Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Buecherundschokolade

Bewertungen

Insgesamt 121 Bewertungen
Bewertung vom 18.02.2024
Spur und Abweg
Tallert, Kurt

Spur und Abweg


ausgezeichnet

Der Musikproduzent und Rapper Kurt Tallert (*1986) erkannte schon im Geschichtsunterricht der 90er Jahre klarsichtig, dass der Holocaust für ihn nicht nur ferner Schulstoff ist: Sein Vater ist ein Überlebender. Auch mit über 60 Jahren noch gezeichnet von den Erfahrungen, die er als Jugendlicher im Zwangsarbeiterlager und der Gestapohaft gemacht hat. Den Jungen Kurt beschäftigt all das sehr, ohne dass er mit dem Vater im Detail darüber sprechen kann. Es ist seine Mutter, die ihm und seinem Bruder Buchenwald zeigt und über die Familie ihres Mannes spricht.

Nach dem Tod seines Vaters nähert sich der Autor diesem an, forscht in seiner Familiengeschichte, liest die Akten und die Briefe, fährt nach Theresienstadt und wieder nach Buchenwald. Er denkt über das Schicksal seiner jüdischen Urgroßmutter nach, die 80-jährig aus dem Seniorenheim nach Auschwitz gezerrt und genau wie ihre Tochter ermordet wird. Er liest die Akten aus dem „Wiedergutmachungsverfahren“ seines Großvaters, der als Holocaustüberlebender in der BRD der 50er Jahre demütigenden Prozeduren unterzogen wird. Und Kurt Tallert reflektiert über seine Familiengeschichte. Die Verwandten, die er nie kennengelernt hat. Aber auch über den Gerechtigkeitsinn seines Vaters, des Bundestagsabgeordneten, der sich gegen Herbert Wehner auflehnt, als die SPD-Fraktion der oben Ex-Nazi als obersten Verfassungsschützer. Und über seine Dämonen.

Herausgekommen ist ein lesenswertes, manchmal wütendes und immer spannendes Buch, das heute mehr denn je gelesen werden sollte.

Bewertung vom 12.02.2024
Nachbarn
Oliver, Diane

Nachbarn


ausgezeichnet

Als Diane Oliver 1966 kurz vor ihrem 23. Geburtstag bei einem Autounfall starb, hatte sie gerade einmal ein paar Kurzgeschichten veröffentlicht. Bekannt war sie noch nicht, vielmehr stand sie kurz vor ihrem Universitätsabschluss in creative writing an der University of Iowa. In den USA wurde ihr schmales Werk erst vor einigen Jahren wiederentdeckt und jetzt macht es der Aufbau Verlag auch auf Deutsch zugänglich. Erschütternd sind ihre Stories durchweg. Erzählt wird hauptsächlich vom Rassismus in den USA der 60er Jahre und der Bürgerrechtsbewegung. Aber auch von Alltagserfahrungen. Von der amerikanischen Austauschschülerin, die auch in der Schweiz auf ihre Hautfarbe reduziert wird. Oder dem Alltag schwarzer Haushaltshilfen. In der ersten Geschichte, die mich sehr berührt hat, greift sie das Motiv des Kindes auf, das als erster schwarzer Junge in einer Südstaatenstadt in eine bis dato „weiße“ Schule gehen soll und erzählt uns von seiner Familie am Tag vor der Einschulung. Insgesamt ist der Kontrast zwischen brutalstem Rassismus und Alltäglichkeit das, was diesen Band so beeindruckend wie bedrückend macht. Aber auch die Rolle der Frau wird in den späteren Stories von Oliver behandelt. Die Geschichten sind dabei so modern, da ist es kaum fassbar, dass sie schon 60 Jahre alt sind. Diese Autorin verdient mit ihrem
dünnen aber gewichtigen Werk eine große Leserschaft und einen Platz im Kanon. Eine klare Empfehlung.

Bewertung vom 16.01.2024
Wellness
Hill, Nathan

Wellness


ausgezeichnet

Die Hauptfiguren des Romans Wellness von Nathan Hill verlieben sich gleichsam dadurch, dass sie sich heimlich gegenseitig beobachten. Oder ist dieses Beobachten des anderen nur Ausdruck der bereits entstandenen Bindung? Für Jack ist Elizabeth, die im Chicago der 90er in der Wohnung gegenüber wohnt, so nah, dass er denkt, die Lücke zwischen den Gebäuden wäre mit einem Sprung überbrückbar, die perfekte Frau. Gut aussehend, gebildet, weitgereist. Und auch Elizabeth findet ihn, ohne dass er es ahnt, attraktiv und sieht ihm aus der unbeleuchtet Wohnung bei alltäglichen Verrichtungen zu. Ihm, dem dünnen Burschen, Künstler-Fotograf mit einem Körper wie ein Junkie-Knabe, der nur Fertiggerichte nascht. Wie gern würde sie ihn mit Vitaminbomben vollstopfen! Das ist die Ausgangslage, die in eine jahrelange und wechselsvolle Beziehung mündet, die Hill vor unseren Augen entfaltet. En passant baut er die Themen unsere Epoche ein, vom Selbstoptimierungswahn bis zum Verschwörungswahn. Herausgekommen ist ein gelungener Roman, der sprachlich auf hohem Niveau daherkommt und den Ruf des Autors als Kenner des menschlichen Innenlebens manifestiert. Chapeau!

Bewertung vom 11.01.2024
Das Philosophenschiff
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff


sehr gut

Michael Köhlmeier versteht es wie kein zweiter in Romanform über historische Themen zu schreiben und diese dann mit fiktionalen Elementen anzureichern, dass einem der Kopf raucht. So auch im vorliegenden Fall oder wie über die Hauptfigur - einen namenlosen österreichischen Autor - gesagt wird: Wenn er die Wahrheit schreibt, glauben alle, dass er lügt und nicht wenn er etwas hinzuerfindet, halten es alle für die Wahrheit.

Im Roman lässt sich der Autor von einer 100-jährigen Star-Architektin ihr Leben erzählen, ausgewählt hat sie ihn wegen obiger Eigenschaft. Einst war sie mit einem sog. „Philosophenschiff“ aus der Sowjetunion nach Deutschland gekommen. Auf diesen deportierte die Bolschewisten russische Intellektuelle, denen keine konkreten Vorwürfe gemacht werden konnten, die aber als unliebsam galten. Von den unerhörten Ereignissen und dem Terror Lenins, Trotzkis und Co. will sie berichten. Doch was verschweigt sie bei ihrer Erzählung, wem kann man trauen?

Zwischen den beiden entwickelt sich ein Kammerspiel, das der Autor gekonnt sehr lesenswert anlegt. Köhlmeiers Stil umfängt einen dabei und lässt einen nur ungern Pausen im Lesen einlegen, wie man es von ihm auch nicht anders gewohnt ist.

Dieser Roman ist als gekonntes Spiel zwischen Historie und Fiktion eine Empfehlung wert.

Bewertung vom 08.01.2024
Die sieben Monde des Maali Almeida
Karunatilaka, Shehan

Die sieben Monde des Maali Almeida


ausgezeichnet

In Die sieben Monde des Maali Almeida zeichnet der Autor Shehan Karunatilaka ein faszinierendes Bild des Bürgerkriegs in Sri Lanka und porträtiert eine Nation im gewalttätigen Dauerausnahmezustand. Von 1983 bis 2009 bekämpften sich die von der Singhalesischen Mehrheit getragene Regierung und die tamilischen Rebellen der LTTE. Kommunistische Milizen mischten auch noch mit. Leid und Tod waren für die Bevölkerung allgegenwärtig. Und mittendrin Maali, schwul, spielsüchtig, brillanter Fotograf. Er dokumentiert das Leid mit seiner Kamera. Bis er eines Tages getötet wird. Er erwacht in einer seltsamen Zwischenwelt, die mehr einer strengen Behörde gleicht. Doch Maali verweigert sich dem Protokoll und kehrt mit Hilfe eines ehemaligen kommunistischen Agitators, der jetzt als Ghoul in der Zwischenwelt haust, auf die Erde zurück, um die Umstände seines Todes zu erfahren… und da gibt es ja auch noch Umschläge mit dramatischen Fotos, die Sri Lanka erschüttern könnten. Sieben Monde bleiben ihm Zeit.

Der Roman ist dabei so fesselnd wie poetisch geschrieben und voller höchst bestechender Szenen. Die polizeilichen Ermittlungen etwa zu Maalis Verschwinden, wobei die Polizisten sich noch nicht zwischen Vertuschen und Aufklären entschieden haben, lesen sich wie Situationskomik. Oder die Ambitionen des Dämons, der den Verteidigungsminister begleitet und diesen beeinflusst.

Summa summarum ein faszinierendes Buch, das zu Recht gepriesen wird und den Horizont erweitert

Bewertung vom 12.12.2023
Der Spion und der Verräter
Macintyre, Ben

Der Spion und der Verräter


ausgezeichnet

Ben Macintyre versteht es wie kein anderer Autor der Gegenwart spannend über Spione zu schreiben. Seine Sachbücher sind stets sehr mitreißend und faszinierend geschrieben. Auch das vorliegende Buch über den britisch-sowjetischen Dopppelagenten Oleg Antonowitsch Gordijewski war unglaublich spannend. Macintyre erzählt eine sehr spannende und gefährliche Geschichte des Kalten Krieges mit sehr viel Humor, denn skurrile Situation bot das Agentenleben ziemlich viele, zwischen notorisch paranoiden KGB und sehr britischen MI6-Agentenenführern. Der Autor nimmt dabei auch sein Subjekt sehr ernst und schreibt manchmal fast ehrfürchtig über Gordijewski. Alles in allem ein Sachbuch mit über 400 Seiten, das man sehr schnell ausliest und das einem ein spannendes Kapitel der Sowjetgeschichte (und der Weltgeschichte) näherbringt.

Bewertung vom 12.12.2023
Die schreckliche Adele und die Galaxie der Bizarren
Mr. Tan;Le Feyer, Diane

Die schreckliche Adele und die Galaxie der Bizarren


ausgezeichnet

Die Comicbände um die teuflische, kleine Adele sind wirklich kontrovers, düster und krawallig, nicht wirklich für Kinder geeignet, aber umso lustiger für die Eltern. Die kurzen Strips aus dem Leben des rothaarigen Mädchens handeln normalerweise von ihrem fiesen Streichen gegen Eltern, Mitschüler, Katzen und sind schon ziemlich schlimm. Doch in diesem Band geht es abgespaceter zu, er spielt nämlich im Weltraum. Eltern gibt es keine mehr, dafür eine mächtig miese Feindin für Adele. Am besten haben mir wieder mal die Zeichnungen gefallen, die mit wenigen Stilmitteln sehr ausdrucksstark ausgeführt sind. Mr. Tan bildet auch mit seiner neuen Partnerin Diane Le Feyer ohne Miss Prickly ein sehr gutes Team. Daher eine Empfehlung für Fans lustiger Comickost, die frech und dunkel daherkommt und dieses Mal sogar ziemlich verrückt und fantasiereich.

Bewertung vom 06.12.2023
Unsereins
Mahlke, Inger-Maria

Unsereins


ausgezeichnet

Lübeck ist 1890 zumindest nach eigener Auslegung der kleinste Staat des Deutschen Reichs, auch wenn es in puncto Fläche und Einwohnerzahl kleinere gibt. Doch mit dem Titel zweitkleinster Staat kann sich die stolze Hansestadt nicht zufriedengeben. Hier also spielt der aktuelle Roman von Inger-Maria Mahlke, der ein Gesellschaftsroman allererster Güte ist. Wir folgen Hausmägden, Ratsdienern, Pennälern, Senatoren auf ihren Wegen, ihren Intrigen und Geschäften. Und ganz besonders natürlich der Familie Lindhorst. Sie haben es zu etwas gebracht, sind eine einflussreiche, protestantische, kaisertreue Hansefamilie und trotzdem lässt man sie am Ende nicht vergessen, dass sie auch nach zwei Generationen noch den „Makel ihrer Herkunft“ tragen, also Juden sind. Der Antisemitismus des Kaiserreichs schlägt voll zu. Maßgeblich wird das Stigma vom Roman einen jungen Bekannten befeuert - des später bekanntesten Autors der Stadt Thomas Mann.

Mahlke hat einen furiosen Roman geschrieben, der den Leser zurückversetzt und mitnimmt. Ich wurde bis zuletzt gut unterhalten

Bewertung vom 28.11.2023
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


ausgezeichnet

Alex Schulmans vorheriger Roman Verbrenn all meine Briefe war ein z. B. von Buchbloggern und Kritikern viel und gerne vorgestellter Roman, der irgendwie nicht so ganz zu uns durchgedrungen ist, obwohl er nicht uninteressant klang.

Daher hat es uns umso mehr gereizt, jedenfalls sein aktuell auf Deutsch erschienenes Werk zu lesen.

In Endstation Malma begegnen wir Menschen, die in einem Zug von Stockholm in die schwedische Provinz sitzen.

Eine Paar, dessen Ehe offenkundig zerrüttet ist. Ein Vater mit seiner kleinen Tochter, die eine Urne bei sich tragen. Und eine Alleinreisende, die mit einem Fotoalbum bewaffnet ist. Sie alle fahren nach Malma.

Man merkt schnell, dass die Zugfahrten nicht zeitgleich stattfinden, aber eng miteinander zusammenhängen.

Mehr soll hier nicht verraten werden.

Alex Schulman entfaltet eine faszinierende Geschichte, die einen großen Sog entfaltet und der ich mich kaum entziehen konnte.

Ich las große Teile des Buches auf einer morgendlichen Zugfahrt und musste im Zielbahnhof noch sitzen bleiben, weil ich das Kapitel nicht einfach abbrechen konnte…

Wenn man noch einen Kritikpunkt suchen müsste, dann vielleicht, dass einem manche Figuren näher kommen als andere, die wiederum eher schablonenhaft bleiben.

Aber das ändert nichts an der Feststellung, dass dieser Roman ein bereicherndes und gänzlich unkitschiges Vergnügen bedeutet, das ich nicht missen möchte.

Daher eine große, persönliche Empfehlung

Bewertung vom 07.11.2023
Das Gemälde
Brooks, Geraldine

Das Gemälde


ausgezeichnet

Das Geraldine Brooks auf ihrem Autorinnenfoto mit ihrem Pferd posiert, ist keine Überraschung. Wer ihren neuen Roman „Das Gemälde“ liest, bemerkt schnell auch ihre Liebe für diese Tiere.

Dreh- und Angelpunkt ist dabei das Gemälde auf dem Cover. Ein schwarzer Jockey führt sein braunes Rennpferd, zu Füßen ein kleiner Hund. Eine Idylle in malerischer Landschaft, mit dem bitteren Beigeschmack, dass der Junge ein Sklave ist und das Bild im Kentucky des Jahres 1850 entstanden ist.

Diesem Gemälde nähern wir uns nun auf verschiedenen Zeitebenen und multiperspektivisch an.

In der Jetztzeit stößt ein Kunstwissenschaftler mit eigener Rassismuserfahrung auf das Bild und ist sofort fasziniert.

Währenddessen muss eine junge, australische Wissenschaftlerin ein Pferdepräparat auf dem Dachboden des American Museum of Natural History hervorsuchen und gerät so an das berühmteste Rennpferd der amerikanischen Geschichte.

Im Jahr 1850 folgen wir dem Jungen Jarrett, der wie kaum jemand mit Pferden umzugehen weiß und dadurch große Bedeutung auf der Plantage erlangt. Doch er ist unfrei, ein Sklavenjunge. Seine einzige Hoffnung auf Befreiung ist das Rennpferd seines freien Vaters, dessen Erfolg ihm die Freiheit bringen soll.

Und wir folgen dem Urheber der Gemäldes, einem jungen Künstler, der eigentlich nur Pferde malen kann und in Kentucky um 1850 hautnah die Konflikte zwischen Befürwortern der Sklaverei und Abolitionisten miterlebt.

Geraldine Brooks hat einen mitreißenden Roman geschrieben, der Amerikas dunkler Geschichte des 19. Jahrhunderts eine Facette hinzufügt. Die Welt der Rennpferde, das Leben auf einer Plantage in Kentucky, aber auch den akademischen Betrieb Washingtons beschreibt die Autorin kenntnisreich und mit Freude am Detail.

Ich habe mich keine Sekunde gelangweilt, auch wenn der Roman mit seinen fast 600 Seiten ein ganz schöner Wälzer ist. Daher eine klare Empfehlung für diesen historischen Roman