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⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

Bewertungen

Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 22.10.2023
Dem Gehirn beim Denken zusehen
Niehaus, Monika;Osterloh, Martin

Dem Gehirn beim Denken zusehen


ausgezeichnet

Aus dem Inhalt:

🧠 Was sagt der IQ eigentlich aus?

🧠 Ist Künstliche Intelligenz wirklich intelligent?

🧠 Spiegeln Spiegelneuronen tatsächlich unser Gegenüber?

🧠 Wo verläuft die Grenze zwischen psychisch normal und krank?

🧠 Kann man Träume tatsächlich fotografieren?

🧠 Lässt sich Teenagerverhalten neurophysiologisch verstehen?

Normalerweise schreibe ich ausschließlich über Belletristik. Wenn ich doch mal ein Sachbuch vorstelle, dann ist es eines, an dessen Thematik ich persönlich interessiert bin und das mich vollends überzeugen konnte. Nun, ersteres ist hier definitiv der Fall! Neurowissenschaften faszinieren mich – vermutlich auch, weil ich seit zwei Jahrzehnten mit MS lebe und mich daher häufiger und näher mit dem Gehirn beschäftigt habe.

Aber meines Erachtens ist die Zielgruppe des Buches weiter gestreut:

📚 Interessierte Laien: Personen ohne tiefes Vorwissen in Neurowissenschaften, die aber neugierig sind und mehr über das Gehirn und seine Funktionen erfahren möchten.

📚 Menschen aus dem Bildungsbereich, die nach spannenden und verständlichen Ressourcen suchen, um Schüler:innen die Grundlagen der Neurowissenschaften näherzubringen.

📚 Allgemeinbildungsinteressierte: Personen, die generell ihr Wissen erweitern möchten.

Nun kommen wir zu meiner Meinung: inwiefern hat mich das Buch überzeugt?

Niehaus und Osterloh holen auch Lesende ohne Vorwissen ab. Für jedes Thema liefern sie eine Faktenbasis, die sich bei Interesse durch die im Anhang aufgelisteten Quellen vertiefen lässt. Selbst Personen, für die Neurowissenschaften ein nie zuvor erkundetes Fremdland ist, werden in jedem Kapitel direkte Bezüge zum eigenen Leben finden.

Zum Beispiel frönen allzu viele von uns dem Multitasking:

Wir schreiben einen Text für die Arbeit, checken nebenher unsere Social Media, beantworten SMS und lassen vielleicht noch die Lieblingsserie auf dem Fernseher laufen. Dabei fühlen wir uns hochproduktiv, vielleicht sogar stolz darauf, so gut zu funktionieren, dass alles gleichzeitig wie am Schnürchen läuft. Doch Untersuchungen zeigen, dass dies ein fataler Trugschluss ist. Tatsächlich senkt chronisches Multitasking nicht nur die Produktivität, sondern schädigt das Arbeitsgedächtnis nachhaltig. Hier liefert das Buch konkrete Angaben und Verweise auf Studien.

Katastrophal wird das beim 'distracted doctoring', wenn Chirurgen während der Op zum Handy greifen, der Narkosearzt nebenher auf Instagram postet, oder die Diagnoseärztin erstmal per SMS die Pläne fürs Abendessen abklären muss. Laut Studien ist das alles keineswegs unüblich – und dazu kommt noch, dass Ärzt:innen chronisch überarbeitet und übermüdet sind, was in einem anderen Kapitel näher besprochen wird.

Wussten Sie, dass 24 Stunden Schlaflosigkeit schon ähnliche Auswirkungen haben wie ein Blutalkoholspiegel von 1,0 Promille, Ärzt:innen aber durchaus mal 36 Stunden durcharbeiten? Würden Sie sich gerne unters Messer legen, wenn Sie wüssten, dass der Chirurg erstmal drei Bierchen gekippt hat?

Diese und andere Themen werden leicht verständlich und unterhaltsam erörtert, jedoch mit echtem Gehalt und keineswegs trivial. Empathie, freier Wille (oder die Illusion des freien Willens), die Messbarkeit von Intelligenz, die biologische Bedeutung des Träumens… Das ist hochspannend und zeigt sich immer wieder als überraschend relevant für den eigenen Alltag!

Insgesamt ist dieses Buch eine hervorragende Empfehlung für alle, die sich für die Funktionsweise des Gehirns und die Geheimnisse des Denkens interessieren, ohne dabei von Fachjargon überwältigt zu werden.

MONIKA NIEHAUS ist promovierte Biologin mit Schwerpunkt Neurophysiologie und arbeitet freiberuflich als Autorin, Journalistin und naturwissenschaftliche Übersetzerin. Sie schreibt nicht nur Sachbücher, sondern auch Belletristik.

MARTIN OSTERLOH ist Wirtschafts- und Sportpsychologe. Als systemischer Coach und Prozessbegleiter für ein interkulturelles Zentrum in Köln Chorweiler unterstützt er Menschen dabei, persönliche und berufliche Herausforderungen zu bewältigen. Sein Schwerpunkt ist Psychoedukation, Akzeptanz und Commitment Training.

Bewertung vom 20.10.2023
Das Teufelsloch / Tom Hawkins Bd.1 (eBook, ePUB)
Hodgson, Antonia

Das Teufelsloch / Tom Hawkins Bd.1 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

London, 1727: Der junge Gentleman Tom Hawkins ist den Frauen und dem Alkohol ebenso wenig abgeneigt wie dem Glücksspiel. Landpfarrer werden wie sein Herr Vater? Pah, die Vorstellung allein ist ihm schon ein Graus! Als Toms verschwenderischer Lebenswandel ihn jedoch ins berüchtigte Londoner Schuldgefängnis »The Marshalsea« bringt, ein Labyrinth aus Intrigen, Korruption und Machtmissbrauch, beginnt für ihn ein Kampf ums nackte Überleben.

Er lässt sich von der Gefängnisleitung als Ermittler verdingen, um einen Mordfall an einem anderen Sträfling aufzuklären, der unbequeme Wellen schlägt – ansonsten wäre sein Leben keinen Pfifferling wert. Als Lohn winkt Tom der Schuldenerlass, bei Versagen drohen ihm Folter und Tod. Ausgerechnet sein Zellengenosse Fleet, der gefürchtet wird wie der Teufel selbst, findet Gefallen daran, ihm bei den Ermittlungen zu helfen – doch kann Tom ihm trauen?

Was »Das Teufelsloch« so einzigartig macht, ist seine gelungene Kombination aus historischem Setting und Kriminalroman. Ein bestechender, gut recherchierter Einblick in die englische Strafjustiz der Zeit und die grausamen Bedingungen, unter denen besonders die Häftlinge der unteren Gesellschaftsschichten existieren mussten. Die Autorin findet atmosphärische Bilder, die die Welt dieses Gefängnisses nur allzu eindringlich zum schrecklichen Leben erwecken.

Geschickt konstruiert, baut der Roman eine dichte Spannung auf, der man sich nur schwer entziehen kann – besonders, da auch Tom niemals mit Sicherheit weiß, wem er trauen kann.

Die Charaktere sind vielschichtig und gut ausgearbeitet, haben aber natürlich allesamt ein berechtigtes Interesse daran, sich nicht so ohne Weiteres in die Karten schauen zu lassen. Tom war für mich eine Überraschung: Er wirkte auf mich anfangs nicht sonderlich sympathisch, entpuppte sich dann aber doch als Protagonist, mit dem ich mitfühlen konnte. Hinter seinen Lastern verbergen sich glaubhafte innere Konflikte, die ihm Tiefgang geben.

Bewertung vom 18.10.2023
Der Botaniker (eBook, ePUB)
Craven, M. W.

Der Botaniker (eBook, ePUB)


sehr gut

Ein Hinweis vorneweg: Das Buch wird als «Auftakt der preisgekrönten Krimiserie aus Großbritannien» beworben. Tatsächlich ist dies der erste Band der Reihe, *der ins Deutsche übersetzt wurde* – im Original jedoch bereits der fünfte Band, nach «The Puppet Show», «Black Summer», «The Curator» und «Dead Ground»! Daher sind die Charaktere schon ein eingespieltes Team, als Leser:in fehlen dir jedoch die entsprechenden Vorgeschichten. Das Buch lässt sich zwar dennoch problemlos lesen, ich persönlich hätte dennoch lieber mit dem ersten Band begonnen.

Zugegeben: Die Tatsache, dass es sich hier um einen verkappten fünften Band handelt, hat durchaus auch positive Nebenwirkungen. Die Charaktere sind komplex und vielschichtig ausgearbeitet, mit viel Persönlichkeit und Mut zum Eigensinn. Man merkt, dass der Autor schon viel Zeit mit ihnen verbracht hat! DS Washington Poe hat ein unkonventionelles Ermittlungsteam zusammengestellt, dessen Schrullen und Eigenheiten sich wider alle Wahrscheinlichkeit zu einer effektiven Einheit zusammensetzen.

Einzig Analystin Tilly Bradshaw fand ich manchmal etwas zu überzeichnet. Brillant, aber ohne jegliche Sozialkompetenz, wirkte sie auch mich gelegentlich wie eine Ansammlung von Klischees – so stellt der Laie sich eine Person auf dem autistischen Spektrum vor. Dennoch ist sie auch mit kleinen Abstrichen immer noch ein interessanter Charakter mit viel Potenzial.

Der Schreibstil liest sich wie aus einem Guss: Die düstere und faszinierende Welt der Ermittlungsarbeit trifft hier auf feinen englischen Humor, und M.W. Craven hält dies mit prägnanten, klaren Worten in der Schwebe. Er hat ein Gespür für das richtige Tempo und die richtige Intensität, um das Meiste aus seinen Szenen herauszuholen.

Die Handlung ist komplex, ein geradezu klassischer Krimi mit originellen neuen Impulsen. Das ist clever, es ist hochspannend, und über lange Strecken des Buches konnte ich mir schlicht keine logische Auflösung vorstellen – der Mörder schien geradezu übernatürliche Fähigkeiten zu besitzen. Doch am Schluss bringt der Autor alles gekonnt zusammen.

Bewertung vom 16.10.2023
Drifter
Sterblich, Ulrike

Drifter


ausgezeichnet

Wenzel und Killer: Beste Freunde seit Kindertagen. Verdienen ihr Geld damit, in PR und Social Media Parallelwelten zu erschaffen, Trugwelten, schaumschlagende Scheinwelten. Ihre Freundschaft ist eine Blase in der Zeit, die zu platzen droht, als Killer die Scheinheiligkeit dieser Welten erkennt.

«Ich wollte zurück ins Altbekannte; er wollte, dass ich ihm folgte auf neues Terrain.»
(Wenzel)

Vica: Alterslose, hedonistische Schönheit im goldenen Kleid, mit tanzendem Hund. In ihrem Umfeld erfüllen sich Wünsche; die Realität changiert zwischen Chance und Illusion. Magie trifft auf Börsenkurse.

«Potenziale. Potenziale schlummern und werden erst durch Kontakt, Vermischung, Symbiose lebendig.»
(Killer)

Drifter: Mysteriöser Schriftsteller, von dem nicht nur Wenzel besessen ist. Hat vielleicht ein Buch geschrieben, das nur in Vicas Händen existiert.

«Egal wie nahe man an der Perfektion ist, man sieht immer nur die Differenz, das, was fehlt. Schon die kleinste Abweichung zerstört die Perfektion, sodass sie unerreichbar wird. Der Maßstab wird dann niemals mehr erfüllt und ist deshalb eigentlich sinnlos. Man könnte sogar sagen, die Suche nach Perfektion ist überhaupt der Fehler. Der Makel liegt nicht in der lädierten Vollkommenheit, der Makel liegt darin, Vollkommenheit zu wollen.»
(Killer)

Schreibstil: Überrascht mit bestechenden Bildern und magischem Realismus. Spielt mit Farben, mit Licht und Schatten, verliert jedoch nie seinen Witz – da sind Wolken schon mal 'auf Krawall gebürstet' und es gibt ein 'Ministerium für ehrliche Propaganda'.

Themen: Realität und Fiktion. Status Quo und Bruch mit dem, was man zu wissen glaubte. Fremdbestimmung und Selbstbestimmtheit.

Fazit:

Die Wirklichkeit zersplittert in Fragmente, Themen werden immer wieder aufgegriffen und neu interpretiert. Mit einer bildreichen, humorvollen Sprache zieht die Autorin ihre Leser:innen tiefer und tiefer in eine magische Realität, bis man – irgendwie, irgendwann – den Boden der Tatsachen erreicht.

Eine intensive Reflexion über die Fragilität der Realität, aber auch eine scharfzüngige Satire.

Bewertung vom 12.10.2023
Echtzeitalter
Schachinger, Tonio

Echtzeitalter


ausgezeichnet

Thomas Mann, E-Sport, Coming of Age

Sprache ist ein zentrales Thema in diesem Buch, und doch ist da eine tiefgehende Sprachlosigkeit zwischen den Generationen. Worte werden gesprochen, geflüstert, gebrüllt. Worte fallen. Worte fallen in eine unüberbrückbare Kluft, sammeln sich an deren Grund wie der Schnee von gestern.

Manche, wie der despotische Klassenlehrer Dolinar, sehen dies als Affront, als respektlose Verweigerung der Jugend, alte Werte und alte Machtverhältnisse anzuerkennen. Andere, wie Tills Mutter, bemühen sich darum, eine Verbindung herzustellen, müssen jedoch feststellen, dass sie zur Lebenswelt ihrer Kinder keinen Zugang finden, weil sie deren Sprache nicht sprechen. Denn für die ist Sprache etwas Fließendes: eine Mischung aus Deutsch, Englisch und Wortneuschöpfungen, die die Grenzen der eigenen Lebensrealität abstecken.

Dies bringt uns auch zum Thema 'Literatur und deren Bedeutung':

Dolinar treibt seinen Schüler:innen die Liebe zur Literatur eher aus, als sie zu fördern; bei ihm wird jedes noch so bedeutungsvolle Werk zu einem starren, toten Gebilde, jede Interpretation zum Grabraub. Literatur ist nichts, was man selber entdeckt. Literatur ist nichts, was man im Kontext des eigenen Lebens neu interpretiert. Jeglicher Nachhall wird erstickt, indem lebendige Worte reduziert werde auf vorgegebene Interpretationsschemata.

Wer in Dolinars Klasse doch einmal aufhorcht und überrascht feststellt, dass ein Klassiker durchaus Bedeutung fürs eigene Leben hat, wird schnell zurechtgestutzt. Denn das tut der Dolinar gerne: Jede Gelegenheit, zu höhnen, zu demütigen, geifernd zu beschimpfen, wird genutzt.

Der Kontrast zwischen Tills Aufstieg im E-Sport und seiner konstanten Herabwürdigung in der elitären Welt des Internats wird er zum Symbol für ein weiteres Schlüsselthema des Buches: den Erwartungsdruck, dem junge Menschen in einer prägenden Phase ihres Lebens ausgesetzt sind. Hier bringt der Autor auch die Themen Klassismus und Privilegien aufs Tapet, und zerpflückt ganz nebenher die Dünkel der Österreichischen Gesellschaft.

Tonio Schachinger findet den perfekten Schreibstil für diese Geschichte: unterhaltsam und doch markerschütternd prägnant.

2 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.10.2023
Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry / Harold Fry Bd.1
Joyce, Rachel

Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry / Harold Fry Bd.1


ausgezeichnet

»Sagen Sie ihr, Harold Fry ist auf dem Weg.«

Harold Fry, ein unscheinbarer Mann in seinen Sechzigern, begibt sich auf eine spontane Pilgerreise von über 1.000 km, um seine sterbende Freundin Queenie zu besuchen. Seine Frau Maureen erwartet zunächst, dass er bald scheitern und zurückkehren wird, doch stattdessen führt jeder Kilometer Harold näher zu sich selbst. Alles reduziert sich auf das Wesentliche, jeder Schritt wird zu einer Reise der Selbstfindung und des persönlichen Wachstums.

Konfrontiert mit unausgesprochenen Wünschen, gescheiterten Hoffnungen und lähmendem Bedauern, muss Harold lernen, sich selbst zu vergeben und einen Neuanfang zu wagen.

Das Überbringen eines Briefes ist im Grunde ein schlichter, gradliniger Vorgang, doch Rachel Joyce nimmt ihn als Ausgangspunkt für eine vielschichtige Erzählung über das Leben, die Liebe und die menschliche Natur. Sie lotet die Tiefen der menschlichen Emotionen aus und kreist dabei immer wieder um das Thema Trauer, doch sie verfällt niemals in schnöden Betroffenheitskitsch.

Der Roman entwickelt eine ungeheure Sogwirkung, denn Harold kann als authentischer, tiefgründiger Charakter überzeugen. Bevor man sich versieht, hat man schon eine starke emotionale Bindung zu ihm aufgebaut und verfolgt gespannt seine Entwicklung im Laufe der Geschichte. Auch die Nebencharaktere sind gut geschrieben; in jedem davon blitzt ein Moment der emotionalen Wahrheit auf, wenn sie Harold begegnen.

Rachel Joyce fasst die Gefühle und Gedanken ihrer Charaktere in poetische, einfühlsame Worte, die lange nachhallen. Die emotionale Tiefe der Geschichte, die Nuancen der Charaktere und der eindringliche Schreibstil machen den Roman zu einem herzergreifenden und lohnenden Leseerlebnis.

Bewertung vom 29.09.2023
Die Ladenhüterin
Murata, Sayaka

Die Ladenhüterin


ausgezeichnet

»Irasshaimase konnichi wa!«

Keiko ist Mitte dreißig, Single, und arbeitet schon ihr halbes Leben als Aushilfe in einem 24-Stunden-Supermarkt, einem 'Konbini'. Wie es von dessen Verhaltensregeln verlangt wird, perfektioniert sie mit Hingabe das inhaltlich korrekte Kundengespräch, den korrekten Gesichtsausdruck, den korrekten Tonfall in der Stimme. Sie ist stolz, wenn es ihr gelingt, das Tagesangebote mehr als 200 Mal zu verkaufen.

Sie isst, um dem Laden dienen zu können. Sie pflegt sich, um dem Laden dienen zu können. Sie schläft ausreichend, um dem Laden dienen zu können. Routine ist für sie fast so wichtig, wie die Luft zum Atmen. Sie versteht andere Menschen nicht, ahmt ihr Verhalten lediglich nach; gesellschaftliche Anforderungen sind eine Fremdsprache, die sie nicht spricht.

Der Konbini ist ein Mikrokosmos, der Keiko Sicherheit und Erfüllung bietet. Sie verlangt nicht viel vom Leben, tut auch niemandem weh damit, doch ihre Zufriedenheit wird als Affront wahrgenommen. Sie erfüllt nicht die gesellschaftlichen Erwartungen: Mitte dreißig, aber noch Single? Mitte dreißig, aber noch keine Kinder? Mitte dreißig, aber auf der Karriereleiter noch ganz unten?

出る釘は打たれる
Altes japanisches Sprichwort:
»Der herausstehende Nagel wird eingeschlagen«

In ihrem Bestreben, sich als anerkanntes Mitglied der Gesellschaft zu etablieren, gerät Keiko auf Abwege, die sie letztlich nur noch weiter von der Norm entfernen. Sie wagt etwas Neues, doch Sayaka Murata schildert dies nicht als Befreiung. In nüchternen, unaufgeregten Worten zeichnet sie ein beklemmendes, wenn auch überzeichnetes Bild von den Zwängen, die Frauen von der Gesellschaft auferlegt werden. Umfeld und Seelenleben der Protagonistin werden ebenfalls mit nur wenigen, indes prägnanten Strichen umrissen.

Die Sparsamkeit des Schreibstils ist in meinen Augen jedoch kein Manko, sondern eine Kunst: Die Geschichte ist oft geradezu skurril, doch im Kern durch und durch vorstellbar; sie ist lediglich auf die knappsten Grundzüge der Problematik konzentriert. Dies ist ein Roman, den man auch zwischen den Zeilen lesen muss – und ein Roman, den ich sehr gerne gelesen habe.

Bewertung vom 26.09.2023
Felix Ever After
Callender, Kacen

Felix Ever After


sehr gut

Felix Love war noch nie verliebt – die Ironie ist ihm durchaus bewusst. Er ist schwarz, transgender und schwul, das macht es nicht unbedingt einfacher! Zwar erfährt er durchaus Unterstützung, aber natürlich gibt es da auch die schrägen Blicke und gewisperten Bemerkungen. Und eines Tages kommt Felix zur Schule und sieht sich riesigen Plakaten gegenüber, die ihn zeigen, wie er vor seiner Transition aussah. Daneben dick und fett sein 'Deadname' (sein früherer Name), was in Felix schreckliche Panikattacken auslöst. Wie soll er sich in der Schule jetzt je wieder sicher fühlen? Wer steckt hinter dieser heimtückischen Attacke?

Felix glaubt es zu wissen und er ist auf Rache aus – es muss sein Rivale Declan sein, der ihm das Stipendium abluchsen könnte. Der soll jetzt am eigenen Leibe erfahren, wie sich so ein Verrat anfühlt! Und so beginnt Felix damit, sich per Text-Nachrichten das Vertrauen seines Gegners zu erschleichen… Der Plan: der andere soll sich verlieben, damit Felix ihn dann gnadenlos abservieren kann. Nur läuft das alles nicht ganz so, wie geplant.

Mit Declan zu reden hilft Felix dabei, mit seiner Angststörung fertig zu werden, wieder mit sich ins Reine zu kommen. Und schon bald ertappt er sich dabei, wie ihm die Nachrichten immer wichtiger werden – kann das sein, ist er dabei, sich zu verlieben?!

Man merkt, dass Kacen Callender als schwarze, nicht-binäre Persönlichkeit eigene Erfahrungen mitbringt, was geschlechtliche Identität und die damit verbundenen Vorurteile betrifft. Callender spricht authentisch, sensibel und inklusiv über Identität, Selbstwert, und das Ringen um Anerkennung in einer Welt, die dich als Außenseiter sieht. Verschiedene Charaktere bringen verschiedene Themen aufs Tapet, denn rund um Felix herum hat sich eine Gruppe von Freunden versammelt, die alle auf verschiedenste Art und Weise nicht der 'Norm' entsprechen.

»Felix Ever After« ist eine wunderbare Geschichte, die nicht nur lehrreich ist, sondern auch unterhaltsam und sehr bewegend. Besonders schön fand ich, wie Callender über die Fluidität geschlechtlicher Identität schreibt, denn Felix ist noch nicht ganz angekommen mit seiner Selbstfindung.

Bewertung vom 16.09.2023
Die Unbändigen
Hart, Emilia

Die Unbändigen


ausgezeichnet

Altha ist Heilerin und bezieht ihre Kraft aus einer tiefen Verbundenheit zur Tier- und Pflanzenwelt. Entgegen der Norm der Zeit ist sie eine unabhängige Frau, die im Jahr 1619 des Mordes per Hexerei beschuldigt wird.

Violet lebt im Herrenhaus ihres gestrengen Vaters, der versucht, ihr die unziemliche Naturverbundenheit auszutreiben und sie ins Korsett einer damenhaften Weiblichkeit zu zwängen. Im Jahr 1942 verspricht eine schicksalhafte Begegnung Freiheit – und bringt Violet doch vor allem Schmerz und Gewalt.

Kate flieht im Jahr 2019 vor ihrem gewalttätigen Freund und zieht in das Cottage, das sie überraschend von ihrer Großtante geerbt hat. Dort stößt sie auf alte Aufzeichnungen, die sie auf die Spur ihrer Familiengeschichte führen, und damit auch zu Altha und Violet.

Während die Frauen in ihren jeweiligen Epochen mit patriarchaler Gewalt und Unterdrückung konfrontiert sind, erkunden sie dennoch ihre eigenen Fähigkeiten und Stärken. Die Handlung thematisiert vor allem weibliche Solidarität, Naturverbundenheit und die Kraft der Frauen, in einer von Männern dominierten Welt zu überleben und den eigenen Wert zu behaupten.

In Emilia Harts bildhaften, atmosphärischen Worten entspinnt sich eine Geschichte, deren Spannungsbogen sich nur langsam entfaltet, die jedoch zunehmend an emotionaler Wucht gewinnt. Jede Seite fesselte mich mehr an meinen eReader, und die Elemente des magischen Realismus tun dem Realismus der Themen, und damit deren Wirkung, keinen Abbruch.

Ich fühlte mich Altha, Violet und Kate sehr verbunden, denn sie werden ungemein lebendig, vielschichtig und authentisch beschrieben. Ihre Geschichte ist oft schmerzhaft; ich wollte die Ungerechtigkeiten, die diesen Frauen widerfahren, von den Dächern brüllen. Doch auch die positiven Erlebnisse sind emotional berührend, sodass Emilia Hart die Gefühlswelt ihrer Protagonistinnen umfassend und stets sensibel darstellt.

Insgesamt ist »Die Unbändigen« ein beeindruckendes Debüt, das mich sehr beeindruckt hat.

Bewertung vom 14.09.2023
Die Tochter des Doktor Moreau
Moreno-Garcia, Silvia

Die Tochter des Doktor Moreau


ausgezeichnet

Mexiko, spätes 19. Jahrhundert: Auf einer Forschungsstation im Dschungel der Halbinsel Yucatán wächst die schöne Carlota als behütete Tochter des genialen Doktor Moreau auf. Ihr idyllisches Leben wird auf den Kopf gestellt, als der Sohn des Geldgebers ihres Vaters überraschend auf der Insel eintrifft und um ihr Herz wirbt. Dies führt zu einer Kette von Ereignissen, die finstere Machenschaften ans Licht bringen: Hinter den Mauern des Anwesens verbergen sich Labore, wo fragwürdige Experimente menschliche und tierische DNA miteinander verschmelzen.

⇢ Dies ist eine Neuinterpretation des Klassikers »Die Insel des Dr. Moreau« von H.G. Wells, kann aber auch ohne Vorkenntnisse gelesen werden. ⇠

In meinen Augen handelt es sich hier um ein Werk, das man nicht übereilt lesen sollte. Dazu verbirgt sich zu viel in dieser komplexen Geschichte, die nicht nur Elemente aus verschiedenen Genres kombiniert, sondern auch eine Vielzahl an historischen und gesellschaftlichen Themen, wie z. B. den Unabhängigkeitskrieg der Maya-Bevölkerung auf Yucatán. Dies verleiht der Neuinterpretation eine einzigartige Note.

Anfangs erschien mir die Geschichte noch schwer zugänglich, das Tempo eher träge. Doch im Verlaufe der Handlung baut sich eine dunkle, dräuende Spannung auf, die sich mit unterschwelligem Horror verbindet – bis hin zu einem nervenaufreibenden Finale. Silvia Moreno-Garcia fasst die Geschehnisse in bildgewaltige, atmosphärische Beschreibungen, denen man sich immer weniger entziehen kann oder auch nur möchte.

Die Charaktere sind gut ausgearbeitet; im Verlaufe des Buches beweisen sie sich als vielschichtige Persönlichkeiten.

Einige überraschende Enthüllungen blitzen auf als rätselhafte Schemen, in die man wie bei einem Rorschachtest eine Vielzahl hineininterpretieren kann: Parallelen zu historischen Entwicklungen, Überlegungen zum Wesen der menschlichen Natur... Jeder Charakter entpuppt sich als komplexer, als in den ersten Kapiteln ersichtlich war.

Insgesamt ist »Die Tochter der Doktor Moreau« für mich ein Buch, in das man etwas Zeit und Mühe investieren muss, das dieses jedoch mehr als lohnt.