Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Buecherundschokolade

Bewertungen

Insgesamt 130 Bewertungen
Bewertung vom 03.06.2024
Vor einem großen Walde
Vardiashvili, Leo

Vor einem großen Walde


ausgezeichnet

In London lebt Saba ein gemütliches Leben, seine Kindheit im Georgien kurz nach Zerfall der UdssR liegt lange zurück. In der Folge war er mit seinem Vater Irakli und seinem Bruder Sandro geflohen, die Mutter Eka blieb passlos und wegen fehlender finanzieller Mittel in Tbilissi zurück. In der Gegenwart mach b sich nacheinander Vater und Bruder auf die Suche in Georgien - und verschwinden. Saba begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit und Gegenwart des Kaukasusstaates, um ihre Spur aufzunehmen. Bald befindet er sich in einen schwierigen Lage zwischen ominösen Rätseln, die ihn auf die Spur seiner Familie setzen könnten und realen Gefahren…

Leo Vardiashvili hat einen so unterhaltsamen wie vielfältigen Roman vorgelegt, der einen starken Sog auf die Lesenden entfaltet. Sprachmächtig und verwirrend nimmt er uns mit in ein Land der Gegensätze.

Bewertung vom 22.04.2024
König von Albanien
Izquierdo, Andreas

König von Albanien


ausgezeichnet

Otto Witte war ein deutscher Schausteller, Hochstapler, Lebenskünstler und - nach eigener Aussage - König von Albanien. Er trieb es sogar soweit, dass er sich im Deutschen Kaiserreich die Bezeichnung ehemaliger König von Albanien in seinen Pass eintragen lassen durfte (und später auf seinen Grabstein) - als Künstlernamen. Aber was ist Wahrheit, was sind Lügenmärchen?


Andreas Izquierdo erkundet die Geschichte so kundig wie unterhaltsam in seinem erstmals vor fast 17 Jahren erschienen Roman König von Albanien, den der Dumont Verlag in sehr schöner Gestaltung neu aufgelegt hat. Die Rahmenhandlung spielt 1913 in einer städtischen Psychiatrie nahe Salzburg. Der junge Psychiater Schilchegger steht ganz unter dem Einfluss seines Mentors, eines Professors, für den nur die Forschung zählt, nicht Patient oder dessen Wohlergehen. Folgerichtig interessieren ihn mehr die Gehirne seiner verstorbenen Patienten als die Heilungschancen der Lebenden. Doch dann taucht ebenjener Otte Witte als Patient auf und Schilchegger wird mehr und mehr in dessen aberwitzige Geschichte hineingezogen.

Wittes Eroberung des Throns in Tirana für einige Tage fabuliert der Autor dabei so gekonnt wie lustig als wilden Ritt durch das Europa des frühen 20. Jahrhunderts von Konstantinopel bis Triest. Er erzählt dabei ein Leben zwischen Orient-Express und Balkankriegen. Da stört es auch nicht, dass Witte wahrscheinlich - ganz der Hochstapler - nie wirklich König war…

Ein Roman, der Freunde historischer Unterhaltung und Fabulierkunst begeistern wird und gleichzeitig humorvoll geschrieben ist.

Bewertung vom 14.04.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


ausgezeichnet

Es gibt Bücher, die einen nach der Lektüre noch intensiv beschäftigen und die man auch im Freundeskreis anpreist und verschenkt. Das andere Tal des kanadischen Autors Scott Alexander Howard fällt in diese Kategorie. In seinem Erstlingsroman, schafft er eine eigene Welt, die so faszinierend wie abgründig ist.

Die 16-jährige Odile lebt in einem Tal, in dem es außer der kleinen Stadt, einem See und den nahen Bergen kaum etwas Interessantes gibt. Außer zwei strengstens und sogar mit tödlicher Gewalt gesicherter Grenzen natürlich, eine nach Osten, eine nach Westen. In die eine Richtung wandert man 20 Jahre in die Vergangenheit, in die andere 20 Jahre in die Zukunft.

Temporär die Grenze überqueren darf nur - in Ausnahmefällen - wer einen Trauerfall erlitten hat, wenn das Conseil, die Regierung der Stadt, dies erlaubt. Als Odile in der Nähe der Schule maskierte Fremde sieht, bemerkt sie, was unerkannt bleiben müsste: Es handelt sich um die Eltern ihres Mitschülers Edme.

Zerrissen zwischen dem Wissen, dass er bald sterben wird und dem Verbot in den Lauf der Dinge einzugreifen, erlebt sie den Sommer, in dem sie erwachsen wird und in dem sich Edme und sie ineinander verlieben. Wird sie ihn retten?

Das andere Tal ist ein faszinierender Roman über Schicksal und Freiheit. Gleichzeitig ist es ein furioses Gedankenspiel über das Reisen durch die Zeit und den menschlichen Wunsch, das eigene Schicksal zu bestimmen und die Vergangenheit zu verändern.

Bewertung vom 02.04.2024
James
Everett, Percival

James


ausgezeichnet

Percival Everett, der große Autor Amerikas verschiebt wieder einmal die Genregrenzen. Nach seinem Splatterroman Die Bäume, in dem plötzlich die Rassisten gelyncht wurden, wird in James ein großer Klassiker der englischsprachigen Literatur ganz anders erzählt. Jim oder eben förmlicher James ist der entflohene Sklave aus Mark Twains großem Roman Huckleberry Finn. Doch die andere Perspektive, die Everett wählt, enthüllt, dass James hochintelligent ist und sich wie alle Sklaven z.B. einer dümmlich klingenden Kunstsprache bedient, während er eigentlich auf einem intellektuellen Niveau mit Voltaire parlieren könnte. Die Geschichte der gemeinsamen und dann später separaten Flucht von James und Huck ist dabei so irrwitzig komisch und spannend erzählt, dass es nicht für für Fans Mark Twains ein wahres Fest ist. Nein, auch der messerscharf sezierende Blick auf den Rassismus damals wie heute machen den Roman zu einer herausragenden Lektüre. Ein großartiges und bereicherndes Stück Literatur

Bewertung vom 31.03.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

Die Trophäenjagd ist nichts für uns. Außer natürlich auf Schoko-Hasen zu Ostern! 😄🐇🐣

Ganz anders denkt der Protagonist in Gaea Schoeters Roman Trophäe.

Hunter White, ein New Yorker Spekulant mit sprechendem Namen, brennt wirklich leidenschaftlich nur für die Großwildjagd. Afrika ist dabei seine Spielwiese, die er wie eine Kulisse wahrnimmt, ohne sich für die Menschen zu interessieren. Die Big Five will er mit einem Breitmaulnashorn komplettieren. Als ihm jedoch Wilderer zuvorkommen und ihn um seine Trophäe bringen, macht ihm der Jagdveranstalter Van Heeren ein Angebot: Er könne stattdessen doch die Big Six vollmachen, indem er einen Menschen jage…

Schoeters liefert einen messerscharfen Roman an den Abgründen des Menschlichen balancierend, der so absurd wie berauschend zu lesen ist. Die Naturbeschreibungen und Jagdszenen kann man einfach nur als das bezeichnen, was sie sind: grandios.
Als der spannende Roman auf sein unvermeidliches Ende zusteuerte, waren wir schon ein bisschen traurig, wieder aus dem Fiebertraum aufwachen zu müssen, den die Autorin uns da um die Ohren gehauen hatte.

Denis Scheck bezeichnete das Buch als „die schönste Entdeckung, die man auf der Leipziger Buchmesse machen kann“, und erkannte in Trophäe gar eine Mischung aus Hemingway und Kafka. Wir würden ergänzen: Sartre hätte auch noch seine Freude an der Materie gehabt.

Superb!

Bewertung vom 22.03.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


ausgezeichnet

Lichtungen von Iris Wolff ist in unseren lauten Zeiten ein Roman, der ungewöhnlich leise daher kommt, aber mit jedem Kapitel, das man liest, mehr von seiner poetischen Kraft entfalten kann.

In einer ungewohnten Erzählstruktur folgen wir der Freundschaft von Kato und Lev aus unserer Gegenwart in die Vergangenheit des kommunistischen Rumäniens Ceaușescus. Die Kapitel zählen runter, der Roman beginnt mit dem 9. Kapitel. Wir erleben ihre Wiederbegegnung in der Schweiz, erfahren aber auch die Hintergründe ihres Auseinanderdriftens und den Beginn ihrer Freundschaft als Kinder. Was mich als Leser besonders begeistern konnte, war der poetische Erzählstil, die fantastischen Bilder, die Wolff in uns entstehen lassen kann. Wie nah man den Figuren auf literarische Weise tritt, ist fast schon unerhört gelungen. Nebenbei fließen auch Ereignisse wie etwa die Katastrophe von Tschernobyl ohne Namensnennung in den Alltag der Menschen ein. Der Roman beschreibt aber nicht nur das Leben Rumäniendeutscher zu Zeiten des Kommunismus, sondern erzählt vielmehr eine universelle Geschichte von Freundschaft und Liebe, Veränderung, Aufbruch und Stillstand.

Für mich ist Lichtungen eines der Bücher dieses Frühjahres, das noch lange nachhallt, obwohl es auf leisen Sohlen angeschlichen kam.

Bewertung vom 14.03.2024
MICHAEL MÜLLER REISEFÜHRER Normandie
Nestmeyer, Ralf

MICHAEL MÜLLER REISEFÜHRER Normandie


ausgezeichnet

Nachdem wir letztes Jahr das Vergnügen hatten eine Woche in der Normandie zu verbringen und dabei insbesondere die Gegend im Le Havre und Étretat zu erkunden, kam uns dieser Reiseführer von Ralf Nestmeyer aus dem Michael Müller Verlag gerade recht. Als erstes fällt die sehr schöne Gestaltung auf. Ein einladendes Coverbild, das auf die historische und kulturelle Vielfalt der Region hinweist, trifft auf einen sinnvoll nach Teilregionen gegliederten Inhalt. Die Beschreibung Le Havres und seiner außergewöhnlichen Architektur war sehr treffend. Auch der Schreibstil und die praktischen Hinweise haben uns sehr gefallen. Man erfährt allerlei Wissenswertes über die Geschichte und Persönlichkeiten der Region. Summa summarum ein reich bebilderter Reiseführer, der die Liebe zur Normandie weckt oder bestärkt und ein must-have für unsere nächste Reise in den französischen Nordwesten, den man auch toll mit dem ÖPNV erkunden kann.

Bewertung vom 11.03.2024
Bella und die Böllersum-Bande
Gothe, Karin

Bella und die Böllersum-Bande


ausgezeichnet

Schon das fröhliche Cover, auf dem die ganze Böllersum-Bande zu sehen ist, macht Lust auf dieses Kinderbuch.

Karin Grothe hat einen ganz eigenen und spannenden Kosmos geschaffen, in den die kleinen Leserinnen und Leser nun eintauchen können. Böllersum ist die wunderschöne Heimat von Bella, ein verdächtig skandinavisches Idyll. Unruhe kommt allerdings auf als die Dorfschule geschlossen werden soll, was soll nun aus der Kinderbande werden? Doch die Böllersum-Bande wäre nicht die Böllersum-Bande, wenn sie keine Lösung finden würde…

Ein kurzweiliges Kinderbuch, das zum Schmökern einlädt und wichtige Botschaften kindgerecht und witzig verpackt.

Auch die - sparsam verwendeten - schwarz-weißen Illustration vermögen zu überzeugen und runden ebenso wie die recht hochwertige Gestaltung zu überzeugen.

Insgesamt ein schönes und empfehlenswertes Kinderbuch

Bewertung vom 20.02.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


sehr gut

Yellowface von Rebecca F. Kuang ist schon jetzt der Hype der Saison. Ein Buch wie gemacht für Bookstagram, BookTube & Konsorten. Der Plot ist schnell erklärt: Eine junge und unerfolgreiche Autorin, sieht mit an wie ihre Freundin, eine Erfolgsautorin, an einem Pancake erstickt & stiehlt kurz entschlossen ihr letztes, unveröffentlichtes Manuskript von ihrem Schreibtisch. Der Roman über die Ausbeutung chinesischer Arbeiter im Ersten Weltkrieg wird ein großer Erfolg & es entbrennt bald ein Kulturkampf über kulturelle Aneignung, Rassismus und Cancel Culture. Schnell kommt aber auch der Verdacht auf, dass Juniper Song, wie sich die weiße Autorin nun nennt, eine Plagiatorin ist. Während auf Social Media der Kampf über die Deutungshoheit immer hasserfüllter geführt wird, steigert sich Juniper in einen immer stärkeren Wahn hinein. Ist die tote Freundin vielleicht sogar in Wahrheit noch am Leben, alles nur ein Spiel? Wie weit wird Juniper gehen, um ihr Geheimnis zu bewahren?

Der Roman ist so unterhaltsam wie kurzweilig geschrieben & hat mir ein schönes Lesewochenende beschert. Vor allem messerscharfe Witze, skurrile Situationen & komplette Übertreibungen zeichnen es aus. Am Ende hat mich das Buch aber doch manchmal nicht zu 100 % abgeholt; der Schluss war beispielsweise zu berechenbar.

Es bleibt jedoch positiv zu bemerken, dass es sich um wirklich gute Unterhaltungsliteratur & eine gelungene Satire handelt, die zwar schon auf die Verfilmbarkeit schielt, was aber wiederum sehr zu den fiktiven Romanen in diesem Buch passt.

Ich bin mir sicher, dass sich die Autorin keine Sorgen um die Verkaufszahlen in Deutschland machen muss (Juniper ist da immer voller Ängste), nachdem das Buch bereits in den USA ein Riesenerfolg war. Darauf sollte sie sich dann erst einmal einen guten Whisky gönnen (vielleicht einen 18-jährigen WhistlePig?), ganz wie im Roman selbst.

Bewertung vom 18.02.2024
Spur und Abweg
Tallert, Kurt

Spur und Abweg


ausgezeichnet

Der Musikproduzent und Rapper Kurt Tallert (*1986) erkannte schon im Geschichtsunterricht der 90er Jahre klarsichtig, dass der Holocaust für ihn nicht nur ferner Schulstoff ist: Sein Vater ist ein Überlebender. Auch mit über 60 Jahren noch gezeichnet von den Erfahrungen, die er als Jugendlicher im Zwangsarbeiterlager und der Gestapohaft gemacht hat. Den Jungen Kurt beschäftigt all das sehr, ohne dass er mit dem Vater im Detail darüber sprechen kann. Es ist seine Mutter, die ihm und seinem Bruder Buchenwald zeigt und über die Familie ihres Mannes spricht.

Nach dem Tod seines Vaters nähert sich der Autor diesem an, forscht in seiner Familiengeschichte, liest die Akten und die Briefe, fährt nach Theresienstadt und wieder nach Buchenwald. Er denkt über das Schicksal seiner jüdischen Urgroßmutter nach, die 80-jährig aus dem Seniorenheim nach Auschwitz gezerrt und genau wie ihre Tochter ermordet wird. Er liest die Akten aus dem „Wiedergutmachungsverfahren“ seines Großvaters, der als Holocaustüberlebender in der BRD der 50er Jahre demütigenden Prozeduren unterzogen wird. Und Kurt Tallert reflektiert über seine Familiengeschichte. Die Verwandten, die er nie kennengelernt hat. Aber auch über den Gerechtigkeitsinn seines Vaters, des Bundestagsabgeordneten, der sich gegen Herbert Wehner auflehnt, als die SPD-Fraktion der oben Ex-Nazi als obersten Verfassungsschützer. Und über seine Dämonen.

Herausgekommen ist ein lesenswertes, manchmal wütendes und immer spannendes Buch, das heute mehr denn je gelesen werden sollte.