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ein.lesewesen
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ZW

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Insgesamt 96 Bewertungen
Bewertung vom 12.03.2024
Der Retter / Liewe Cupido ermittelt Bd.3
Deen, Mathijs

Der Retter / Liewe Cupido ermittelt Bd.3


ausgezeichnet

1995 havariert vor den Nordseeinseln bei einem Sturm der Seeschlepper Pollux, zwei Seenotrettungsschiffe aus den Niederlanden und Deutschland können die Besatzung retten, nur der Kapitän Jacob Peiser bleibt verschwunden. Bis heute, 2016, als in England die Überreste eines Skeletts mit einer Rettungsweste der Pollux gefunden wird. Die Identität des Toten zu bestimmen, überlässt Kommissar Liewe Cupido seinem neuen Partner Xander Rimbach und nutzt die Zeit lieber, um weiter über den Tod seines Vaters zu recherchieren, der vor vielen Jahren auf seinem Fischkutter über Bord ging und ertrank.
Doch Xander ist ein unbeholfener Frischling, der das schon bei seinem Vorstellungsgespräch unter Beweis stellt, indem er eine Kiste Wein vom süddeutschen Weingut seines Vaters mitbringt. Aber er ist ehrgeizig und versucht, auf Norderney die damaligen Besatzungsmitglieder des deutschen Rettungsschiffs ausfindig zu machen, stößt aber auf eine Mauer des Schweigens. Unbedarft wie er ist, weiß er nicht, wie die Inselbewohner ticken und ahnt nicht, dass er einem 40 Jahre alten Geheimnis auf der Spur ist. Als er dann auch noch mit einer Vergiftung im Krankenhaus landet, weiß Cupido, dass er eingreifen muss. Cupido, selbst in einer Fischerfamilie auf Texel großgeworden, kennt die Regeln: Was an Bord geschieht, bleibt an Bord. Und er kennt die Schwachstellen seines Gegners – der aber umgekehrt auch.

Es ist der 3. Teil um den eigensinnigen, wortkargen Kommissar, den alle den Holländer nennen (Teil 1 fehlt mir immer noch). Auch wenn er aufgrund seiner eigenbrötlerischen Art – schließlich taucht er gern mit seiner Hündin Vos im Büro auf, wenn er denn mal auftaucht – seinem Chef ein Dorn im Auge ist, hat er ein gutes Gespür für seine Landsleute, sowohl in den Niederlanden als auch in Cuxhaven. Er löst die Fälle auf seine Weise, am liebsten im Alleingang.

Doch die Dämonen aus seiner Vergangenheit lassen ihn nicht los, deshalb gönnt er sich keine Pause. Die Einzige, die erkennt, wie schlimm es wirklich um ihn steht und allmählich zu ihm durchdringen kann, ist Miriam, seine Nachbarin, die in seiner Abwesenheit auf Vos aufpasst.

Deens Bücher sind atmosphärisch dicht und beim Lesen weht einem eine steife Prise Wattenmeer um die Nase. Er ist nicht nur in seiner Recherche brillant, sondern auch ein richtig guter Erzähler, der mich als Leserin nicht mehr vom Haken gelassen hat. Er versteht seine Figuren mit viel Empathie zu zeichnen, streut auch etwas kühlen, trockenen Humor ein, der einen innerlich schmunzeln lässt. Was mir in Der Taucher bereits sehr gefallen hat, findet sich noch ausgefeilter wieder. Auch der Plot und die Erzählstruktur sind raffinierter.
Seine Krimis kommen sehr leise daher, und nicht umsonst Roman auf dem Cover, aber er erzeugt eine unterschwellige, ansteigende Spannung, wenn er uns immer mehr in die Vergangenheit der Charaktere blicken lässt, die er bis in alle Tiefen auszuloten weiß.
Schweigen und Schuld werden zu den Kernthemen im Buch. Man spürt beim Lesen regelrecht, warum die alten Seeleute nicht über die Vergangenheit reden wollen oder können, warum sie nicht als Helden gefeiert werden möchten. Trägt doch so mancher von ihnen ein düsteres Geheimnis in sich. Denn es gibt immer welche, die sie nicht retten konnten und nun als Geister in Köpfen herumspuken. Stellt sich da nicht die Frage, ob man hätte etwas anders machen können, ob man vielleicht doch Schuld hat. Auch Cupido fragt sich das nach all den Jahren, als er damals mit 16 seinen Vater verlor. Deen gibt dessen Geschichte nur bruchstückhaft preis. Ich bin also gespannt, ob sich Cupido im nächsten Buch endlich von seien Dämonen befreien kann.

Mich hat das Buch absolut begeistert – sowohl sprachlich als auch inhaltlich. Cupido ist mir noch mehr ans Herz gewachsen und ich freue mich jetzt schon auf ein Wiedersehen mit Xander, dem süddeutschen Dösbaddel.
Im Schutzumschlag befindet sich übrigens eine Karte der Nordseeküste, die sehr hilfreich ist, um beim Inselhopping nicht vom Kurs abzukommen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.02.2024
Acqua alta
Autissier, Isabelle

Acqua alta


sehr gut

Mit einem düsteren Ereignis greift Autissier der Zukunft voraus – 2021 ist Venedig von einer Flutwelle zerstört worden.
Guido Malegatti hat das Unglück schwer verletzt überlebt und fährt Monate später mit einem Boot durch die zerstörte, menschenleere Stadt, vorbei an eingestürzten Palazzi, zertrümmerten Gondeln, die Seitenkanäle verstopfen, und einem Haufen Schrott, der einst der stolze Dogenpalast war. Er ist auf der Suche nach seiner Tochter, die seit dem Unglück verschwunden ist.
Zwei Jahre zuvor. Die Familie Malegatti liebt Venedig, jeder auf seine Weise. Guido, Sohn armer Bauern, hat es aus eigener Kraft geschafft, er ist erfolgreicher Bauunternehmer und Wirtschaftsrat im Stadtrat, hat Macht, Einfluss und Geld. Um die Brücken, Denkmäler und Kanäle instandzuhalten, will er noch mehr Touristen anlocken, noch mehr Mietwohnungen in Airbnbs umwandeln. Seine Frau Maria Alba entstammt der venezianischen Aristokratie, Venedig ist ihre einzige wahre Liebe und sie scheint teilnahmslos in der glanzvollen Vergangenheit verhaftet, ohne sich für die Nöte der Stadt zu interessieren. Ganz anders ihre Tochter Léa. Während des Architekturstudiums erkennt die Fragilität ihrer Stadt, die jedes Jahr um mehrere Millimeter sinkt. Sie erkennt aber auch, dass falsche politische Entscheidungen und fragwürdige Baumaßnahmen den Untergang beschleunigen. Als Umweltaktivistin macht sie auf die Probleme aufmerksam, will etwas verändern und überwirft sich mit ihrem Vater.

Autissier zeigt uns anhand vieler Fakten, wie schlimm es tatsächlich um die altersschwache, stolze Serenissima steht. Die Malgattis sind hier nur stellvertretend für die typischen Positionen, die wir Menschen im fortschreitenden Klimawandel einnehmen. Dass ihre Figuren dadurch sehr stereotyp geraten und Klischees bedienen, ist sicher der Kürze des Romans geschuldet.

Problematisch hingegen fand ich das Frauenbild, das sie zeichnet, ohne es zu reflektieren. Ich haderte auch immer wieder mit dem angestaubten auktorialen Erzähler. Was das Buch aber absolut lesenswert macht, sind die erschreckenden Fakten. Dieses einmalige sensible Ökosystem der Lagune, das Jahrhunderte lang funktionierte und nun in rasender Geschwindigkeit zerstört wird. Ob nun durch das umstrittene Flutsperrwerk MO.S.E., die verheerenden Folgen der Kreuzfahrtschiffe oder der schädliche Massentourismus und das damit anwachsende Müllproblem. Das alles beschleunigt den unausweichlichen Untergang Venedigs. Berechnungen von Wissenschaftlern zeigen, dass bereits Ende des Jahrhunderts die Stadt unter Wasser stehen wird. Das fühlt sich an, wie einem Menschen beim Sterben zuzuschauen.

Manche Bücher müssen literarisch nicht perfekt sein, können aber eine unvergessliche, berührende Wirkung haben – wenn man bereit ist, der Wahrheit endlich ins Auge zu blicken. Acqua Alta ist so ein Buch. Es schockiert, rüttelt wach, macht traurig, wütend und nachdenklich. Auch wenn sich Autissier jeder Wertung enthält, kommt man als Leser nicht umhin, mit sich zu ringen, will man anteilnahmslos zusehen, weiterhin Teil des schädlichen Massentourismus sein oder Teil der Lösung werden.
Ich habe viel recherchiert und einige Dokus dazu angeschaut. Mir war nicht bewusst, wie es um Venedig steht. Und es macht mich traurig, wie wir Menschen sehenden Auges die Stadt systematisch und wider besseren Wissens zerstören, statt sie für zukünftige Generationen zu bewahren.
Und das nächste Acqua Alta wird kommen – sehr bald sogar.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.02.2024
Die lichten Sommer
Kucher, Simone

Die lichten Sommer


sehr gut

Die Baracken sind längst dem Erdboden gleichgemacht, doch Liz weiß genau, wo sie standen, denn sie ist dort aufgewachsen und ihr täglicher Weg von der Batteriefabrik nach Hause führt sie daran vorbei. Sie ist 17 und schaut zuversichtlich in die Zukunft – allerdings braucht sie (in den 1960er Jahren) dafür die Unterschrift ihres Vaters unter dem Lehrvertrag, der ihr angeboten wird. Alles hatte sich doch zum Guten entwickelt, die Eltern besitzen nun ein Haus und eine florierende Gastwirtschaft. Und Liz leistet von klein auf ihren Beitrag, kümmert sich um ihre Brüder und hilft abends noch in der Wirtschaft. Doch der Schein trügt, denn Mutter Nevenka zieht sich immer mehr in sich zurück, nachdem ihr Mann ihr das Arbeiten verboten hat und nur noch trinkt. Und mit der Zeit spürt auch Liz, dass sie in den Augen der anderen immer die bleiben wird, die sie ist – Tochter von Vertriebenen.

»Die ist ja, ich weiß es ja, des ist ja eine aus den Baracken, pfui Deibel.« S.129

Nevenkas Erinnerungen erleben wir auf der zweiten Ebene, ihre Kindheit in einem kleinen Dorf zwischen Prag und Brno. Denket an die heißen Sommer an der reißenden Thaya mit ihrer amazonenhaften Freundin Zena zurück, zeigt uns eine friedvolle Zeit, wie es scheint. Denn die dunklen Seiten meidet sie, will sich nicht erinnern, zu schmerzvoll sind sie scheinbar.
Und so blendet auch die Autorin vor all dem Leid aus, das sich in den letzten Monaten vor Kriegsende tatsächlich abspielt, deutet es nur an. Manches kann man sich ausmalen, anderes sollte man nachschlagen, wie zum Beispiel das Massaker von Lidice. Um die spezifische Charakteristika des Traumas der Sudetendeutschen zu verstehen, braucht es m.E. den Blick auf die historischen Ereignisse dahinter.
Während Liz sich nichts mehr wünscht, als dazuzugehören, bleibt sie gefangen in einer Welt der Vorurteile und Ausgrenzung auf der Suche nach ihrer Identität. Ein Schicksal, das wohl für alle Geflüchteten zeitlos und universell ist. Keine Antworten zu bekommen von den Eltern, die ein Leben lang nicht nur mit dem Verlust der Heimat kämpfen. Denn das Schweigen jener Vertriebenen aus dem Sudetenland hat weitaus tiefere Beweggründe, die mir persönlich in dem Buch zu kurz kamen. Es rührte vor allem daher, die nachfolgende Generation vor dem entsetzlichen Grauen, das sie miterleben mussten, zu schützen. Die nach! dem Krieg mit der Entrechtung, dem Beschlagnahmen des Vermögens und in der gewaltsamen Vertreibung von 3 Millionen Menschen und 220.000 Toten gipfelten.
Vielleicht hatte ich da andere Erwartungen an das Buch, wohl durch meine eigene Familiengeschichte. Ich muss sicher nicht alles detailliert auserzählt bekommen, hätte mir aber mehr Einblicke in die tatsächlichen Geschehnisse gewünscht. Geschichte muss erzählt werden, um sie nicht zu vergessen.
Trotzdem bleibt es ein berührendes Buch, das ich gern empfehle, da es einen Blick auf die Kluft zwischen den Generationen zeigt, deren Entwurzelung und Schweigen tiefe Traumata hinterlassen.

Bewertung vom 19.02.2024
Ein grundzufriedener Mann
Russo, Richard

Ein grundzufriedener Mann


sehr gut

Es ist der erste Band (›Nobody’s Fool‹), der 1984 in North Bath spielt und ich empfehle, die Bücher in der richtigen Reihenfolge zu lesen, da wir einigen Figuren in ›Ein Mann der Tat‹ (›Everbodys Fool‹) wieder begegnen.

Es ist die Geschichte des 60-jährigen Donald Sullivans, genannt Sully, der vielleicht nicht der Schlauste, aber einer der gewieftesten Einwohner North Baths ist. Eine heruntergekommene Stadt, in der nur die verfallenen Fassaden imposanter Häuser von glorreichen Zeiten zeugen, Menschen, die sich am letzten Fünkchen Hoffnung und leeren Versprechungen festklammern, während Nachbarstädte längst den amerikanischen Traum leben.
Im Gegensatz zu anderen hat sich Sully mit dem Leben in der abgehängten Kleinstadt arrangiert und ist – mal mehr mal weniger – zufrieden, so wie es ist. Er haut die übers Ohr, die es verdient haben, und hilft denen, die es nötig haben. Man könnte sagen, er wurschtelt sich so durch. Auch wenn er hätte mehr aus seinem Leben machen können, wie Miss Beryl, seine ehemalige Lehrerin und jetztige Vermieterin, nicht müde wird zu erwähnen. Nach einem Arbeitsunfall hat Sully ein schmerzendes Knie, ist kaum arbeitsfähig und hofft auf eine Frührente. Doch dafür müsste er die Schulbank drücken, was so gar nicht in seinem Sinne ist und auch nicht gut für seinen ständig leeren Geldbeutel. Also schmeißt er hin und jobbt schwarz für Carl Roebuck, der ihm noch Geld schuldet für die früheren Jobs. Aber Sully nimmt sich, was ihm zusteht – nicht immer auf legalem Weg. Da fällt es ihm schwer, ausgerechnet für Will, seinen Enkel, ein gutes Vorbild zu sein. Denn er bereut es inzwischen, seinem Sohn kein besserer Vater gewesen zu sein, und gedenkt nun, es bei Will besser zu machen. Wird es wieder nur ein guter Vorsatz bleiben, wie so viele andere?

»Sein ganzes Leben lang war Sully der Prototyp eines Menschen, der mit seinen Leistungen hinter den Erwartungen zurückblieb; die Leute sagten von ihm, er spiele für niemanden den Dummkopf, ein Spruch, der Sully zweifellos gefiel, ohne dass er den zugrundeliegenden Sinn erahnt hätte – dass er mit sechzig von seiner Frau geschieden war, halbherzig eine Affäre mit der Frau eines anderen weiterführte, seinem Sohn entfremdet und schlimm verletzt war und praktisch nicht mehr arbeiten konnte. All das verwechselte Sully störrisch mit Freiheit und Unabhängigkeit.« S.40

Wie immer sind es Geschichten, die das Leben schreibt, die Außenseiter in den Mittelpunkt stellen, tragische Helden, die auf der Strecke bleiben, für die der amerikanische Traum nur die Möhre vor der Nase des Esels ist. Russo gibt ihnen auf unspektakuläre Weise und mit viel hintersinnigen Humor ein Gesicht und zeichnet fast minutiös ihren Alltag nach.
Er verzichtet auf große Dramen und Action, macht aber im Kleinen deutlich, wo die Probleme sind. Und es sind so viele, dass es unmöglich ist, sie alle anzureißen. Letztlich sind es die Fesseln der Gesellschaft, in denen sie alle feststecken, sich aufbäumen, scheitern und einen neuen Versuch starten.
Nach den 777 Seiten musste ich tatsächlich erstmal durchatmen. Diesmal hat er doch einige Längen gehabt, zu viele detaillierte Nebenschauplätze und Figuren, die es in der Ausführlichkeit nicht gebraucht hätte. Ab dem 2. Teil strafft sich allerdings die Handlung wieder.
Nun ja, es ist halt wie ein Kurzurlaub in North Bath – es passiert nichts Spektakuläres, während die Zeit dahin tröpfelt, aber man hat vielen Menschen tief in die Seele geschaut. Menschen, die mir ans Herz gewachsen sind.
Die knuffige, alte Dame Miss Beryl, die ihrem Sohn misstraut, aber den Außenseiter Sully ins Herz geschlossen hat. Sullys Geliebte Ruth, die es nicht leicht hat mit ihm. Sein Hilfsarbeiter Rub, der Stinker, dem ein paar Lichter auf der Torte fehlen. Carl, Geizhals und Schürzenjäger, Wirf, der beste einbeinige Anwalt – sie alle werden mir fehlen. Ach was solls, die Längen sind längst vergessen.

Bewertung vom 19.02.2024
Gestehe
Faber, Henri

Gestehe


ausgezeichnet

Ein FABER ist ein FABER, ist ein FABER.
Ja, auch in seinem 3. Standalone-Thriller hat er wieder abgeliefert und mich vollends überzeugt. Denn es ist mehr als die Jagd nach einem Serienkiller, es ist ein Thriller mit Substanz, doch dazu später mehr.

Johann ›Jacket‹ Winkler, Wiener Chefermittler – der sich als Held und Bestsellerautor feiern lässt. Hat er doch vor 4 Jahren ein kleines Mädchen aus den Fängen von Organhändlern befreit und über diese Blutnacht ein Buch geschrieben. Aber vor allem ist er ein narzisstischer Großkotz, der seinen Kollegen ein Dorn im Auge ist, weil er eigentlich nur noch eine Gastrolle im Kommissariat hat, und sich lieber in der Boulevardpresse sonnt.

»Hauptsache es gibt Applaus, ich werde angehimmelt. Denn das ist mein Treibstoff: Aufmerksamkeit. Ich habe einen riesigen Dachschaden, aber solange Scheinwerferlicht durchkommt, sonne ich mich darin.« S.230

Und da wäre noch Mohammed ›Mo‹ Moghaddam, überzeugt davon, dass seine zu dunkle Hautfarbe daran schuld ist, dass er als Jahrgangsbester noch immer hinterm Schreibtisch sitzt, statt draußen Verbrecher zu jagen.

Eine gelungene, zündstoffreiche Kombi, die Faber ins Rennen schickt, als beide an einen Tatort gerufen werden – über dessen Opfer an der Wand das Wort GESTEHE steht. Während sich Mo pflichtbewusst in die Ermittlungen stürzt, bricht Jackets traumatische Vergangenheit auf. Denn das, was er hier gesehen hat, steht in seinem zweiten noch unveröffentlichten Buch. Und damit ist klar, das wird nicht der letzte Mord sein.

Ich gestehe, dass mich der Anfang etwas verwirrt hat, denn einen Thriller in drei Ich-Perspektiven zu schreiben, ist schon sehr ambitioniert. Als ich mich aber reingefuchst hatte, machte der Thriller richtig Spaß, auch wenn ich Jacket zu Beginn echt nicht ausstehen konnte.

Aber da sind ja noch all die anderen Figuren, bei denen sich Faber richtig ins Zeug gelegt hat. Dafür mixt er auch gern mal etwas Klischee und Überzeichnung, um sie lebendig werden zu lassen. Zusammen mit der aktuell politischen Stimmung der Vorwahlzeit ergibt sich daraus ein absolut stimmiges Gesellschaftspanoptikum. Faber legt spürbar den Finger in die Wunde, wenn ein Land einen Rechtsrutsch macht, Rassismus salonfähig wird und die Wiener Hautevolee sich selbst bejubelt.
Und so ist es nicht nur eine wilde Jagd nach einem Serienkiller, sondern auch eine Milieustudie, die zeigt, dass die Verbrechen bis weit in die oberste Gesellschaftsschicht reichen. Ich sag nur »Wiener Blut« von Falco. Und tatsächlich stattet Jacket der Wiener Unterwelt einen Besuch ab.

Das alles unterlegt Faber wortgewandt mit seinem ganz eigenen schwarzen Humor und gelegentlichen Wiener Schmäh, was mir wahnsinnig gut gefallen hat. So ein unerschöpfliches Repertoire an bissigen Sprüchen muss man erst unterbringen in einem Thriller.

Fazit: Faber legt nach Kaltherz noch mal einen drauf. Nichts ist hier, wie es scheint, und es warten einige Überraschungen auf die Leser*innen. Fitzek sollte sich warm anziehen, denn mit Faber etabliert sich hier eine ernstzunehmende Konkurrenz, die ihm sprachlich, inhaltlich und plottechnisch bereits überlegen ist. Ich gestehe, dass ich weiterhin Faber-Fan bin!

Bewertung vom 08.02.2024
Drei Schalen
Murgia, Michela

Drei Schalen


ausgezeichnet

Die 12 Kurzgeschichten auf 155 Seiten haben es in sich. Es ist ein unbequemes Buch. Beim Lesen beschlich mich immer mehr das Gefühl, dass Murgia unverblümt von Situationen erzählt, über die man nicht gern spricht, die man nicht gern hört. Und tatsächlich machte ich nach jeder Geschichte eine Pause und habe lange darüber nachgedacht.
Murgia schreibt über Krisenzeiten, Trauer, Verlust, Krankheit und Tod – Zeiten, in denen Menschen nach Verbündeten suchen, nach Lösungen. Das Verbindende sind die durchweg namenlosen Figuren, die sich wie ein unsichtbarer, loser, roter Faden durch die Geschichten ziehen, was sie zu etwas Universellen macht. Ganz im Gegensatz zu den Lösungen, die individueller nicht sein könnten. Und das macht das Buch so nachdenklich.
Da ist die Frau, die erfährt, dass sie Krebs hat und ihrem Tumor einen Namen geben will – Murgias biografischste Geschichte. Oder ein Arzt, der mit ansehen muss, dass trotz akribischer Vorsichtsmaßnahmen sein Sohn mit Covid angesteckt wird. Die lesbische Frau, die Kinder hasst, sich aber als Leihmutter für ihren besten Freund zur Verfügung stellt. (Und das in einem Land, wo das Adoptionsrecht von Regenbogenfamilien beschnitten wird.)
Der Mann, der nach einer Trennung alle Orte meidet, an denen er mit seiner Freundin je gewesen ist. Die Exfreundin, die seitdem mit Übelkeit kämpft.
Eins haben sie alle gemeinsam – ihr Leben wurde durch ein Ereignis mehr oder weniger aus der Bahn geworfen. Murgia zeigt, dass es normal ist, auch unkonventionelle Lösungen zu finden. Gerade in der Pandemie hat sich immer wieder gezeigt, dass es manchmal etwas Kreativität braucht, um sich mit dem Unfassbaren, Unsichtbaren zu arrangieren, sei es auch nur, um nicht verrückt zu werden.

Nach allen Geschichten drängte sich die Frage auf, ob es wirklich ein Richtig oder Falsch gibt oder einfach nur die eigene Entscheidung, die uns hilft weiterzuleben, Akzeptanz zu finden, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Was für den einen bizarr und absurd erscheint, ist für andere vielleicht die einzige Art, einen Verlust zu kompensieren oder mittels eines Rituals eine Krise zu bestehen.
Somit wird Murgias Buch auch zu einem Appell an die Toleranz, denn so vielfältig die Menschen sind, so zahlreich sind auch ihre Entscheidungen. Damit richtet Murgia den Blick vom Individuum auf das Wir, mit ihrem direkten, ironischen Ton, den man von ihr kennt. Es ist nie zu spät, sich von alten Denkmustern zu lösen und neue Erfahrungen zu sammeln. Vielleicht war das Murgias Vermächtnis, ich weiß es nicht, aber wenn, dann würde es mir gefallen.

Anders als in Deutschland war Murgia in Italien eine der bekanntesten Stimmen, die sich zeit ihres Lebens gegen Misogynie, Homophobie und den Rechtsruck in ihrem Land einsetzte. Sie war vieles, Feministin, Aktivistin, Kommunistin und nicht zuletzt die Stimme Sardiniens. Ihr Schreiben war immer politisch, genau wie ihr Leben. Kurz vor ihrem Tod kaufte sie noch ein Haus für ihre zehnköpfige queere Familie und heiratet einen Mann, »aber es hätte genauso gut eine Frau sein können«, wie sie sagt, denn das Geschlecht spielte für sie keine Rolle.

»Ich bin fünfzig Jahre alt, aber ich habe zehn Leben gelebt. Ich habe Dinge getan, die die allermeisten Menschen in einem ganzen Leben nicht tun. Dinge, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie mir gewünscht habe. Ich habe wundervolle Erinnerungen.«*

In dem *Interview mit »Corriere della Sera«, bei dem sie ihre unheilbare Krebserkrankung öffentlich machte, sagte sie, wie wolle nicht unter der Regierung Melonis sterben. Dieser Wunsch hat sich nicht erfüllt, sie starb am 10. August in Rom.
Ich lege allen dieses Buch ans Herz, die eine innere Auseinandersetzung mit den o.g. Themen nicht scheuen und bereit sind, bei der Sicht auf die Dinge der Welt eine anderen Perspektive einzunehmen.

Bewertung vom 25.01.2024
Ein Mann der Tat
Russo, Richard

Ein Mann der Tat


ausgezeichnet

Ich werde es einfach nicht müde, Russo in seine abgehängten Kleinstädte zu folgen und mit allerlei kauzigen Typen und hoffnungslosen Gestalten an irgendeiner Bar zu hocken.
Diesmal nimmt uns Russo für ein Wochenende mit nach North Bath, eine Stadt, die schon bessere Zeiten erlebt hat und sich nun von ihrer Nachbarstadt Schuyler Springs abgehängt fühlt. Welch genialer Schachzug, das Sterben von Bath zu zeigen, indem Russo den Roman auf dem Friedhof beginnen lässt. Dort begegnen wir dem örtlichen Polizeichef Douglas Raymer, den nicht erst seit dem Tod seiner Frau vor 13 Monaten Selbstzweifel plagen. Nun aber um so mehr, denn just an dem Tag, als sie ihn wegen eines anderen verlassen will, stirbt sie bei einem Treppensturz. Neben allerlei Ungewissheit bleibt Raymer nur die Fernbedienung einer Garage, dessen Besitzer er nur allzu gern finden würde. Doch es ist heiß an diesem Memorial-Day-Wochenende, Raymer verliert das Bewusstsein und fällt in das leere Grab von Richter Flatt, den man gerade beerdigen will, den er aber nie ausstehen konnte. Als er im Krankenhaus wieder zu sich kommt, ist natürlich die Fernbedienung verschwunden. Doch damit der Skurrilitäten nicht genug, es stürzt noch die Wand eines Gebäudes ein, auf der eine gewisse letzte Hoffnung für Bath lag, (wenn auch in den Händen des impotenten, insolventen Bauunternehmers Carl Roebuck) und die Giftschlange eines ominösen Reptilienhändlers entkommt.
Doch Russos Romane ranken sich wie immer weniger um die Handlung, als um seine zahlreichen Charaktere, die er bis ins kleinste Detail zu zeichnen weiß, dass sie uns letztendlich wie altbekannte Freunde oder Feinde erscheinen. Einer davon ist Donald Sullivan, ein ehemaliger Soldat, der beginnt, sein Leben zu hinterfragen, nachdem er von seinem Arzt die Diagnose »Maximal noch zwei Jahre, aber wohl eher nur noch ein Jahr plus« erhalten hat.

Doch Russo ist nicht nur ein großartiger Erzähler, nein ebenso ein feinsinniger Beobachter. Er sieht sie, die Hoffnungen und Ängste der Menschen, zeigt den unverhohlenen Rassismus, die Kriminalität und Aussichtslosigkeit, der manche nur mit Glück, andere mit unlauteren Mitteln oder Einfallsreichtum entkommen.
»Everybody’s Fool«, so der m.E. passendere Originaltitel, erschien bereits 2017 und ist der zweite Roman, der in North Bath spielt. Nicht nur Raymer macht sich zu jedermanns Narr. Es scheint fast so, als vermasseln alle alles, hadern mit sich und der Welt und haben nicht die Kraft oder den Verstand, um dem Schicksal in seinen Allerwertesten zu treten.
Russo versteht es, die gesamte Klaviatur der Emotionen zu spielen, ich habe laut gelacht über den schwarzen Humor und mir an anderer Stelle eine Träne verdrückt. In den Kapiteln aus der Sicht des Kriminellen Roy Purdy wird Russo ungewöhnlich heftig und beschönigt nichts.

Ich kann nur sagen, lest Russo, er ist unterhaltend und tiefsinnig zugleich. Auch wenn ich anfangs vor der Seitenzahl (hier sind es 686) immer kurz zurückschrecke, so hat er mich, kaum habe ich zwei Seiten gelesen, voll in sein Russo-Universum eingesogen und lässt mich nicht mehr vom Haken.

Bewertung vom 14.12.2023
Frag nach Jane
Marshall, Heather

Frag nach Jane


sehr gut

Mit ihrem Debüt »Frag nach Jane« feierte Marshall in ihrem Heimatland Kanada einen Überraschungserfolg. Es geht um drei Frauen dreier Generationen, die um ihre Selbstbestimmung kämpfen, um den Wunsch, Mutter zu sein oder keine Mutter zu sein. Marshall erzählt in ihrem fiktiven Roman von drei stellvertretenden Schicksalen, die sich so, oder so ähnlich, zugetragen haben können.

1960 – Evelyn wird in einem Heim für »gefallene Frauen« dazu gezwungen, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Dieses traumatische Erlebnis veranlasst sie, später als Ärztin Frauen zu helfen, die Wahl zu haben, Mutter zu werden oder nicht. Dafür schließt sie sich dem Untergrund-Netzwerk »Jane« an, das Frauen hilft, sichere Abtreibungen durchführen zu lassen.

1979 – Nancy begleitet ihre Cousine Clara, die ungewollt schwanger geworden ist, zu einer Abtreibung bei einem Hinterhof-Scharlatan, die beinahe schiefgeht. In den 80ern kommt sie selbst mit dem Netzwerk Jane in Berührung.

2017 – Angela hat sich gerade wiederholt einer künstlichen Befruchtung unterzogen und hofft, dieses Mal endlich das langersehnte Kind zur Welt zu bringen. Sie findet in ihrem Antiquitätenladen einen Brief, der vor Jahren versehentlich falsch zugestellt wurde. Darin gesteht eine Mutter kurz vor ihrem Tod ihrer Tochter, dass sie adoptiert wurde.

Auf diesen drei Zeitebenen erzählt Marshall uns aus der Sicht der drei Frauen über die unterschiedlichsten Erfahrungen mit ungewollter Schwangerschaft, Abtreibung, Adoption und dem gesellschaftlichen Umgang damit. Besonders erschüttert hat mich Evelyns Situation in dem Heim.

Zentrales Thema ist das Recht der Frauen an ihrem eigenen Körper, ihr Selbstbestimmungsrecht, nicht etwas ein Plädoyer für Schwangerschaftsabbrüche. Auch wenn das »Jane-Netzwerk« fiktiv ist, so die Autorin, gab es und gibt es solche Organisationen, die Frauen in ihrer Not behilflich sind. Sie schildert eindrücklich, unter welchen Umständen sie agieren müssen, da sie sich mit ihrer Hilfeleistung ja ebenfalls strafbar machen.

Marshall gelingt es, diese vielen Themen miteinander zu verknüpfen und mich stellenweise zu berühren. Dass die drei sehr unterschiedlich gewichteten Perspektiven sich später zusammenfinden, war schnell erkennbar, leider wirkte es aber etwas zu konstruiert auf mich. Mir waren es auch des Öfteren zu viele Nebensächlichkeiten, die sie sehr detailverliebt geschildert hat und damit vom Wesentlichen ablenkten. Aber das ist reine Geschmacksache.
Fazit:
Ich denke, dass es ein sehr vielschichtiges, gut recherchiertes Buch ist, das eine enorme Aktualität besitzt, da einige Länder, wie zum Beispiel die USA, wieder die Rechte der Frauen beschneiden. Es macht deutlich, wie wichtig es vor allem ist, zusammenzuhalten und für Selbstbestimmungsrechte und den uneingeschränkten Zugang zu sicherer Abtreibung weiterhin zu kämpfen. Dies schildert sie auch sehr eindrücklich in einem ausführlichen Nachwort.

Bewertung vom 12.12.2023
Beben in uns
Malecki, Jakub

Beben in uns


ausgezeichnet

Der polnische Autor Małecki ist in seiner Heimat bereits eine bekannte Größe, »Beben in uns« ist sein sechster Roman, auf den ich nur zufällig aufmerksam wurde. Ich weiß immer noch nicht, ob ich das Buch bereits verdaut habe, denn es lässt mich zwiegespalten aber beeindruckt zurück. Zum einen hat er mich mit seinem Schreibstil, der manchmal etwas sehr Sprödes innehat und gleichzeitig sehr einfühlsam ist, sehr begeistert. Auch versteht er es, eine fast schon krimiwürdige Spannung einzusetzen, die mich in Kürze durch das Buch rasen ließ. Doch die Handlung des Buches ist düster und die Charaktere destruktiv und voller krimineller Energie, aber sie zogen mich förmlich in ihren Bann.

Es ist die Geschichte zweier einfacher Familien aus der polnischen Provinz, über die das Schicksal sein ganzes Elend ausgeschüttet hat. Und es ist wirklich fast unerträglich viel, was uns Małecki hier präsentiert.
Weil Jan Łabendowicz einer deutschen Frau die Hilfe bei ihrer Flucht vor der Roten Armee verweigert, wird seine Familie von ihr verflucht. Sein Sohn Wiktor kommt mit Albinismus zur Welt. Er zieht den Hass der Dorfbewohner auf sich, die ihn für alles Elend und alle Missgeschicke verantwortlich machen.

»Kurz darauf kam ein kleines farbloses Ungeheuer zur Welt. Seine Geburt dauerte dreißig Stunden und es brachte Irena, die vom Schreien keine Stimme mehr hatte, fast um. Der Junge war von den Augenbrauen bis zu den Fußnägeln weiß. Unter der Haut zeichneten sich hier und da dünne rosa Streifen ab. Janek versuchte, ihn nicht anzuschauen.
›Erwürg ihn, Janek‹, sagte Irena, während sie ihre Wange an das vom Schweiß durchnässte Kissen drückte.«

Auch die Familie von Bronek Gelda wird verflucht, weil er sich von einer Roma nicht aus der Hand lesen lassen will. Seine Tochter Emilia wird mit sechs Jahren schwerste Verbrennung am ganzen Körper erleiden nach der Explosion einer deutschen Handgranate.

Es scheint schon fast Vorsehung, dass Wiktor und Emilia, die beiden von der Gesellschaft verstoßenen, aufeinandertreffen, doch wenn man meint, die Geschichte könnte jetzt einen Funken Hoffnung vertragen, schlägt das Leben wieder in all seiner Härte zu.

»Der Mensch ist wie eine Maschine: Es gibt da irgendwelche Dinge, die dich beeinflussen, und du verhältst dich so, wie sie sich ergeben. Und das bedeutet, dass es keinen freien Willen gibt.« S.292

Małeckis Roman erstreckt sich von 1938 bis 2004 und wir folgen den zwei Familien über drei Generationen hinweg durch den Zweiten Weltkrieg, den Jahren des Sozialismus bis in die Gegenwart. Ihm gelingt es, die historischen Hintergründe mit dem Leben der Menschen in der Provinz zu verknüpfen, mit all ihren Schwächen und Fehlern, auf der Suche nach ihrem Glück. Mal macht Małecki nur Andeutungen, dann greift er den Ereignissen wieder voraus, doch immer schwebt das große Geheimnis über den Familien, das erst Sebastian ganz am Ende lösen wird.
Ich bin wirklich sehr begeistert von seinem grandiosen erzählerischen Talent, mit dem er jeder Figur seine ganz eigene Seele eingehaucht hat, sei es, dass sie ihr Schicksal nur stoisch ertragen hat oder einen Weg aus der Misere gesucht hat.
Auch wenn es stellenweise an Grausamkeit nicht zu übertreffen war und ich das Buch am liebsten in die Ecke geworfen hätte, gab es durchaus Stellen, bei denen ich schmunzeln musste. Zum Beispiel als ein paar Männer in einem Wald wochenlang Züge ausgeraubt haben, um die Sachen später zu verscherbeln. Doch als sie wiederholt auf mehrere Ladungen Herrenanzüge stießen, ihre Plünderungen einstellten.
Insgesamt war es eine sehr außergewöhnliche Lektüre, die ich als nostalgisch, grotesk und märchenhaft beschreiben würde, und die mir Lust gemacht hat, mehr von Jakub Małecki zu lesen.

Jetzt wo ich meine Rezension abgeschlossen habe und alles nochmals meine Gedanken und Emotionen passiert hat, bin ich der Ansicht, dass dieses Buch wirklich überragend gut war.

Bewertung vom 06.12.2023
Accabadora
Murgia, Michela

Accabadora


ausgezeichnet

»Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen.« S.7

So beginnt die Geschichte von Maria Listru, die als viertes Kind einer verarmten, verwitweten Mutter mit sechs Jahren zu ihrer Ziehmutter Bonaria Urrai kommt – gegen ein paar Eier und Petersilie. Es sind die 50er Jahre, in denen Maria in Soreni, einem fiktiven Ort im ländlichen Sardinien aufwächst. War Maria bisher nur das ungeliebte Anhängsel, so lernt sie allmählich, was es bedeutet, beschützt und geliebt zu werden. Vor allem hält Bonaria das Geschwätz der Leute von ihr fern, denen es suspekt ist, dass eine so alte Frau ein kleines Kind zu sich holt. Maria wird pflichtbewusst und mit Liebe erzogen, kann sogar im Gegensatz zu ihren leiblichen Schwestern die Schule länger als nur drei Jahre besuchen. Sie wird zu einem aufgeweckten, intelligenten Kind, das seine Umwelt aufmerksam beobachtet und so entgeht ihr auch nicht, dass Tzia Bonaria immer wieder nachts verschwindet. Und sie sieht, dass die Dorfbewohner die alte Schneiderin mit einer gewissen Distanz behandel. Erst viele Jahre später wird Maria verstehen, was ihre Ziehmutter in diesen Nächten getan hat.

Murgia zeigt uns in ihrem Roman ihre Heimat, die wenig mit den Urlaubsbildern und -vorstellungen eines Sardiniens zu tun hat, das wir vielleicht kennen. Die raue, archaische Lebensweise der Landbevölkerung, die oft ungebildet ist und an altem Aberglauben festhält, scheint fast stoisch ihr Schicksal zu ertragen.
Doch im Mittelpunkt steht der Dienst von Bonaria Urrai, denn sie ist eine Accabadora – eine Frau, die Sterbehilfe leistet. Es ist nicht gesichert, ob es solche Frauen tatsächlich gegeben hat oder ob sie nur Teil zahlreicher sardischer Legenden sind.

Maria ist erschüttert, als sie erkennt, was ihre Ziehmutter macht und es gibt einen harten Bruch in ihrer Beziehung, mehr möchte ich aber nicht verraten.
Laut einer sardischen Tradition ist es wichtig, nicht allein auf die Welt zu kommen, aber auch nicht allein zu gehen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Strebehilfe, die tief in der traditionellen Ansichten verwurzelt ist, sowie den daraus resultierenden Generationenkonflikt schildert Murgia auf sehr behutsame und einfühlsame Weise. Sie urteilt und verurteilt nicht, sondern überlässt es uns Leser*innen, die Gedanken weiterzuführen.
Das alles bettet sie in eine wunderbare Geschichte ein, in der geheiratet und gestorben wird, alte Bräuche und Legenden aufleben, Land gestohlen wird, Menschen am Leben verzweifeln, aber sich auch verlieben. Hin und wieder versüßt Murgia uns das Lesen mit pabassinos und capigliette – typisch sardischen Spezialitäten, die zu einer Hochzeit gebacken werden.

Ich bin Maria beim Erwachsenwerden gern gefolgt, auch wenn ich immer eine gewisse Distanz gespürt habe. Accabadora ist sicher kein romantisierendes Wohlfühlbuch, aber eine ungewöhnliche Mutter-Tochter-Geschichte, die mich lange darüber nachdenken ließ, wie man mit Leben und Tod in unserer Gesellschaft umgeht.

Es war mein erstes Buch der Autorin, wird aber sicher nicht mein letztes sein. Leider starb Michela Mugia letztes Jahr im Alter von 51 Jahren.