) So ist dieses Buch. Unbedingt lesen.

Bewertung vom 31.03.2024
Und dann sind wir gerettet
Carati, Alessandra

Und dann sind wir gerettet


ausgezeichnet

„Und dann sind wir gerettet“, das Romandebut von Alessandra Carati, erschienen 2023 im nonsolo Verlag, ist eines dieser seltenen Bücher, die mensch nicht mehr aus der Hand legen möchte: Ein Ausnahmebuch, das es verdient, auf den Bestsellerlisten ganz weit nach oben zu wandern. Ein Buch, dem ich nicht mit einer kurzen Rezension gerecht werden kann.
Die Autorin beschreibt die Situation einer Familie auf der Flucht vor dem Bosnienkrieg so klar, schnörkellos, gedrängt, teilweise gewaltvoll aber vor allem immer auch poetisch, dass es einen direkt packt. Vor allem die Sprache ist einfach wunderschön. Der erste Abschnitt April 1992/Flucht gibt vor allem indirekte Informationen über den Jugoslawienkrieg. Es ist eher der emotionale Gehalt, der einem mit aller Brutalität bewusst wird.
Im zweiten Abschnitt, 1992/1993/Die Familie zieht mit der Geburt von Ibro auch das Thema "Geschwister" in den Roman ein. Ich hatte mich schon davor gefragt, wie es wohl sein muss, wenn ein Geschwisterkind Krieg, Flucht und alte Heimat am eigenen Leib erlebt hat und erinnert und das andere nicht. Beide sind zwar Teil derselben Familie, wachsen aber unter so unterschiedlichen Voraussetzungen auf, das stelle ich mir schwierig vor. Zumal die Eltern sich zunehmend so traumatisiert zeigen, dass hier wenig Unterstützung vorhanden ist: Der Vater, der immer aggressiver und gewaltvoller wird, weil er keine Lösung für all die Probleme finden kann und die Mutter, die sich immer weiter zurückzieht und apathisch schweigt, keine Liebe mehr geben kann. Beide Eltern erzeugen wirklich heftige und gewaltvolle Momente in ihrer Hilflosigkeit.
Die Familie zeigt ansonsten erstaunlich wenig Anpassungsprobleme, verdrängt aber mehr oder minder erfolgreich durchweg, dass der Krieg noch länger dauern kann. Immer wieder wird das Hier und Jetzt als Provisorium angesehen, wird beschworen, dass man zurückgehen wird. Das macht es schwierig anzukommen und sich weiterzuentwickeln.
Bedrückend, wie sehr der Krieg auch zehn Jahre später noch das Leben der Familien bestimmt. Sehr plastisch wird für mich beschrieben, wie absurd die recht willkürliche Neuaufteilung in neue autonome Länder ist - mit weitreichenden Konsequenzen für die Bevölkerung, die entwurzelt wird und neu zugeordnet, was auch zu extremem Misstrauen unter Menschen führt, die früher alle zusammen an einem Ort gelebt haben. Die daraus abgeleiteten Gedanken, dass man nun für immer im Exil ist und seine Heimat verloren hat, dass sie nicht wieder herstellbar ist, finde ich zutiefst schmerzhaft. Verrückt, wie die Elterngeneration dann dennoch weiter an einer Rückkehr klammert und sich einfach nicht neu in Italien zuordnen und einleben kann. Ein Leben auf gepackten Koffern, mit einer ständig aufgeklappten Schere im Herzen.
Carati schildert all dieses so dicht und emotional stark und mensch ist durchgehend sehr berührt von allen Figuren. Es fühlt sich an, als wären sie alle in Schraubzwingen gepresst, beim Lesen oft kaum auszuhalten. Man wünscht ihnen allen so sehr Luft unter den Flügeln.
Der letzte Abschnitt bringt noch einmal eine starke Wendung mit sich, die ich hier auf keinen Fall spoilern möchte. Was ich aber noch sagen kann: Fertig mit dem Buch und auch ein bisschen fertig mit der Welt war für mich im letzten Abschnitt sehr eindrücklich, dass es einfach nie ein vollkommenes Ankommen in der neuen Welt gibt. Aida macht eigentlich eine Vorzeigeintegrationsgeschichte durch und dennoch verfolgt sie bis zum Schluss der Krieg, das Trauma, die Zerrissenheit. Wie muss es sein, immer aus einem empfundenen Defizit heraus zu leben (und sich zeitgleich immer schuldig zu fühlen und das Gefühl zu haben, aus allem das Maximum rausholen zu müssen, denn man hat es ja herausgeschafft, anders, als viele andere)? Auch in diesem letzten Abschnitt ist der Krieg präsent, wie eine mahnende Wolke, die über allem schwebt und sich nie richtig auflöst. Vor allem aber erscheint der Krieg hier auch als Erblast, als etwas, aus dem man als Sieger:in im neuen Leben hervorgehen muss.
Das Buch hat für mich bis zum letzten Satz einfach alles eingehalten, was ich mir von einem Buch nur wünschen kann. Sprachlich einfach ganz besonders ausgezeichnet, durchweg zutiefst berührend, eine so kluge Geschichte über das, was Kriege EIGENTLICH auslösen, in uns, in den Menschen, im Miteinander, wie weitreichend die Folgen über Generationen hinweg sind, ich bin auf eine sehr gute Art vollkommen zerstört 5-Sterne-deluxe, ich würde gerne 6 Sterne geben können. Einzig die einleitenden Zitate vor den Abschnitten hätte ich nicht gebraucht. Sie geben für mich nichts dazu, das ist so ein komisches Dekor, das gegen den Roman sowieso nur abfallen kann. Und wenn ich mir etwas für die nächste Auflage wünschen dürfte, wären das noch ein paar mehr Begriffserläuterungen. Aber das sind Marginalitäten angesichts dieses wirklich großen Wurfs. Ich hoffe, wir werden noch ganz viel von Alessandra Carati zu lesen bekommen.

Bewertung vom 29.03.2024
Ostseefinsternis / Pia Korittki Bd.19
Almstädt, Eva

Ostseefinsternis / Pia Korittki Bd.19


sehr gut

Ein echter Ostsee-Pageturner

Mit Ostseefinsternis, dem inzwischen 19. Band der Pia Korittki-Reihe, legt Eva Almstädt in gewohnt guter Manier erneut einen echten Pageturner vor, den mensch nicht mehr aus der Hand legen möchte.
Wie gewohnt startet es spannend in Eva Almstädts neuem Ostseekrimi Ostseefinsternis und doch wird auch sofort mit unserer Erwartungshaltung gespielt. Stella Böttcher wird nachts auf dem Nachhauseweg überfallen und misshandelt – wider Erwarten überlebt sie den Angriff jedoch relativ unbeschadet (wir haben also gar keine Leiche) und führt uns in die Geschichte einer alten Familienfehde zwischen den „Böttchers“ und den „Hagendorfs“. Ein Inselklassiker :-D In diesem Zusammenhang feiere ich extrem die Aufmachung des Buches mit dem eingefalteten Buchdeckel, hinter dem sich die Stammbäume und Familienkonstellationen der Böttchers und Hagedorns verbergen und so einen guten Überblick geben – die lesende Person wird den Stammbaum mehrfach heranziehen, so kompliziert ist die Gemengelage und auch Pia selbst stöhnt in der Mitte des Buches auf und wünscht sich genau eine solche Grafik, ein schöner Binnenwitz.
Was also hat es auf sich mit diesem Überfall? Almstädt liefert uns auf den ersten Seiten direkt eine Vielzahl von Motiven und Verdächtigen, schafft es für mich aber dennoch gut, dass mensch all die Namen und Personen einsortieren kann und ein Bild von ihnen bekommt. Über all dem wacht die Familienchefin Helmgard, die vielleicht im physischen Sehen eingeschränkt ist, ansonsten aber vielmehr sieht, als manch anderer.
Und Pia? Kämpft erst einmal mit ihrem Privatleben, mit ihrem Sohn Felix, der Angst vor tiefem Wasser hat (wie ungünstig, wenn man in Lübeck, genau zwischen Nord- und Ostsee lebt), dem sie noch irgendwann irgendwie erklären muss, dass eigentlich Marten, ihr Freund, sein Vater ist, mit dem Urlaub, den sie tatsächlich mal machen kann, und von dem wir schon ahnen: Das wird nix.
Der Schreibstil ist, wie immer bei Almstädt, einfach super, genau die richtige Menge an Details, unterlegt mit einem feinen Humor, sehr gute, unaufwändige, oft indirekte, also eher durch die Wirkung auf das Gegenüber erzählte Figurencharakterisierungen und ein spannungsgeladener Faden, der sich durchzieht.
Während sich Pias Konflikt mit sich selbst vertieft, zum einen die Traumatisierung, zum anderen ihre Besessenheit von ihrem Beruf, die es ihr fast unmöglich macht, abzuschalten und dann noch die innere Not, ihrem Sohn zu erzählen, wer wirklich sein leiblicher Vater ist, kommt es nach knapp 50 Seiten dann auch zum Mord.
Wie immer findet Almstädt die genau richtige Dosis zwischen Privatleben der ermittelnden Personen und Handlung des Falles. Und wer das Leben auf dem Dorf kennt, der weiß: Hier ist jede:r mit jede:m verstrickt, so dass sich die Verdächtigen munter die Klinke in die Hand geben und die Verwirrung immer mehr steigt. Hier hätte fast jede:r ein Motiv, was die Mörder:innensuche extrem spannend und vielfältig gestaltet über lange Strecken des Buches. Almstädts flüssiger Schreibstil und ihr herrlicher Humor tun ein Übriges und drumherum immer präsent: Die Ostsee.
Am Ende wurde es für mich leider an einigen Stellen unplausibel und die ermittelnden Personen standen doch mehr auf dem Schlauch, als ich es ihrer Intelligenz und Erfahrung zutraue, dann noch ein retardierendes Moment, das zuvor für mich nicht wirklich sauber aufgebaut wurde und auch kaum Handlungsrelevanz hatte. So hat mich Almstädt trotz eines wirklich 1A rasanten Showdowns dann doch ein bisschen verloren auf den letzten Metern, weswegen es nicht ganz für die 5 Sterne reicht, die ich dem Buch über weite Strecken gern gegeben hätte. Dennoch in jedem Fall ein absolut lesenswerter Krimi, für den mensch sich am besten ein Wochenende nichts vornimmt, denn aus der Hand möchte mensch ihn nicht mehr legen!

Bewertung vom 23.03.2024
Malnata
Salvioni, Beatrice

Malnata


sehr gut

„Malnata“ von Beatrice Salvioni ist nicht umsonst ein Buch, das innerhalb eines Jahres in 35 Ländern verlegt wurde.
Wir tauchen mit den beiden Hauptdarstellerinnen ein ins Italien der 30er Jahre, das geprägt von Mussolinis Faschismus und extrem patriarchalen Katholizismus war: Keine gute Zeit für unangepasste Frauen. Oder Mädchen. Francesca und Maddalena (La Malnata) sind dabei als Protagonistinnen zunächst scheinbar so unterschiedlich wie es nur sein kann – doch je näher wir beiden im Verlauf des Buches kommen, desto klarer schält sich ein gemeinsamer Kern heraus. Beide suchen schon verzweifelt ihre Identität, kämpfen und Sichtbarkeit, Autarkie und die Abgrenzung von geltenden Rollenbildern.
Das Buch startet mit einer sehr gewaltsamen Szene, derentwegen ich dem Verlag dringend ans Herz legen möchte, eine Triggerwarnung voranzustellen, da der Klappentext einem nicht wirklich einen Hinweis darauf gibt, dass so etwas einen erwarten könnte – und es gibt viele Menschen, die in Buchläden mal eben in die ersten paar Seiten hineinlesen. Hier sehe ich Nachbesserungsbedarf.
Die Themen sind sofort auf dem Tisch: Maddalena, die Unangepasste, wird mit vielen ausgrenzenden Attributen belegt: Malnata, die Unheilbringende, die Hexe, die dir den Tod einhaucht – was sonst soll man auch zu einem Mädchen sagen, dass große Verbrechen begeht: Die Beine zeigen, mit Jungs abhängen, am Fluss spielen, einfach weil sie es will, nicht in die Kirche gehen, mutig sein, sagen, was sie denkt, Kirschen klauen, wenn man sie nicht bezahlen kann, Menschen in die Augen sehen. Es ist eine Welt, in der Jesus und Gott alles sehen und Kinder mit dem Glauben aufwachsen, bloß keine Fehler machen zu dürfen. Nicht nur die Mädchen. Auch die Jungs. Die werden tendenziell eher verprügelt, Mädchen wird neben den Schlägen noch das Gefühl von Scham und Schande eingebleut. „Die Welt bestand aus Regeln, die man nicht übertreten durfte.“ Daran hat sich nichts geändert, manchmal denke ich fast, es ist auf eine perfide Art schlimmer geworden, weil die Regeln gläsern geworden sind: Nicht mehr zu sehen, aber doch vorhanden, und trittst du hindurch, dann läufst du auf Scherben. Eingeengt in eine Welt, in der Francesca zwar irgendwie behütet aber auch sehr eingesperrt aufwächst, ist es bedrohlich, ihr bei ihren ersten Schritten in die Freiheit mit Maddalena zuzuschauen, da schon klar ist: Dafür wird sie bezahlen. Die bildgewaltige Sprache der Autorin und ihr atmosphärischer Schreibstil ziehen die lesende Person intensiv in die beschriebene Welt.
Im weiteren Verlauf übernehmen Faschismus und Katholizismus eine immer tragendere Rolle, das Leben der beteiligten Menschen spitzt sich immer weiter zu und die Charaktere kreisen schwerpunktmäßig viel um sich selbst, was nicht unbedingt zu Empathie führt – nicht bei ihnen und auch nicht bei mir als Leserin. Auch wenn sehr deutlich wird, woher die Wunden und Verhaltensmuster kommen – so ist doch nicht immer nachvollziehbar, warum die Figuren nicht den Schritt schaffen, sich anders als gewaltvoll zu verhalten. Es ist eine Welt der Sublimation, die hier beschrieben wird, schriftstellerisch durchgehend brillant, vom Plot her zunehmend leider konstruiert. So geht dem Buch für mich, nach einer starken, sehr berührenden ersten Hälfte im letzten Drittel leider etwas die Luft aus. Indirekt ist „Malnata“ ein großes Plädoyer, genauer hinzusehen und darauf zu achten, welchen Blick wir auf die Welt richten. „Worte sind gefährlich, wenn man sie gedankenlos ausspricht.“

Bewertung vom 16.03.2024
Liebesmühe
Wessely, Christina

Liebesmühe


sehr gut

Auf dem Cover von Christina Wesselys neuem Buch „Liebesmühe“, erschienen 2024 im Carl Hanser Verlag, ist eine von der betrachtenden Person abgewandte schmale Frau zu sehen, die in einem Sessel sitzend ihren Schatten betrachtet – den Schatten ihrer Selbst. Es gibt wahrscheinlich kein besseres Bild für das Thema des Buches.
Wessely beschreibt in „Liebesmühe“ punktgenau und in schonungsloser Ehrlichkeit die Emotionen einer jungen Mutter, die nach der Geburt eines Kindes in eine postpartale Depression verfällt, ein Phänomen, das in unserer Gesellschaft noch immer radikal tabuisiert wird und zu dem mensch kaum Hilfestellung erlangt. Frauen im westlichen Europa, insbesondere privilegierte Frauen, haben ein reiches, selbstbestimmtes Leben vor einer Schwangerschaft und Geburt, und werden auf einmal komplett in eine Fremdbestimmung geworfen – größer kann die Lücke im Selbstbild nicht gespannt werden – so ergeht es auch Wessely, was sie sehr berührend und eindringlich beschreibt. Und mit all dem sind, so wie Wessely, die meisten Gebärenden allein. Der Partner verschwindet spätestens nach ein paar Wochen Elternzeit wieder in große Anteile seines vorherigen Lebens, die Freunde und Freundinnen leben ihr Leben weiter und schauen nur ab und zu auf einen Kaffee vorbei, die Eltern leben meist an einem anderen Ort. Die daraus entstehende Zerrissenheit zwischen altem und neuem Selbstbild macht Wessely leicht nachzuempfinden. Und zu wem also in diesem System sollte man einen Satz sagen können wie „Ich habe Angst vor dem Kind“ – ohne sofort als „krank“ angesehen zu werden? Gut ist, dass Wessely dabei nicht aus einer Betroffenheit heraus emotional schreibt, sondern sich selbst in der dritten Person analysiert, was der lesenden Person durchweg ermöglicht, bei aller Empathie auch die Außenschau zu bewahren. Und neben dem Schmerz bekommen auch andere wichtige Emotionen Raum, „Zorn über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die mütterliche Depression noch fördern. Über die vollkommen irrsinnigen, überzogenen gesellschaftlichen Erwartungen Mutterschaft betreffend, die strukturell in größter Spannung mit weiblichen Erfahrungen stehen. Denen man nie entsprechen kann. Die krank machen.“
Im zweiten Teil des Buches wird es nach der emotionalen Achterbahnfahrt des ersten Teils deutlich wissenschaftlicher – Wessely findet wieder mehr Zugang zu sich selbst und somit auch Zugang zu der kritischen Gesellschaftswissenschaftlerin, die sie ist. Analytisch nimmt sie deshalb auseinander, wie Mütter in der westlichen Gesellschaft zum einen in einen Berg von Theorien und Wissen geworfen werden, mit dem sie sich unbedingt auseinandersetzen sollen, zum anderen aber ständig zurück „zur Natur“ geführt werden sollen und so ein „das ewig Weibliche“-Mythos über sie gestülpt wird. Beides führt dazu, wie Wessely auch hervorragend herausarbeitet, dass frau sich eigentlich ständig defizitär und ungenügend fühlt und sich on top auch noch die damit einhergehenden Gefühle abspricht und verbietet. Unser heutiges Mutterbild wird in seiner historischen Entwicklung aufgedröselt und viele ideologischen Aspekte werden hinterfragt.
Am Ende des Buches spricht Wessely ganz offen über die Scham und das im Nachhinein auf sich selbst schauen und manchmal nicht verstehen können, wie man als denkender Mensch in so einem Tunnel feststecken konnte. Da bleibt ein Gefühl von Schuld, das ganz schwer zu kanalisieren ist – und auch dort ist Gesellschaft wirklich keine Hilfe, manchmal ist dort sogar Therapie keine Hilfe, je nachdem, an wen man so gerät. Es ist noch so viel zu tun für die moderne Frau. Der erste Schritt ist ehrliches darüber Sprechen – weshalb es mehr als wichtig ist, dass Wessely so offen darlegt, wie sie mit sich gekämpft hat, sich doch zumindest ein bisschen besser darstellen zu wollen. Und die Sorge, was das bedeuten kann, wenn dieses Zeugnis in der Welt ist und irgendwann ja auch von ihrem Sohn gelesen werden kann – welche Veränderung wird das dann für ihr Verhältnis bedeuten? Insofern ein besonders mutiger Schritt, diesen Bericht nicht unter Pseudonym zu veröffentlichen, was ja auch möglich gewesen wäre.
Was definitiv fehlt: Triggerwarnungen und ein Anhang mit Verweisen auf Beratungsstellen und Hilfsangebote.
Auf jeden Fall ist „Liebesmühe“ aber ein extrem wichtiges Buch, dem ich viele Leser:innen wünsche, vor allem auch viele Leser.

Bewertung vom 13.03.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

Mit „Trophäe“ ist Gaea Schoeters ein Ausnahmeroman geglückt, der zu einem atemlosen Leseerlebnis führt, nach dem ganz sicher nichts mehr so ist wie es vorher war. Das eindringliche Cover mit dem würdevollen Nashornkopf führt uns direkt in den Konflikt von archaischer Natur und machthungriger Zivilisation, der im gesamten Buch die Handlung vorantreibt und nur zu lösen wäre, wenn – ja wenn der Mensch nicht der Mensch wäre.
Hunter White ist ein Mensch, der an Widerlichkeit wirklich kaum zu überbieten ist – und er versucht, die Big Five vollzumachen, indem er endlich ein Nashorn schießen kann. Denn vor allem ist Hunter White auch: Jäger. Und Mann. Die Kunst der Autorin besteht darin, richtig nah ran an die innere Logik des Jägertäters zu gehen und schonungslos dessen Besessenheit aufzudecken – aber auch die Logik, die hinter seinem Denken und Handeln liegt und die dieses für ihn zwingend macht. Dabei geht sie so sachlich und klar vor, dass man über weite Teile nicht darum herumkommt, das eigene Denken in Frage zu stellen und zumindest kurzfristig immer wieder eine ganz neue Perspektive auf die Großwildjagd zu entwickeln. Und das wühlt wirklich auf. Hunters Gedanken und Äußerungen machen einerseits sehr klar, dass die Jagd für ihn nur ein Mittel ist, um sich lebendig zu fühlen, um ein Machtgefühl zu erhalten, um den Adrenalinkick zu erleben und zu siegen, einfach nur zu siegen. Unendlich viel Kolonialdenken steckt auch in vielen Gesprächen, wenn er beispielsweise formuliert, dass ihm schon als Kind „das ursprüngliche Afrika“ geraubt wurde oder überhaupt in der Art wie er erwartet, dass Tiere und Reviere für ihn bereitgestellt werden. Dem entgegen steht auf schon absurde Weise ein Teil seines Business, das darin besteht, recht willkürlich Landzonen aufzukaufen, um die Erde als Natur zu bewahren (und sie nach seinem Goodwill zu gestalten). „Er, Hunter, Mann.“
Ein Gedanke, der leider erst einmal bestechend war, war für mich, dass es letztlich die Großwild-Jagdlizenzen sind, die zum Artenschutz beitragen, weil sie die Wilderei aushebeln, indem sie ausreichend Geld ins Land spülen und dafür sorgen, dass es einen Grund gibt, die Arten zu schützen. Ich bin innerlich dem Gedanken erst einmal komplett gefolgt und dachte, oha, da ist ja viel dran. Bis mir dann wieder aufgefallen ist, dass das natürlich nur daran liegt, dass die Mehrheit der Menschen kapitalistisch, kurzfristig und ausbeuterisch lebt und denkt – wäre das nicht so, dann würde auch diese Logik nur auf tönernen Füßen stehen.
Auf jeden Fall gelingt es der Autorin bedrückend gut, in die Gedanken- und Gefühlswelt von Hunter White (ich liebe alles daran) einzusteigen und einen auf diese Reise mitzunehmen – und die Jagd selbst ist superspannend gestaltet, ich habe mich mehrfach selbst ans Atmen erinnern müssen. Der Ekel, den man parallel empfindet, während man spannungsgeladen mit auf die Jagd geht, ist enorm und die Autorin schafft es genial, einen die ganze Zeit eng an der Hand zu führen, es wird keine Pause gegönnt.
In der zweiten Hälfte des Buches geschieht dann ein Plottwist, der hier nicht verraten werden soll, der Schoeters aber die Möglichkeit gibt, die Jagd komplett ad absurdum zu führen und uns in brutaler Ehrlichkeit all die Hässlichkeit zu zeigen, die ihr inneliegt. Dabei verrutschen die Dimensionen des gelangweilten Menschen aus der „Zivilisation“ immer weiter und die pseudologischen Rechtfertigungen auch. Die Jagd der Native Inhabitants und der Weißen kommt immer mehr in Konfrontation: „Für uns ist das eine Frage des Überlebens, Mister White. Nicht des Egos. Oder der Trophäen.“ Das Ende des Buches ist im Detail nicht vorhersehbar und bietet Möglichkeiten, die man in seiner kühnsten Phantasie eigentlich nicht denken möchte.
Mein Fazit: Ein aufrüttelndes, mich absolut bewegendes, über viele Teile heftig abstoßendes (aber im guten Sinne) Buch, das eine unglaublich brillante Autorinnenleistung darstellt und fast durchweg die Spannung extrem hochhält. Pageturner mit unfassbar viel Gehalt und Abgrund. Für mich klare 5 Sterne und ein Stoff, der mich noch länger beschäftigen wird. Mein großer Respekt an die Autorin, sich mit diesem Thema so auseinanderzusetzen und es in diese geniale Form zu bringen. Unbedingt lesen. Unbedingt lesen. Unbedingt lesen. Großer Anwärter auf das Buch des Jahres.

Bewertung vom 11.03.2024
Noto
Sack, Adriano

Noto


ausgezeichnet

Mit „Noto“ ist Adriano Sack ein schriftstellerisch brillanter und emotional extrem berührender Roman der Meisterklasse geglückt. „Noto“ fängt die dunklen Wolken über den Bergen Siziliens genauso atmosphärisch ein wie die aufgehende Sonne über dem Meer, es ist ein Buch über Trauer und Verzweiflung – und über Leben, Leben, Leben! Und die Liebe.
Konrad bringt die Asche seiner großen Liebe, Adriano, nach Sizilien, um sie dort zu zerstreuen. Sizilien, der Ort ihrer Liebe, der Ort, an dem mit einem Haus, dass sie aus einer Laune heraus anfingen zu bauen, ein Bekenntnis zu ihrem Miteinander steht. Ein Miteinander, das in den letzten Jahren auch aus viel Trennung bestand, aber Trennung, die Raum gibt, die Atmen möglich macht und immer wieder neues Aufeinanderzugehen: „Ich brauche meine Schlösser und Inseln, zu denen Du keinen Zutritt hast.“
Adriano ist einen viel zu frühen und viel zu sinnlosen Tod gestorben (gibt es sinnvollen Tod?) und hat Konrad überfordert und überrumpelt mit einer eben genau nicht Leere, sondern einer Fülle zurückgelassen, eine Fülle von schwebenden Erinnerungen und unglaublicher Präsenz, von der Konrad sich nicht befreien kann und vielleicht auch nicht will. „Du musst dich öffnen! Entpanzern!“ Dieser Herausforderung stellt sich der einsame Mann, der nicht nur die Tage seit Adrianos Tod immer exakt benennen kann, sondern auch die Stunden.
Sack spielt eindrücklich mit Sprache und Bildern für die emotionale Katastrophe, Bilder, die am Anfang des Romans traumatisch und düster sind, in denen immer eine Hälfte fehlt und es viel um das Sehen geht, um den Kontrast zwischen Fehlen und Vernichtung und Dasein und Horizont. Wenn in der Mitte des Buches ein Feuer fast den gesamten Berg aufzufressen droht, und eine Entscheidung im Raum steht – abfackeln, Asche zu Asche oder doch löschen und retten, was zu retten ist – dann sind alle Emotionen klar auf dem Tisch, ohne jemals benannt werden zu müssen. Überhaupt ist es das, was diesen Roman ausmacht, wie der Autor unglaublich geschickt alles Innen in ein Außen bringt und so wirklich tief ins Herz trifft, weil er eben nicht verkitscht ein Innen beschreibt.
Sein zweiter genialer Schachzug ist, dass er Adriano weiter Sprechen lässt und dieses Sprechen kein Dialog wird, sondern immer über allem schwebt, wie ein Voice Over, das gar nicht zwingend das Geschehen kommentiert, aber immer klarer herausarbeitet, wie die Beziehung und das Zusammenleben von Konrad und Adriano waren, was nun alles fehlt. Mit aller Deutlichkeit wird gezeichnet, dass wir Vergangenheit nun einmal nicht aufholen können und Zukunft immer anders sein wird, als wir sie planten.
Wann also ist Jetzt und wie lebt man darin? Wann darf man wieder lieben und ist jedes Lieben nur ein Außer Sich Sein? Wie viel Trauer muss sein, wie viel darf, wie viel Zeit muss man den Atem anhalten, bis man sich erlösen darf davon? Und muss das alles überhaupt? Kann man annehmen, dass alles im Leben seine Zeit hat und ganz ohne Schmerz? Es sind existentielle Fragen, die dieser Roman einem so karg und schroff entgegenschreit, wie die Felswände um Palermo aufragen. Und die Menschen, die in ihm durch das Leben reisen, sind dabei so warm und herzlich und glaubwürdig, wie der Grillo abends auf der Terrasse, wenn die Nacht still wird. Wer Sizilien kennt, sieht es perfekt eingefangen mit all seinen Widersprüchlichkeiten und den vielen Bezügen auf lokale Gegebenheiten. „Sizilien ist wie eine Kaktusfeige“, sagte er: „Du spürst es zuerst kaum, aber es bohrt sich etwas in dein Fleisch, was du nie mehr rauskriegst.“ Am Ende liegt es immer an uns. Wir sind schon glücklich. Wir wissen es nur noch nicht.
Unbedingt erwähnt werden muss auch noch das wunderschöne Cover im Stil des Expressionismus mit seinen leuchtenden Farben – ist mir sofort ins Auge gesprungen und bildet für mich perfekt alles ab, was in diesem Roman steckt. Eine ganz klare Leseempfehlung. Wer dieses Buch nicht liest, hat wirklich was verpasst.