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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Missmarie
Wohnort: 
Berlin

Bewertungen

Insgesamt 41 Bewertungen
Bewertung vom 16.08.2022
Freundin bleibst du immer
Obaro, Tomi

Freundin bleibst du immer


sehr gut

",Weißt du noch, was du zu mir gesagt hast, Funmi?´, fragte Enitan [...] ,Tu, was du tun musst, hast du zu mir gesagt.`
Von Frauen, die genau das tun, was sie fühlen tun zu müssen, handelt dieser Roman. Sei es eine Hochzeit aus Liebe auch gegen den Willen der Familie oder das Auswandern in ein anderes Land. Schon als die drei doch sehr unterschiedlichen Frauen sich an der Universität kennenlernen, wird schnell klar, hier treffen zumindest zwei starke Persönlichkeiten aufeinander. Toni Obaro schreibt über eine Freundschaft zwischen drei nigerianischen jungen Mädchen in den 80er Jahren. Sie lernen sich im Wohnheim bzw. bei den Proben zu einem Theaterstück kennen, verschiedene Ereignisse schweißen die drei eng zusammen. Gut dreißig Jahre später treffen sich die drei Frauen erstmals wieder, denn Funmis Tochter Destiny heiratet. Während sich Zainaib und Funmi regelmäßig getroffen haben, blieb zur dritten Frau im Bunde nur eine Telefonverbindung. Schnell zeigt sich, dass die drei sich in den vielen Jahren längst nicht alles erzählt haben. Dennoch finden sie schnell einen Draht zueinander, denn "Freundin bleibst du immer".

Zugegebener Maßen ist die Geschichte oft oberflächlich erzählt. Konflikte werden nebenbei abgehandelt, oft habe ich mir mehr Innensicht in die Figuren gewünscht. So blieben Themen wie Tod und Abtreibung oft eher neutral verhandelt als mit der ihnen zustehenden emotionalen Tiefe dargestellt. An vielen Stellen des Romans fragt sich der Leser auch, wie diese motiviert sind. Warum wird Zainab zu Beginn auf der Hochzeitsanreise überfallen, wenn das später gar keine Rolle mehr spielt? Soll das dem Leser zeigen, wie gefährlich Nigeria noch heute ist? Welche Funktion haben die Tischgäste bei der Hochzeit, die erst recht ausführlich eingeführt werden, um dann keine Beachtung mehr zu bekommen? Leider gibt es viele dieser Stellen im Buch, sodass die Handlung stückweise fragmentarisch wirkt.

Dennoch gebe ich dem Buch vier Sterne, weil es mir eine interessante Perspektive auf Nigeria eröffnet hat. Durch den Roman wurde ich immer wieder motiviert, die Geschichte des Landes und seiner Volksgruppen zu recherchieren. Das hätte ich ohne den Roman sicher nicht getan. An vielen Stellen weisen Figuren darauf hin, dass das westliche Bild von Nigeria nicht zutrifft. Sie fordern ein, dass man nigerianische Musiker und Literaten unterstützen sollte. Ich vermute, dass das das eigentliche Anliegen der Autorin gewesen ist. Wenn dem so ist, hat sie zumindest für mich ihr Ziel erreicht.

Bewertung vom 15.08.2022
Sanfte Einführung ins Chaos
Orriols, Marta

Sanfte Einführung ins Chaos


ausgezeichnet

"Eigentlich müsste man es doch an irgendetwas merken, wenn man ein Kind zeugt, selbst wenn man nicht damit rechnet, müsste einem doch irgendetwas Besonderes im Gedächtnis haften bleiben, oder nicht?"

Das ist nur einer der vielen Gedanken, die Danis Kopf fluten als er erfährt, dass seine Freundin Marta schwanger ist - und das Kind nicht will. Das ist auch irgendwie klar, denn so lange kennen sich die beiden nun auch wieder nicht. Vielleicht zwei Jahre sind sie zusammen und schon das Zusammenziehen kam ihnen wie ein riesiger Schritt vor. Zu lieb gewonnen ist die Freiheit, die sich beide aus der Jugend auch mit Anfang 30 noch bewahren wollen. Sowohl Fotografien Marta als auch Drehbuchautor Dani wollen das Leben in vollen Zügen auskosten: Reisen, mit Freunden essen, Feiern gehen, ungebunden sein, keine Verpflichtungen eingehen. Doch da ist auch Danis Sehnsucht nach Stabilität und Beständigkeit, denn mit den Veränderungen um sich herum kommt er nur schwer zurecht - sei es im Freundeskreis oder auf der Arbeit unter der neuen Chefin.

Marta Orriols erzählt nicht mal eine ganze Woche aus dem Leben des Paares. Die Romanhandlung setzt an einem Sonntagabend ein, für Ende der Woche ist die Abtreibung geplant. Doch was macht das mit einem Paar? Wie geht es den beiden in den Tagen dazwischen? Genau hier setzt die Autorin an und zeichnet ein feinfühliges Porträt, das die Gefühlsschwankungen zwischen "Klar, wir wollen doch kein Kind" und "Es ist doch unser Baby" genau nachzieht. Besonders spannend fand ich, dass Orriols große Teile des Romans aus Danis Sicht schreibt. Denn oft geht es beim Thema Abtreibung in erster Linie um die Frau (was unter dem Aspekt der Selbstbestimmung meiner Meinung nach absolut legitim ist). Die Sorgen, Wünsche und Gedanken des Mannes stehen in der Öffentlichkeit oft weniger im Mittelpunkt.

Das größte Lob muss man Orriols aber dafür aussprechen, wie sie dieses sensible Thema erzählt. Es geht ihr nämlich nicht um moralisches Gute und Böse wie es bei den Debatten in Amerika in jüngster Zeit immer wieder zu beobachten ist. Die Autorin bricht weder eine Lanze für die Abtreibung, noch entpuppt sie sich als strenge Gegnerin. Meiner Meinung nach geht es ihr auch gar nicht um das ethisch Dilemma, das sich hinter dem Thema verbirgt sondern, wie oben schon erwähnt, um die Frage, was die Entscheidung mit dem Paar macht. Und das erzählt sie unheimlich spannend. Ich habe mich die gesamte Zeit gefragt: Kriegen sie das Kind vielleicht doch? Trennen sie sich, weil sie gar nicht mehr zusammenfinden? Berappen sich die beiden nochmal? Das macht für mich ein gutes Buch aus und unter diesem Aspekt kann ich eine klare Leseempfehlung aussprechen.

Bewertung vom 09.08.2022
Jahre mit Martha
Kordic, Martin

Jahre mit Martha


gut

,,Hier lag der Unterschied. Hier, in der Bibliothek der Grubers. Nicht im Haus. Nicht im Pool. Nicht im Garten [...] Es war der Zugang zu diesem Raum."

Für Jimmy, der eigentlich Zeljko heißt, ist schon in jungen Jahren klar: Wenn er eines Tages nicht mehr als Ausländer auffallen will, führt der Weg nur über das perfekte Beherrschen der Sprache. Und so klaubt er alte Zeitschriften aus Müllcontainern zusammen, schreibt sich unbekannte Begriffe der Bildungssprache heraus und schlägt ihre Bedeutung im Wörterbuch nach.

Diese kleine Anekdote ist eine von vielen, mit der Martin Kordic - ganz beiläufig und nebenbei - erzählt, was es bedeutet ein Migranten im "Einwanderungsland Deutschland" zu sein. Unzählige ähnliche anschauliche Szenen finden sich im knapp 300 Seiten starken Roman. Dabei geht es der Hauptperson nicht darum, Anklage zu erheben oder sich im eigenen Schmerz zu suhlen. Vielmehr lässt Kordic ihn alles ganz beiläufig erzählen - so normal, wie es für den Jungen, Studenten bzw. Mann erlebt wird.

Der Leser Begleiter Jimmy über mehrere Jahre seines Lebens, etwa von seinem 14. Lebensjahr an. Demnach müsste der Roman eigentlich den Titel "Jahre mit Jimmy" tragen, denn er ist es, den der Leser wirklich kontinuierlich begleitet. Die titelgebende Martha - eine Professorin, bei der Jimmys Mutter putzt - tritt nur hin und wieder in Erscheinung. Viele Jahre lang haben die Figuren kaum oder gar keinen Kontakt. Und so bleibt Martha eine nebulöse Figur, weder für Jimmy noch für den Leser vollständig greifbar. Doch scheint sie stets am Horizont erahnbar.

Mit Martha verbindet Jimmy eine Liebesbeziehung, die sich bereits kurz nach dem Kennenlernen den beiden entwickelt. Der enorme Altersunterschied - Martha hat promoviert, ist verheiratet, hat eine Tochter - spielt kaum eine Rolle. Und so liest sich der Roman, der als typische Migrationsliteratur mit popkulturellen Einflüssen (Michael Jackson) beginnt, schnell wie eine jugendliche Romanze, die bald ins Erotische schwenkt.

Trotzdem ist eine Genre-Zuordnung schwierig. Immer dann, wenn man denkt "Das ist es!"; wechselt Kordic unvorhergesehen die Handlung und statt einem Liebes- liest man einen Kriegsroman. Dieses Wechsel sind zwar ein gekonntes Spiel mit den Lesererwartungen, sorgen aber auch dafür, dass der Roman insgesamt unstetig wirkt. Eine stärkere Fokussierung hätte dem Text gut getan, hätte seine Kernaussage vielleicht stärker herausstellen können. So bin ich etwas ratlos zurückgeblieben. Mit vielen Eindrücken aus dem Leben von Einwanderern in Deutschland zwar, aber ohne roten Faden.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.08.2022
Dieser Beitrag wurde entfernt
Bervoets, Hanna

Dieser Beitrag wurde entfernt


sehr gut

"All diese Dinge standen schon in der Zeitung, beruhend auf Aussagen anderer ehemaliger Moderatoren [...]: Hitlergrüße, misshandelte Tiere, das Mädchen mit der Rasierklinge [...]"

Was macht es mit Menschen, wenn sie jeden Tag Pornographie, Terrorismus, Verschwörungstheorien und Hetze betrachten müssen? Wie geht es denjenigen, die sich um all die Social Media Beiträge kümmern müssen, die wir tagtäglich "melden"? Kann man so einen Job lange aushalten, ohne selbst Schaden davonzutragen?

Hanna Bervoets schreibt mit "Dieser Beitrag wurde entfernt" einen Roman über einen Missstand, den Studien (am Ende des Buches findet sich eine gute Übersicht) schon seit einigen Jahren belegen: Wir kümmern uns zu wenig um diejenigen, die dafür sorgen, das die sozialen Netzwerke halbwegs sauber bleiben. In Form eines Briefes an den Anwalt Hr. Stitic fasst Kyleigh ihre Erfahrungen als Moderatorin im Konzern Hexa (der bewusste sehr viele Parallelen zu Meta aufweist) zusammen. Sie beschreibt ausführlich die absurden Richtlinien, anhand derer sie Beiträge löschen oder eben stehen lassen soll. Auf den Leser wirkt das oft absurd, die moralischen und die rechtlichen Grenzen widersprechen sich hier. Oft ist das, was man aus moralischen Gründen löschen möchte, doch rechtens und umgekehrt. Viele der Beiträge werden im Roman beschrieben, sodass auch der Leser immer wieder mit Selbstmord, Selbstverletzung und Gewalt konfrontiert wird. Während sich Kayleigh durch hunderte dieser Beiträge klickt, stumpft sie immer mehr ab, Gleiches gilt für ihre Kolleg*innen.

Ob Kayleigh eine zuverlässige Erzählerin ist, muss der Leser am Ende selbst entscheiden. Vieles spricht dafür, dass wir beim Lesen gemeinsam mit der Protagonistin abstumpfen. Bervoets lässt uns die Welt nur durch die Brille dieser Figur sehen. Dass es auch andere Lesarten gibt, wird zumindest zwischen den Zeilen deutlich. Beängstigend ist jedoch - unabhängig von der Zuverlässigkeit der Erzählerin - wie aus gewöhnlichen Menschen nach und nach Holocaustleugner oder Flat Earth Anhänger werden. Denn eine psychologische Begleitung der Mitarbeiter findet nicht statt. Insgesamt wird hier ein System charakterisiert, das auf Ausbeutung beruht. Die Anstellungsverhältnisse sind prekär, die Mitarbeiter haben kaum Pausen und viel Druck. Alle machen den Job, weil sie Geldsorgen haben und das lässt sie durchhalten. Somit hält Bervoets nicht nur der Social Media Welt den Spiegel vor, sondern ebenso der Ausbeutungskultur von Arbeiter*innen. Dafür hätte sich die Autorin aber gerne noch mehr Raum nehmen können und uns so noch mehr Einsicht in Kayleighs Innenleben und die Zeit "danach" geben können.

Bewertung vom 01.08.2022
Violeta
Allende, Isabel

Violeta


gut

100 Jahre im Leben einer starken Chilenin

Du bist kein kleines Kind. Verteidige deine Unabhängigkeit, lass nicht zu, dass jemand anderes für dich entscheidet. Du musst lernen, alleine klarzukommen.
Mit diesen Worten wird die junge Violeta in die Hauptstadt Sacramento geschickt, wo sie erstmals - zwar an der Seite ihres Bruders - für sich selbst einstehen muss. Was folgt sind tatsächlich viele Jahre, in denen Violeta mal mehr mal weniger unabhängig aber stets mutig und selbstbestimmt durch das Leben geht. Ihre Hochzeiten - drei (fast) Ehemänner und einige Liebschaften sollen es im Verlauf ihres Lebens werden - geht sie eher aus Vernunft als aus Liebe ein. Und auch wenn sie von den historischen Ereignissen nicht viel wissen möchte, haben sie doch immer wieder einen Einfluss auf ihr Leben. Schließlich erlebt sie nicht weniger als die Spanische Grippe, den Zweiten Weltkrieg, den Putsch unter Pinochet, den Fall des Eisernen Vorhangs, die Gräueltaten in der Colonia Dignidad und die Corona-Pandemie mit. Und da sind die zum Teil illustren Figuren, die alle auf ihre Wiese mit der Geschichte verbunden sind und in Violetas Leben treten. Von ihnen und den 100 Jahren Lebenserfahrung schreibt Violeta im gleichnamigen Roman in Form eines Briefes an ihren Enkel.

Zu diesem Figurenarrangement zählen viele starke Frauen - das ist mir besonders positiv in Erinnerung geblieben. Gleich zu Beginn tritt meine Lieblingsfigur in Erscheinung: Miss Taylor, die Gouvernante von Violeta, die sich in die Feministin Theresa verliebt und mit ihr bis an deren Lebensende zusammen bleibt - und das in den 1930er Jahren!

Eindrucksvoll schildert Allende auch jene Frauen, die sich gegen die Militärdiktatur zur Wehr setzen, die Frauengruppen gründen, für Abtreibungsrechte und Scheidungen einstehen und sich gegen die Gewalt an Frauen einsetzen. Denn vor allem letzteres ist auf den 400 Seiten immer wieder ein Thema.

Leider gelingt es Allende aber nicht - anders als in ihren anderen Werken, auf die sich immer wieder Anspielungen finden lassen - die vielen Einzelerzählung in einen kontinuierlichen Erzählsprung zu verdichten. Es gibt viele Nebenschauplätze, Handlungsstränge, die im Nichts enden und blutleere Figuren. Das betrifft insbesondere einige Männer im Leben von Violeta. Geschuldet ist dieses ausgefranzte Erzählen wohl dem Anspruch auf historische Vollständigkeit. Zwar werden die historischen Einschübe dank der zum Teil unglaublichen Geschichte nie langweilig. Dennoch fehlt das verbindende Elemente und so wird der Roman vor allem ein Buch über das Alter und das Altern.

Bewertung vom 31.07.2022
Die Arena
Djavadi, Négar

Die Arena


ausgezeichnet

"Wer noch nie in Paris war, wer nur an Postkarten oder die prunkvollen Panoramen französischer Exportfilme denkt, kann sich nicht vorstellen, dass dieses Vierte [...] nur dreißig Gehminuten vom schicken Marais entfernt liegt. Anders als auf den weichgezeichneten Bildern sind wir hier am Nullpunkt [...] angelangt."

Négar Djavadi nimmt ihre Leser mit in den Osten von Paris - gar nicht so weit entfernt von den Sehenswürdigkeiten der Stadt leben hier Migranten, die Menschen mit kleinem Einkommen und die illegalen Geflüchteten. Alle Figuren, die Teil des vielfältigen Tableaus in diesem grandiosen Gesellschaftsroman sind, haben einen Bezug zur Cité. Entweder sind sie hier aufgewachsen und der Armut entkommen, wie im Fall des Streaming Dienst Managers Grossmann. Oder sie versuchen dort auf der Straße zu überleben wie Amir, der exemplarisch für die vielen Geflüchteten steht. Dann ist da noch Sam, eine junge Polizistin mit türkischen Eltern, die Tag für Tag von den Law-and-Order-Erwartungen der einen Hälfte der Gesellschaft und den Vorwürfen von Polizeigewalt von der anderen Hälfte aufgerieben wird. Über 460 Seiten gibt die Autorin Ausschnitte aus dem Leben vielen Bewohner der Stadt. Mal gehen diese Einblicke sehr tief (Grossmann und seine Familie) oder bleiben wie im Falle einer Gerichtsmedizinerin oder eines chinesischen Einwanderers an der Oberfläche. Dennoch kreuzen sich alle Lebenswege, als nach dem vermutlichen Mord an einem Jungen aus dem Viertel und sein Auffinden durch die Polizei Frust, Gewalt und Ablehnung in der Cité Rouge / Belleville überkochen.

Obwohl der Roman durchaus eine Hauptstory hat, scheint mir der Kriminalfall hier gar nicht so sehr im Vordergrund zu stehen. Vielmehr weckt der Text den Eindruck, eigentlich eine Serie zu schauen - nur eben in Buchform statt in bewegten Bildern. Sicherlich spielt dort hinein, dass die Autorin Drehbuchautorin ist und viel Wissen aus dem Bereich der Filmbranche mitbringt. Das hilft nicht nur, die vielen Charaktere mit Bezug zur Filmbranche treffend darzustellen. Ihre Erzählweise wird selbst oft zum Filmischen Erzählen: Etwa dann, wenn der Roman mit einer Actionszene beginnt oder wir auf eine vermeintlich unbeteiligte Person zoomen und uns plötzlich in ihren Gedanken wiederfinden. All das kann ich mir sehr gut auf der Leinwand vorstellen. Diese Erzählstimme ermöglicht es auch, viel über die Figuren zu erzählen, ohne das direkt sagen zu müssen. Nach dem klassischen Show-don´t-tell-Prinzip werden die Männer und Frauen im Roman durch ihr Umfeld, ihren Besitz und ihren Umgang mit anderen charakterisiert.

Oft hatte ich beim Lesen dein Eindruck, dass die Aussagen über Serien und Filme auch ein Kommentar zum Werk selbst sind. So wird an mehreren Stellen betont, dass die Charaktere in Serien immer komplexer werden, mehrere Handlungsstränge parallel laufen und Moral nicht mehr eindimensional verhandelt wird. Grossmann selbst vergleicht sich mit den Figuren aus seinem Film. Mir hat diese Anlage - genauso wie der Metakommentar - sehr gefallen. Auf diese Weise gelingt es der Autorin, auch politisch heikle Themen wie zum Beispiel religiöse Konflikte im Nahen und Mittleren Osten zu verhandeln, ohne platt zu wirken, zu vereinfachen oder Partei zu ergreifen.

Das heißt jedoch nicht, dass Djavadis Roman unpolitisch wäre. Ganz im Gegenteil: Belleville zeigt Menschen in den verschiedensten Lesarten von Exil lebend. Es geht um den Frust, der sich aus den Pariser Vorstädten Weg in den inneren Stadtring bahnt. Es geht darum, wie Polizei, Politik und Mittelschicht mit diesen Menschen umgehen wollen und sollen. Anhand dieser Komplexität wird bereits deutlich, dass der Roman mit einem offenen Ende schließen muss. Denn eine einfache Antwort lässt sich nicht finden und würde dieses grandios gezeichnete Bild Paris verwässern. In diesem Zusammenhang liest sich "Die Arena" auch wie ein Art Gegenroman zu Houellebecqs Roman "Unterwerfung", der mit den Ängsten vor dem Fremden, insbesondere der Islamisieru

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.06.2022
Knicklichtgewitter
Boderius, Tjorven

Knicklichtgewitter


ausgezeichnet

Wie kann man die Zeit des Erwachsenwerdens am besten beschreiben? "Knicklichtgewitter" ist zwar nicht unbedingt das erste Wort, was mir in den Sinn kommt. Tjorven Boderius hat mich mit ihrem Buch aber ab Seite 1 davon überzeugen können, dass nicht nur Die Welt der Jugend sondern im besonderen auch meine Zeit des Erwachsenwerdens ein Knicklichtgewitter ist bzw. war. Denn:

Knicklichtgewitter lassen sich vor allem an der Schnittstelle zwischen Heranwachsendem und Erwachsendem bestaunen, ansonsten treten sie nur vereinzelt und weniger geballt in Erscheinung (S.48).
Schwer einzuordnen ist Boderius Buch für mich: Ist es ein Essayband? Schließlich kommen darin viele ernste Themen wie Mobbing, Ausgrenzung, Geschlechterklischees und Fremdheitserfahrungen vor. Dann aber finden sich die vielen lyrikartigen Textstellen. Ein Gedichtband also? Und was ist mit den vielen Fotos aus Kindertagen (ich vermute, sie zeigen die Autorin)? Ist es dann eine Art literarische Biographie? Bis zur letzten Seite konnte ich mein Genre-Problem nicht lösen. Aber das finde ich abschließend auch gar nicht so schlimm. Denn dieses Buch ist alles zugleich und doch etwas ganz anderes. Und das ist hier genau richtig.

Der Sprachwitz hat mir besonders gut gefallen. Da werden Redewendungen entwendet und neu zusammengesetzt, in andere Kontexte gestellt. Das Spiel mit Sprache, Bildern und Assoziationen ist gekonnt und viele Zeilen muss man zweimal lesen, um den tieferen Sinn dahinter wirklich zu erfassen. Manchmal stößt man bei diesem zweiten Lesen ganz überraschend auf neue Wortspiele, die einem vorab gar nicht aufgefallen ist. Boderius Buch ist ein Feuerwerk der Sprache. Das Lesen und Entdecken macht richtig Spaß.

An vielen Stellen hätte ich mir gewünscht, den Text von der Autorin selbst vorgetragen zu hören. Denn oft weisen die Texte eine solche Nähe zum Poetry Slam auf, dass man sie meiner Meinung nach besser hören als lesen sollte, um den gesamten Sprachkunst genießen zu können.

Originalität und Sprachspiel machen dieses Buch also zu einem wirklichen Geheimtipp für Sprachkunst begeisterte. Wer aber nach einem nüchternen Roman, einer klaren Handlungsstory oder etwas Klassischem sucht, sollte sich lieber ein anderes Buch suchen.

Bewertung vom 05.06.2022
Tiefes, dunkles Blau
Kobler, Seraina

Tiefes, dunkles Blau


schlecht

Nette Idee, schwach umgesetzt

Eigentlich gefallen mir Krimis, die neben dem eigentlichen Fall auch den Anspruch verfolgen, ein gesellschaftlich relevantes Thema zu platzieren. Das versucht auch Seraina Kobler in ihrem Krimi-Erstling. Dabei hätte sie sich aber besser auf die Sprache und die Figurenzeichnung konzentrieren sollen.

Zum Inhalt:

Rosa, Kommissarin bei der Seepolizei in Zürich, hat sich gerade entschieden, ihre Eizellen einfrieren zu lassen, denn für sie und Ex Leo blieb nur noch die Trennung. Wenige Tage später wird dann zufällig genau der Arzt tot im See geborgen, der für ihre Behandlung zuständig ist. Jetzt wird es nicht nur für die Ermittlerin unangenehm - vom Eingriff sollte nämlich niemand wissen - sondern auch für die Angehörigen des Toten. Denn schnell stellt sich heraus, dass es gleich mehrere Frauen in seinem Leben gab, die alle ein Tatmotiv besitzen. Außerdem arbeitet der Arzt nicht nur in der Kinderwunschpraxis, sondern hat auch Anteile an einem Start up, das Erbkrankheiten ausmerzen möchte. Rosas ehemals persönliche Entscheidung, Eizellen zu konservieren und der Natur ein Schnippchen zu schlagen, gelangt somit auch immer mehr zum Gegenstand der Ermittlungen.

Meine Meinung:

Auf den knapp 240 Seiten versucht die Autorin vor allem ein: Ihr umfangreiches Wissen zu präsentieren. Ohne Frage hat Seraina Kobler nicht nur in Bezug auf die Ermittlungsarbeit genau (und sauber) recherchiert, sondern sich auch in die Genomforschung eingearbeitet. Bei letzterem Thema sind ihr aber einige kleine Fehler unterlaufen (so ist die Transplantation von Schweineherzen, die eine Figur anspricht, noch nicht so reibungslos möglich, wie dargestellt). Solche kleinen Ungenauigkeiten wäre zu verschmerzen, wenn der Roman nicht so thematisch überfüllt wäre. Neben der Genom-Forschung werden Fragen des Feminismus angesprochen, hin und wieder tauchen maritime Themen auf, dann geht es um die Festlichkeiten in der Zürcher Altstadt im Sommer. Es geht um protestierende Stundierende, um die Frage nach der Selbstbestimmung von Prostituierten, um Leihmutterschaft, um Erbkrankheiten, um Zukunftsutopien, ums Tauchen... Wäre das noch nicht genug, finden sich zahlreiche halbgare literarische Anspielungen auf Dürrenmatt und andere Dramatiker. Kurz gesagt: Thematisch ist es einfach zu viel. Dem Krimi hätte hier eine deutliche Entschlackung gut getan. Dann wäre es auch möglich gewesen, eines der gesellschaftliche relevanten Themen so zu beleuchten, dass sich auch der Leser die ethischen Fragen stellt, auf die er durch die Figuren mit dem Holzhammer hingewiesen wird.

Was bei der Themenwahl zu viel ist, ist bei der Figurengestaltung zu wenig. Ein Großteil des Personals bleibt farblos. Rosa bildet hier zwar eine Ausnahme, die Mitarbeiter auf der Wache, ihre beste Freundin oder die Schwestern hat man nach wenigen Seiten schon wieder vergessen. Wenn dann einer der Namen wieder auftaucht, muss man sich erst mühsam daran erinnern, wer das überhaupt war. Weil sich viele Personen irgendwie auch ähneln, dachte ich lange, Alina und Tonya seien dieselbe Figur. Leider konnte ich zu keiner Figur eine emotionale Bindung aufbauen, was wohl auch an der distanzierten Sprache liegen mag. Auch wenn die Figuren eine Ausnahmesituation erleben, bleibt die Erzählstimme seltsam distanziert-beobachtend. So muss ich leider auch sagen, dass mir Rosas Schicksal rund um ihr Liebesleben und die Frage nach Kindern bis zum Ende ziemlich egal blieb. Auch die gewollt originellen Metaphern zum Wasser konnten die sprachliche Minderleistung nicht wettmachen.

Bewertung vom 05.05.2022
Wo die Wölfe sind
McConaghy, Charlotte

Wo die Wölfe sind


ausgezeichnet

Mensch oder Wolf - Wen müssen wir fürchten?

Sind es wirklich die Wölfe, die wir fürchten sollen, oder müssen wir uns eher Sorgen um die Angehörigen unserer Spezies machen? Charlotte McConaghy wirft in ihrem zweiten Roman Blick in menschliche Abgründe und rück dabei den Naturschutz in den Vordergrund. Spannend, mitfühlend und mit einem Blick für den Zauber der Natur erzählt.

Zum Inhalt:
Inti zieht mit ihrer Schwester von Alaska in die schottischen Highlands, um dort als Projektverantwortliche Wölfe wieder anzusiedeln. Das stößt insbesondere bei den schottischen Schäfern auch wenig Gegenliebe und so steht Inti vom Tag ihrer Ankunft an Hass und Drohungen gegenüber. Dabei wollten das Zwillingspaar in Schottland auch einen Neuanfang machen. Aggie, Intis Schwester, ist stark traumatisiert, spricht nicht und verlässt kaum ihr Bett. Inti selbst hat das äußerst seltene Mirror-Touch-Syndrom und fühle körperliche Empfindungen anderer wie die eigenen. Gleichzeitig entwickelt sich die Handlung immer mehr zu einem Kriminalfall.

Meine Bewertung:
Ich hatte große Sorge, von "Wo die Wölfe sind" enttäuscht zu werden, denn McConaghys Debüt "Zugvögel" hat mich begeistert. Der Klappentext deutet bereits an, dass sich die Autorin wieder einem Umweltthema widmet und auch erneut eine starke, aber gleichzeitig fragile Frauenfigur in den Vordergrund stellt. Ob der zweite Roman eine eigenständige Geschichte erzählt, habe ich mich gefragt. Und auch, ob McConaghy ihr erfolgreiches Thema wie andere Beststeller-Autor*innen einfach wieder aufwärmt.

Tatsächlich lässt sich McConaghys Stil deutlich wiedererkennen: Die Protagonistin ist ähnlich unabhängig und selbstzerstörerisch wie Franny aus "Zugvögel". Auch sie trägt ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit mit sich herum, das Stück für Stück enthüllt wird. Dementsprechend gibt es auch hier immer wieder Zeitsprünge in die Vergangenheit der Figur. Auch die Rechtslage legen Inti wie Franny gleichermaßen großzügig aus, wenn dadurch die Umwelt geschützt werden kann. Aber nicht nur die Protagonisten ähneln sich. Der Polizist Duncan erinnert mich in seiner Figurenkonzeption stark an den Kapitän in McConaghys Erstling. Der Erzählstil ist ebenfalls sehr ähnlich.

Obwohl sich die Parallelen so lesen, als haben sich meine Befürchtungen erfüllt, bin ich von dem Buch dennoch begeistert. Das liegt vor allem daran, dass die Autorin so spannend von der Auswilderung der Wölfe erzählt, dass man beim Lesen die Luft anhalten möchte. Eigentlich haben mich Wölfe und ihren Einfluss auf die Umwelt vorher kaum interessiert. Das hat sich mit dem Buch verändert. Hier liegt die große Stärke des Romans.

Auch abgesehen davon ist "Wo die Wölfe sind" eine gute Story, die vor allem im zweiten Teil deutlich an Fahrt gewinnt. Auch wenn man das Ende recht bald vorausahnen kann und die Dramatik zum Schluss hin für meinen Geschmack "over the top" gewesen ist, würde ich das Buch dennoch empfehlen, nicht zuletzt wegen der philosophischen Komponente: Hier dreht sich alles um die Frage: Vor wem muss man sich tatsächlich in Acht nehmen? Vor den Menschen oder den Wölfen? Dieses kleine Gedankenexperiment hat mir gut gefallen. Und auch Inti ist mir als unabhängige, wilde und starke Figur sehr ans Herz gewachsen.

Fazit: Auch wenn es deutliche Parallelen zu Charlotte McConaghys Erstling gibt und die Geschichte stellenweise weniger Dramatik und Themenvielfalt gebrauchen könnte ist "Wo die Wölfe sind" eine klare Leseempfehlung.

Bewertung vom 22.04.2022
Der letzte Schrei
Sagiv, Yonatan

Der letzte Schrei


sehr gut

Krimi meets LGBTQI+

Ein:e exzentrische:r Privatermittler:in, das Who ist Who der Tel Aviver Sternchen und ein schmieriger PR-Agent - das ist der Stoff aus dem Yonatan Sagiv sein Debüt im deutschen Sprachraum feiert. Dabei gelingt es ihm, fluide Geschlechtsidentitäten zum new normal werden zu lassen.

Zum Inhalt:
Oded Hefer ist queere:r Privatermittler:in und lässt sich gerne mal von dem ein oder anderen attraktiven Mann von den Ermittlungen ablenken. Gleichzeitig genießt er:sie den gehobenen Lifestyle - denn bitte was geringeres als ein chices Loft und Einladungen zu High Society Partys hat moi (so sein:ihre Selbstbezeichnung) auch sonst verdient? Dumm nur, dass die bisherigen Ermittlungen nicht das nötige Kleingeld für diesen Lebensstil eingebracht haben und Odeds Loft eigentlich dem besten Freund gehört. Da kommt ihm der Auftrag eines PR-Agenten gerade Recht: Oded soll herausfinden, warum ein 15-jähriges, aufstrebendes Pop-Sternchen auf einmal gar keine Lust mehr auf das Singen hat. Als zur gleichen Zeit auch Odeds queere Freund:in verschwindet, sieht sich die:der Ermittler:in zwischen zwei Fällen hin- und hergerissen.

Meine Meinung:
Die besondere Stärke des Krimis liegt in seinem Umgang mit Queerness und LGBTQI+. Da nahezu alle Figuren aus diesem Umfeld stammen, wird es für den Leser schon nach wenigen Minuten selbstverständlich, dass die Figuren mitunter eine ganz andere Geschlechtsidentität besitzen, als das auf den ersten Blick scheinen mag. Zwar wird stellenweise auf den Gender-Diskurs durch einzelne Figuren Bezug genommen (was meiner Meinung nach nicht unbedingt nötig gewesen wäre, wer das Buch bis dahin gelesen hat, ist sensibilisiert), die meiste Zeit mutet Sagiv dem Leser diese "neue Normalität" aber einfach zu - und das halte ich für sehr gelungen.

Einen zweiten Pluspunkt kann Sagvi mit seiner Hauptfigur machen. Oded ist jemand, den man lieben oder hassen muss. Exzentrisch und von sich selbst überzeugt ist er:sie ganz vorne mit dabei, wenn es darum geht, anderen fehlende Sensibilität oder mangelndes Reflexionsvermögen vorzuwerfen. Dass sie:er zwei Sätze später selbst unreflektiert handelt, damit kokettiert Sagivs Detektiv:in schon fast. Die maßlose Selbstüberschätzung kann auf manche Leser durchaus nervig wirken - mich hat sie allerdings zum Schmunzeln gebracht. Denn an der Hauptfigur macht sich auf der Humor des Krimis fest.

Die Story an sich entspricht dem typischen Krimi-Genre. Ich habe mich gut unterhalten gefühlt, stellenweise wurde es auch richtig spannend. Die Auflösung lässt sich zwar in Teilen bereits früh erahnen, dennoch blieb die Handlung bis zum Schluss interessant. Ohne zu viel zu verraten: Der Titel ist hier in mehrerlei Hinsicht gut gewählt.

Ein kleines Manko ist in meinen Augen die vollkommen unnötige Übersexualisierung des Krimis. Gut, darauf hätte man mit einem Blick auf das Cover bereits vor dem Lesen kommen können: Die Neonschrift und der Lippenstift deuten auf eine gewisse Nähe zur Prostitution hin. Die spielt im Roman selbst keine so große Rolle, wohl aber Odeds Sex- und Liebesleben. Manchmal hätte ich mir gewünscht, nicht jede Person erst einmal durch die Augen Odeds auf ihre körperliche Attraktivität hin abchecken zu müssen.