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Leselampe
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Osnabrück

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Insgesamt 34 Bewertungen
Bewertung vom 31.05.2023
Das Restaurant der verlorenen Rezepte / Die Food Detectives von Kyoto Bd.1
Kashiwai, Hisashi

Das Restaurant der verlorenen Rezepte / Die Food Detectives von Kyoto Bd.1


sehr gut

Mit Spürsinn zu vergessenen Wohlgeschmäcken

Wer fühlt sich nicht von einem Lieblingsgericht seiner Kindheit förmlich umarmt, wenn er sich daran erinnern und es nachkochen kann? Und wie schade ist es, wenn das Gedächtnis lückenhaft ist, das Rezept nicht aufgeschrieben wurde oder verloren gegangen ist. Hisashi Kashiwai erfand ein unscheinbares, kleines Restaurant in Kyoto, in dem der Gast den längst vergessenen Geschmack eines Gerichtes wieder erleben kann. Hat der Besucher das einfach anmutende Restaurant ausfindig gemacht, fördern Nagare und seine Tochter Koishi Kamogawa mit detektivischem Gespür, akribischer Recherche und Kochkunst Erinnerungen zu Tage, führen Erkenntnisse herbei und lösen Glücksgefühle aus.

Das kleinformatige Buch mit seinen Geschichten um sechs Personen ist liebevoll gestaltet und angenehm zu lesen. Die Kapitelanfänge sind jeweils mit einer Zeichnung von Hauskatze Hirune verziert; die Erinnerungsgeschichten der sechs Gäste gleichen sich und sind doch immer anders gelagert. Wir erfahren einige Details von der japanischen Küche, verschiedenen Regionen und japanischer Lebensweise, lernen nicht zuletzt Nagare und Koishi immer besser kennen.

Mir hat die zu Grunde liegende Idee und ihre Umsetzung rundum sehr gefallen!

Bewertung vom 09.05.2023
Mutterliebe
Selvig, Kim

Mutterliebe


gut

Spannend mit Thrillerelementen

Das in nur drei Farben gehaltene Cover vermittelt sehr passend die düster-depressive Stimmung der Protagonistin Sylvia Bentz - einer Mutter, die ihren kleinen Sohn Linus getötet hat. Doch trägt sie für dieses unvorstellbare Verbrechen auch die Schuld? Dazu recherchiert Journalistin Kiki Holland, begleitet - ungewollt - den Gerichtsprozess für ihre Zeitung und bringt sich selbst mehrfach in Gefahr. Denn es gibt mächtige Personen, die eine Aufklärung der Tathintergründe verhindern wollen.

Kim Selvig - ein Pseudonym für die zwei Autoren Silke Porath und Sören Prescher - ist ein spannender Krimi gelungen, der Thrillerelemente mitbringt. Szenen, die im Gerichtssaal spielen, ziehen sich zwar durch, überwiegen aber keinesfalls, zumal Kiki Holland zeitweise vom Geschehen dort ausgesperrt bleibt. Der Journalistin spielen arg viele Zufälle in die Hände, die die Handlung und Falllösung vorantreiben. Gut gefallen haben mir die Einblicke in Kikis Privatleben, mit Tätowierer "Torte" und neuem Freund Tom, genannt "Maulwurf". Der Bezug zum Fall wird dadurch hergestellt, dass beide die Recherchen ihrer Freundin tatkräftig unterstützen.

Das über 430 Seiten starke Buch lässt sich dank flüssigen Schreibstils gut lesen, manches Mal ging es mir mit schnoddrig-umgangssprachlicher Ausdrucksweise zu weit; das häufige Fluchen der Journalistin hätte für meinen Geschmack auch nicht sein müssen. Die Struktur mit eingeschobenen Schilderungen, Gedanken und Träumen zu unterschiedlichen Zeitpunkten vor der Tat trägt wirksam zum Spannungsaufbau bei, vom Layout her sind diese Passagen unterstützend kursiv hervorgehoben.

Insgesamt ein durchaus lesenswerter Krimi mit Thrillermomenten, den ich trotz kleinerer Schwächen gern positiv bewertet hätte - wäre da nicht gegen Ende ein sehr grober inhaltlicher Schnitzer passiert. Aber von einer bestimmten Person in Untersuchungshaft zu sprechen und quasi im gleichen Atemzug zu schreiben, eben diese Person sei (zeitlich davor liegend) im Gerichtssaal bei einem Schusswechsel zu Tode gekommen, das ist überaus ärgerlich.

Bewertung vom 28.04.2023
Die unglaubliche Grace Adams
Littlewood, Fran

Die unglaubliche Grace Adams


ausgezeichnet

Eine starke Frauenfigur

Mit ihrer Geschichte um Grace Adams ist der Autorin Fran Littlewood ein unglaublich intensiver Debütroman gelungen. Die Handlung konzentriert sich auf einen völlig aus dem Ruder laufenden Tag im Leben der Hauptperson. Die 45-jährige Grace versucht, allen Widernissen zum Trotz, von ihrem Haus zur Wohnung ihres getrennt lebenden Ehemanns Ben zu kommen und aus der Konditorei eine ganz besondere Torte mitzubringen. Denn die gemeinsame Tochter Lotte feiert dort ihren sechzehnten Geburtstag, doch die Mutter ist dabei alles andere als erwünscht.

Grace durchlebt an diesem Tag in der Gegenwart gedanklich zwei zurückliegende Zeitebenen: Eine ab 2002, als sie Ben kennenlernte, die andere spielt vor einigen Monaten, und beide Ebenen münden in diesen chaotischen, gewalttätigen, schmerzhaften und vieles aufdeckenden Tag in der Gegenwart. Denn "etwas ist passiert, das sie sprachlos gemacht und aus der Bahn geworfen hat" (Zitat aus dem Klappentext). Und genau diese Sprachlosigkeit muss endlich aufhören, das zentrale Ereignis, das das Familienleben über Jahre vergiftet hat, offengelegt werden. Die Konstellation der Mutter nahe ihrer Menopause und der Tochter, die sich mit Pubertät und erwachender Sexualität auseinanderzusetzen hat, liefert zusätzlichen Sprengstoff.

Fran Littlewood hat durch die Anlage des Romans mit den verzahnten Zeitabschnitten eine Struktur geschaffen, die eine starke Spannung entstehen lässt. So konnte ich das Buch fast nicht aus der Hand legen. Absolut lesenswert!

Bewertung vom 08.04.2023
Das Bücherschiff des Monsieur Perdu
George, Nina

Das Bücherschiff des Monsieur Perdu


weniger gut

"Das schönste Buch des Jahres"* - Ich hoffe nicht

Auf die weitere Geschichte um Monsieur Perdu hatte ich mich gespannt gefreut, führt das "Bücherschiff" doch die Handlung von "Das Lavendelzimmer" fort. Wiederum begegnen uns eigenwillige und liebenswerte Gestalten wie Catherine, Madame Gulliver, Max, Samy, Salvo, Victoria und weitere, darunter bislang noch unbekannte Personen. Die Idee der "Pharmacie Littéraire" lebt weiter, und die Paris-Reise von Perdu und Max mit der schwimmenden Buchhandlung "Lulu" bestimmt den Mittelteil des Romans. Das hübsche Cover mit Brücke und Schiff und der lilafarbene Bucheinband schaffen bereits äußerlich die Verbindung zum Vorläuferwerk.

Nina Georges Sprachstil erfordert Zeit, Konzentration und Muße beim Lesen, da, wo er fein, poetisch und tiefgründig ist. Manchen Satz habe ich zweimal gelesen und viel Zitierfähiges gefunden. Dann wiederum war mir der Schreibstil zu überfrachtet, die Handlung verliert sich, und es machte keine Freude mehr zu lesen. Bücher als Balsam für die Seele, die wie Medizin individuell verschrieben werden, und das alles im schwimmenden "Sprechzimmer" - das trägt auch in diesem Roman als schöne Grundidee, die beim Lesen Gestalt annimmt. Wobei ich allerdings finde, dass die Autorin die Heilungen an mancher Stelle unglaubwürdig übertrieben hat, beispielsweise beim Brigadier Le Roy, geläutert durch das Lesen von Rilkes Gedichten.

"Die Große Enzyklopädie der kleinen Gefühle" hätte ich - wenn überhaupt - lieber als geschlossenen Teil am Ende des Buches gesehen und das in weitaus knapperer Form. Mitten im Romantext haben die vielfach überlangen und manchmal schwerlich nachvollziehbaren Einträge meinen Lesefluss störend unterbrochen; ich habe sie teils nur noch überflogen.

Übertrieben und fast ärgerlich habe ich das Auftreten der Figur "Jean Bagnol" empfunden, dem gemeinsamen Pseudonym Nina Georges und ihres Mannes. War es als witziger Einfall gedacht? Bei mir hat er nicht gezündet.

Zum Einstieg hatte ich mir übrigens nochmals "Das Lavendelzimmer" herausgesucht, das ich unübertroffen finde und mit dem das "Bücherschiff" bei weitem nicht mithalten kann. "Das Lavendelzimmer" habe ich dieses Mal in der Hörbuchfassung genossen. Gelesen von Richard Barenberg mit wunderbar sonorer Stimme, wurde der Roman für einige Tage mein angenehmer Begleiter auf Spaziergängen. Mehrere Passagen der Manon hatte die Autorin selbst eingesprochen. Wer die Vorgeschichte zum "Bücherschiff" noch kennenlernen möchte, dem kann ich das Hörbuch unbedingt empfehlen.

*Zitat Klappentext

Bewertung vom 25.03.2023
Keine gute Geschichte
Roy, Lisa

Keine gute Geschichte


sehr gut

Im Pott - nah dran und mittendrin

Ein Cover, das für mich ein absoluter Hingucker ist, ein Anti-Titel, der neugierig macht, eine spannende Story und eine direkte Sprache, die sofort ihren Sog ausübt - das sind die Zutaten, die mich für Lisa Roys Erstlingswerk begeistert haben.

Die 30-jährige Arielle Freytag wird zurückgeworfen auf die Lebenswelt ihrer Kindheit und Jugend, in ein Unterschichtenmilieu, dem sie sich längst entwachsen fühlte. Inzwischen - vermeintlich - zu Hause in der hippen Social-Media-Welt, jedoch mit Depressionen behaftet, findet sie sich zwischen den tristen Wohnblocks Essen-Katernbergs wieder. Ein Hilferuf ihrer seltsamen Oma hatte sie erreicht. So landet Arielle mitten in ihrer Vergangenheit: Zwei verschwundene Mädchen lassen mit Macht die Erinnerung an ihre Mutter hochkommen, ebenfalls verschwunden, und zwar als Arielle erst sechs Jahre alt war.

Die Ich-Erzählerin Arielle ist wahrlich keine sympathische Protagonistin; sie macht es uns schwer, uns mit ihr zu identifizieren. Mit all ihren Schwächen, ihrem egoistischen Verhalten, ihrer unverblümten Sprache verkörpert sie eine Anti-Heldin - eigentlich schreit alles an ihr nach Liebe, die unerfüllt blieb, seit die Mutter gegangen ist. Fast verzweifelt richtet sie sich in ihren Gedanken direkt an ihre Mutter. Beim Lesen ist es manchmal schwer auszuhalten, der Erzählerin zu folgen: Sie fühlt sich schmerzhaft allein gelassen, flüchtet sich in kurze sexuelle Beziehungen, verliert sich im Alkohol, versinkt in Depressionen, kämpft sich wieder heraus. Ganz allmählich kann sie sich ein klareres Bild über ihre Vergangenheit machen. Sie fühlt sich - auch ohne die Mutter - nicht mehr so allein. Das immerhin macht Mut.

Bewertung vom 19.03.2023
Florentia - Im Glanz der Medici
Martin, Noah

Florentia - Im Glanz der Medici


ausgezeichnet

Macht und Einfluss einer Dynastie

Noah Martin nimmt uns mit ins Florenz des 15. Jahrhunderts und lässt uns eintauchen in den Alltag, die Liebe, das Leben und Sterben zur Zeit der italienischen Renaissance. Beweggründe und Wirken historischer Persönlichkeiten hat die Autorin gründlich recherchiert und glaubhaft in die fiktive Romanhandlung eingebunden.

Das Handels- und Bankhaus der Familie Medici bestimmt die politischen und wirtschaftlichen Geschicke der Stadt, bleibt dabei jedoch nicht unangefochten. Die dritte Generation der Medici mit Lorenzo und seinem jüngeren Bruder Giuliano sieht sich Intrigen, Verrat und Morden gegenüber - allen voran betrieben durch die Bankiersfamilie Pazzi. Aber auch die katholische Kirche weiß ihre Trümpfe auszuspielen.

Die kulturelle Entwicklung bringt uns Noah Martin durch die jungen Künstler der Zeit nahe: den ungestümen und eigenwilligen Leonardo da Vinci, den gesetzteren Sandro Botticelli und die zielstrebige und begabte Fioretta Gorini. Alle werden durch die Medici' auf die eine oder andere Art gefördert, stehen ihnen nahe und sind mit dem Spiel um Macht und Einfluss schicksalhaft verknüpft.

Für das sehr ansprechende Cover ist ein Ausschnitt aus "Die Geburt der Venus" gewählt, dabei handelt es sich - passend zum Inhalt - um ein Gemälde Sandro Botticellis. Die Innenseite des vorderen Buchumschlags zeigt einen plastisch gezeichneten Stadtplan des historischen Florenz mit allen wichtigen Örtlichkeiten. Ein Stammbaum der Medici' und eine Übersicht der handelnden Personen erleichtern das Zurechtfinden, ebenso die Orts- und Zeitangaben bei den einzelnen Kapiteln. Sinnvoll gefunden hätte ich noch ein Glossar der italienischen Begriffe, die im Text eingestreut sind. Der Schreibstil der Autorin ist flüssig und klar, das Buch ist durchweg spannend zu lesen, die Personen und Schauplätze sind sehr anschaulich beschrieben.

Ein absolut gelungener historischer Roman, den ich von der ersten bis zur letzten Seite sehr gern gelesen habe.

Bewertung vom 02.03.2023
Das Meer und ich
Randau, Tessa

Das Meer und ich


gut

Befreiende Reise

Die Ich-Erzählerin nimmt uns mit auf ihren zehntägigen Inselurlaub: eine Frau in den mittleren Jahren, Ehefrau, Mutter, berufstätig. Sie ist unzufrieden mit sich, ihrer Arbeit, ihren Lebensumständen. Das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, unattraktiv zu sein, hat sich in ihr breit gemacht. Auf der Insel lernt sie die Ladenbesitzerin Lene kennen, und durch lange Gespräche findet sie einen Weg zu Selbstakzeptanz, Selbstliebe und Glück.

Tessa Randau ordnet ihre Bücher - dieses ist das dritte in der Reihe - dem Genre "Erzählendes Sachbuch" zu. Sie bindet damit ihre Ratgeberthemen wie den Alltag zu meistern, Liebe, Partnerschaft und hier eben Selbstliebe in eine fiktive Handlung ein. Das kleinformatige Buch ist liebevoll gestaltet und mit einfachen, maritimen Strichzeichnungen illustriert. Die 170 Seiten habe ich an zwei Nachmittagen durchgelesen. Dazu hat sicherlich der angenehm flüssige, lebendige und abwechslungsreiche Schreibstil beigetragen. Die in blau gehaltenen Kapitelüberschriften folgen dem befreienden Weg, den die Protagonistin auf ihrer inneren Reise einschlägt.

Einerseits hat mir die Lektüre gut gefallen: Ich finde es sehr geschickt, einen Ratgeber in eine erzählende Geschichte zu verpacken. So kann ich mich in die Hauptfigur einfühlen, an ihrem Lernprozess teilhaben und für mich selbst davon profitieren. Andererseits habe ich die Figur der Lene als etwas konstruiert empfunden, sie erscheint gegenüber der Protagonistin als allwissend, stellt stets die richtigen Fragen und zeigt die passenden Lösungswege auf. So wird die Stärke des Erzählerischen gleichzeitig zu seinem Nachteil.

Bewertung vom 17.02.2023
Männer sterben bei uns nicht
Reich, Annika

Männer sterben bei uns nicht


weniger gut

Zerstörtes Urvertrauen

Das Stillleben des Covers mit dem Verfall und der Vergänglichkeit des einstmals Schönen hatte mich sehr angesprochen, ebenso die verheißungsvolle Leseprobe: Wirklich eingelöst wurde meine Erwartung nicht, dazu muss ich zu sehr im Spekulativen bleiben.

Erzählt wird aus Sicht der etwa dreißigjährigen Luise, die bei der Beerdigung ihrer alles dominierenden Großmutter die übrigen Familienmitglieder wiedertrifft, ausnahmslos Frauen. Von hier ausgehend nutzt die Autorin verschiedene Rückblenden in die Kindheit und jüngere Vergangenheit der Protagonistin.

Dreh- und Angelpunkt des Geschehens ist ein großzügiges Anwesen am See. Dort wächst Luise auf, unter Frauen der Familie und einer Angestellten. Männer existieren nur außerhalb dieses geschlossenen Mikrokosmos, bleiben vage wie die gesamte Außenwelt. Alles außerhalb wird gering geschätzt, wie die beiden toten Frauen, die Luise als Kind im Wasser findet; sie gehören nicht dazu, taugen nichts, haben nichts erreicht, sind nichts wert. Ebenso wie Luises Schwester Leni, die vom vorgegebenen Weg abweicht und deshalb aufs Internat geschickt wird.

Luise hingegen fügt sich in diese von der Großmutter beherrschte kleine Welt, will ihr alles recht machen und sich damit würdig für deren Nachfolge erweisen. Luise erscheint nicht gefestigt als Persönlichkeit, sie kennt ihre Bedürfnisse nicht, weiß nicht, was sie sich wünscht, misstraut ständig ihren Erinnerungen und kann kein Vertrauen zu sich selbst aufbauen. Immer wieder zieht sie alles in Zweifel, was kurz zuvor noch sicher erschien.

Luise leidet unter ihrem zerstörten Urvertrauen. Ob sie aus dem dichten Spinnennetz des familiären Erbes herausfindet, bleibt für mich - trotz ihres in die Zukunft weisenden "Schlussworts" - ungewiss.

Bewertung vom 07.02.2023
Malvenflug
Wiegele, Ursula

Malvenflug


gut

Blumensamen, die die Erinnerung wachhalten?

Ein kleinformatiges schmales Buch liegt vor mir, nur gut 200 Seiten stark. Der wunderschön gestaltete Schutzumschlag zeigt ein altes italienisches Fresko in verwaschenen Grün- und Blautönen, einen blühenden Garten mit Fruchtbäumen und Vögeln. Die Atmosphäre ist ein wenig melancholisch, sehnsüchtig, auch heiter. Diese Stimmungen finden sich ebenso im Roman wieder.

Der erste Teil umfasst in chronologischer Folge die Kriegsjahre 1940 bis 1945, vier Personen der Familie Prochazka kommen zu Wort: die geschiedenen Eltern Emma und Pavel, der Sohn Alfred, die Tochter Lotte. Die beiden Kinder Fritz (Lottes Zwillingsbruder) und die älteste Tochter Helga haben hier keine eigene Stimme, sondern finden über die wechselnden Erzählperspektiven der anderen Erwähnung. Die Familie lebt verstreut in Brünn, Davos, Graz. Die einzelnen sehr knappen Kapitel breiten wie in einem Kaleidoskop Bruchstücke dieses Familienlebens aus, das vor allem durch den Fortgang Emmas nach Davos keines mehr ist. Der Stil ist geprägt durch kurze, gereihte und teils unvollständige Sätze, detailhaft und genau beschreibend. Die Romanfiguren agieren, funktionieren, passen sich an die Umstände ihres Lebens und der Zeit an.

Im zweiten Teil wechselt die Autorin Ursula Wiegele vom personalen Erzähler zur Ich-Erzählerin Helga. Die Geschichte wird flüssiger, geschlossener, liebevoller und heiterer. Helga lebt seit 1947 in Italien und richtet zu Beginn der 1990er Jahren ihren Blick zurück auf ihre Zeit im Kloster und die prägende Tätigkeit im Blindeninstitut in Graz, ihr weiteres Leben in Italien und ihre späte Liebe zu Max, mit dem sie nun in einem Haus am Meer lebt. Mit Max bereitet sie das alljährliche (und versöhnende) Familienfest vor und fügt in der Rückschau viele Geschehnisse der Familiengeschichte ordnend zusammen.

Lange lässt uns die Autorin im Ungewissen, was der Buchtitel "Malvenflug" bedeuten soll. Und bis zum Schluss bin ich mir nicht sicher geworden, ob ich das Geheimnis entschlüsseln konnte. Insgesamt keine einfache Lektüre, die ich oft etwas ratlos aus der Hand gelegt habe und bei der ich mich schwertun würde, sie zu verschenken.

Bewertung vom 16.01.2023
Saubere Zeiten
Wunn, Andreas

Saubere Zeiten


ausgezeichnet

Die Last des Schweigens

Jakob Auber ist Sohn, Enkelsohn, selbst Vater eines kleinen Sohns. Der Ich-Erzähler des Romans kehrt in seinen Heimatort zurück, da sein Vater im örtlichen Krankenhaus liegt und dort stirbt. Jakob findet in seinem alten Zimmer im Elternhaus zahlreiche Dokumente vor, die ihn tief in seine Familiengeschichte eintauchen lassen. Die von seinem Vater besprochenen Tonbänder, die Tagebücher seines Großvaters, zahlreiche Fotografien und Briefe - all das wird für Jakob zu einer Reise in die deutsche Vergangenheit, die ihn bis nach Brasilien führt. Er lernt, die Sprachlosigkeit und das Schweigen in seiner Familie besser zu verstehen, wie auch die Schwierigkeit, Gefühle in Beziehungen zuzulassen und zu äußern, was auch für ihn selbst gilt. Die mangelnde Nähe, unter der die Personen leiden, spiegelt sich ebenso im sachlich-distanzierten Schreibstil wider. Auch das nostalgisch gestaltete Cover mutet kühl an.

Andreas Wunn erzählt in seinem Romandebüt nicht chronologisch, sondern springt zeitlich oft hin und her, wechselt die Ebenen, rückt andere Figuren in den Vordergrund. Dennoch konnte ich mich immer rasch orientieren und habe den Aufbau als schlüssig empfunden. Für mich ist diese Geschichte aus der Sicht des Kriegsenkels Jakob beispielhaft für vergleichbare deutsche Schicksale, die die "Last des Schweigens" mit sich herumtragen, beispielhaft für Vater-Sohn-Beziehungen, geprägt durch die Geschehnisse des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs. Im vorliegenden Roman kann der Protagonist die Last für seine Schultern ein wenig verringern und sich öffnen.

Der Autor hat mich von Beginn an gebannt lesen lassen. "Saubere Zeiten" ist ein bemerkenswerter Auftakt in diesem Jahr. Eine eindeutige Leseempfehlung!