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brenda_wolf
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Oberfranken

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 07.04.2024
Gefährlicher Sog / Liv Lammers Bd.8
Weiß, Sabine

Gefährlicher Sog / Liv Lammers Bd.8


sehr gut

Mord auf Sylt

In ‚Gefährlicher Sog‘ schickt die Autorin Sabine Weiss die Kommissarin Liv Lammers nach Sylt, Deutschlands beliebtester Urlaubsinsel. Es ist bereits der achte Fall für Liz. Ich kannte die Vorgängerbände nicht, bin aber problemlos in diesem Krimi eingestiegen, d.h. man kann ihn unabhängig zu den anderen Bänden lesen.

Zum Inhalt: Am Strand von Hörum wird eine männliche Leiche aufgefunden. Liv und ihre Kollegen übernehmen die Ermittlungen. Auf das Opfer wurde brutal eingestochen. Dreiundzwanzig Messerstiche zählte der Gerichtsmediziner. Der Tote heißt Timur Roters und hat zusammen mit seiner Frau Merret als Sozialpädagoge in einer Jugendwohngruppe gearbeitet. Hat er sich durch seine liberale Einstellung Feinde gemacht? Liv und ihr Team ermitteln in alle Richtungen. Denn Verdächtige gibt es viele, u. a der Muschelfischer Erik Pagelsen oder auch der dritte Betreuer der Gruppe, Bernd Beversen. Und wie es scheint, werden einige nervös.

Sabine Weiss schreibt gut lesbar und flüssig. Die verschiedenen Perspektiven machen den Krimi interessant. So konnte mich ‚Gefährlicher Sog‘ bis zum Schluss auch fesseln. Die Autorin versteht es meisterhaft, die Atmosphäre der Nordseeinsel einzufangen und den Leser in die Ermittlungen hineinzuziehen. Die Figuren sind authentisch gezeichnet. Die Kommissarin Liz Lammers ist eine starke Frau und Mutter. Mit ihrer Teenager-Tochter Sanne hat sie allerdings gewisse Nüsse zu knacken, dass macht sie wiederum auch menschlich. Denn wo im Leben läuft schon alles glatt. Liz Kollege Andreas benimmt sich ihr gegenüber ziemlich rüpelhaft, dieses Betragen ist besonders unter Kollegen nicht zu akzeptieren. Mit Timurs Witwe Merret hatte ich meine Probleme, sie hinterließ bei mir einen äußerst seltsamen Eindruck, ebenso die Jugendlichen der Wohngruppe. Da wurde sehr viel verborgen und unter die Decke gehalten.

Fazit: Ein unterhaltsamer Küstenkrimi, mit einem tollen Lokalkolorit und einer überraschenden Auflösung des Falls.

Bewertung vom 22.03.2024
Lichtjahre im Dunkel
Ani, Friedrich

Lichtjahre im Dunkel


ausgezeichnet

Zerknüllte Träume

Um es gleich vorweg zu schreiben. Noch nie hat mich ein Krimi von Friedrich Ani so enttäuscht und dabei bin ich ein Fan dieses Autors und seine psychologischen Krimis.

Der Schreibwarenhändler Leo Ahorn ist verschwunden. Erst fünf Tage später wendet sich seine Frau an den Privatdetektiv Tabor Süden, um ihn wieder zu finden. Von der Polizei will sie nichts wissen. Leo Ahorn hatte den Laden schon sehr jung übernehmen müssen, da er erst seinen Vater und kurze Zeit später auch seine Mutter verloren hatte. Schon bald danach heiratete Leo die junge Viola. Die Ehe ist kinderlos geblieben. Beide arbeiten tagein, tagaus
gemeinsam im Geschäft. Doch das das läuft nicht mehr. Mittlerweile kämpfen sie um ihre Existenz. Die Kunden bleiben weg, kaufen im Supermarkt oder Online. Finanziell wird es immer enger. Leo versucht Geld aufzutreiben, er hat große Pläne für einen Umbau. Und dann kommt er eines Abends aus seinem Stammlokal, dem Blauen-Eck, wo er sein Feierabend-Bierchen trinkt, nicht mehr nach Hause.

Friedrich Ani beschreibt die Tristesse dieser Ehe sehr gut. Zwei Menschen, die sich nichts mehr zu sagen haben. Die Ehe hat die beiden ausgehöhlt, sie leben blutleer nebeneinander her. Es ist eine Welt ohne Nähe. Während Leo noch Träume und Pläne für die Zukunft hat, gleitet Viola fast ins Paranoide ab. Sie fühlt sich bedroht von fremden Mächten.

Wie in allen Romanen von Friedrich Ani gefällt mir seine Sprache. Ani schafft mit wenigen Worten Bilder. Manche Sätze möchte man sich auf der Zunge zergehen lassen. Er ist, wie sein Ermittler Tabor Süden, ein genauer Beobachter.

Zitat: Ein Leben, das auf der Stelle tritt, in dem es keine Klänge mehr gibt, kein Echo, kein Überschwang, kein Tänzchen, kein unvermutetes Lachen.

Ich liebe Tabor Südens Schweigen und seine Gedankengänge. Leider hat es diesmal der Autor übertrieben. Der Krimi versumpft in Gedanken, das erstickt die Spannung. Da ist eigentlich nur Langeweile, genau wie die Ehe von Leo und Viola. Man wartet darauf, dass sich was tut. Aber es tut sich nichts. Ich habe mich ehrlich gesagt, zum Schluss nur noch durch diesen Roman gequält.

Fazit: Schade. Diesmal nicht mein Ani!

Bewertung vom 17.03.2024
Der rechte Pfad
Sozio, Astrid

Der rechte Pfad


ausgezeichnet

Schuldig

Benjamin kehrt nach 25 Jahren zurück in das Dorf seiner Kindheit und Jugend. Hier hatte er einst bei seinem Vater die Sommerferien verbracht. Jetzt sucht er nach einem Unfall Zuflucht in der kleinen Gemeinde im Sauerland. Auf einem Weihnachtsmarkt hatte es einen Tumult gegeben, und nicht nur er wurde dabei verletzt, es gab auch einen Toten. Benni erhofft sich in Welsum diesen traumatischen Vorfall verarbeiten zu können, denn aus irgendeinem Grunde fühlt er sich schuldig.

Früher war Benni mit den Geschwistern Hanna, Lea und Gideon befreundet, die zu einer strengen Brüdergemeinde gehören, genau wie Klaus, sein Vater.

In wechselnden Perspektiven erfahren wir von Benni, dem die Freundin vor die Türe gesetzt hat und dem Benni seiner Kinder- und Jugendzeit. Mit Gideon macht Benni seine ersten sexuellen Erfahrungen, was sowas wie eine Todsünde ist, dafür muss man ihn Gesundbeten, später verliebt er sich in Hanna, die unter tragischen Umständen ums Leben kommt. Beide Perspektiven empfand ich als sehr bedrückend.

Die Menschen in Welsum leben nach strengen Regeln. Fernseher sind verboten und ein Walkman, den Benni liebt, ist fast so schlimm wie ein Fernseher. Er hört gerne Musik. Gideon sagt zu Benni: ‚Du weißt, dass man davon süchtig werden kann.‘ Die sonntäglichen Versammlungen erinnern an eine bekannte Sekte.

Zitat: Nach dem Lied kam die Stille, in der die Brüder darauf warteten, dass der heilige Geist einen von ihnen berührt. Es gab keine Priester. Jeder Mann durfte aufstehen und predigen und beten, wenn sich in ihm Gottes Wort regt. Die Frauen durften zuhören.

Die Autorin schreibt sehr lebendig. Man befindet sich mitten im Geschehen, in der Enge dieser kleinen Gemeinde, fühlt sich erdrückt von der Schuld, die allgegenwärtig ist. Die fremdenfeindlichen und menschenverachtenden Gedanken machen sprachlos und vor allem diese Gewaltbereitschaft, sogar gegen eigene Familienangehörige. Die Protagonisten sind authentisch gezeichnet, aber dennoch unsympathisch. Da war nicht einer, mit dem ich warm werden konnte. Frau Gothel vielleicht, sie zeigt auch mal eine menschliche Seite. Besonders Lea konnte einem Angstmachen. Scheinbar die perfekte Mutter, fit in den sozialen Medien und tief im Glauben verankert, präsentierte sie oft lächelnd ihre dunkle Seite.

‚Ich bin als Kind auch in der Kirche gewesen‘, sagt Lolli, ‚aber das war ganz anders. Da wurde keiner kaputtgemacht.‘ Dem ist wohl nichts hinzuzufügen.

„Der rechte Pfad“ hat mich traurig zurückgelassen. Renee, Bennis Mutter, ahnte nicht was sie anrichtete, in dem sie ihren Jungen in den Ferien zu Klaus, seinem Vater schickte. In Welsum wurde die Angst ins Herz gepflanzt. Schon der Vater hatte Panikattacken. ‚Und über allem hängt die Schuld, die einem eingeredet wird.‘

Fazit: Ein gutgeschriebener, fesselnder Roman, der einem in seiner Destruktivität zwingt, weiterzulesen, der zum Nachdenken anregt, der aber auch traurig macht.

Bewertung vom 08.03.2024
Mörderisches La Rochelle / La Rochelle Bd.2
Vinet, Jean-Claude

Mörderisches La Rochelle / La Rochelle Bd.2


sehr gut

Profimorde im bezaubernden La Rochelle

Mörderisches La Rochelle ist bereits der 2. Band der La-Rochelle-Krimireihe um Commissaire Chevalier, der an der Atlantikküste, einer atemberaubenden Urlaubskulisse, ermittelt. Für mich war es der erste Band. Aber ich hatte keine Schwierigkeiten mich in den Krimi einzufinden. Ich denke mal, dass jeder Fall für sich steht und dass sich das Ermittlerteam jeweils automatisch im Verlauf der Geschichte vorstellt.

Es fängt auch gleich sehr spannend an. Commissaire Clement Chevalier wird überraschend aus seinem Urlaub an einen Tatort beordert. Drei Tote, die mit jeweils zwei Kopfschüssen ermordet wurden. Bei den Opfern handelt sich um ein Pariser Ehepaar, Audrey und Gilbran Haidar und einem Radfahrer, Yves Pontier, einem Lehrer aus La Rochelle. Dem Ermittlungsteam ist bald klar, dass es sich beim Täter um einen Profi handeln muss. Jean Richard, ein Sicherheitsexperte und ehemaliger Söldner gerät sehr schnell in Verdacht, aber er scheint ein Alibi zu haben. Es stellt sich die Frage, ob sich die Ermordeten gekannt haben. Gibt es da eine Verbindung?

Die Haidars waren wohlhabend. Auffallend ist das viele Bargeld im ihrem Hoteltresor. Außerdem hatten sie auf einer Karte den späteren Tatort markiert. Außerdem hatte Audrey Haidar an ihrem Äußerem einiges machen lassen, um ihr Aussehen zu verändern. Und wie sich herausstellt, war der Familienvater Pontier bisexuell veranlagt und hatte eine Affäre mit einem noch unbekannten Mann. Liegen hier die Motive?

Ein spannender Krimi mit vielen offenen Fragen. Mich hat der Spannungsbogen von Anfang bis zum Ende gefesselt. Die Auflösung war für mich eine Überraschung, denn den Täter hatte ich nicht auf den Schirm. Der Autor schreibt flüssig und gut lesbar, was bei einem Spannungsroman wichtig ist. Womit ich allerdings anfangs Probleme hatte, waren die französischen Schauplätze und Namen der handelnden Personen. Ich fühlte mich damit schier erschlagen. Hier wäre definitiv ein Namensregister sehr hilfreich gewesen. Ich habe mir dann selber eine Namensliste angelegt, damit wusste, mit wem ich es tun hatte.

„Mörderisches La Rochelle“ bietet viele überraschende Wendungen, damit hält der Autor dem Leser in Atem. Die Charaktere sind authentisch gezeichnet. Man erfährt auch einiges aus dem Privatleben der Ermittler. Was ich sehr mag. La Rochelle und die Ile de Ré habe ich gegoogelt. Ich kannte den Ort noch nicht. Oh ja, da möchte man schon gerne seinen Urlaub verbringen.

Fazit: Eine atemberaubende Kulisse und eine spannende Handlung, mit vielen überraschenden Wendungen. Der optimale Mix.

Bewertung vom 06.03.2024
Wer zuerst lügt
Elston, Ashley

Wer zuerst lügt


ausgezeichnet

Wer zuerst lügt, gewinnt!

In Ashley Elstons spannenden Thriller “Wer zuerst lügt” tauchen wir ein in die Welt der Trickbetrügerin Evie Porter.

Evie Porter ist attraktiv, klug, taff und eine begabte Trickbetrügerin. Sie lebt ein scheinbar perfektes Leben, mit ihrem gutaussehenden Freund Ryan Sumner, dem vermögenden Unternehmer. Was niemand ahnt, Ryan Sumner ist ihr aktueller Auftrag. Sie soll Informationen über ihn herausbekommen und diese an ihren Chef weitergeben. Evie darf sich keinen Fehler erlauben, denn mit ihrem Boss ist nicht zu spaßen. Ihr Leben steht auf dem Spiel. Dann wird ihr auf einer von Ryans Partys eine Frau vorgestellt, die sieht Evie zum Verwechseln ähnlich und sie nennt sich Lucca Marino. Für einen Moment ist Evie perplex, doch sie erholt sich schnell von diesem Schock. Lucca Marino lautet nämlich ihr richtiger Name. Einen Tag später ist die falsche Lucca tot.

Was für ein temporeicher Thriller, mit vielen überraschenden Wendungen. In Rückblicken erfährt man von Evie/Luccas Vergangenheit, wie sie überhaupt in diesen Job gelandet ist , von ihren frühere Jobs und falsche Identitäten. Ich habe dieses Buch verschlungen. Wie spannend, das Leben einer Trickbetrügerin, das Katz-und Maus-Spiel, die Finten und Tricks. Es gibt Menschen, die kommen mit dreisten Lügen durchs Leben. Das ist so ganz und gar nicht mein Naturell, und genau deshalb war dieses Buch so spannend für mich.

Ich weiß nicht, ob ich Evie Porter wirklich sympathisch fand, aber ich bewunderte definitiv ihre Cleverness. Mein favorisierter Charakter in diesem Buch war die scharfsinnige Anwältin Rachel. Die Liebesgeschichte zwischen Evie und Ryan konnte mich nicht überzeugen. Aber das war ja ohnehin Nebenhandlung. Devon war für mich ein faszinierender Charakter. Auch wenn ich in technischen Details nicht den Durchblick habe, fand ich seinen Scharfsinn und seine Aktionen sensationell.

Die Handlung ist ein einziges großes Rätsel, dessen Fäden sich erst ganz zum Schluss auflösen. Wie unter Fieber habe ich dieses Buch gelesen.

Fazit: Absolute Leseempfehlung.

Bewertung vom 09.02.2024
Die Insel des Zorns
Michaelides, Alex

Die Insel des Zorns


sehr gut

Nichts ist echt

Zitat: Das Leben ist eine einzige Performance. Nichts ist echt. Das Leben ist nicht von Dauer und nichts, was wir machen ist von Bedeutung.


Sieben Menschen befinden sich auf der kleinen griechischen Insel Aura. Der berühmte und umschwärmte Ex-Hollywood-Star Lana Farrar hatte zu einem Kurzurlaub eingeladen. Ihr gehört die Insel. Einst erhielt sie diese von ihrem ersten Gatten, einem prominenten Filmproduzenten, zum Geschenk. Sie wollte dem englischen Wetter entfliehen und Sonne tanken. Nachts zieht ein Sturm auf. Die Bewohner sind vom Festland abgeschnitten. Ein Wind, der von den Einheimischen „Zorn“ genannt wird.

Alex Michaelides Die Insel des Zorns ist ein wendungsreicher Thriller, der dem Leser viele Rätsel aufgibt. Die Geschichte wird aus der Perspektive von Elliot Chase erzählt, einem Freund von Lana Farrer. Nur komisch, dass ausgerechnet der Erzähler bei mir keine Sympathien hervorruft. Außerdem nerven mich seine Auslassungen. Ich halte ihn für einen ziemlich aufgeblasenen Kerl, der sich gerne im Schein der Promis bewegt. In seiner Vergangenheit lebte er mit der ältlichen, aber berühmten Schriftstellerin Barbara West zusammen, dafür nahm er sogar Demütigungen in Kauf. Lanas Ehemann ist auch nicht über den Weg zu trauen, genauso wenig wie ihrer Freundin. Mit ‚Zorn‘ ist nicht nur der Wind gemeint, er symbolisiert ebenso den Zorn in den Köpfen. Denn jeder der Protagonisten trägt einen Zorn in sich. Die Beschreibung der einzelnen Charaktere ist dem Autor gut gelungen. Auch die Atmosphäre auf der Insel lässt Bilder im Kopf entstehen, die Spannungen zwischen den Protagonisten ist spürbar.

Eine gelungene Mischung aus Drama, Psychologie und Spannung, auch wenn ich mir von letzterem etwas mehr gewünscht hätte.

Fazit: Mir hat ein bisschen die Spannung gefehlt, Aber insgesamt ein gut lesbarer Thriller

Bewertung vom 05.02.2024
Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge
Tsokos, Anja;Tsokos, Michael

Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge


ausgezeichnet

Reisepass für Rita

»Vielleicht, dachte Labensky, war die Wahrheit überschätzt. Vielleicht war er ja doch nicht der Einzige, der sich gelegentlich in Einbildungen oder Geschichten rettete. Vielleicht hatte ja jeder so seine Erzählungen auf Lager, um sich die Welt, die nicht leicht auszuhalten war, zurechtzubiegen. Luftschlösser brauchten keine Baugenehmigung, aber sie halfen einem, nicht die Hoffnung zu verlieren.«


Mal was ganz anderes vom Bestsellerautor Michael Tsokos, dem Rechtsmediziner und Professor an der Charite in Berlin. Bisher ging es in seinen Büchern immer um Spannung. Man kennt ihn von True-Crime und spannenden Thrillern. Hier hat er zusammen mit seiner Frau Anja Tsokos den Roman »Heinz Labensky – und seine Sicht auf die Dinge« geschrieben und ich muss gestehen, mir hat dieser Ausflug in die Geschichte der DDR sehr gefallen.

Heinz Labensky, 79 Jahre, lebt seit zehn Jahren der in einem Seniorenheim am Erfurter Stadtrand. Er selber würde sich als stinknormalen Kauz beschreiben. Den Osten Deutschlands hat er nie verlassen. Bereits in seiner Kindheit wurde er als nicht sehr Helle eingestuft, förderunfähig hieß es in der DDR. Eines Tages erreicht ihn ein Brief, von der Tochter seiner einzigen großen Liebe Rita. Rita, die blitzgescheite Rita, die ihm einst das Lesen beigebracht hatte. Auch sie war eine Außenseiterin in dem kleinen Dorf Briesen in Brandenburg gewesen. Rita verschwand vor Jahren spurlos, und nun gibt es Hinweise auf ihr Schicksal. Heinz setzt sich kurzentschlossen in einen Flixbus und macht sich auf die Reise nach Warnemünde. Er muss der Sache auf den Grund gehen. Er erzählt seinen Mitreisenden von seinem haarsträubenden, fantasievollen und abenteuerlichen Leben. Doch am Meer angekommen, muss Heinz Labensky eine Entscheidung treffen.

Ein absolut starker Roman. Mir hat es sehr viel Freude gemacht, von diesem liebenswürdigen Sonderling zu lesen. Das Ehepaar Tsokos hat mit Heinz Labensky einen außergewöhnlichen Charakter geschaffen. Er ist zwar dumm wie zehn Meter Feldweg, aber hat das Herz am rechten Fleck und sein Herz schlägt für Rita. Für Heinz gibt es keine andere. Irgendwie ist er auch ein Hans im Glück. Er wurstelt sich mit viel Phantasie und dem Glück der Dummen durchs Leben. Wir erleben als Leser einen Streifzug durch die Geschichte der DDR. Wir begegnen Wolf Biermann, dem Dreiergespann der RAF, Andreas Bader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, wir suchen das Bernsteinzimmer, dort wo einst Carinhall, das repräsentatives Gut des Reichsmarschalls und führenden Nationalsozialisten Hermann Göring gestanden hatte und wir erleben Nazigrößen, die sich geschwind zu Kommunisten umgewandelt haben, wir lesen von Wurmlöchern im sozialistischen Schutzwall, von Spitzeln der Firma Mielke und von vielen typischen DDR-Marken und speziellen DDR-Ausdrücken. Das alles wird von den Autoren so unterhaltsam und humorvoll serviert. In Heinzis Kopfkino ist viel los. Ich habe mich selten so gut amüsiert. Gleich über den ersten Satz musste ich herzhaft lachen. ‚Gönnen Sie sich Holz zu Lebzeiten!‘ Okay, es ist eine Baumarktwerbung für Holzböden. Und noch ein Wort zum Hauptprotagonisten: So geistig eingeschränkt er auch ist, ist er doch ein aufrechter und mutiger Mann, der für die Liebe seines Lebens alles riskierte. Ein Reisepass wird zum Liebesbeweis.

Fazit: Originell, humorvoll und nachdenkenswert: Heinz Labenskys Sicht der Dinge. Ein Lese-Highlight

Bewertung vom 20.01.2024
Das Philosophenschiff
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff


ausgezeichnet

Eine fast wahre Geschichte

Frau Professor Anouk Perleman-Jacoby, eine der bedeutendsten europäischen Architektinnen, feiert ihren 100. Geburtstag. Der Schriftsteller erhält überraschen dazu eine Einladung. Die Jubilarin möchte, dass er ihre Biografie schreibt. Sie hat sich erkundigt. Er hat einen guten Ruf, aber man weiß auch, dass er Dinge erfindet und behauptet sie seien wahr. Deshalb glaubt man ihn oft nicht, wenn er die Wahrheit schreibt. Und genau deshalb ist er der richtige Mann für ihre Biografie. ‚Wenn es keiner glaubt, umso besser. Aber erzählt soll sie werden.‘

Anouk Perleman-Jacoby wird 1922 auf Befehl von Lenin persönlich zusammen mit ihren Eltern und einer Handvoll anderer Intellektuellen aus St. Petersburg auf einen riesigen Luxusdampfer gebracht und in den Westen abgeschoben. Ohne Gerichtsverfahren, da ihnen formell nichts anzulasten war. Leo Trotzki schrieb: „Wir haben diese Leute ausgewiesen, da es keinen Anlass gab, sie zu erschießen, aber sie noch länger zu ertragen, war unmöglich.“ Er nannte es einen Akt der Humanität. Zehn Menschen zittern um ihr Leben, sind im Ungewissen, was mit ihnen geschehen wird. Nachdem das Schiff fünf Tage und Nächte lang auf dem Finnischen Meerbusen treibt, wird ein letzter Passagier an Bord gebracht und in die Verbannung geschickt: Es ist Lenin selbst.

Michael Köhlmeier serviert uns hier eine fesselnde Geschichte, in der die Grenzen historischer Realität und Fiktion verschwimmen. Er schreibt in knappen Sätzen, aber genau auf den Punkt. Er lässt uns absteigen in eine andere Welt. Diese Philosophenschiffe hat es tatsächlich gegeben. Es waren mindestens fünf Schiffe, mit denen im Jahr 1922 unliebsame Personen in großer Zahl aus Sowjetrussland ins Ausland abgeschoben wurden. Ärzte, Professoren, Lehrer, Wissenschaftler, Ingenieure, Rechtsanwälte, Richter, Schriftsteller und Journalisten befanden sich auf diesen Schiffen. Kommt uns das nicht bekannt vor? Weltweit ist in totalitären Regimen zu beobachten, dass Intellektuelle für ihre Länder als Bedrohung angesehen werden. Auch Hitler sah in Schriftstellern eine Gefahr und ließ ihre Bücher verbrennen. Ein Blick ins heutige Russland oder China genügt. Frau Professor Anouk Perleman-Jacoby bemerkt: Paranoia erzeugt Paranoia, denn wie jeder Schüler schon weiß, Gedichte sind mehrdeutig.

Über die Zeit der russischen Revolution war mir im Grunde wenig bekannt, doch dieses Buch animierte mich, mich näher damit zu befassen und nachzulesen.

Ich möchte die junge und auch die hundertjährige Anouk sehr. Die Altersweisheit der Hundertjährigen ist mit Humor gespickt. So sagt sie: ‚Mein ganzes Leben habe ich vom Leben nichts erwartet. Das ist die beste Voraussetzung für ein langes Leben.‘ Die Handlung hat zwar einige Längen, aber die Stimmung unter den Menschen auf dem Schiff ist greifbar zu spüren. Ich bin Lenin begegnet und ich mochte ihn nicht. Auf diesem Schiff war er ein einsamer kranker Mann, im Rollstuhl sitzend, isoliert von den übrigen Passagieren. Er hatte nur Anouk, die ihn heimlich aufsuchte. War er nun ihr „Freund“ oder ihr „Feind“?

Fazit: Unterhaltsam verpackte Historie animiert, sich näher mit den Hintergründen zu befassen.

Bewertung vom 05.01.2024
Wellness
Hill, Nathan

Wellness


sehr gut

THE SYSTEM

Wir haben das Jahr 1993 in Chicago. Jack, der junge Fotograf und Elisabeth, die Psychologiestudentin, kommen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten. Sie wohnen in benachbarten Gebäuden, getrennt durch eine enge Gasse und können einander von der Wohnung aus direkt ins Fenster des anderen sehen und sie verlieben sich ineinander. Zwanzig Jahre später hat sich in ihren Ehealltag die Routine eingeschlichen. Elisabeth ist unzufrieden, sie sehnt sich nach Abstand, fühlt sich eingeengt. Die Erziehung ihres Sohnes überfordert sie. Jack kämpft gegen seinen Bauchansatz. Sein Fitnesstracker und die dazugehörige App THE SYSTEM bestimmen seinen Lebensrhythmus. Jack will seine fröhliche Frau zurück, darum hält er sich strikt an die Ratschläge von THE SYSTEM, die ihm zu allen Lebensbereichen Tipps schickt. Das geht so weit, dass sie sich sogar in sein Liebesleben einklinkt. Beruflich hatte sich Jack einst mehr erträumt. Er spekulierte auf eine Professorenstelle. Stattdessen wird er mit befristeten Dozentenstellen abgespeist. Die Uni umgeht so den Tarifvertrag und erspart sich Kosten. Jack empfindet diese Situation als äußerst unbefriedigend. Jack und Elisabeth sind an einem Punkt angelangt, an dem sie überlegen, ob es sich lohnt, an der Ehe festzuhalten. Werden sie es schaffen?

Der Autor Nathan Hill persifliert den modernen Ehealltag. Vieles ist überzogen. Doch damit hält er uns dem Spiegel vor. Sein Erzählstil ist flüssig. Allerdings empfand ich manches als zu akribisch beschrieben, zu detailreich, das tat der Handlung nicht gut. Mindestens 200 Seiten sind für meinen Geschmack überflüssig. Dem Perspektivenwechsel von der Anfangszeit des jungen Paares in die Jetztzeit ist hingegen gelungen.

Mit den Protagonisten wurde ich leider überhaupt nicht warm. Beide sind sie einst aus ihren Elternhäusern geflohen, mit Sehnsucht nach einem anderen Leben. Sie haben beide ihre Vergangenheit geschönt und dem anderen einiges Verschwiegen. Jetzt fällt es ihnen vor die Füße.

Fazit: Ein Buch für Leser, die nicht gleich aufgeben, denn die Längen erfordern viel Geduld.

Bewertung vom 01.01.2024
Waiseninsel / Jessica Niemi Bd.4
Seeck, Max

Waiseninsel / Jessica Niemi Bd.4


ausgezeichnet

Das Mädchen im blauen Mantel
Max Seeck ist aktuell der erfolgreichste Thriller-Autor Finnlands. Zu Recht. Mich hat ‚Waiseninsel‘ von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt.

Es ist bereits der 4. Band um die Kommissarin Jessica Niemi. Ich kannte die Vorgängerbände nicht, bin aber gut in die Geschichte gekommen. Man kann also auch ohne Vorkenntnisse in die Reihe einsteigen. Trotzdem werde ich mir die Bände 1-3 noch besorgen. Ich will mehr über die Kommissarin Jessica Niemi erfahren.

Bereits der Prolog wirft viele Fragen auf und erzeugt Spannung. Der Wachmann Martin erhält mitten in der Nach einen mysteriösen Anruf.

Die Kommissarin Jessica Niemi leidet unter psychischen Problemen und wird in einer Auseinandersetzung handgreiflich. Der Vorfall wird von einem Beobachter gefilmt und das Video geht viral. Jessica wird vorläufig beurlaubt. Sie sucht Abstand auf einer zwischen Finnland und Schweden gelegenen Insel. Im Gasthof von Astrid und Åke begegnet sie einer Gruppe älterer Gäste die sich „die Zugvögel“ nennen und die sich jährlich hier treffen. Sie alle sind ehemalige Kinder des Waisenhauses der Insel. Um das Waisenhaus rankt sich eine Legende vom geheimnisvollen Mädchen im blauen Mantel, das noch heute von Leuten gesehen wird. Und dann wird eine der Alten tot aufgefunden. Und sie ist bereits das dritte Opfer, das auf diese Weise ums Leben kam.

Max Seeck versteht es perfekt einen dichten Spannungsbogen aufzubauen, der den Leser bis zum Ende fesselt. Sein Schreibstil ist leicht und flüssig zu lesen. Die Protagonisten sind authentisch gezeichnet. Jessica Niemi mochte ich sehr, trotz ihrer Zerrissenheit. Viele Charaktere empfand ich als äußerst interessant. Besonders Astrid und Åke übten auf mich eine besondere Faszination aus. Astrid, die ehemalige Ärztin und Åke, der Philosophiedozent und Liebhaber von Seneca.

Das Ende hat mich überrascht, aber es ist durchaus schlüssig. Und so soll es auch sein. Ein gelungener Krimi, mit zum Teil unheimlicher Atmosphäre und großer Sogwirkung. Temporeich und spannend.