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Mango

Bewertungen

Insgesamt 104 Bewertungen
Bewertung vom 03.12.2022
Queenie
Carty-Williams, Candice

Queenie


ausgezeichnet

Nachdem ich von People Person absolut begeistert war, wollte ich natürlich mehr von Candice Carty-Williams. Dass ich Queenie dann auf Bookbeat gefunden hab, war einfach großes Glück. Mal abgesehen davon, dass mir die Geschichte sehr gut gefallen hat, hat auch Patricia Cordiun einen tollen Job als Sprecherin gemacht. Sie hat die Emotionen wirklich gut transportiert und die Geschichte noch bedeutender gemacht.
Queenie ist eine sehr eigene Protagonistin. Mit Mitte 20 denkt sie, ihr Leben sei vorbei. Die Beziehung zu ihrem Freund Tom kriselt, mit der Beziehungspause kann sie nicht umgehen. Auch mit ihrer Arbeit ist sie nicht besonders zufrieden. In der Zeitungsredaktion scheint sie sich nicht durchsetzen zu können, ihre halbherzigen Versuche, über Feminismus und Rassismus zu schreiben, werden abgeschmettert.
Ihre Verzweiflung wird immer greifbarer und zeigt sich in selbstzerstörerischen Handlungen. Sie lässt sich auf Männer ein, die offensichtlich nicht gut für sie sind, nimmt Dinge hin, die sie offensichtlich nicht möchte, Hauptsache jemand ist da. Auf dieser Abwärtsspirale begleiten wir sie sehr lange und auch sexuelle Handlungen, mit denen sie nicht immer einverstanden ist, werden explizit beschrieben. Wartet unbedingt mit dem Buch, wenn ihr euch da nicht stabil genug fühlt.
Als sie ganz unten angekommen ist, ohne Wohnung, mit gefährdetem Job und einem geschundenen Körper, wird es endlich Zeit für sie, etwas zu verändern. Der Weg zurück in ihr Leben ist steinig und erfordert viel Mut, aber Queenie ist bereit, Verantwortung zu übernehmen.

Ich wusste nicht ganz, was mich erwarten würde, aber damit hab ich nicht gerechnet. Die Tiefgründigkeit und die Härte, die diese Geschichte mitbringen, haben mich doch überrascht. Ich hatte eher mit einer leichteren, lustigeren Geschichte gerechnet, nach den kurze, begeisterten Sätzen, die ich so gelesen hatte.

Aber das, was ich bekommen habe, war so viel besser. Es liefert eine wertvolle Perspektive, die, einer schwarzen Frau mit psychischen Problemen. Eine, die es hasst, wenn ihre Haare angefasst werden. Die aufgeklärt ist Rassismus klar benennt. Aber auch eine, die sich selbst nicht genug ist. Die eigentlich weiß, dass das alles so nicht okay ist, aber trotzdem mitmacht.

Nein, Queenie ist nicht die größte Sympathieträgerin. Sie kann frustrierend sein und trifft Entscheidungen, die auf den ersten Blick absolut unlogisch sind. Aber Candice Carty-Williams schafft es in meinen Augen, sie nachvollziehbar zu machen. Ohne ihr Handeln durchgängig zu erklären, bekommen wir gute Einblicke in ihre Gedanken und ihre Vergangenheit. Es ist keine Überraschung, dass Queenie fühlt, wie sie fühlt, auch wenns nicht immer angenehm ist.

Ihre größte Stütze sind ihre Freundinnen, die es mit ihr alles andere als leicht haben. Trotzdem bleiben sie an ihrer Seite, sind ehrlich zu ihr, auch wenn es weh tut. Mich bewegen solche Dynamiken ja immer sehr. Der Konkurrenzkampf wird unter Frauen zu gern befeuert und es ist wunderschön, hier eine Gruppe starker, unterschiedlicher Frauen zu haben, die sich gegenseitig unterstützen und verzeihen.

Das Buch greift unheimlich viele wichtige Faktoren auf. Zum einen geht es sehr viel um die Fetischisierung schwarzer Frauen. Um den Druck, der westlichen Leistungsgesellschaft und vor allem darum, dass wir unser Glück am Ende bei uns selbst und nicht in einer Beziehung finden.

Queenie wird nicht jedem gefallen und sie wird euch zwischendurch frustrieren. Aber wenn ihr euch darauf einlassen könnt und empathisch an ihre Geschichte herangeht, wird sie euch berühren. Ich werde sie nicht vergessen und kann euch dieses Buch nur ans Herz legen.

Bewertung vom 04.11.2022
Café Leben
Leevers, Jo

Café Leben


gut

Henriette scheint nicht so ganz in unsere Welt zu passen. Was sie in ihrem Leben erlebt hat, zwang sie, sich zurück zu ziehen. Es sind Regeln und Strukturen, die ihr Halt geben, andere Menschen meidet sie. Nur ihrem Hund Dave, der auch seine Eigenheiten mitbringt, lässt sie an sich ran. Ihre Gefühle hält sie tief in sich verborge, zu Sentimentalitäten neigt sie nicht. Die perfekten Voraussetzung für ihren neuen Job im Café Leben. Es gehört zur Rosendale-Krebsambulanz, ihre neue Aufgabe ist es, Lebensbücher zu erstellen. Todkranke Menschen erzählen ihre Geschichte - Für sich selbst, oder für Angehörige - und im Cafè Leben werden Bücher daraus gemacht.
“Ihrer Erfahrung nach sind Witze wie Bälle, die einem in hohem Tempo zugeworfen werden: schwer zu fangen und noch schwerer zurückzuspielen.”
Auch wenn es ein Vorteil ist, dass Henriette bei den Geschichten nicht wie ihre Vorgängerin weint, machen es ihr ihre sozialen Schwierigkeiten nicht immer leicht. Ihre größte und wichtigste Aufgabe ist die Geschichte der exzentrischen Annie. Annie ist 66 und hat keine Angehörigen, für die sie das Buch möchte. Sie lebt mit furchtbaren Erinnerungen und blickt voller Reue auf ihr Leben zurück. Ihr letzter Wunsch ist es, diese Dinge auszusprechen und hinter sich zu lassen, um in Frieden sterben zu können.
“Jedenfalls fühlt es sich ganz ähnlich an, wenn sie nach alten Erinnerungen gräbt: So weit wie möglich streckt sie die Hände aus, um die frühsten, glücklichsten zu erreichen, aber sie kann sie nicht finden. Bei jedem Versuch schließen sich ihre Finger um etwas Scheußliches, das dichter an der Oberfläche ist.
Nach einem holprigen Start beginnt Annie zu erzählen, scheint aber Dinge zu verschweigen. Henriette, die an ihre eigenen Kämpfe erinnert wird, kann das alles nicht so stehen lassen. Das große Geheimnis, dass Annies Leben bestimmte, muss gelüftet werden und sie möchte Annie Antworten liefern. Neben einer spannenden Suche, entsteht auch eine Freundschaft zwischen den, auf den ersten Blick, sehr unterschiedlichen Frauen. Inhaltlich möchte ich gar nicht zu sehr auf die Traumata, die beide mit sich tragen eingehen, der Klappentext ist da auch seeehr zurückhaltend. Aber damit ihr bescheid wisst, worauf ihr euch einlasst: Es geht um den Tod und das verschwinden von Kindern und um Gewalt in Partnerschaften. Die ganze Geschichte ist ziemlich düster und wer mit Leichtigkeit und einer kurzweiligen Story rechnet, wird enttäuscht.
Die Story an sich hatte wirklich starke Momente. Der Beginn war gut, ich mochte Henriette auf Anhieb und war gespannt, was hinter Annies Geschichte und Henriettes Traurigkeit liegt. Leider verliert die Geschichte dann immer mehr an Tempo und die Charaktere sind immer schwerer greifbar. Der Mittelteil plätschert vor sich hin und auch wenn hier wirklich krasse Themen behandelt werden und beide Frauen einiges durchgemacht haben, konnte mich das Buch einfach nicht packen oder berühren. Ich bin bei Büchern eigentlich sehr nah am Wasser gebaut, dieses lies mich aber kalt.
Am Ende wurde dann noch mal Gas gegeben und alles ausgepackt. Plötzlich wurde es noch mal spannend, leider immer noch nicht wirklich berührend. Die Idee hinter der Geschichte ist wirklich gut und durch den angenehmen Schreibstil lies es sich dann trotz der Längen ganz gut lesen.
“Aber in den vielen Stunden im Café Leben hat Henriette gelernt, dass die Gesprächspausen, die Momente, in denen die Menschen verstummen, genauso wichtig sind, wie die Worte, die sie aussprechen.”
Ich hätte das Buch so gern so richtig gemocht, vor allem, weil mir auch Henriette auf Anhieb so gut gefallen hatte. Sie zeigt, wie liebenswert Eigenheiten sein können und dass es immer Menschen gibt, die diese zu schätzen wissen, wenn man den Mut aufbringt, sich zu öffnen.
Café Leben lebt von der einzigartigen Prämisse und einem besonderen Rätsel. Der Fokus liegt für mich mehr auf der Story und den kleinen Twist, das Herz fehlt aber leider einfach. 

Bewertung vom 28.10.2022
How to Be an Antiracist
Kendi, Ibram X.

How to Be an Antiracist


ausgezeichnet

Ich hab mal wieder ein großartiges Buch gelesen! How to be an Antiracist von Ibram X. Kendi. Ja, es geht mal wieder um Rassismus und wenn ihr euch jetzt denkt ‚Ach komm, muss das sein?‘ dann kann ich nur sagen ‚JA! Und wenn ihr das nicht versteht, wirds Zeit, auch mal anzufangen, sich damit zu beschäftigen.‘

Genau wie Ibram X. Kendi würde ich auch gern in einer Rassismusfreien Welt leben. Aber der Wunsch, dass Rassismus aufhört und ‚colorblind‘ sein, lösen das Problem nicht, wie der Autor hier wundervoll aufarbeitet. Wir alle haben eine Verantwortung und müssen eine Entscheidung treffen. Rassist, oder Antirassist?

“Wir wissen, wie man rassistisch ist. Wir wissen, wie man so tut, als ob man nichtrassistisch wäre. Jetzt müssen wir nur noch lernen, wie man antirassistisch wird.”
Obwohl How to be an Antiracist viel theoretisches bietet und viele Themen behandelt, wird es nicht trocken. Das liegt besonders an Ibram X. Kendi. Er reflektiert sich selbst, beleuchtet seine Vergangenheit und ist schonungslos ehrlich. Sein Mut hat mich wirklich beeindruckt. In den letzten Jahren hat er viel dazu gelernt und spricht heute offen über früherer Fehler und seinen ‚Schwarzen Richter‘.

Bisher habe ich mich tatsächlich mehr mit deutschen Autor*innen und dem Rassismus in Deutschland beschäftigt. Hier bekommen wir jetzt mal einen Einblick in Amerika und puh. An sich ist das alles nichts neues, aber so noch mal so geballt zu lesen, ist wirklich schlimm. Trotzdem bin ich froh, es getan zu haben.

“Wir waren unbewaffnet, aber wir wussten, dass unser Schwarzsein auch ohne Waffen als bewaffnet galt. Ihr Weißsein entwaffnete die Polizisten - sie machte aus ihnen furchtsame, potentielle Opfer -, selbst wenn sie sich nur einer Gruppe harmloser und ängstlicher Teenager näherten.”
Nach einer allgemeinen Einführung widmet Ibram X Kendi dann verschiedenen Ebenen des Rassismus. Immer im Hinterkopf dabei der intersektionelle Gedanke. Er spricht von biologischen, raumspezifischen, verhaltensspezifischen, klassenspezifischen, ethischen und körperspezifischen Rassist*innen. Auch kultureller, antiqueerer und gender Rassismus werden behandelt. Viele Themen, viele Probleme. Aber alle verständlich dargestellt, immer mit einer persönlichen Note, die dieses Buch so einzigartig macht.

Über How to be an Antiracist gibt es unheimlich viel zu sagen, aber diesem Buch würden meine Worte niemals gerecht werden. Es ist bisher definitiv eins der besten Bücher, die ich zum Thema gelesen habe. Ich kann es euch nur empfehlen und bin sehr dankbar, für die wertvollen Denkanstöße.

Bewertung vom 27.10.2022
Ex
Lewina, Katja

Ex


ausgezeichnet

Was sagen unsere Ex-Beziehungen über uns aus? Wie viel lernen wir über uns selbst, wenn wir mit ihnen in Kontakt treten? Und wie prägt das Patriarchat Beziehungen? Katja Lewina trifft ihren Ex Paolo und beginnt eine aufregende Reise in ihre Vergangenheit.

„So ist das also, wenn man endlich spricht. Die zweite Wahrheit kommt ans Licht. Die des:der andere:n.“

Ihr Plan ist es, ‚die zehn wichtigsten Männer ihres Lebens‘ ausfindig zu machen und unangenehme Gespräche zu führen. Es geht nicht um Vorwürfe, oder darum, alte Streitereien fortzuführen. Viel eher ist sie offen für ‚die zweite Wahrheit‘ und andere Perspektiven.

Ihre Erlebnisse und Erkenntnisse schildert sie ausführlich in ihrem neusten Werk ‚Ex’. Manchmal wundervoll poetisch und romantisch, an anderer Stelle ernüchternd und klar. Immer mit einer radikalen Ehrlichkeit und der Bereitschaft, eigenes Fehlverhalten aufzuarbeiten, aber auch äußere Einflüsse zu beleuchten.

„Denn die Fähigkeit, Liebesbeziehungen zu führen, fängt bei uns selbst an. Wir alle schleppen Beschädigungen aus Kindheit und Jugend mit uns rum, die uns das Beziehungsleben schwer machen. Wenn wir derer nicht gewahr sind, dann gute Nacht.“

Nachdem ich ein großer Fan ihres ersten Buchs ‚Sie hat Bock‘ war, habe ich mich umso mehr auf diese Reise gefreut und bin absolut nicht enttäuscht. Es hat auf der einen Seite total viel Spaß gemacht, das alles zu verfolgen, auf der anderen war es unheimlich informativ und hilfreich.

Ich glaube, dass wir menschlich sehr unterschiedlich sind, Beziehungen ganz anders betrachten. Und trotzdem gab es immer wieder Momente, in denen ich mich ertappt fühle. Aber auch die Situationen, die ich nicht komplett nachvollziehen konnten, waren total spannend zu lesen und haben mir ganz neue Perspektiven geliefert.

Katja Lewina spricht am Anfang von Serieller Monogamie. Unüberlegt stürzt sie sich in Beziehungen, immer auf der Suche, nach dem einen Mann, der sie rettet. Dass sowas selten gut ausgeht, ist kein Geheimnis. Heute lebt sie in einer polyamoren Ehe, auch um ihren Ehemann geht es hier natürlich.

„Und so stürzen wir uns kopflos in Beziehung um Beziehung, produzieren wir Ex um Ex um Ex. Und für Frauen gilt das sogar noch mehr als für Männer. Denn was sind wir schon im Patriarchat ohne die Liebe eines Mannes?“

Neben ihren persönlichen Gefühlen und Gedanken spricht sie auch immer wieder über unsere Gesellschaft und hinterfragt auch hier einiges. Mich hat es wirklich beeindruckt, wie reflektiert und offen Katja Lewina an die ganze Sache gegangen ist. Gleichzeitig hat es sich für mich manchmal komisch angefühlt, so private, intime Einblicke zu bekommen.

Katja Lewina nimmt kein Blatt vor den Mund und schreibt auch über Sex sehr offen. Auch hier müsst ihr für euch selbst entscheiden, ob ihr damit klar kommt, mir hats ziemlich gut gefallen. Auch ihren Humor zeigt sie hier sehr gut und lockert viele Situationen damit noch mal auf.

Ex ist eine faszinierende, emotionale Reise, die wirklich lesenswert ist. Natürlich wird es nicht jede*n interessieren und es ist kann Überwindung brauchen, so tief in die Empfindungen anderer Menschen einzutauchen. Wenn ihr da aber Bock drauf habt, kann ich euch das Buch nur empfehlen.

„Ja, wir neigen zwar dazu, immer wieder die gleichen Fehler zu machen. Aber wir sind ebenso in der Lage, unsere Muster zu verändern. Wenn wir sie uns nur bewusst genug machen und ihnen nicht das Feld überlassen. Es liegt ganz an uns. Ein wichtiger Schritt dahin ist, die eigene Vergangenheit zu verstehen.“

Bewertung vom 24.10.2022
Wodka mit Grasgeschmack
Mittmann, Markus

Wodka mit Grasgeschmack


ausgezeichnet

Wodka mit Grasgeschmack erzählt von einer Reise in die Vergangenheit, um die Gegenwart besser verstehen zu können. “Letztlich verreist man immer zu sich selbst.”
Zwei erwachsene Söhne und die Eltern machen sich in einem gelben VW-Beetle auf Richtung Osten. Im ‚Zitronenauto‘ werden Witze gemacht, die Nähe und die Gefühle der Familie sind in jeder Zeile spürbar, vor allem, als sie ihren Zielen näher kommen.

Die Ziele sind die Dörfer, in denen die Eltern aufgewachsen sind, bevor ihre Kindheit ein frühes Ende fand. Vertrieben aus Schlesien, übrig sind heute nur noch die Erinnerungen und die Mohnmühle. Sie schätzen ihren Mohn und den Frieden heute viel mehr, als die junge Generation, die all diese schrecklichen Dinge nicht mitbekommen haben.

“Noch bevor meine Eltern verstehen konnten, was Heimat ist, haben sie sie verloren.”

Dass auch die Kinder der Vertriebenen einen Schmerz in sich tragen, ist kein Geheimnis. Der Erzähler und sein Bruder lernen nicht nur die Eltern auf dieser besonderen Reise besser kennen. Gerade zum Ende hin wird das eigene Leben und Empfinden immer öfter hinterfragt.

Eine Reise, die Wunden aufzureißen scheint, die eh nur grob verheilt waren. Der Wunsch, nach Heilung und Verständnis. Fragen, die in der Luft hängen bleiben und Antworten, die ausgesprochen werden mussten.

“Schmerzen von damals, aber die Tränen frisch und von heute.”

Ich hatte mich unheimlich auf Wodka mit Grasgeschmack gefreut und hatte schon fast Angst, zu große Erwartungen gehabt zu haben. Tatsächlich hat Markus Mittmann es dann aber geschafft, meine großen Erwartungen noch zu übertreffen.

Wunderschöne, bildhafte Beschreibungen, die das Gefühl wecken, live dabei zu sein. Beeindruckende Orte und leckeres Essen werden eindrücklich beschrieben. Dazu eine Familie, voller Liebe und Unterstützung, gerade in so einer emotionalen Zeit.

Vor allem am Ende, als die Mutter erzählt und in Erinnerungen schwelgt, habe ich einige Tränen verdrückt. Mir gefällt die Entwicklung des Romans unheimlich gut und wie wir immer tiefer in die Zeit rutschen. Der Humor vom Anfang wird weniger und wir erleben intime, rührende Momente mit einer Familie, die ihre Wurzeln ergründen.

Gerade am Anfang gibt es einige Sprünge in der Erzählung, mit denen ich mich nicht immer leicht getan habe. Das lässt zum Glück nach, lasst euch also bitte nicht verunsichern, wenn ihr am Anfang Probleme haben solltet!

Danke für diese außergewöhnliche Reise Markus Mittmann! Ich habe historisch einiges dazu gelernt und auch emotional hast du mich sehr berührt. Ich kann Wodka mit Grasgeschmack weiterempfehlen, wenn euch diese Perspektive interessiert und hoffe, dass noch sehr viele Menschen zu diesem tollen Werk greifen.

Bewertung vom 19.10.2022
Frau mit Messer
Byeong-mo, Gu

Frau mit Messer


sehr gut

“Aber im Grunde ist es egal, wie man als alter Mensch ist, die Leute wollen nicht über einen Nachdenken.”
Hornclaw wird älter und ihr Leben verändert sich. 40 Jahre lang arbeitet sie jetzt schon als ‚Schädlingsbekämpferin‘. Die Schädlinge die sind bekämpft sind Menschen und die Bezahlung ist gut. Von der Unsichtbarkeit, die das Älterwerden in einer Gesellschaft, die das Junge idealisiert, mitbringt, profitiert sie in diesem Job. Gleichzeitig spürt sie, dass Körper und Geist ihr immer mehr zu schaffen machen.

Sie selbst war nie ein Typ für Gefühlsduselei, merkt aber, dass ihr Gewissen sich immer häufiger meldet. Auch die Einsamkeit wird immer mehr zum Thema. Nur ihrem Hund Deadweight steht sie halbwegs nahe.

Nicht nur Hornclaw selbst merkt, dass es immer schwieriger für sie wird. Die Firma, für die sie tötet, beäugt sie kritisch, alle machen sich immer größere Sorgen wegen ihres Alters. Besonders ihr junger Kollege Bullfight scheint nur darauf zu warten, dass sie einen Fehler macht.

Byeong-mo Gu hat mit Frau mit Messer eine einzigartige, unterhaltsame Geschichte geschaffen. Hornclaw ist eine spezielle Protagonistin, die ich irgendwie in mein Herz geschlossen habe. Es macht einfach Spaß, sie zu begleiten und durch die vielen Erinnerungen, die sie teilt, lernt man sie wirklich gut kennen.

Die Story an sich bietet etwas weniger. Sie ist ziemlich vorhersehbar und bietet keine großen Überraschungen. Hier wäre auf jeden Fall mehr Potential da gewesen. Zum Glück wird die Geschichte aber durch andere Sachen getragen.

Zum einen ist das einfach Hornclaw, die wirklich faszinierend ist. Ihre Gedanken und Gefühle sind spannend zu verfolgen und mal etwas ganz anderes. Außerdem lernen wir Südkorea hier besser kennen. Es gibt viel Gesellschaftskritik und das Thema Altern kommt immer wieder auf.

Frau mit Messer ist kein Buch, das man unbedingt gelesen haben muss., trotzdem bin ich sehr froh, es getan zu haben. Die ungewöhnlichen Umstände und das seltene Setting konnten mich begeistern. Ich hatte beim Lesen total viel Spaß und werde noch lange an Hornclaw denken.

Bewertung vom 18.10.2022
Der Psychopath in mir
Fallon, James

Der Psychopath in mir


sehr gut

James Fallon ist Neurowissenschafler und Professor für Psychiatrie und menschliches Verhalten. Jahrelang ist er überzeugt davon, dass die genetische Veranlagung und nicht das Umfeld den Charakter prägen. Als bei ihm dann aber viel nebenbei läuft, rutschen anonymisierte Hirnscans durcheinander und er erfährt, das sein eigener Scan ‚die typischen Strukturen eines Serienkiller-Hirns aufweist‘.

Er beginnt, seine eigenen Thesen zu hinterfragen, und bietet der Wissenschaft dabei einige neue Anhaltspunkte. Außerdem hinterfragt er auch seine eigene Persönlichkeit und wie viel er wirklich mit ‚Psychopathen‘ gemeinsam hat. Diese unheimlich interessante Reise und einige Anekdoten aus seinem Leben schildert er zwischen fachlichen Erklärungen.

Das Buch beginnt mit der Frage, was Psychopathie ist. Hier greift er auf bekannte Filme zurück und nutzt viele Beispiele zur Einordnung. Auch kurze Exkurse in andere Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenie, Alzheimer und Depression gibt es immer mal wieder.

Für mich war es unheimlich faszinierend, die Geschichten von James Fallon zu lesen. Rückblickend ordnet er viele Situationen anders ein und erkennt, dass er tatsächlich über weniger Empathie verfügt und in jeder Situation auf den eigenen Vorteil aus ist. Er erzählt aber auch von einer schönen Kindheit und einem stabilen Umfeld. Diesen Umständen schreibt er, entgegen seiner ursprünglichen These, heute mehr Bedeutung zu.

Ich muss sagen, dass James Fallon im erzählen einige narzisstische Züge zeigt. Er scheint sehr von sich überzeugt, auf diese Selbstdarstellung muss man bock haben. Ich persönlich konnte einiges nicht ganz nachvollziehen, war überrascht, wie viele Situationen er als unschuldige Jugendsünden abtut. Und trotzdem fand ich sein Buch unheimlich fesselnd.

“Solche Vorfälle hätten mir verraten müssen, dass an meiner (fehlenden) emotionalen Reaktion etwas verkehrt war. Aber woher hätte ich wissen sollen, dass ich kein normales Gehirn hatte?“

Dass James Fallons ungewöhnliche Gehirnstruktur ihn beeinflusst wird deutlich, auch wenn er mehrere Jahre für diese Erkenntnis gebraucht hat. Ein gruseliger Serienmörder und eine große Gefahr für andere ist er dadurch aber nicht.

So interessant die autobiografischen Erzählungen auch sind, mein Highlight waren immer wieder die medizinischen Ausführungen. Seine Erklärungen zum Aufbau des Gehirns sind auch für Laien gut verständlich und seine Einordnungen differenziert und interessant. Auch der Genetik widmet er sich sehr ausführlich und stellt auch hier die Frage auf, wie viel Einfluss diese auf eine Persönlichkeit hat.

Der Psychopath in mir ist definitiv ein einzigartiges Buch. Ein besonderer Erzähler, der sich persönlich und wissenschaftlich dem Thema Psychopathie widmet. Dazu die Frage, wie viel Einfluss genetische,, neurologische und soziale Faktoren haben.

Bewertung vom 13.10.2022
Ein rassismuskritisches Alphabet
Ogette, Tupoka

Ein rassismuskritisches Alphabet


ausgezeichnet

Tupoka Ogette ist schon lange kein unbekannter Name mehr, wenn es um rassismuskritisches Denken in Deutschland geht. Nach ihren großartigen Büchern exit Racism & Und jetzt du, die ich immer gern empfehle, hat sie jetzt Ein rassismuskritisches Alphabet rausgebracht.

Ein schmales, wunderschön aufgemachtes Buch, das inhaltlich absolut überzeugt. Nach einer kurzen Einführung folgen 26 Begriffe, die knackig erklärt und eingeordnet werden. Dazwischen gibt es Immer wieder Platz für Gedanken und Raum, eigene Erkenntnisse zu benennen. Außerdem gibt es ‚Aufgaben‘, sich zum Beispiel schon mal zu überlegen, was man auf bestimmte Aussagen im Umfeld antworten könnte, um vorbereitet zu sein. Auch Buchtipps und andere Empfehlungen, um Themen noch weiter zu vertiefen, kommen hier nicht zu kurz.

Thematisch wird ziemlich viel abgedeckt. Natürlich müssen wir über Kolonialismus reden, wenn es um Rassismus geht. Außerdem geht es darum, warum Blackfacing, Yellowfacing und das N-Wort rassistisch sind. Auch das Thema Diskursverschiebung kommt immer wieder auf, hier geht sie auf bekannte Strategien wie Gaslighting und Derailing ein.

Allgemeine Themen wie Vorurteile und die Frage, wo sie beginnen, werden aufgegriffen und vieles mehr. Tupoka Ogette bietet hier eine großartige Einführung in verschiedene Themen, holt dabei aber auch alle ab, für die viel der Begriffe nichts neues sind.

Wenn ihr also bereit seid Happyland (noch weiter) zu verlassen und ein (noch) besserer Ally sein wollt, kann ich nur empfehlen, mal in das rassismuskritsche Alphabet zu schauen.

Bewertung vom 10.10.2022
ich föhne mir meine wimpern
Elspaß, Sirka

ich föhne mir meine wimpern


ausgezeichnet

Als ich den Namen Sirka Elspaß gelesen habe war mir klar, dass ich Ich föhne mir meine Wimpern brauche. Jahrelang habe ich sie bei Instagram verfolgt, schon immer fasziniert von ihren Worten und dem Talent, die unschönsten Gefühle einzufangen und zu umschreiben.

ich föhne mir meine Wimpern ist jetzt ihr erstes Buch, ein Werk voller starker Verletzlichkeit, das ich in den letzten Wochen direkt drei mal gelesen habe. Bei 80 Seiten und keinem verschwendeten Wort keine Überraschung. Ihre Gedichte gingen direkt in mein Herz, mit jeder Wiederholung mehr.

“jetzt steht da eine stille
die der videocall nicht überbrücken kann
es ist unmöglich
sich in die arme zu fallen wir würden
stürzen”


Zu viel steht zwischen den Zeilen, um jemals alles zu verstehen. Zusammenhänge zwischen den einzelnen Gedichten, die mit jedem Lesen deutlicher werden. Ein Bild, das nach jeder Betrachtung mehr Farbe bekommt. Ich föhne mir meine Wimpern ist für mich wie ein großes Puzzle, es braucht Zeit und Ruhe, zum Ergebnis zu kommen. Zwischendurch etwas frustrierend und aufregend, am Ende ist es das alles wert. Manchmal eine herzliche Umarmung, verbunden im leid. Manchmal Trost und die Erinnerung, dass es weiter geht, besser wird.

Sirka Elspaß schreibt von Einsamkeit und dem Wunsch nach einer Mutter, “neben der einen, die ich habe”. Von Crushes und vom Crashen. Von Zugehörigkeit und Distanz. Viele Tränen und Sorgen, viel Liebe. Psychische Ausnahmesituationen und Leid, dass kein Mensch stemmen müssen sollte. Doch Sirka Elspaß muss und daraus schafft sie Kunst.


Am Ende bleibt nur zu sagen
“niemand steht über den dingen
wir stehen alle mittendrin“
Und lest dieses großartige Buch.